Autor: Simone Schwarzer

  • Verbotene Kräuter?

    Jacobus Tabernaemontanus: „Neuw vollkommentlich Kreuterbuch“, Erstausgabe 1588. Verwendung mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek der Universität Tübingen.

    Soll Cannabis zu medizinischen Zwecken legalisiert werden oder bleibt es eine illegale Droge? Dies wird seit Jahren in vielen Ländern diskutiert ‒ und ist doch schon wesentlich länger Streitpunkt als gedacht: Bereits im Mexiko des 18. Jahrhunderts warb der Priester und Wissenschaftler José Antonio Alzate y Ramírez für die heilende Wirkung der umstrittenen Pflanze – und legte sich dabei mit der spanischen Kolonialmacht und der Inquisition an. Die Historikerin Dr. Laura Dierksmeier vom Sonderforschungsbereich RessourcenKulturen an der Universität Tübingen untersucht die damalige öffentliche Auseinandersetzung in Mexiko. Ihre Studie „Forbidden herbs: Alzate’s defense of ‚pipiltzintzintlis‘“ wurde am 07. Juli im „Journal Colonial Latin American Review“ veröffentlicht.

    In einem Zeitungsartikel von 1772 verteidigte Alzate Cannabis, das er unter dem Namen „Pipiltzintzintlis“ aus eigenen Anbau kannte: Er schrieb ihm einen wertvollen medizinischen Nutzen für die Behandlung von Husten, Gelbsucht, Tinnitus, Tumoren, Depressionen und vielem mehr zu. Zudem hielt er die Hanfpflanze für einen hervorragenden Rohstoff zur Herstellung von Seilen für Segelschiffe. Die Spanische Inquisition betrachtete das Halluzinogen hingegen als ein Mittel, um mit dem Teufel in Verbindung zu treten und hatte es daher verboten ‒ genauso wie viele andere psychoaktive Pflanzen oder Verhaltensweisen, die christlichen Grundsätzen angeblich widersprachen.

    José Antonio Alzate y Ramírez (1737–1799) hatte eine Mission: er wollte der mexikanischen Öffentlichkeit wissenschaftliche und vor allem naturkundliche Erkenntnisse näher bringen. Im Laufe seines Lebens war er Herausgeber vier verschiedener Zeitungen, Mitglied des königlichen botanischen Gartens in Madrid und korrespondierendes Mitglied der französischen Akademie der Wissenschaften.

    Alzates Belege zum Nutzen von medizinischem Cannabiskonsum reichen von eigenen Erfahrungen über Berichte von Ureinwohnern und Matrosen bis hin zu medizinischen Enzyklopädien. „Das Spannende ist dabei vor allem die Bandbreite der Quellen des 18. Jahrhunderts, die den medizinischen Marihuanakonsum unterstützten“, sagt Laura Dierksmeier. Alzate nenne hier bekannte Wissenschaftler der damaligen Zeit wie den Naturforscher Jacques-Christophe Valmont de Bomare, den Mediziner Michael Etmüller, den Arzt und Mitbegründer der Wissenschaftsakademie „Royal Society of London“ Thomas Willis sowie die Ärzte Guy-Crescent Fagon und Engelbert Kämpfer.

    Die Historikerin untersuchte außerdem weitere Quellen aus dieser Zeit, die von dem mexikanischen Forscher nicht zitiert wurden, weil er keinen Zugang dazu hatte oder die Sprache nicht beherrschte. So zum Beispiel den Mediziner und Botaniker Jacobus Tabernaemontanus, der in seinem „Neuw Kreuterbuch“ von 1588 Frauen zur Benutzung von Cannabis rät, um Unterleibsschmerzen zu lindern. Oder auch den ersten bekannten englischsprachigen Fürsprecher Richard Hooke.

    „Alzates öffentliche Verteidigung des verbotenen Krauts zeigt allgemeine Streitfragen der mexikanischen Gesellschaft“, bewertet Laura Dierksmeier die Rolle des unbequemen Geistlichen. „Er war ein unermüdlicher Vermittler zwischen kirchlichen Autoritäten und der Zivilgesellschaft, zwischen der spanischen Inquisition und seinen eigenen wissenschaftlichen Beobachtungen, zwischen Wissenschaftlern und der Öffentlichkeit sowie zwischen indigenem und europäischem Wissen. Alzates Methoden waren europäisch und typisch für die Aufklärung, seine Mission und sein Fokus aber waren spezifisch lateinamerikanisch: Er war stolz auf die natürliche Umgebung Mexikos und förderte die Verwendung einheimischer Kräuter, auch wenn dies bedeutete, sie vor dem Verbot der Kirche zu verteidigen.“

    Das historische Beispiel zeige, dass die Legalisierung von Marihuana schon sehr lange ein kontroverses Thema sei, wie die Wissenschaftlerin erklärt. Allerdings drohte Kritikern des Verbotes damals die Verbannung oder Todesstrafe. Forscher der Frühen Neuzeit nahmen ein großes Risiko auf sich, um Informationen zu veröffentlichen, die ihrer Meinung nach der Allgemeinheit dienten. Alzate selbst musste seine Veröffentlichungen nicht mit dem Leben bezahlen. Jedoch wurden drei seiner Zeitungen zensiert und am Ende eingestellt, um ihn in der Öffentlichkeit mundtot zu machen.

    „Die Erkenntnisse der Studie können helfen, die gegenwärtige Legalisierungsdebatte zu bereichern oder zumindest die verhärteten Fronten aufzubrechen“, sagt Dierksmeier. „Denn laut Alzate und den von ihm zitierten Wissenschaftlern überwiegt der Nutzen der Hanfpflanze als Baustoff oder Medizinpflanze die möglichen Nebenwirkungen. Oder wie José Antonio Alzate y Ramírez selbst sagte: ‚Ich glaube, ich habe die Vorteile der Nutzung von Pipiltzintzintlis demonstriert, und wie wir in der Sprache der Theologen sagen: Es ist schlecht, weil es verboten ist, nicht verboten, weil es schlecht ist.‘“

    Originalpublikation:
    Laura Dierksmeier, „Forbidden herbs: Alzate’s defense of pipiltzintzintlis .Colonial Latin American Review, 07. Juli 2020, https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/10609164.2020.1755941

    Pressestelle der Eberhard Karls Universität Tübingen, 07.07.2020

  • Corona – Beschleuniger virtuellen Arbeitens?

    Das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO hat gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Personalführung e.V. (DGFP) im Zeitraum vom 5. bis zum 22. Mai 2020 die Einflüsse virtueller Arbeit, insbesondere dem Homeoffice, auf die Unternehmenspraxis untersucht und die Ergebnisse in der Studie „Arbeiten in der Corona-Pandemie – Auf dem Weg zum New Normal“ zusammengefasst. Die Studie wurde am 9. Juli 2020 veröffentlicht.

    In einer gemeinsam angelegten Studie haben das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO und die Deutsche Gesellschaft für Personalführung e.V. (DGFP) die Auswirkungen, Chancen und Erfahrungen virtueller Arbeitsformen in der Corona-Pandemie analysiert. An der Befragung nahmen über 500 Unternehmen teil. Im Fokus der Studie standen Fragen nach den Veränderungen der Arbeitsorganisation, der Bewältigung von Kundenkontakten sowie technischen Herausforderungen für Mitarbeitende und Unternehmen. Im Vordergrund stand darüber hinaus die Einschätzung der Unternehmen dazu, wie es im „New Normal“ weitergehen kann und welche technischen, kulturellen sowie führungsseitigen Voraussetzungen hierfür noch geschaffen werden müssen.

    „Die Ergebnisse sind beeindruckend“, sagt die Studienleiterin Dr. Josephine Hofmann vom Fraunhofer IAO. „Wir erleben ein großflächiges, bundesweites Experiment der Digitalisierung von Arbeit und Kooperation, dessen Veränderungsgeschwindigkeit bis vor kurzem noch undenkbar erschien. Besonders bemerkenswert finde ich das agile, schnelle Vorgehen in den Unternehmen und den Mut, Neues, auch notgedrungen, schnell umzusetzen“, ergänzt Hofmann.

    70 Prozent im Homeoffice – das „New Normal“ zu Corona-Zeiten

    Besonders die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Umsetzung von Arbeit auf Distanz sind hoch. Fast 70 Prozent der Befragten gaben an, dass ihre Angestellten in der Corona-Phase komplett im Homeoffice arbeiten. Bei gut 21 Prozent wird das Modell einer 50:50-Aufteilung gewählt. Vor der Corona-Krise war der Anteil der daheim arbeitenden Mitarbeitenden deutlich geringer. Auch Geschäftsreisen und Kundenveranstaltungen wurden weitgehend virtualisiert und mit digitalen Formaten abgewickelt. Gleiches gilt für zentrale Personalprozesse, die bisher fast ausschließlich in physischer Präsenz abgewickelt wurden, wie z. B. Bewerber- und Einstellungsgespräche. 57 Prozent gaben an, die Gespräche erstmalig virtuell durchzuführen. Bei Mitarbeitergesprächen lag der Anteil bei 62 Prozent und beim Kundendialog bei 72 Prozent. „Die Zahlen veranschaulichen, welchen großen Einfluss Corona nicht nur auf das zwischenmenschliche Miteinander hat, sondern auch auf die Unternehmenswelt. Die digitale Transformation in Arbeitsprozessen hat einen gewaltigen Schub bekommen“, erklärt Kai Helfritz von der DGFP. „Das ›New Normal‹ oder auch das ›New Different‹ wird in einem deutlich höheren Maß von einem Nebeneinander virtueller und im Büro stattfindenden Arbeits- und Kooperationsformen gekennzeichnet sein“, ergänzt Josephine Hofmann.

    47 Prozent der Befragten haben bestätigt, dass gerade Führungskräfte Vorbehalte abgebaut haben. Erwartungsgemäß hat die Studie auch klare Nachbesserungspotenziale sichtbar gemacht: bei Führung über Distanz, beim Management von Entgrenzung aber auch bei technischen Themen wie digitale Signaturen. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Arbeits- und Kooperationsprozesse insgesamt deutlich stärker virtualisierbar sind, als bisher angenommen.

    Die Studie steht ab sofort kostenlos im Internet zur Verfügung. Das Fraunhofer IAO bietet Unternehmen oder Organisationen darüber hinaus eine individuelle Bestandsaufnahme an. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler befragen darin Mitarbeitende und Führungskräfte systematisch nach ihrer Einschätzung und werten die Ergebnisse organisationsspezifisch für die strategische Planung des beauftragenden Unternehmens aus. Interessierte Unternehmen können sich bei Interesse direkt an Dr. Josephine Hofmann wenden.

    Originalpublikation:
    Hofmann, Josephine; Piele, Alexander; Piele, Christian: Arbeiten in der Corona-Pandemie– Auf dem Weg zum New Normal. Studie des Fraunhofer IAO in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Personalführung DGFP e.V. http://publica.fraunhofer.de/dokumente/N-593445.html

    Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO, 09.07.2020

  • Sozialpolitik für die Soziale Arbeit

    Nomos Verlag, Baden-Baden 2019, 229 Seiten, 24,00 €, ISBN 978-3-8487-4067-3, auch als E-Book erhältlich

    Der Band gibt einen einführenden Überblick über die Sozialpolitik und das System sozialer Sicherung in Deutschland und geht dabei insbesondere auf die Soziale Arbeit als Teilaspekt von Sozialpolitik ein. Es werden grundlegende gesellschaftliche Mechanismen der Umverteilung und sozialen Sicherung erläutert, Theorien der Sozialstaatlichkeit vorgestellt und die Geschichte der deutschen Sozialpolitik in ihren Grundzügen nachvollzogen.

    Im Zentrum des Bandes steht die ausführliche Darstellung der Struktur des deutschen Sozialstaates. Erörtert werden sowohl die unterschiedlichen sozialstaatlichen Säulen (Sozialversicherungen, soziale Entschädigung, soziale Hilfen, soziale Förderung) als auch verschiedene Ebenen sozialpolitischer Träger (Bund, Länder, Gemeinden, Verbände). Einen weiteren Schwerpunkt bilden jüngere sozialpolitische Entwicklungen (Transformation der Wohlfahrtsproduktion) in ihrer jeweiligen Bedeutung für die Soziale Arbeit als Disziplin und Profession.

  • Weiterbildung in Suchttherapie und Sozialmanagement in der Suchthilfe

    Foto: Frankfurt UAS/Kevin Rupp

    Der berufsbegleitende Master-Studiengang „Suchttherapie und Sozialmanagement in der Suchthilfe“ an der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS) startet im Wintersemester 2020/21 mit dem dritten Jahrgang. Das Besondere an diesem Studiengang des Fachbereichs Soziale Arbeit und Gesundheit ist die integrierte suchttherapeutische Weiterbildung, wahlweise psychoanalytisch oder verhaltenstherapeutisch. Die Frankfurt UAS kooperiert dazu mit dem Gesamtverband für Suchthilfe e.V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland, einem erfahrenen Anbieter für außerhochschulische Weiterbildungen zur Suchttherapeutin bzw. zum Suchttherapeuten. Die Absolventinnen und Absolventen erhalten nach erfolgreichem Studium der Therapie-Module neben dem Master-Abschluss zusätzlich einen von der Deutschen Rentenversicherung Bund anerkannten Abschluss als Suchttherapeut/-in (psychoanalytisch oder verhaltenstherapeutisch). Die Bewerbung ist möglich bis zum 31. Juli 2020.

    Der Studiengang wurde auf der Grundlage einer intensiven Bedarfserhebung in der Suchthilfe und im regelmäßigen Austausch mit führenden Fachkräften aus der Praxis entwickelt und im Wintersemester 2015/16 an der Frankfurt UAS zum ersten Mal angeboten.

    Zum Masterstudium zugelassen werden kann, wer über einen einschlägigen Studienabschluss in Medizin, Psychologie, Sozialpädagogik oder Sozialer Arbeit (mit staatlicher Anerkennung) verfügt, mindestens 19,5 Wochenstunden in einer Einrichtung der Medizinischen Rehabilitation abhängigkeitskranker Menschen arbeitet, mindestens ein Jahr Berufserfahrung in der Suchthilfe vorweisen und kontinuierliche Einzel- oder Gruppenbehandlung durchführen kann.

    Der Studiengang mit einer Regelstudienzeit von sechs Semestern (Teilzeit) ist als akademische Weiterbildung kostenpflichtig, die Gebühren für das gesamte Studium betragen 14.800 Euro. Details zum Studiengang und zu den Zulassungsvoraussetzungen unter: www.frankfurt-university.de/suma

    Master-Studiengang Suchttherapie und Sozialmanagement in der Suchthilfe (M.A.)
    Studienbeginn: neuer Jahrgang ab Wintersemester 2020/21
    Bewerbungsfrist WS 2020/21: bis 31.07.2020
    Regelstudienzeit: 6 Semester Teilzeit
    Informationen zum Studiengang: www.frankfurt-university.de/suma

    Kontakt:
    Frankfurt University of Applied Sciences, Fachbereich 4: Soziale Arbeit und Gesundheit
    Prof. Dr. Heino Stöver, Telefon: 069/1533-2823, E-Mail: hstoever@fb4.fra-uas.de

    Pressestelle der Frankfurt University of Applied Sciences, 30.06.2020

  • Studie zur Verschreibung von Medikamenten mit Abhängigkeitspotential

    Das Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS) und das Universitätsklinikum Hamburg, Eppendorf, Klinik für Psychiatrie, haben die Verschreibung von Medikamenten mit erwiesenem Abhängigkeitspotential und von Antidepressiva untersucht. Dabei gingen die Forscher folgenden Fragen nach: Wie oft und in welchen Dosierungen werden diese Medikamente über lange Zeiträume hinweg verordnet? Verändert sich im Laufe der Zeit die Häufigkeit der Langzeitverordnungen? Welche Patientengruppen sind anfällig für Medikamentenmissbrauch oder ‑abhängigkeit? Orientieren sich Ärztinnen und Ärzte bei der Verschreibung der Medikamente an den Empfehlungen der gängigen Leitlinien?

    Der Ergebnisbericht des Projektes „ProMeKa – Ausmaß und Trends der problematischen Medikation von Benzodiazepinen, Z-Substanzen, Opioid-Analgetika und Antidepressiva bei Kassenpatienten“, das durch den Innovationsausschuss beim Gemeinsamen Bundesausschuss gefördert wurde, liegt nun vor und kann auf der Website des Innovationsausschusses heruntergeladen werden.

    Aus dem Bericht:

    1. Zusammenfassung

    1.1 Hintergrund

    In Deutschland sind 1,4 bis 2,3 Millionen Menschen von Medikamenten abhängig. Beim weit überwiegenden Teil sind Benzodiazepine [BZD] bzw. Z-Substanzen [ZS] oder Opioid-Analgetika [OA] beteiligt. Probleme mit BZD/ZS finden sich insbesondere in den höheren Alterskohorten, wobei ein erheblicher Anteil dieser Personen diese Medikamente in geringen Dosen über viele Jahre einnimmt. Bei OA stellen insbesondere Patientinnen und Patienten mit chronischen Schmerzen eine Risikogruppe dar. Allerdings werden diese Medikamente auch von (jüngeren) Personen missbräuchlich konsumiert, um euphorische Rauschzustände zu erzielen. Laut Arzneiverordnungsreport sind die verschriebenen Tagesdosen von Antidepressiva [AD] in den zurückliegenden Jahren stetig gestiegen. Gleiches gilt für die Prävalenz der Einnahme dieser Medikamente. Zu den Ursachen des als epidemisch zu bezeichnenden Gebrauchs von Antidepressiva liegen bisher keine belastbaren Befunde vor.

    1.2 Methodik

    Auf Basis der Daten des Norddeutschen Apothekenrechenzentrums (NARZ/AVN), welches eine Abdeckungsquote von über 80 Prozent aller Apotheken in Norddeutschland erreicht, werden die auf Kassenrezepten dokumentierten Verschreibungen von BZD, ZS, OA und AD personenbezogen ausgewertet. Es werden die Prävalenz des Gebrauchs sowie der Langzeiteinnahme dieser Medikamente in der Bevölkerung bestimmt und Befunde zu spezifischen Risikogruppen dargestellt

    1.3 Ergebnisse

    Die Prävalenz der Einnahme von (kassenärztlich verschriebenen) BZD und ZS nimmt zwischen 2011 und 2015 stetig leicht ab. Auch hinsichtlich der durchschnittlichen Dauer der Einnahme und der eingenommenen Wirkstoffmenge ist eine Verringerung erkennbar. Frauen nehmen anteilsbezogen diese beiden Medikamente deutlich häufiger ein als Männer. Die Dauer der Einnahme wie auch die Wirkstoffmenge ist bei den älteren Patientinnen und Patienten am höchsten. Gleichzeitig zeigt sich für diese Patientengruppe eine überdurchschnittliche Reduktion von Einnahmedauer und -menge. 2015 erhielt jeweils nahezu ein Fünftel der Personen, die mit BZD bzw. ZS behandelt wurden, diese Medikamente (mindestens) ganzjährig. Der Anteil an Patientinnen und Patienten mit leitliniengerechten Verschreibungen (unter zwei Monaten) von BZD oder ZS ist aber im zeitlichen Verlauf steigend. Problematische Verschreibungsmuster, die auf Missbrauch oder Abhängigkeit deuten, gehen dementsprechend zurück (2011: 30,0 Prozent; 2015: 27,1 Prozent). Ein Teil der Patientinnen und Patienten praktiziert so genanntes Ärztehopping, d. h., sie lassen sich innerhalb eines Beobachtungsjahres von mindestens drei verschiedenen Ärzten Medikamente mit dem jeweils zu untersuchenden Wirkstoff verschreiben. Mit Blick auf die BZD-/ZS-Patienten lässt sich ein solches Verhalten insbesondere bei der Hochrisikogruppe (>6 Monate Dauer & >1 DDD/pro Tag) feststellen.

    Die Zahl der Personen, die zwischen 2011 bis 2016 ein OA verschrieben bekamen, steigt leicht an (2011: 4,5 Prozent; 2016: 4,9 Prozent). Die Prävalenz erhöht sich mit dem Alter der Patientinnen und Patienten stetig. Bei den Älteren ist sowohl die mittlere Einnahmedauer als auch die eingenommene Wirkstoffmenge erhöht. Im Fünf-Jahres-Verlauf sind diesbezüglich nur geringfügige Veränderungen festzustellen. Die überwiegende Mehrzahl der Erstverordnungen von OA an Nicht-Tumorschmerzpatienten geht auf die schwächer wirkenden Medikamente der WHO-Stufe II zurück. Bemerkenswert ist, dass ein Fünftel der Schmerzpatienten ihre Behandlung mit einem stark wirksamen Stufe-III-Medikament beginnen. „Ärztehopping“ war bzgl. der OA insbesondere unter den Langzeiteinnehmern mit Tagesdosen von mehr als 1 DDD zu finden.

    Die Prävalenz der Patientinnen und Patienten, die AD verschrieben bekommen haben, steigt zwischen 2011 und 2012 von 7,5 Prozent auf 8,0 Prozent an und stagniert in den nachfolgenden Jahren bei 8,0 Prozent. Etwas mehr als doppelt so viele Frauen wie Männer erhielten in dem untersuchten Zeitraum AD. Auch bezüglich dieses Medikamentes zeigt sich ein bedeutsamer Zusammenhang zwischen Prävalenz und Alter. Die durchschnittliche Einnahmedauer sowie die eingenommene Wirkstoffmenge nehmen seit 2012 stetig zu.

    1.4 Diskussion

    Hinsichtlich des immer noch häufig vorzufindenden Langzeitgebrauchs von BZD bedarf es weiterer Aufklärung – insbesondere der älteren Patientinnen und Patienten – hinsichtlich der Risiken und alternativer Behandlungsformen sowie Schulungen des Personals in medizinischen und geriatrischen Einrichtungen. Mit Blick auf die vorliegenden Studienergebnisse zu den OA lässt sich festhalten, dass ein epidemischer Gebrauch in Deutschland aktuell nicht zu erkennen ist. Aufmerken lässt dennoch die Zunahme der OA-Langzeitverschreibungen. Während solche langen Behandlungszeiträume bei Tumorpatienten in der Regel notwendig sein dürften, besteht nur bei wenigen anderen Erkrankungen eine Indikation für Behandlungen, die über ein halbes Jahr hinausgehen. Bzgl. der AD konnte die Annahme, dass die Steigerungen der Prävalenz und der Dosis z. T. durch eine Substitutionsfunktion der AD (als Ersatz für Schlaf-/Beruhigungs- oder Schmerzmittel) erklärbar seien, mittels der durchgeführten Analysen nicht bestätigt werden. Somit bleibt weiterhin unklar, worauf diese Zuwächse zurückzuführen sind.

    Redaktion KONTUREN, 08.07.2020

  • Highlights aus dem EU-Drogenmarktbericht für Politik und Praxis 2019

    Mit dem EU-Drogenmarktbericht 2019 haben die EU-Drogenbeobachtungsstelle (EMCDDA) und Europol im November 2019 zum dritten Mal einen aktuellen Überblick über den europäischen Markt für illegale Drogen geliefert. Daraus geht zum Beispiel hervor, dass die europäische Bevölkerung mindestens 30 Milliarden Euro jedes Jahr auf Endverbraucherebene für Drogen ausgibt, womit der Drogenmarkt eine Haupteinnahmequelle für kriminelle Organisationen in der Europäischen Union ist. Etwa zwei Fünftel des Gesamtvolumens (39 Prozent) entfallen auf Cannabis, 31 Prozent auf Kokain, 25 Prozent auf Heroin und fünf Prozent auf Amphetamine und MDMA.

    Diese und weitere Highlights aus dem ursprünglich auf Englisch veröffentlichten Bericht wurden nun in einem Kurzbericht zusammengefasst, der in verschiedenen Sprachen, u.a. auch auf Deutsch, zum Download zur Verfügung steht: https://www.emcdda.europa.eu/publications/joint-publications/highlights-eu-drug-markets-report

    Quelle: EMCDDA-Newsletter, Drugnet Europe: monthly news round-up (May 2020), 29.05.2020

  • Toxisch

    Springer-Verlag, Berlin Heidelberg 2020, 270 Seiten, 19,99 €, ISBN 978-3-662-60677-3, auch als E-Book erhältlich

    Durch den Konsum von Rauschdrogen ballern sich tagtäglich Millionen von Menschen aus ihrer subjektiv gefühlten Realität heraus. Angefangen bei Alkohol und Nikotin haben wir es heute mit einem verantwortungslosen, unkultivierten und gefährlichen Konsumverhalten zu tun. Dieses Buch stellt die durchaus erlaubte und provokative Frage, ob die derzeitige Drogenpolitik noch „up to date“ ist bzw. wo sie durch ihre restriktive Herangehensweise nicht völlig versagt hat. Wo liegen die Ursachen dieses Konsumverhaltens und wie ist es um einen liberalisierten und aufgeklärten Umgang mit gewissen Substanzen bestimmt? Mit diesem mutigen und investigativen Werk nehmen die beiden Autoren eine authentische Perspektive zum Thema Rauschdrogen in Deutschland ein. Und sie wissen, wovon sie reden! Ein Buch für User, Neugierige, Eltern, Pädagogen, Therapeuten, Ärzte, Sozialarbeiter, Interessierte der Drogenverbotsdebatte und alle, denen etwas daran liegt, dass die Gesellschaft in Sachen Suchtprävention und Selbstbestimmungsrecht von Konsumenten endlich wach wird und handelt.

    Inklusive Videointerviews mit den Autoren und Geleitworte von Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke, Jugendrichter Andreas Müller und dem Grimme-Preisträger $ick.

  • Schleierhafte Dampfwolken

    E-Zigaretten sind modern, gelten bei vielen als cool und im Vergleich zu herkömmlichen Tabakzigaretten als weniger gesundheitsschädlich. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) hat die Alternative zum Rauchen geprüft. Das Ergebnis: E-Zigaretten sind nicht harmlos. „Viele der verwendeten Inhaltsstoffe sind nicht ausreichend untersucht“, sagt der Präsident des Bundesinstituts für Risikobewertung, Professor Dr. Dr. Andreas Hensel. „Wie sich etwa Verdampfungsmittel in den Liquids von E-Zigaretten, über Jahre eingeatmet, auf die Gesundheit auswirken, ist noch unbekannt.“ Die Erforschung der gesundheitlichen Risiken des „Dampfens“ ist Schwerpunktthema in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins BfR2GO. Weitere Themen im Heft: Coronaviren in Lebensmitteln, Gift im Fisch, krankmachende Bakterien in Rohmilch, Verbraucherkonferenz zu Genome Editing, Bio-Pflanzenschutzmittel und Biorhythmen von Zellen.

    Download der aktuellen Ausgabe BfR2GO 1/2020:
    https://www.bfr.bund.de/cm/350/bfr-2-go-ausgabe-1-2020.pdf

    Die Gesundheitsgefahr, die von einer E-Zigarette ausgeht, ist bei bestimmungsgemäßem Gebrauch im Vergleich zur herkömmlichen Zigarette kleiner. Der Grund: Im Dampf sind weniger krebserzeugende Stoffe enthalten als im Rauch der Tabakzigarette. Das Gesundheitsrisiko von E-Zigaretten allgemein zu bewerten, ist jedoch angesichts der Vielfalt an Modellen und Liquids schwierig. Am BfR werden die Inhaltsstoffe von E-Zigaretten-Liquids untersucht. Dabei wird geprüft, welche Substanzen beim Verdampfen entstehen können: etwa Acrolein, Acetaldehyd oder das krebserzeugende Formaldehyd. Außerdem enthält der Dampf der E-Zigaretten in der Regel gesundheitsschädliches Nikotin, das abhängig macht. Das Wissenschaftsmagazin BfR2GO zeigt die Funktionsweise üblicher E-Zigarettenmodelle und erklärt die gesundheitlichen Risiken verunreinigter oder selbstgemischter Liquids.

    Das Wissenschaftsmagazin BfR2GO erscheint zweimal im Jahr in deutscher und englischer Sprache. Es wird auf der BfR-Webseite veröffentlicht und kann von dort kostenlos heruntergeladen oder direkt bestellt werden. Darüber hinaus können sich Interessentinnen und Interessenten für ein kostenloses Abonnement anmelden.

    Über das BfR
    Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) ist eine wissenschaftlich unabhängige Einrichtung im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL). Es berät die Bundesregierung und die Bundesländer zu Fragen der Lebensmittel-, Chemikalien- und Produktsicherheit. Das BfR betreibt eigene Forschung zu Themen, die in engem Zusammenhang mit seinen Bewertungsaufgaben stehen.

    Pressestelle des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR), 10.06.2020

  • Sucht: bio-psycho-sozial

    Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2019, 155 Seiten, 29,00 €, ISBN 978-3-17-036372-4, auch als E-Book erhältlich

    Biologische, psychische und soziale Faktoren sind nicht eigenständig ursächlich verantwortlich für die Entstehung und Überwindung von Sucht. Sie stellen Teile eines verflochtenen Ganzen dar, deren dynamische Wechselbeziehungen von Bedeutung für die Entstehung und den Verlauf von Suchterkrankungen sind. Der Sammelband analysiert und diskutiert aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven die Umsetzung des bio-psycho-sozialen Modells in der Begleitung, Beratung und Behandlung suchtgefährdeter und süchtiger Menschen.