Autor: Simone Schwarzer

  • Impulskontrollstörungen in der Verhaltenstherapie

    Beltz Verlag, Weinheim 2019, 296 Seiten mit E-Book inside, 41,95 €, ISBN 978-3-621-28671-8

    Impulskontrollstörungen können sich unterschiedlich auswirken, beispielsweise bei Esssucht, Spielsucht oder pathologischem Stehlen. Allen gemein ist dabei, dass die Betroffenen stark unter einem zwanghaften und nicht kontrollierbaren Verhalten leiden. Eine Verhaltenstherapie kann auf vielfältige Weise helfen, solche Impulskontrollstörungen zu regulieren. Alfred Ehret stellt die unterschiedlichen Störungen dar und skizziert den Verlauf anhand zahlreicher Fallbeispiele. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt dabei in der Auswahl des Settings: Wie motiviere ich meinen Patienten zur Verhaltensänderung? Welche Therapiemodelle erscheinen sinnvoll? Mithilfe von unterschiedlichen verhaltenstherapeutischen Techniken und Modellen (Cue Exposure Modell, Habit Reversal Training etc.) werden individuelle Lösungswege für eine passende Therapie aufgezeigt. Mit vielen Therapiedialogen zur konkreten Umsetzung.

    Aus dem Inhalt:
    Was kann alles zu Störungen der Impulskontrolle gehören? • Welche ätiologischen und therapierelevanten Bausteine können in Betracht kommen? • Wie können Impulskontrollstörungen generell verlaufen? • Rückfallprävention • Wie kann man zur Verhaltensänderung motivieren? • Modell der Stimuluskontrolle und der Coping-Skills • Cue Exposure • Angst- und Zwangsreduktionsmodell • Modell der formalen Veränderungen von mentalen Prozessen • Modell der Komplettierung von Handlungsketten • Modell des Video Self • Modell des Habit Reversal Training und Self Modeling • Selbstinstruktionstraining und Self Modeling • Welche Therapiemodelle sollen nun eigentlich ausgewählt werden? • Modell der Schematherapie – Arbeit mit Teilen

  • Problematisches Computerspielen und Computerspielstörung (Gaming Disorder)

    Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. und der Fachverband Medienabhängigkeit e.V. haben gemeinsam das Ergebnispapier „Problematisches Computerspielen und Computerspielstörung (Gaming Disorder). Bestandsaufnahme und Positionierung in den Bereichen Prävention und Frühintervention, Beratung, Behandlung und Rehabilitation sowie Forschung“ erarbeitet und veröffentlicht.

    Das Papier stellt zum einen dar, welche Befunde und Definitionen für die Computerspielstörung (Gaming Disorder) bereits erbacht wurden. Zum anderen leitet es daraus kritische Denkanstöße für weiteren Forschungsbedarf, u. a. hinsichtlich weiterer Formen internetbezogener Störungen, ab. Bezogen auf problematisches Computerspielen und Computerspielstörungen (Gaming Disorder) enthält das Papier:

    • Empfehlungen zu Prävention und Frühintervention
    • Empfehlungen zur Beratung von betroffenen Menschen
    • Empfehlungen zur Behandlung / Rehabilitation
    • Empfehlungen für Wissenschaft und Forschung

    Quelle: Fachverband Medienabhängigkeit e.V., 24.06.2020

  • Alkoholbedingte Immunreaktion im Gehirn erhöht Suchtrisiko

    Wer Alkohol konsumiert, weiß in der Regel, dass zu viel des Guten süchtig machen kann. Was dabei im Gehirn passiert, ist aber weiterhin nicht klar. Ein Forscherteam aus vier europäischen Ländern unter maßgeblicher Beteiligung des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim hat nun in der Fachzeitschrift „Science Advances“ über einen bisher unbekannten Mechanismus der Alkoholwirkung berichtet. Die Forscher beobachteten, dass Alkohol sowohl beim Menschen als auch bei Versuchstieren in der grauen Hirnsubstanz die Form und Struktur des Extrazellularraumes (EZR) verändert. Sie führen dies auf die Aktivierung von spezifischen Immunzellen des Gehirns, der Mikroglia, zurück.

    Der EZR besteht aus Hohlräumen und Kanälen, die sich zwischen Nerven- und Gliazellen sowie deren vielen Fortsätzen bilden. Der EZR ist mit Flüssigkeit gefüllt. Dort zirkulieren viele Substanzen, die für verschiedene physiologische Prozesse notwendig sind. „Nach chronischer Alkoholexposition reagieren die Immunzellen des Gehirns, sie schrumpfen und ziehen ihr dichtes Geflecht aus Fortsätzen zurück. Durch den Wegfall von Barrieren ändert sich die Geometrie des EZR und es ergeben sich neue Diffusionswege. Viele Botenstoffe, wie zum Beispiel das für das Belohnungslernen wichtige Dopamin, verteilen sich über das Volumen des EZR. Die erhöhte Diffusion kann ihre Aktivität deutlich beeinflussen“ erklärt Dr. Santiago Canals vom Instituto de Neurosciencias in Alicante/Spanien, der gemeinsam mit Prof. Dr. Wolfgang Sommer, stellvertretender wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Psychopharmakologie und Oberarzt an der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin am ZI, für die Studie verantwortlich ist.

    Wenn die Diffusion im EZR erhöht ist, dann steigt auch die so genannte Volumentransmission. Diese ist eine besondere Art der Signalübertragung im Gehirn. Sie unterscheidet sich von der üblichen Punkt-zu-Punkt-Kommunikation über Synapsen durch das gleichzeitige Erreichen vieler Kommunikationselemente über die in den EZR freigesetzten Neurotransmitter. „Erhöhte Diffusion im EZR und Volumentransmission mögen als sehr unspezifische Wirkmechanismen für eine Droge erscheinen. Dadurch werden aber eine Vielzahl von Kommunikationsprozessen im Gehirn beeinflusst“, sagt ZI-Forscher Prof. Dr. Wolfgang Sommer. „Die in unserer Studie beschriebenen Interaktionen zwischen Nerven- und Immunsystem bieten einen Erklärungsansatz, wie Alkohol, trotz anfänglich recht schwacher akuter Effekte auf das Belohnungssystem, über die Zeit Anpassungsreaktionen auslöst, welche seine Wahrnehmung und seinen Konsum begünstigen sowie das Verlangen nach der Droge steigern, mit anderen Worten eine Suchtentwicklung befördern,“ ergänzt Prof. Sommer.

    Originalpublikation:
    Chronic alcohol consumption alters extracellular space geometry and transmitter diffusion in the brain, Science Advances. 2020. DOI: 10.1126/sciadv.aba0154

    Pressestelle des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI), 25.06.2020

  • Wie lässt sich Wohnungslosigkeit verhindern?

    Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgau 2020, 64 Seiten, 9,00 €, ISBN 978-3-7841-3267-9, Sonderpreis für Mitglieder des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 7,50 €

    Die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt, die Diskussion über staatliche Eingriffe und nicht zuletzt die Migrationsbewegung der vergangenen Jahre haben das Thema Wohnungslosigkeit verstärkt auf die sozialpolitische Agenda gebracht. Anhand der Befunde einer bundesweiten Studie und mithilfe des Teilhabe- und Chancenmodells von Amartya Sen analysiert die Autorin die Problemlage und kommt zu dem Ergebnis: Die Instrumente, um Wohnungslosigkeit zu beheben oder gar zu verhindern, sind vorhanden, sie müssten jedoch neu organisiert werden. Jutta Henke plädiert für eine Fokusverschiebung weg von der Akutversorgung hin zu mehr Prävention und nachhaltiger Wohnungssicherung.

  • Naturgestützte Suchttherapie des Fachkrankenhauses Vielbach ausgezeichnet

    Klinikleiter Joachim J. Jösch nimmt die Urkunde mit der Auszeichnung von Umweltministerin Ulrike Höfken entgegen. Mit dabei: Diplom-Biologin Alrun Uebing.

    Seit vielen Jahren wird im Fachkrankenhaus Vielbach bei der Behandlung von sozial benachteiligten Abhängigkeitskranken ein naturgestützt-salutogenetischer Behandlungsansatz praktiziert. Die Natur wird als Medium zielgerichtet und wirksam für die medizinische und soziale Rehabilitation genutzt. Jetzt wurde dieses naturbasierte Arbeiten als offizielles Projekt der UN-Dekade Biologische Vielfalt im Sonderwettbewerb „Soziale Natur – Natur für alle“ ausgezeichnet. Am 21. August 2020 überreichte die rheinland-pfälzische Umweltministerin Ulrike Höfken die von Bundesumweltministerin Svenja Schulze unterzeichnete Urkunde.

    Die Vereinten Nationen haben die Jahre 2011 bis 2020 zur UN-Dekade für die biologische Vielfalt erklärt. Die Staatengemeinschaft ruft damit die Weltöffentlichkeit auf, sich für die biologische Vielfalt einzusetzen. Im Rahmen des Sonderwettbewerbs „Soziale Natur – Natur für alle“ zeichnet die UN-Dekade vorbildliche Projekte an der Schnittstelle von Natur und sozialen Fragen aus. Die Projekte zeigen, welche Chancen Natur und biologische Vielfalt für den sozialen Zusammenhalt bieten.

    „Natur erleben, Tiere versorgen, im Garten arbeiten – all das übt eine heilsame Wirkung auf Menschen aus, zumal auf Suchtkranke, die entwurzelt und auf der Suche nach ‚Erdung‘ sind. Zielgerichtet eingesetzte Naturerfahrungen in Wald und Flur sowie Arbeiten im Garten machen den Kopf frei für neues Denken und bewussteres Fühlen. Und fördern die Gesundung erkrankter Seelen“, fasst Klinikleiter Joachim J. Jösch die naturgestützten therapeutischen Interventionen der Vielbacher Suchttherapie zusammen. Eine wichtige Aufgabe komme dabei der für diesen Arbeitstherapiebereich verantwortlichen Mitarbeiterin, der Diplom-Biologin Alrun Uebing, zu.

    Das Vielbacher Behandlungsteam ist stolz auf die verliehene Auszeichnung und sieht diese als wichtige Anerkennung für sein unkonventionelles Rehabilitationsangebot für Suchtkranke.

    Fachkrankenhaus Vielbach, 25.08.2020

  • Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation – Teil I

    Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation – Teil I

    Wo stehen wir?

    Prof. Dr. Andreas Koch

    Der Ursprung der Suchtrehabilitation geht zurück auf die Trinkerheilstätten, die Ende des 19. Jahrhunderts von Diakonie und Caritas aufgebaut wurden. Nach den Urteilen des Bundessozialgerichtes von 1968 (Anerkennung von Sucht als Krankheit) und 1978 (Kostenverteilung bei Suchtbehandlung) wurde die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker konzipiert und zu einer qualitativ hochwertigen Leistung mit zahlreichen Behandlungsoptionen weiterentwickelt. Die medizinische Rehabilitation im Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen ist heute ein sehr spezifisch ausgestaltetes Segment im deutschen Gesundheits- und Sozialwesen, bei dem vor allem die Förderung der gesellschaftlichen und beruflichen Teilhabe im Mittelpunkt steht.

    Sie ist Teil eines komplexen Systems aus suchtspezifischen Angeboten in den Bereichen Beratung, Akutbehandlung, Selbsthilfe, Eingliederungshilfe und Substitution sowie vielen anderen Hilfeangeboten (bspw. in Justizvollzugsanstalten oder in der niedrigschwelligen Drogenhilfe). Eine Reha-Maßnahme (Entwöhnungsbehandlung) wird dabei i.d.R. im Rahmen eines Klärungs- und Motivationsprozesses in einer Suchtberatungsstelle vorbereitet und schließt sich idealerweise nahtlos an eine entsprechende Akutbehandlung (Entgiftung) an. Viele suchtkranke Menschen werden aber auch in anderen, nicht suchtspezifischen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesens betreut und behandelt, bspw. in Arztpraxen oder Allgemeinkrankenhäusern. Eine umfassende Analyse der Hilfen und Angebote für Menschen mit Suchtproblemen in Deutschland hat die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen erstellt.

    Die Einrichtungslandschaft in der Suchtrehabilitation ist traditionell geprägt von vielen kleinen Einrichtungen (bis zu 50 Behandlungsplätze). Die Einrichtungen gehören überwiegend zu den freien Wohlfahrtsverbänden oder zu privaten Trägern, mit jeweils etwa der Hälfte der bundesweit verfügbaren Behandlungsplätze. Darüber hinaus gibt es auch einige wenige Einrichtungen in öffentlicher Trägerschaft, bspw. Fachkliniken oder Fachabteilungen der Psychiatrien in Baden-Württemberg oder der Landschaftsverbände in Nordrhein-Westfalen. Vor dem Hintergrund der über 100-jährigen Geschichte der Suchthilfe hat sich ein hoher Organisationsgrad mit mehreren Fachverbänden und Fachgesellschaften entwickelt. Die Einrichtungslandschaft in der Suchtrehabilitation lässt sich wie folgt im Überblick darstellen:

    • 180 stationäre Einrichtungen (Fachkliniken, Therapieeinrichtungen oder Abteilungen/Stationen von Krankenhäusern) mit 13.000 Plätzen und 50.000 Behandlungen pro Jahr
    • 100 Adaptionseinrichtungen (intern oder extern) mit 1.300 Plätzen und 4.500 Behandlungen pro Jahr
    • 50 ganztägig-ambulante Einrichtungen (Tagesreha oder teilstationäre Reha) mit 600 Plätzen und 2.500 Behandlungen pro Jahr
    • 600 anerkannte ambulante Einrichtungen (vor allem Beratungsstellen und Fachambulanzen) mit 18.000 Behandlungen (Reha und Nachsorge) pro Jahr (vgl. Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen 2019)

    Die Hauptdiagnose Alkoholabhängigkeit macht bei rund 65 Prozent der Behandlungsfälle den größten Anteil aus, 30 Prozent der Hauptdiagnosen betrifft die Abhängigkeit von illegalen Drogen, fünf Prozent der Fälle beziehen sich auf andere Indikationen (Pathologisches Spielen, Medikamentenabhängigkeit, Essstörungen, Internetsucht). Das Durchschnittsalter der behandelten Menschen im Bereich Alkohol liegt bei 44 Jahren und im Bereich Drogen bei 30 Jahren. 20 bis 25 Prozent der Behandelten sind Frauen. Aufgrund der sozialrechtlichen Rahmenbedingungen und der geltenden Anspruchsvoraussetzungen ist die Deutsche Rentenversicherung mit ca. 85 Prozent der überwiegende Leistungsträger in der Suchtrehabilitation, die gesetzliche Krankenversicherung finanziert etwa zwölf Prozent der Behandlungen. In einigen Fällen wird die Behandlung auch von Sozialhilfeträgern, Privaten Krankenversicherungen oder Selbstzahlern finanziert.

    In den Einrichtungen wird von interdisziplinären Teams (vertreten sind u. a. Medizin, Psychologie, Sozialpädagogik bzw. Soziale Arbeit, Pflege, Ergotherapie) ein breites Leistungsspektrum vorgehalten: medizinische Versorgung, Psycho- und Suchttherapie, Arbeits- und Ergotherapie, Sport und Bewegung, Kreativtherapie und Freizeitgestaltung, Sozialdienst sowie viele weitere Angebote, die in einem mit den Leistungsträgern abgestimmten Therapiekonzept beschrieben sind. Aufgrund entsprechender gesetzlicher Rahmenbedingungen und der eigenen fachlichen Ansprüche von Leistungsträgern und Leistungserbringern wurden für die Suchtrehabilitation hohe Standards in den Bereichen Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung erarbeitet, die weit über die Anforderungen in anderen Bereichen des deutschen Gesundheits- und Sozialwesens hinausgehen.

    Was beschäftigt uns?

    In den folgenden Abschnitten werden einige wichtige aktuelle Trends und Themen dargestellt, die die fachliche, organisatorische und sozialrechtliche Entwicklung in der Suchtrehabilitation derzeit bestimmen und vermutlich auch in der Zukunft maßgeblich beeinflussen werden. Die Auswahl und Schwerpunktsetzung entspricht der subjektiven Erfahrung des Autors und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit:

    a) Nachfrage und Zugang
    b) Fachkräftemangel
    c) Digitalisierung
    d) Therapie und Konzepte
    e) Modularisierung
    f) Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung
    g) Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit

    a) Nachfrage und Zugang

    Bis 2013 war eine stetig steigende Nachfrage in der Suchtrehabilitation zu beobachten, was zum Teil demografische Ursachen hatte: Die „Babyboomer“ der starken Geburtsjahrgänge bis Anfang der 1970er Jahre hatten einen zahlenmäßig hohen Behandlungsbedarf (Altersdurchschnitt Alkohol ca. 44 Jahre). Das gesetzlich gedeckelte Budget der Deutschen Rentenversicherung für die gesamte medizinischen Reha (nicht nur für den Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen) wurde fast komplett ausgeschöpft, und es drohte eine finanziell begründete Limitierung von Reha-Maßnahmen. In der Suchtrehabilitation war aber ab 2014 ein deutlicher Einbruch bei den Anträgen zu beobachten. Trotz umfassender gemeinsamer Analysen von Deutscher Rentenversicherung und Suchtverbänden konnten keine eindeutigen Ursachen identifiziert werden. Die Zugangswege in die Suchtreha verteilen sich grundsätzlich zu 60 Prozent auf die Vermittlung aus Beratungsstellen und zu 20 Prozent auf die (direkte) Verlegung aus psychiatrischen oder internistischen Entzugskliniken. Im Bereich illegale Drogen spielt auch der Zugang direkt aus Justizvollzugsanstalten mit rund zehn Prozent eine Rolle (vgl. Weissinger 2017: Zugangswege erweitern, Übergänge optimieren). Es ist davon auszugehen, dass verschiedene Gründe für den Antragsrückgang vorliegen:

    • schwierige Finanzierungssituation in den Suchtberatungsstellen, die vor allem auf die kommunale Grundfinanzierung angewiesen sind,
    • alternative (und vermeintlich „niedrigschwelligere“) Behandlungs- und Betreuungsangebote in der Psychiatrie, Eingliederungshilfe und der ambulanten Substitution für Opiatabhängige,
    • Probleme beim Übergang aus der Haft in die Suchtreha (insbesondere bei Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG „Therapie statt Strafe“).

    Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung sind einige Einrichtungen in den letzten Jahren geschlossen worden, in manchen Regionen gingen bis zu zehn Prozent der Behandlungskapazitäten verloren. Die Situation vieler Einrichtungen wird zudem durch zu niedrige Vergütungssätze erschwert, die kaum die laufenden Kosten decken und keine Investitionen ermöglichen (vgl. Koch & Wessel 2016: Ein Gespenst geht um in Deutschland …). Seit 2017 steigen die Antragszahlen in der Suchtreha wieder, insbesondere im Bereich illegale Drogen. Allerdings sind auch für diesen positiven Trend keine eindeutigen Ursachen auszumachen. Es bleibt die Erkenntnis, dass die „Marktentwicklung“ in diesem Bereich kaum zu prognostizieren ist und damit die wirtschaftlichen Planungen von Leistungsträgern und Leistungserbringern schwierig sind.

    Im Zusammenhang mit der Analyse des Antragsrückgangs und der Zugangswege in die Suchtrehabilitation sind einige spezifische Aspekte und Entwicklungen zu erwähnen, die Auswirkungen auf die „Schnittstellen“ zwischen den unterschiedlichen Hilfebereichen und Leistungssegmenten haben:

    • Auf der Grundlage gemeinsamer Beratungen von Leistungsträgern und Suchtverbänden wurde 2017 das Nahtlosverfahren Qualifizierter Entzug / Suchtrehabilitation verabschiedet. Die zwischen Deutscher Rentenversicherung, Gesetzlicher Krankenversicherung und Deutscher Krankenhausgesellschaft abgestimmten Handlungsempfehlungen sollen den Zugang nach qualifiziertem Entzug in die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker verbessern.
    • Im Auftrag der beiden Fachverbände Caritas Suchthilfe (CaSu) und Gesamtverband für Suchthilfe (GVS – Fachverband der Diakonie Deutschland) wurde im Oktober 2018 die von Prof. Dr. Rita Hansjürgens (Alice-Salomon-Hochschule Berlin) erarbeitete Expertise Tätigkeiten und Potentiale der Funktion „Suchtberatung“ veröffentlicht. Sie umfasst eine differenzierte Situationsbeschreibung und formuliert Forderungen für die zukünftige Gestaltung dieses zentralen Bereiches im Suchthilfesystem. Vor dem Hintergrund der sich weiter verschlechternden Finanzierungssituation vieler Suchtberatungsstellen wurde 2019 der „Notruf Suchtberatung“ von zahlreichen Verbänden veröffentlicht, und die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen stellte entsprechende Forderungen zur Gestaltung der Rahmenbedingungen für die Arbeit von Suchtberatungsstellen auf.
    • Seit 2013 läuft die Entwicklung eines neuen Entgeltsystems für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (PEPP-System). Es handelt sich um ein analog zu den DRG entwickeltes Entgeltsystem, das in den psychiatrischen Krankenhäusern seit 2018 verpflichtend umzusetzen ist. Die Einordnung in die für Suchtkranke vorgesehenen PEPP-Codierungen erfolgt nach dem ökonomischen Aufwand der Behandlung. Für die Qualität sorgt der verpflichtende Nachweis von Personal-Anhaltszahlen, der im Rahmen des ergänzenden Gesetzes zur Weiterentwicklung der Versorgung und Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen (PsychVVG) im Jahr 2016 festgelegt wurde. Es bleibt noch abzuwarten, welche Auswirkungen die Umsetzung auf die Behandlung von Suchtkranken in der Psychiatrie sowie das Zusammenspiel von Entgiftung und Entwöhnung haben wird.
    • Zwei veränderte Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) haben möglicherweise positiven Einfluss auf die Behandlung von Suchtkranken in der ambulanten Psychotherapie bzw. die Zusammenarbeit dieses Bereiches mit anderen Leistungsangeboten für Suchtkranke. Durch die Änderung der Psychotherapie-Richtlinie im Jahr 2011 wird die ambulante Psychotherapie bei Suchterkrankungen erleichtert, da Patientinnen und Patienten nicht mehr zwingend abstinent sein müssen, um eine Therapie zu beginnen. Mit der Änderung der Rehabilitations-Richtlinie im Jahr 2017 wurde das Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-VSG) umgesetzt, so dass nun auch Psychotherapeuten zur Verordnung bestimmter Leistungen zur medizinischen Rehabilitation befugt sind. Damit ist auch eine Weitervermittlung von suchtkranken Patientinnen und Patienten in die Suchtrehabilitation möglich.

    b) Fachkräftemangel

    Der Leiter einer Fachklinik machte im Pausengespräch während einer Verbandstagung folgende Bemerkung: „Wir werden demnächst irgendwo in Deutschland eine Klinikschließung erleben, nicht weil die Belegung oder die Finanzierung so schlecht ist, sondern weil nicht mehr genug qualifiziertes Personal zu finden ist!“ Damit wurde eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahre und Jahrzehnte  auf den Punkt gebracht. Wie in fast allen Branchen macht sich in Deutschland auch im Gesundheitswesen und in der Sozialwirtschaft der Fachkräftemangel immer deutlicher bemerkbar. Für den Bereich der Suchtrehabilitation betrifft das vor allem ärztliches und pflegerisches, mittlerweile aber auch sozialpädagogisches und psychologisches Personal.

    Die hohen quantitativen und qualitativen Anforderungen der Leistungsträger durch Sollstellenpläne und Formalqualifikationen verschärfen das Problem noch. Hier werden zukünftig neue Lösungen gefunden werden müssen, die einerseits die Qualität der Behandlung sicherstellen, andererseits aber auch der Arbeitsmarktlage Rechnung tragen. Im psychologischen Bereich wird bspw. ein von der Platzzahl abhängiger Anteil an Psychologischen Psychotherapeuten gefordert. Eine deutliche Erleichterung war hier die vor einigen Jahren eingeführte Regelung, dass bei noch nicht vorhandener Approbation auch die Zwischenprüfung oder absolvierte Hälfte der Weiterbildung bei dem entsprechenden Personal im Stellenplan anerkannt wird. Im Bereich Sozialpädagogik bzw. Soziale Arbeit darf mittlerweile grundsätzlich nur noch Personal im Stellenplan gezählt werden, das die suchttherapeutische Weiterbildung vollständig abgeschlossen hat. In den von der Deutschen Rentenversicherung anerkannten Curricula der entsprechenden Institute gem. den neuen Auswahlkriterien zur Prüfung von Weiterbildungen von 2011 (vgl. DRV Bund 2013: Vereinbarungen im  Suchtbereich, S. 80) ist aber vorgesehen, dass diese Zusatzausbildung berufsbegleitend erfolgt. Es stellt sich also die Frage, wo das in Weiterbildung befindliche Personal beschäftigt werden soll? Es gibt nur geringe Stellenanteile  im Bereich „Sozialdienst“ und die Vergütungssätze in der Suchtrehabilitation lassen keinerlei Spielraum, diese Mitarbeitenden zusätzlich in den Einrichtungen zu beschäftigen.

    Ein weiterer wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit der Personalsituation ist die deutliche Verschiebung des Geschlechterverhältnisses. Sozial- und Gesundheitsberufe werden immer stärker von weiblichen Arbeitskräften dominiert, was grundsätzlich natürlich kein qualitatives oder quantitatives Problem darstellt. Allerdings wird von vielen Einrichtungsleitungen das Fehlen von „männlichen Identifikationsfiguren“ in den therapeutischen Teams beklagt, da rund drei Viertel der Patienten in der Suchtreha Männer sind. Und die praktische Erfahrung zeigt, dass die therapeutische Beziehung ein wesentlicher Wirkfaktor für eine gelingende Behandlung ist. Diese Beziehung lässt sich gleichgeschlechtlich anders gestalten, was bspw. auch für die Therapie in spezifischen Fraueneinrichtungen gilt.

    Es werden in den Einrichtungen aber nicht nur Fachkräfte dringend gesucht, sondern ebenso Führungskräfte, die bereit sind, Verantwortung für Menschen, Konzepte und Gebäude zu übernehmen. Auch wenn das nach „früher war alles besser“ klingt, so lässt sich doch in der Praxis des Personalmanagements beobachten, dass die Nachbesetzung von Leitungsfunktionen in den Einrichtungen schwieriger wird. Bislang konnten häufig Nachfolgeregelungen mit ambitionierten Mitarbeitenden gefunden werden, die zunächst einige Jahre in der  „zweiten Reihe“ Erfahrungen als Bereichsleitung oder stellvertretende Einrichtungsleitung gesammelt hatten. Zunehmend berichten aber Personalverantwortliche in den Trägerorganisationen, dass dieses Modell nicht mehr funktioniert. Häufig fällt die Antwort von Nachwuchskräften, denen eine Führungsposition zugetraut und angeboten wird, so oder so ähnlich aus: „Den Stress und die Verantwortung tue ich mir für eine kleine Gehaltserhöhung lieber nicht an!“ Das mag zum einen ein Hinweis darauf sein, dass Führungspositionen in Sozial- und Gesundheitseinrichtungen wegen der komplexen (fachlichen, personellen, organisatorischen, rechtlichen etc.) Anforderungen und der zunehmenden ökonomischen Zwänge weniger attraktiv sind als die möglicherweise eher sinnstiftende therapeutische Arbeit. Zum anderen könnte eine Ursache für dieses Phänomen in der veränderten Einschätzung der „Generation Y“ (Geburtsjahrgänge etwa 1985 bis 1995) im Hinblick auf eine akzeptable Arbeitsbelastung liegen. Wobei man sicherlich vorsichtig sein muss, denn diese Generationenmodelle sind stark verallgemeinert und können nicht jede individuelle berufliche Entscheidung erklären.

    Es stellt sich also die Frage, wie Unternehmen im Sozial- und Gesundheitsbereich auf diese existentielle Herausforderung reagieren sollen. Eine Trendwende am Arbeitsmarkt ist schon aus demografischen Gründen nicht zu erwarten, und die Rekrutierung von ausländischen Fachkräften ist wegen der hohen sprachlichen Kompetenzanforderungen in der Psycho- und Suchttherapie eher im Einzelfall eine sinnvolle Lösung. Wenn die Einrichtungsträger in ausreichendem Umfang junge Fach- und Führungskräfte finden wollen, erfordert das neue Wege bei der Personalgewinnung, der Personalentwicklung und der Personalbindung. Dazu gehören u. a. folgende Aspekte:

    • Personalgewinnung – Vermittlung eines positiven Berufsbildes für die Suchthilfe in der Öffentlichkeit und bei potenziellen Bewerbern, bspw. durch regionale Vernetzung (Jobmessen) oder Ausbildungspartnerschaften (Bereitstellung von Praktikumsplätzen, Kooperation bei dualen Studiengängen, Förderung von Weiterbildungen).
    • Personalentwicklung – Unterstützung der Mitarbeitenden bei der professionellen Weiterentwicklung, wenn in kleinen Einrichtung kaum hierarchische Aufstiegsmöglichkeiten vorhanden sind, bspw. durch ergänzende therapeutische Weiterbildungen.
    • Personalbindung – Entwicklung einer Unternehmenskultur, die Identifikationsmöglichkeiten mit dem Arbeitgeber bietet sowie langfristig zufriedenes und (psychisch wie physisch) gesundes Arbeiten ermöglicht.

    Es ist im Zeitalter der extremen Vernetzung und Transparenz durch soziale Netzwerke nicht mehr ausreichend, sich als guter Arbeitgeber in Broschüren oder auf der Internetseite zu präsentieren. Wenn diese Darstellung von der Wahrnehmung der Mitarbeitenden im Arbeitsalltag abweicht, dann steigt zum einen die Fluktuation, weil es viele offene Stellen bei anderen Unternehmen gibt, und zum anderen verbreitet sich das schlechte Image schnell unter potenziellen Bewerbern. Daher muss der Gestaltung einer positiven Unternehmenskultur verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt werden. Wichtige Bereiche sind in diesem Zusammenhang:

    • offene und vertrauensvolle Kommunikation (bspw. fairer Umgang mit Fehlern)
    • ressourcenorientierter und unterstützender Führungsstil (insbesondere Wahrnehmung individueller Stärken und Schwächen, Wünsche und Ziele)
    • transparente Entscheidungsstrukturen und Arbeitsabläufe (zur Vermeidung von Unberechenbarkeit und Unsicherheit)
    • Beteiligung an Gestaltungs- und Abstimmungsprozessen (zur Entwicklung eines gemeinsamen Verantwortungsbewusstseins)
    • individuelle zeitliche und räumliche Arbeitsgestaltung (u. a. flexible Arbeitszeit und mobiles Arbeiten in Abhängigkeit von den gegebenen Anforderungen und Rahmenbedingungen)
    • Förderung von Gemeinschaftsgefühl und Teamzusammenhalt (u. a. zur Herstellung von Verlässlichkeit und Verbindlichkeit)

    Dadurch entstehen hohe Anforderungen an die Führungskräfte, und es wird zunehmend wichtiger, diesen auch die entsprechenden Kompetenzen zu vermitteln, bspw. durch Fort- und Weiterbildungen, kollegiale Supervision oder externes Coaching.

    • Am 9. September 2020 erscheint Teil II mit den Themen: Digitalisierung, Therapie und Konzepte.
    • Am 23. September 2020 erscheint Teil III mit den Themen Modularisierung, Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung, Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit.
    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Therapiehilfe gGmbH
    Conventstr. 14
    22089 Hamburg
    andreas-koch@therapiehilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Mitglied der Geschäftsführung der Therapiehilfe gGmbH, Hamburg, und Honorarprofessor an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung, Hennef.

    Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas

  • „Selbsthilfe reloaded! – SoberGuides“

    Der Digitalisierungsprozess ermöglicht es, neue fortschrittliche Wege der Sucht-Selbsthilfe zu beschreiten. Die Corona-Pandemie hat zudem im laufenden Jahr die Bedeutung der digitalen Kommunikation aufgezeigt. Ohne zu wissen, was uns im Jahr 2020 erwartet, haben die Guttempler in Deutschland mit freundlicher Unterstützung der BARMER im Oktober 2019 ein innovatives, mehrjähriges Sucht-Selbsthilfeprojekt gestartet, das sich von bisherigen Projekten der Selbsthilfeförderung deutlich unterscheidet.

    Das Projekt ist beispielgebend und richtungsweisend durch die digitale Erweiterung und die Ausbildung der ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen. Diese wurden in Präsenzschulungen und Online-Seminaren für ihre neue ehrenamtliche Aufgabe im so genannten Blended Learning qualifiziert. Der Bundesverband der Guttempler in Deutschland hat hierfür eine eigene E-Learning-Plattform aufgebaut, die den Ehrenamtlern zur Verfügung steht. Die hierfür qualifizierten ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen kommen aus ganz Deutschland und werden als SoberGuides bezeichnet.

    Die Guttempler richten ihre Sucht-Selbsthilfearbeit mit diesem Projekt neu aus, weil sich Bedürfnisse der Hilfesuchenden verändert haben. Zentraler Bestandteil ist eine modern gestaltete Projekthomepage, über die die freiwilligen und kompetenten Helfer*innen unkompliziert erreichbar sind.

    Das Besondere an dem Konzept ist, dass Hilfesuchende sich über die Homepage www.soberguides.de ihre ehrenamtlichen Begleiter*innen aussuchen und diese direkt ansprechen können. „Das Angebot von ‚Selbsthilfe reloaded!‘ richtet sich an Menschen, die weniger Suchtmittel konsumieren möchten oder sich für eine abstinente Lebensweise entscheiden wollen. Auch den Angehörigen und Freunden von Menschen mit Suchterfahrung bietet SoberGuides eine Anlaufstelle“, sagt Jens Krug, Selbsthilfe-Beauftragter bei der BARMER.

    „Es ist vor allem für Menschen konzipiert, die den Umgang mit Online-Medien kennen, denn der erste Kontakt findet über das Internet statt. Wir bringen die Selbsthilfegruppen ins heimische Wohnzimmer und fungieren als Begleiter in ein selbstbestimmtes suchtmittelfreies Leben. Die Hilfesuchenden bestimmen den Kanal (die Kommunikationsebene), entweder das persönliche Treffen, das Telefonat mit uns oder über die Online-Präsenz im Internet und Smartphone“, beschreibt SoberGuide Andreas das neue Hilfeangebot. Durch das Angebot werden auch jüngere Menschen und solche mit eingeschränkter Mobilität erreicht.

    Das Projekt „Selbsthilfe reloaded – SoberGuides“ wird ermöglicht über die BARMER im Rahmen der Selbsthilfeförderung nach § 20 h Sozialgesetzbuch V.

    Pressemitteilung der Guttempler in Deutschland, 10.08.2020

  • Vertrauensvolle Zusammenarbeit fördert den Therapieerfolg

    Eine vertrauensvolle Beziehung und eine gezielte Zusammenarbeit zwischen Therapeut und Patient sind für die erfolgreiche Behandlung psychischer Erkrankungen zentral. Und es lohnt sich, früh damit anzufangen. Dies zeigt eine Taskforce der American Psychological Association (APA) unter der Leitung von Christoph Flückiger, Psychologieprofessor an der Universität Zürich (UZH), in einer Serie von Metastudien.Depressionen, Angstzustände, Abhängigkeitserkrankungen – 30 Prozent der weltweiten Bevölkerung leiden mindestens einmal im Leben an einer psychischen Störung. Situationen der Unsicherheit und Isolation wie die aktuelle Corona-Pandemie bergen in dieser Hinsicht ein besonderes Risiko. Gemäß Weltgesundheitsorganisation WHO zählen psychische Erkrankungen zu den größten und am stärksten stigmatisierten Herausforderungen moderner Gesellschaften. Entsprechend intensiv arbeiten Gesundheitssysteme daran, Behandlungsangebote zu verbessern und möglichst kosteneffizient zu gestalten. Psychotherapie erweist sich dabei als flexible und niedrigschwellige primäre Behandlungsmöglichkeit.

    Internationale Meta-Analysen zu knapp 400 Studien

    Die Beziehung zwischen Arzt respektive Therapeut und Patient sowie ihr Einfluss auf den Behandlungserfolg wurde in der Medizin lange vernachlässigt. Seit einigen Jahren rückt diese Beziehung jedoch stärker in den Fokus des Interesses. „Bei der Behandlung psychischer Erkrankungen ist diese Therapiebeziehung besonders bedeutsam“, sagt Christoph Flückiger, Professor für Allgemeine Interventionspsychologie und Psychotherapie an der Universität Zürich. „Denn der Therapieprozess kann unangenehme Gefühle aktivieren und von Patientinnen und Patienten eine bewusste, intensive Auseinandersetzung mit dem eigenen Erleben und Verhalten erfordern.“

    Unter Flückigers Leitung und mit Beteiligung von Forschenden aus 17 Ländern hat eine Taskforce der American Psychological Association (APA) eine Serie von Meta-Analysen durchgeführt: Untersucht wurden knapp 400 empirische Studien zum Zusammenhang von Therapiebeziehung und Behandlungserfolg. Die Auswertungen zeigen, dass sich die Qualität der Therapiebeziehung in fast allen bestehenden Studien als robuste Prognose für den Therapieerfolg erwies, und zwar über die verschiedenen Therapieansätze, Erfolgsmessungen, Patientencharakteristika und Länder hinweg.

    Bedeutung der Arbeitsallianz ist nicht nur eine Begleiterscheinung

    „Psychische Störungen werden dann besonders erfolgreich behandelt, wenn Therapeutin und Patientin innerhalb einer vertrauensvollen Beziehung zielgerichtet zusammenarbeiten“, fasst Flückiger zusammen. Innerhalb dieser therapeutischen „Arbeitsallianz“, wie sie in der Fachliteratur genannt wird, verständigen sich die beiden Seiten über die Aufgaben, das Vorgehen und die Ziele der Therapie und arbeiten gemeinsam auf diese hin.

    In der wissenschaftlichen Debatte zum Thema wurde verschiedentlich die Vermutung geäußert, dass die Arbeitsallianz und der damit zusammenhängende Therapieerfolg bloß eine Begleiterscheinung anderer Faktoren seien. Als mögliche Einflüsse wurden zum Beispiel frühere Behandlungserfahrungen, Symptomstärke, die therapeutische Ausrichtung oder auch die Fortschritte während des Therapieprozesses diskutiert. Die Taskforce um Christoph Flückiger fand jedoch keinerlei Hinweise darauf, dass diese Faktoren die Bedeutung der Arbeitsallianz für den Therapieerfolg schmälern könnten.

    Frühe Therapiephase ist entscheidend

    Was die Ergebnisse hingegen unterstreichen, ist, dass die frühe Phase der Therapie für den Behandlungserfolg entscheidend ist. „In dieser frühen Phase stehen Symptomschwere und Arbeitsallianz in einem positiven wechselseitigen Verhältnis zueinander, was häufig zu einer Aufwärtsspirale führt“, erklärt Flückiger. Sprich: Eine starke vertrauensvolle Beziehung zwischen Therapeut und Patient hilft, die Symptome zu reduzieren, was umgekehrt wiederum die therapeutische Beziehung stärkt.

    „Unsere Studien liefern den Nachweis, dass es sich lohnt, in eine in eine respektvolle, vertrauensvolle therapeutische Zusammenarbeit zu investieren“, so Flückiger, „gerade auch in der Behandlung psychischer Erkrankungen.“ Dies werde in anderen Bereichen der Medizin zwar auch gefordert, oftmals jedoch noch unzureichend geschult und umgesetzt.

    Originalpublikation:
    Flückiger, C., Rubel, J., Del Re et al. (2020). The reciprocal relationship between alliance and early treatment symptoms: A two-stage individual participant data meta-analysis. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 88 (9), 829-843. DOI: 10.1037/ccp0000594

    Pressestelle der Universität Zürich, 12.08.2020

  • Gaming, Social-Media & Corona

    Die DAK-Gesundheit untersucht mit Suchtexperten am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf (UKE) in einer Längsschnittstudie erstmalig die krankhafte Nutzung von Computerspielen und Social-Media nach den neuen ICD-11 Kriterien der WHO. Auch die Folgen der Covid-19-Pandemie werden erforscht. Erste Zwischenergebnisse: Bei fast 700.000 Kindern und Jugendlichen ist das Gaming riskant oder pathologisch. Im Vergleich zum Herbst 2019 nehmen die Spielzeiten unter dem Corona-Lockdown werktags um 75 Prozent zu. Als Reaktion auf die Ergebnisse verbessert die DAK-Gesundheit die Früherkennung. Ab 1. Oktober bietet die Kasse gemeinsam mit dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in fünf Ländern das bundesweit erste Mediensuchtscreening für 12- bis 17-Jährige an. Gemeinsam mit der Bundesdrogenbeauftragten wird die Medienkompetenz gestärkt: „Digitale Medien sind für uns selbstverständlich und hilfreich im Alltag. Doch Smartphones, Tablets und Co. stellen uns auch vor Herausforderungen, in Bezug auf Inhalt und Ausmaß der Mediennutzung“, sagt Daniela Ludwig.

    Häufigkeiten pathologischer und riskanter Internetnutzung

    Die aktuelle DAK-Studie führt das Deutsche Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am UKE Hamburg durch. Erstmalig untersucht eine repräsentative Längsschnittstudie mit rund 1.200 Familien die Häufigkeiten pathologischer und riskanter Internetnutzung für Spiele und soziale Medien bei Kindern und Jugendlichen nach den neuen ICD-11-Kriterien der WHO. Im September 2019 zeigen zehn Prozent der 10- bis 17-Jährigen ein riskantes Spielverhalten. Pathologisches Gaming wird bei 2,7 Prozent festgestellt: Die Zahl der betroffenen Jungen liegt mit 3,7 Prozent mehr als doppelt so hoch wie bei Mädchen (1,6 Prozent).

    „Die ersten Ergebnisse sind alarmierend“, sagt Andreas Storm, Vorstandschef der DAK-Gesundheit. „Hochgerechnet auf die Bevölkerung ist bei fast 700.000 Kindern und Jugendlichen das Gaming riskant oder pathologisch. Die Corona-Krise kann die Situation zusätzlich verschärfen. Es gibt erste Warnsignale, dass sich die Computerspielsucht durch die Pandemie ausweiten könnte.“

    Nutzungszeiten für Gaming und Social Media

    Laut der DAK-Studie nehmen unter dem Corona-Lockdown die Nutzungszeiten deutlich zu. Im Vergleich zum September 2019 steigt im Mai 2020 die Spieldauer in der Woche um 75 Prozent an. Werktags klettern die durchschnittlichen Gamingzeiten von 79 auf 139 Minuten an. Am Wochenende gibt es einen Anstieg um fast 30 Prozent auf 193 Minuten am Tag. „Die Nutzungszeiten der Kinder und Jugendlichen haben die größte Vorhersagekraft für ein problematisches und pathologisches Verhalten“, sagt Professor Rainer Thomasius, Ärztlicher Leiter am Deutschen Zentrum für Suchtfragen. Ob die Mediensucht durch Schulschließungen und eingeschränkte Freizeitaktivitäten tatsächlich wächst, soll die Längsschnittstudie in einer abschließenden Befragung der teilnehmenden Familien im Frühjahr 2021 zeigen.

    Ähnlich problematisch wie Onlinespiele sind Social-Media-Aktivitäten. Im September zeigen 8,2 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen eine riskante Nutzung. Das entspricht hochgerechnet fast 440.000 der 10- bis 17-Jährigen. Eine pathologische Nutzung wird bei rund 170.000 Jungen und Mädchen (3,2 Prozent) festgestellt. Unter dem Corona-Lockdown steigen die Social-Media-Zeiten werktags um 66 Prozent an – von 116 auf 193 Minuten pro Tag. Gaming und soziale Medien werden vor allem genutzt, um Langeweile zu bekämpfen oder soziale Kontakte aufrechtzuerhalten. Rund ein Drittel der Jungen und Mädchen will online aber auch der „Realität entfliehen“ oder Stress abbauen. Laut Studie geben 50 Prozent der Eltern an, dass es in ihrer Familie vor und unter Corona keine zeitlichen Regeln für die Mediennutzung gibt.

    Pilotprojekt Mediensuchtscreening bei 12- bis 17-Jährigen

    „Unsere Studie zeigt, dass wir dringend ein verlässliches und umfassendes Frühwarnsystem gegen Mediensucht brauchen“, sagt DAK-Vorstandschef Andreas Storm. „Es darf nicht länger Zufall sein, Risiko-Gamer zu erkennen und ihnen Hilfsangebote zu machen. Als Vorreiter bei der Vorsorge bietet die DAK-Gesundheit deshalb als bundesweit erste Krankenkasse ein neues Mediensuchtscreening an.“ In einem Pilotprojekt mit dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) gibt es bei 12- bis 17-Jährigen eine neue zusätzliche Vorsorgeuntersuchung. In den fünf Bundesländern Bremen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen können ab 1. Oktober 2020 rund 70.000 Jungen und Mädchen die Früherkennung ergänzend zur J1 und J2 nutzen. Grundlage für das Mediensuchtscreening ist die so genannte GADIS-A-Skala (Gaming Disorder Scale for Adolescents), die von Suchtforschern des UKE Hamburg entwickelt wurde und jetzt erstmals in der Praxis eingesetzt wird. „Dieser Schritt ist für Eltern und Ärzte gleichermaßen sehr wichtig, denn Computerspielsucht ist ein wichtiges Gesundheitsthema bei Kindern und Jugendlichen“, sagt Dr. Sigrid Peter, Vizepräsidentin des BVKJ. „Die Einbettung des Screenings in die regulären Vorsorgeuntersuchungen hilft dabei, eine drohende Sucht frühzeitig zu erkennen und gegenzusteuern.“

    Neue Online-Anlaufstelle Mediensucht

    Als zusätzliches Hilfsangebot hat die DAK-Gesundheit gemeinsam mit der Computersuchthilfe Hamburg eine neue Online-Anlaufstelle Mediensucht entwickelt. Ab August 2020 erhalten Betroffene und deren Angehörige unter www.computersuchthilfe.info Informationen und Hilfestellungen rund um die Themen Online-, Gaming- und Social-Media-Sucht. Das kostenlose DAK-Angebot ist offen für Versicherte aller Krankenkassen. „Die neue Anlaufstelle hilft Kindern im Umgang mit Online-Medien und gibt deren Eltern gleichzeitig Orientierung“, sagt Vorstandschef Storm.

    Pressestelle der DAK-Gesundheit, 29.07.2020