Kooperation oder Konfrontation? Oxytocin kann beides verstärken. Quelle: Weizmann-Institut für Wissenschaften
Während der Pandemie-Einschränkungen waren Paare gezwungen, Tage und Wochen miteinander zu verbringen – einige haben dabei ihre Liebe wiedergefunden, andere sind wohl mittlerweile auf dem Weg zum Scheidungsrichter. Oxytocin, ein Peptid, das im Gehirn produziert wird, spielte dabei möglicherweise eine Rolle: Als Neuromodulator kann es positive Gefühle verstärken, das ist bekannt. Neu ist: Es kann auch Aggressionen auslösen. Diese Schlussfolgerung ziehen Wissenschaftler des Weizmann-Instituts für Wissenschaft. Gemeinsam mit Kollegen des Münchner Max-Planck-Instituts für Psychiatrie haben sie die Oxytocin-produzierenden Gehirnzellen von Mäusen, die unter halbnatürlichen Bedingungen leben, manipuliert und untersucht. Die in der Zeitschrift „Neuron“ veröffentlichten Ergebnisse könnten ein neues Licht auf die Oxytocin-Behandlung verschiedener psychiatrischer Erkrankungen von sozialer Angst und Autismus bis hin zu Schizophrenie werfen.
Viel Wissen zur Wirkung von Neuromodulatoren wie Oxytocin stammt aus Verhaltensstudien an Labortieren unter Standardlaborbedingungen: Alle Parameter sind streng kontrolliert und künstlich. Eine Reihe neuerer Studien legt jedoch nahe, dass die Aktivitäten einer Maus in einer halbnatürlichen Umgebung viel mehr über ihr natürliches Verhalten aussagen, insbesondere wenn die Erkenntnisse auf den Menschen übertragen werden sollen.
Das Team um den Neurobiologen Alon Chen hat einen Versuchsaufbau geschaffen, der es möglich macht, Mäuse in einer Umgebung zu beobachten, die ihren natürlichen Lebensbedingungen ähnlicher ist. Acht Jahre lang hat das Team an der Studie gearbeitet: Tag und Nacht haben die Wissenschaftler die Aktivität der Nagetiere mit Kameras überwacht und computergestützt analysiert. Neu war dabei vor allem die Nutzung der Optogenetik und einer eigens entwickelten, implantierbaren Vorrichtung, die es ermöglichte, bestimmte Nervenzellen im Gehirn ferngesteuert mit Hilfe von Licht an- oder auszuschalten. So konnten sie das Verhalten der Mäuse verfolgen und gleichzeitig ihre Hirnfunktionen analysieren.
Das „Liebeshormon“ stand schon länger im Verdacht, nicht nur positive Gefühle zu vermitteln, sondern eher die Wahrnehmung sozialer Signale zu verstärken und damit, je nach dem individuellen Charakter und der Umgebung, auch sozial auffälliges Verhalten zu begünstigen. Für die Studie nutzten die Forscher Mäuse, bei denen sie die Oxytocin-produzierenden Zellen im Hypothalamus sanft aktivieren konnten.
Oxytocin kann antagonistische Verhaltensweisen bewirken
In der halbnatürlichen Umgebung zeigten die Tiere zunächst ein verstärktes Interesse aneinander, schnell jedoch kam zunehmend aggressives Verhalten hinzu. Im Gegensatz dazu führte die zunehmende Oxytocinproduktion bei den Mäusen unter klassischen Laborbedingungen zu einer verminderten Aggression. In einem rein männlichen, natürlichen sozialen Umfeld wäre ein aggressives Verhalten zu erwarten, wenn die Tiere um Territorium oder Nahrung konkurrieren. Das heißt, die sozialen Bedingungen sind förderlich für Konkurrenz und Aggression. Eine andere soziale Situation, wie die Standardlaborbedingungen, führt dagegen zu einer anderen Wirkung des Oxytocins.
Wenn das „Liebeshormon“ also eher ein „soziales Hormon“ ist, was bedeutet das für seine pharmazeutische Anwendung? Seine Wirkungen hängen sowohl vom Kontext als auch von der Persönlichkeit ab. Dies impliziert, dass für den therapeutischen Einsatz eine sehr viel differenziertere Sichtweise erforderlich ist. Die Komplexität von Verhalten kann man nur verstehen, wenn man es in einer komplexen Umgebung untersucht. Erst dann können Erkenntnisse auf das menschliche Verhalten übertragen werden.
Die Forschung von Prof. Alon Chen wird unterstützt durch das Ruhman Family Laboratory for Research in the Neurobiology of Stress, die Perlman Family Foundation, gegründet von Louis L. und Anita M. Perlman, die Fondation Adelis, Bruno Licht und Sonia T. Marschak. Prof. Chen ist der Inhaber des Vera und John Schwartz Lehrstuhls für Neurobiologie.
Die Forschung von Prof. Ofer Yizhar wird unterstützt durch das Ilse Katz Institut für Materialwissenschaften und Magnetresonanzforschung, den Adelis Brain Research Award und das Paul und Lucie Schwartz, Georges und Vera Gersen Laboratorium.
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) hat in Zusammenarbeit mit der Bundesärztekammer einen neuen Leitfaden zum Thema Alkoholkonsum entwickelt. Der Leitfaden unterstützt Ärztinnen und Ärzte dabei, Gespräche zum Thema Alkohol mit Patientinnen und Patienten so zu führen, dass diese sich gut beraten fühlen. Unter dem Titel „Alkoholkonsum bei Patientinnen und Patienten ansprechen. Ärztliches Manual zur Prävention und Behandlung von riskantem, schädlichem und abhängigem Konsum“ ist der Leitfaden ab sofort kostenfrei bei der BZgA bestellbar.
Dr. med. (I) Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, sagt: „Hausärztinnen und Hausärzte sind oft der erste Ansprechpartner für ihre Patienten. Sie können daher einen riskanten Alkoholkonsum frühzeitig erkennen. Hausärztliche Kurzinterventionen führen in vielen Fällen zu einer deutlichen Senkung des Alkoholkonsums. Allerdings spielt bei einem so sensiblen Thema die richtige Ansprache eine entscheidende Rolle. Hier ist viel ärztliches Fingerspitzengefühl gefragt. Der Leitfaden leistet dabei eine wichtige Hilfestellung.“
Das neue Beratungsmaterial richtet sich an niedergelassene und klinisch tätige Ärztinnen und Ärzte. Alle Inhalte basieren auf den Empfehlungen der wissenschaftlichen S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen” der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (Juli 2014). In aufeinander aufbauenden Kapiteln informiert der Leitfaden darüber, was risikoarmer, riskanter beziehungsweise schädlicher und abhängiger Alkoholkonsum ist und wie ärztliche Diagnosen gestellt werden können. Er gibt Empfehlungen und Hinweise für eine ärztliche Kurzintervention, um das Alkoholkonsumverhalten bei den Patientinnen und Patienten positiv zu beeinflussen.
Den Leitfaden ergänzend bietet die BZgA ein Faltblatt mit wesentlichen Informationen: „Alkoholkonsum bei Patientinnen und Patienten ansprechen. Auszüge aus dem ärztlichen Manual“.
Der Leitfaden und das Faltblatt wurden im Rahmen der BZgA-Erwachsenenkampagne „Alkohol? Kenn dein Limit.“ und in enger Kooperation mit der Bundesärztekammer entwickelt. Es handelt sich um eine vollständige Aktualisierung und Überarbeitung der „Kurzintervention bei Patienten mit Alkoholproblemen“ aus dem Jahr 2009.
Bestellung der kostenfreien BZgA-Informationsmaterialien:
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 50819 Köln
E-Mail: bestellung@bzga.de
Fax: 0221/8992257 www.bzga.de/infomaterialien/
Gemeinsame Pressemitteilung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und der Bundesärztekammer, 19.05.2020
Der Deutsche Bundesverband der Chefärztinnen und Chefärzte von Suchtfachkliniken (DBCS) und die Deutsche Suchtmedizinische Gesellschaft (DSMG) haben in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe Empfehlungen zur sicheren Durchführung stationärer medizinischer Rehabilitation Sucht während der SARS-CoV-2-Pandemie erarbeitet.
Die beteiligten leitenden Ärztinnen und Ärzte stellen in ihren Empfehlungen die zu beachtenden Besonderheiten der Suchtreha heraus. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass es erhebliche strukturelle und personelle Unterschiede zwischen den Einrichtungen gibt und nicht alle Empfehlungen für jede einzelne Klinik umsetzbar sind. Die Empfehlungen sollen den verantwortlichen Ärztinnen und Ärzten eine Orientierungshilfe zur Erstellung eigener coronaspezifischer Hygienekonzepte bieten.
In der Präambel werden Ausganslage und Zielsetzung der Empfehlungen beschrieben:
Präambel
Suchterkrankungen bedingen eine erhöhte Mortalität, viele verlorene Lebensjahre und den Verlust vieler Lebensjahre ohne Einschränkungen. Dabei sind neben den gesundheitlichen und psychosozialen Folgen für die betroffene Person auch die Auswirkungen auf die Umgebung (Familie, Freunde, Arbeitgeber, Gesellschaft allgemein) zu berücksichtigen.
Die Behandlung von Suchterkrankungen ist wirksam und kosteneffektiv. Ein wesentlicher Baustein der Suchtbehandlung ist die Entwöhnungsbehandlung, die in Deutschland überwiegend als medizinische Rehabilitation durchgeführt wird.
Eine stationäre Rehabilitation Suchtkranker soll stets unter dem Aspekt angeboten werden, dass die mit der Durchführung verbundenen Risiken geringer sind als die mit der Störung verbundenen bei Nichtbehandlung. Dies gilt umso mehr unter den Bedingungen der aktuellen SARS-CoV-2 Pandemie.
Unter der Verantwortung der Leitenden Ärzten*innen müssen die Hygienekonzepte der Kliniken sowie die jeweilige Behandlungskonzeption so angepasst werden, dass die Patienten*innen und Mitarbeiter*innen bestmöglich vor einer potentiellen Infektion mit dem neuartigen Coronavirus geschützt werden und zugleich die mit der Suchtrehabilitation verbundenen Ziele der Gesundung und Teilhabe weiterhin möglichst weitgehend erreicht werden können.
Die erweiterten Hygienekonzepte bedingen Veränderungen der Therapieorganisation und nehmen Einfluss auf die Erreichbarkeit vorgegebener Qualitätsziele wie die Erfüllung der KTL und ETM Standards, auf die Wirtschaftlichkeit, den Personalaufwand und betriebswirtschaftliche Faktoren. Absehbar ist ein erhöhter personeller und materieller Aufwand. Die Rehabilitation des/der einzelnen Rehabilitanden*in verteuert sich. Insofern können die Empfehlungen auch eine Grundlage sein, die Tagessätze während der Pandemie einrichtungsbezogen anzupassen.
Eine langfristig erfolgreiche Umsetzung der Hygienemaßnahmen hängt von vielen Faktoren ab. So ist eine stete Anpassung an die aktuelle Entwicklung der Pandemie, die aktuelle Situation in der Region der Klinik und der Herkunftsregion der/des Patienten*in erforderlich. Die Maßnahmen müssen so gestaltet, transparent kommuniziert und dauerhaft begleitet werden, dass die Klientel der Suchtkranken, die durch eine herabgesetzte Fähigkeit zu nachhaltigen Verhaltensänderungen und oft auch zur Regelakzeptanz gekennzeichnet ist, in die Lage versetzt wird, sich an die erforderlichen Regeln zu halten. Diese sollten einrichtungsbezogen an die jeweiligen Patient*innengruppen, Konzeptionen und räumlichen und örtlichen Gegebenheiten angepasst werden.
Die nachfolgend aufgeführten Empfehlungen sollen also den einzelnen Leistungsanbietern der stationären Rehabilitation Sucht Möglichkeiten aufzeigen, wie sie unter Berücksichtigung der Gegebenheiten ihrer Einrichtung, ihres Behandlungskonzeptes, ihrer Patientenklientel und der aktuellen Pandemielage das Rehabilitationsangebot so gestalten können, dass ein Infektionsrisiko mit SARS-CoV-2 gering gehalten und zugleich die mit der Suchtrehabilitation verbundenen Ziele der Gesundung und Teilhabe möglichst weitgehend erreicht werden können. Die abgestuften einzelnen Empfehlungen stellen eine Auswahl an Handlungsoptionen zur Orientierung für die Leitenden Ärzte*innen dar.
Deutscher Bundesverband der Chefärztinnen und Chefärzte von Suchtfachkliniken (DBCS) und Deutsche Suchtmedizinische Gesellschaft (DSMG), 12.06.2020
Schattauer/Klett Cotta-Verlag, Stuttgart 2020, 96 Seiten mit digitalen Zusatzmaterialien, 30,00 €, ISBN 978-3-608-40044-1, auch als E-Book erhältlich
Bei Menschen, die eine Therapie für Abhängigkeitserkrankungen beginnen, überwiegen meist Gefühle wie Scham und Schuld – Scham, dass sie diese Krankheit entwickelt haben und dass sie es nicht allein geschafft haben, abstinent zu leben; Schuld, dass sie Angehörige und Freunde belasten. Diese negativen Emotionen fördern jedoch die Aufrechterhaltung der Abhängigkeitserkrankung.
Hier setzt die Leistungssensible Suchttherapie (LST), welche von den Autoren Fleckenstein und Fleckenstein-Heer entwickelt wurde, an: In der Therapie wird eine neue konstruktive, von Stolz geprägte Haltung gegenüber der Abhängigkeitserkrankung vermittelt. Betroffene und Angehörige werden für die erbrachten Leistungen in der Überwindung der Sucht sensibilisiert, und somit wird eine neue, konstruktive Haltung im Umgang mit dieser herausfordernden Erkrankung gefördert. Das Ergebnis: Positive Gefühle wie Stolz und dadurch ein transparenterer Umgang mit den Symptomen der Erkrankung und eine bessere Beziehungsqualität zwischen Angehörigen und Betroffenen.
Mit der Entwicklung und Veröffentlichung der BORA-Empfehlungen im Jahr 2015 ist im Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen die berufliche Integration im Rahmen der Medizinischen Rehabilitation deutlicher als bisher in den Fokus gerückt, auch wenn das Thema Arbeit bislang schon einen traditionell hohen Stellenwert in der Suchtbehandlung hatte (Köhler, 2009). Die Reha-Einrichtungen waren aufgefordert, durch Ergänzung ihrer Rehabilitationskonzepte die Analyse und Förderung der Integrationspotentiale der Rehabilitand*innen weiterzuentwickeln. Die Einführung von BORA unterstreicht die Notwendigkeit in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker, den Fokus auf die berufliche Wiedereingliederung zu legen, neben den anderen relevanten Teilhabezielen und der Förderung der Abstinenz.
Die verstärkte berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation darf aber nicht fälschlicherweise mit einer Abkehr von der Psychotherapie gleichgesetzt werden. Allerdings gelingt die Vernetzung mit der regionalen Agentur für Arbeit oder mit den lokalen Jobcentern trotz beeindruckender Abstinenzquoten nicht in allen Fällen (Kobelt et al., 2017). Bei vielen Rehabilitand*innen führt ein möglicherweise biografisch bedingtes Überforderungsgefühl oder eine nicht genügend ausgeprägte Resilienz dazu, dass ein konstruktiver Umgang mit Stresssituationen, Selbstwertproblemen oder mangelnder Gratifikation erschwert wird. Ebenso sind die Auflösung von konkurrierenden Belastungssituationen zwischen Arbeit und Familie, von Konflikten mit Kolleg*innen oder Vorgesetzten sowie eine ausgewogene Selbstorganisation große Herausforderungen. Die differenzierte und individualisierte Therapieplanung in den Einrichtungen trägt diesen Aspekten Rechnung. Persönlichkeitsstrukturelle Anteile der Rehabilitand*innen werden dabei ebenso thematisiert und bearbeitet wie die Kontextbedingungen der bestehenden Arbeitsplatzverhältnisse (Kobelt et al., 2017, Baumeister, 2016, Buruck et al., 2016). Die Realität der Arbeitswelt hat in der therapeutischen Arbeit mit Abhängigkeitserkrankten eine wichtige Bedeutung und wird unmittelbar in die Therapie integriert. Die Rehabilitand*innen sollen sich durch den mehrwöchigen Aufenthalt in der Klinik kein schützendes Idyll alternativ zur Suchterkrankung aufbauen, in dem die Probleme des Alltags ausgespart bleiben (Baumeister, 2016).
In § 42 SGB IX werden die Ziele in ein rein medizinisches Ziel (Abwendung, Beseitigung, Minderung, Ausgleich vorhandener Behinderung/chronischer Krankheiten) und ein Teilhabeziel unterteilt. Drittes Ziel ist dann die möglichst dauerhafte Wiedereingliederung (BSG vom 29.01.2008 B 5a/5 R 26/07 R). Das Rehabilitationsziel soll also mit einer Kombination von medizinisch-therapeutischen Maßnahmen zur Stabilisierung bzw. Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit einerseits und der dauerhaften Wiedereingliederung ins Erwerbsleben andererseits erreicht werden.
Forschungslage zum Wiedereingliederungserfolg nach Entwöhnungsbehandlung
Obwohl die berufliche Wiedereingliederung ein wichtiges Ziel der Entwöhnungsbehandlung darstellt, gibt es bisher nur wenige Arbeiten, die sich mit dem Wiedereingliederungserfolg nach der Entwöhnungsbehandlung in Leistungsträgerschaft der Deutschen Rentenversicherung beschäftigen; gleichzeitig finden sich nur wenige empirische Hinweise darauf, welche personen- oder kontextbezogenen Faktoren die berufliche Wiedereingliederung begünstigen. Buschmann-Steinhage und Zollmann (2008) konnten zeigen, dass der Beschäftigungsstatus zum Zeitpunkt der Antragsstellung den Arbeitsstatus zwei Jahre nach Beendigung der Entwöhnungsbehandlung vorhersagen kann, d. h., dass die Erwerbssituation durch die Reha-Maßnahme mindestens stabil gehalten werden kann. Als ergänzende Prädiktoren wurden die Wohnregion, der Bildungsstatus, die Anzahl der Vorbehandlungen sowie die Höhe des zuletzt erzielten Arbeitsentgeltes identifiziert. Gerade bei abhängigkeitserkrankten Menschen, die aus einem Beschäftigungsverhältnis in die Entwöhnungsbehandlung kommen, ist die Chance im Vergleich zu arbeitslosen Personen um 50% erhöht, dass sie auch nach der Rehabilitation einer versicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen (Kobelt et al., 2019). Bachmeier (2019) konnte zeigen, dass die Quote der Erwerbstätigen im Katamnesezeitraum nach der Entwöhnungsbehandlung um ca. 8% gegenüber dem Status zu Behandlungsbeginn gesteigert werden konnte (von 46,2% auf 54,3%). Entsprechend sank die Erwerbslosigkeitsquote um über 10% (von 33,3% auf 22,9%). Auch die Arbeitsunfähigkeitszeiten reduzierten sich im Katamnesezeitraum im Vergleich zum Zeitraum vor der Behandlung deutlich.
Dennoch stellt eine Abhängigkeitserkrankung ein erhebliches Risiko für den Arbeitsplatzverlust dar, wobei der Anteil beruflich gering Qualifizierter in dieser Population besonders hoch ist (Henkel, 2011). Die Wahrscheinlichkeit, nach einer Entwöhnungsbehandlung auf dem Arbeitsmarkt wieder eingegliedert zu werden, sank für Rehabilitand*innen ohne qualifizierten Berufsabschluss um 83% gegenüber der Vergleichsgruppe mit relevanten Qualifikationen (Bestmann, 2019). Auch in früheren Studien wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Humankapitalinvestitionen, die Arbeitnehmer auf den Arbeitsmarkt mitbringen, wie Berufsausbildung und tätigkeitsspezifische Kenntnisse und Erfahrungen, die entscheidende Größe für die Aufnahme bzw. auch monetäre Bewertung einer Arbeitstätigkeit darstellen (Achatz et al., 2011).
Zudem steigt das Risiko, nach der Entwöhnungsbehandlung erwerbslos zu sein, um 70% an, wenn weitere psychische Erkrankungen bspw. eine Depression vorliegen (Kobelt et al., 2019; Bestmann 2019). Für Arbeitgeber ist die körperliche und psychische Gesundheit eine Versicherung für Stabilität und Leistungsvermögen. Bestehende körperliche, psychische oder Abhängigkeitserkrankungen erschweren so die erfolgreiche Bewerbung auf ein Stellenangebot (Dietz, 2009).
Werden lediglich versicherungskontenbezogene Katamneseergebnisse berücksichtigt, die die Veränderung der Beitragszeiten aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung widerspiegeln, zeigt sich, dass sich nach einer Entwöhnungsbehandlung die Erwerbstätigkeit der Rehabilitand*innen nur geringfügig verbessert (Kobelt et al., 2019). Auch zwei bzw. drei Jahre nach der letzten Entwöhnungsbehandlung ändert sich an diesem Status wenig (Bestmann, 2019). Je länger die Erwerbslosigkeitszeiten vor der Entwöhnungsbehandlung sind, desto mehr sinkt die Chance auf eine berufliche Wiedereingliederung (Bestmann, 2019). Dabei ist zu beachten, dass diese Entwicklungen keine Bewertung der Leistungsfähigkeit der Entwöhnungsbehandlung zulassen, sondern auf zahlreiche Einflussfaktoren zurückzuführen sind.
In den wenigen verfügbaren Studien zeigt sich bislang, dass auf der individuellen Ebene vor allem die Schwere der Erkrankung, operationalisiert durch eine vorliegende Komorbidität, und der Erwerbsstatus im Jahr vor der Entwöhnungsbehandlung die wichtigsten Variablen sind, die die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt bestimmen.
Während die Interaktion zwischen Erkrankung und Arbeitsplatzproblematik im Rahmen der in den BORA-Empfehlungen vorgesehenen Interventionsbausteinen behandelt werden kann (Kobelt et al., 2017), sind die Einflussmöglichkeiten auf die Kontextfaktoren, die die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt blockieren, wie Ausbildungsstatus und/oder fehlender Arbeitsplatz, sehr begrenzt. Achatz und Trappmann (2011) haben festgestellt, dass die Kumulation von Hemmnissen mit jedem zusätzlichen Risiko die Übergangswahrscheinlichkeit aus dem Bezug von Arbeitslosengeld II in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung fast halbiert. Je länger ein Mensch arbeitslos ist, desto mehr verliert der Betroffene psychosoziale Fähigkeiten zur Überwindung der Teilhabeprobleme. Ein Teufelskreis entsteht, aus dessen Erleben neue Belastungen und Misserfolge und damit neue Erkrankungen erwachsen oder sich bestehende Einschränkungen noch weiter intensivieren (Zenger et al., 2013; Mewes et al., 2013). Hinzu kommen Vorbehalte der Arbeitgeber insbesondere gegenüber älteren Langzeitarbeitslosen, die dazu führen, dass Anstrengungen, in eine Anstellung zurückzufinden, immer seltener zum Erfolg führen können. Erschwerend kommt hinzu, dass es für Grundsicherungsstellen effizienter ist, sich auf die Langzeitarbeitslosengruppen zu konzentrieren, deren Arbeitsaufnahme am wahrscheinlichsten ist (Achatz und Trappmann, 2011). Daher ist der frühzeitige Einsatz von arbeitsmarktpolitischen Instrumenten im Anschluss an die Entwöhnungsbehandlung wichtig, um die berufliche Integration zu fördern und Rückfälle zu verhindern, wobei auch die regionale Arbeitsmarktsituation Einfluss auf die beruflichen Integrationschancen hat.
Wie soll der Return-to-Work-Erfolg gemessen werden?
Medizinisch-berufliche Rehabilitationsprogramme (MBOR, BORA) sollen eine kosteneffektive und qualitativ hochwertige Patientenbetreuung hinsichtlich der beruflichen Wiedereingliederung gewährleisten. Neben der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit als zentraler Zielsetzung der Entwöhnungsbehandlung stellt die Wiederaufnahme einer Arbeitstätigkeit (Return to Work) ebenfalls eine wichtige Messgröße und absehbar ein wichtiges Qualitätsmerkmal dar.
Allerdings gibt es unterschiedliche Auffassungen, wie der Return-to-Work-Erfolg gemessen werden sollte. So wird schon kontrovers diskutiert, ob es ausreicht, dass die Rehabilitand*innen nach der Heilbehandlung potentiell dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, also auch, wenn die Beiträge zur Rentenversicherung von der Agentur für Arbeit entrichtet werden. Doch selbst wenn man sich darauf verständigt, dass lediglich Beiträge aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung als Erfolgsparameter anerkannt werden, bleibt sowohl die Bemessung der Mindestanzahl der Beitragsmonate sowie der Kumulationszeitraum nach der Entwöhnungsbehandlung (ein, zwei, fünf Jahre) noch offen (Nübling et al., 2016). Reicht es aus, wenn der Rehabilitand mindestens einen Monatsbeitrag aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung entrichtet hat, oder sollte die Differenz zwischen den Beitragsmonaten im Jahr nach der Rehabilitation zum Jahr vor der Rehabilitation mindestens positiv sein, um eine Verbesserung zu dokumentieren? Als Ausweg aus diesem nicht abschließend geklärten Dilemma schlägt Höder (2019) vor, dass es dem Kostenträger überlassen bleiben sollte, welches Ergebnis als klinisch relevant zu bewerten ist. Diese Alternative ist kritisch zu bewerten, denn letztlich bleibt die Frage ungelöst, wie es Versicherten mit einer Abhängigkeitserkrankung ohne Entwöhnungsbehandlung ergangen wäre, da es keine kontrollierten Untersuchungen mit Vergleichsgruppen gibt.
Doch auch dieser Weg wirft weitere Fragen auf, vor allem dann, wenn die Ergebnisindikatoren (bspw. Beiträge aus versicherungspflichtiger Beschäftigung) unabhängig von den persönlichen (Psychopathologie, Suchtgeschichte, Berufsausbildung) und kontextuellen (Arbeitsmarkt, Wohnort, Mobilität) Voraussetzungen und Bedingungen der Versicherten und ohne ausreichende Berücksichtigung der Beeinflussbarkeit festgelegt werden (Amelung et al., 2013).
Wenn zukünftig Kliniken auf der Grundlage der Return-to-Work-Quote als Ergebnisindikator verglichen werden, um zum Beispiel erfolgreiche Behandlungs- und Fallmanagementprogramme zu identifizieren (vgl. Krischak et al., 2018), ist zu erwarten, dass sich Suchtrehakliniken deutlich mehr mit der Agentur für Arbeit, mit den JobCentern oder mit Berufsförderungswerken (Jankowiak et al., 2018) vernetzen müssen. So wurde schon vor Jahren eine vertraglich geregelte Kooperation zwischen Entwöhnungseinrichtungen und den Agenturen für Arbeit bzw. den Jobcentern gefordert (Bahemann et al., 2012).
Die Erwartung, dass vor der Rehabilitationsbehandlung arbeitslose oder arbeitsunfähige Rehabilitand*innen nach der Heilbehandlung eine neue Tätigkeit beginnen oder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren, setzt demnach unbedingt voraus, dass die behandelnden stationären und ambulanten Rehabilitationseinrichtungen direkt auf die kontextuellen Bedingungen des Arbeitsmarktes bzw. des bestehenden Arbeitsplatzes einwirken können, da die Wiederaufnahme einer Arbeitstätigkeit oder die Reintegration in den Arbeitsmarkt nach längerer Arbeitslosigkeit nur sehr begrenzt von der rehabilitativ-psychotherapeutischen Behandlungsplanung beeinflusst werden kann (Rekowski, 2014). Dazu kann entweder die schon geforderte enge Kooperation mit der Agentur für Arbeit oder den Jobcentern dienen, oder die berufliche Reintegration bzw. die Stabilisierung der regelmäßigen Erwerbstätigkeit muss im Rahmen der ambulanten Weiterbehandlung oder Nachsorge verstärkt in den Mittelpunkt gestellt werden, wobei die Rehabilitand*innen kontinuierlich betreut, unterstützt und beobachtet werden müssen (Kulick, 2009).
Fragestellung
Weil die Vernetzung mit der Agentur für Arbeit oder den Jobcentern eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Wiederaufnahme einer Arbeitstätigkeit vor allem für arbeitslose Rehabilitand*innen nach einer Entwöhnungsbehandlung ist, sollte mit der vorliegenden Studie untersucht werden, wie erfolgreich die Kooperation und Vernetzung mit der Agentur für Arbeit bzw. den örtlichen Jobcentern im Rahmen der stationären Entwöhnungsbehandlung gestaltet werden kann:
Wie hoch ist der Anteil der Rehabilitand*innen, für die eine Kontaktaufnahme mit der Agentur für Arbeit oder mit dem Jobcenter notwendig ist?
Wie wurde der Kontakt zur Agentur für Arbeit oder mit dem Jobcenter hergestellt?
Wie hoch ist der Anteil der Rehabilitand*innen, die während der Entwöhnungsbehandlung erfolgreich mit der Agentur für Arbeit oder mit den Jobcentern Kontakt aufnehmen konnten?
Welche Gründe gab es, dass kein Kontakt zur Agentur für Arbeit oder zum Jobcenter hergestellt werden konnte?
Methoden
Um wesentliche Indikatoren für die Zusammenarbeit zwischen der Agentur für Arbeit bzw. den Jobcentern und den an der Untersuchung beteiligten Einrichtungen zu dokumentieren, wurde durch eine Gruppe von Expert*innen der Suchtfachverbände (Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss), Fachverband Drogen- und Suchthilfe (fdr+) und Fachverband Sucht (FVS)) sowie der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover die Basisdokumentation um zusätzliche Items ergänzt, auf deren Grundlage die Aktivitäten zur Förderung der beruflichen Teilhabe der Einrichtungen im Rahmen von BORA evaluiert werden können (s. Tabelle 1).
Tabelle 1: Ergänzende Items zur Dokumentation der Vernetzung im Rahmen von BORA
Die Items wurden als ergänzendes Modul in das Dokumentationssystem PATFAK (Software für stationäre Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe von der Fa. Redline Data) integriert.
Die Erhebung wurde in den Jahren 2017 (n=1.839), 2018 (n=1.961) und 2019 (=1.874) durchgeführt und umfasste ausschließlich Versicherte der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover (insgesamt n=5.674). Folgende Fachkliniken, die alle in der Federführung der DRV Braunschweig-Hannover liegen, haben sich an der Datenerhebung beteiligt:
Fachklinik Nettetal
Fachklinik Hase-Ems
Haus Möhringsburg
Fachklinik Bassum
Haus Niedersachsen
Klinik am Kronsberg
Fachklink Südergellersen
Therapiezentrum OPEN
Fachklinik Erlengrund
Klinik am Park
Die Datensätze der einzelnen Entlassungsjahrgänge wurden jeweils im Folgejahr von diesen Einrichtungen zusammen mit den Daten des Deutschen Kerndatensatzes (KDS 3.0) eingesammelt. Die Datensammlung, Auswertung und Ergebnisdarstellung wurde von der Firma Redline Data übernommen. Es wurden lediglich deskriptive Statistiken durchgeführt.
Ergebnisse
Bei etwas mehr als der Hälfte der Rehabilitand*innen wurde während der Reha die Kontaktaufnahme zum Jobcenter als erforderliche Maßnahme identifiziert (s. Tabelle 2).
Tabelle 2: Kontaktaufnahme zu Jobcenter / Agentur für Arbeit erforderlich
79,9% der Rehabilitand*innen, bei denen eine Kontaktaufnahme zur Agentur für Arbeit oder zum Jobcenter notwendig war, waren unter 50 Jahre alt. In dieser Gruppe waren 53,9% wegen einer Alkoholabhängigkeit in der Entwöhnungsbehandlung, 34,2% wegen einer Abhängigkeit von illegalen Drogen (Opioide, Cannabis, Kokain, Stimulanzien) und 6,4% Prozent waren mehrfachabhängig. 59,1% der Rehabilitand*innen waren zum Zeitpunkt der Befragung bereits Empfänger von Arbeitslosengeld II.
Die genauere Analyse der erforderlichen Kontaktaufnahme im Verhältnis zum Erwerbsstatus zeigt ein nicht überraschendes Bild: Von den Rehabilitand*innen, bei denen keine Kontaktaufnahme erforderlich war, machen Erwerbspersonen mit 67,5% den größten Anteil aus. Bei den Fällen mit erforderlicher Kontaktaufnahme ist die große Mehrheit (78,1%) arbeitslos (s. Tabelle 3). Die einzelnen Kategorien wurden wie folgt zusammengefasst:
Bei der Frage, ob der Kontakt für die Rehabilitand*innen, bei denen der Kontakt zum Jobcenter bzw. zur Arbeitsagentur erforderlich war, auch erfolgreich hergestellt werden konnte, zeigt sich, dass das nur bei etwas mehr als der Hälfte der Fälle gelungen ist (52,0%; s. Tabelle 4).
Tabelle 4: Erfolg der Kontaktaufnahme
Zur Frage nach den genutzten Kontaktwegen fällt der sehr geringe Anteil „Online“ auf (4,5%). Die übrigen Kontaktoptionen werden zu etwa gleichen Teilen genutzt, wobei die telefonische Kontaktaufnahme etwas überwiegt (38,0%; s. Tabelle 5).
Tabelle 5: Nutzung verschiedener Kontaktwege
Bei der Frage nach den Kontaktwegen ist zu beachten, dass hier eine Mehrfachauswahl möglich war. Die Antworten zu den einzelnen Kontaktwegen beziehen sich nur auf 2.054 Rehabilitand*innen (66,3%), die mindestens einen Kontaktweg genutzt haben. 27,7% der Rehabilitand*innen haben mehr als einen Kontaktweg genutzt (s. Tabelle 6).
Tabelle 6: Anzahl der genutzten Kontaktwege
Problematisch sind die Fälle, bei denen der Kontakt nicht erfolgreich war (n=1.454; s.a. Tabelle 4). Es ist davon auszugehen, dass ein nicht unerheblicher Anteil der Rehabilitand*innen, die keinen Kontakt zur Agentur oder zum Jobcenter herstellen konnten, auch gar nicht erst versucht hat, einen der Kontaktwege zu nutzen (n=1.045; s.a. Tabelle 6). Daraus lässt sich aber auch erkennen, dass bei 409 Fällen trotz Nutzung einer Kontaktoption kein Kontakt zustande kam.
Wenn die Kontaktaufnahme zum Jobcenter bzw. zur Arbeitsagentur nicht erfolgreich war, stellt sich die Frage nach den Gründen. Bei der Konzeption der Datenerhebung wurden von der Gruppe der Expert*innen zunächst mehrere mögliche Gründe aus der klinischen Erfahrung zusammengestellt und als Kategorien vorgegeben. Plausibel erscheint das Ergebnis, dass in 16,2% der Fälle das Jobcenter bzw. die Arbeitsagentur die Kontaktherstellung für die Zeit nach der Reha plant, weil erst an dieser Stelle die eigene Zuständigkeit gesehen wird (s. Tabelle 7).
Tabelle 7: Gründe für nicht erfolgten Kontakt
Es hat sich gezeigt, dass die Gründe, warum es nicht zu einer Kontaktaufnahme mit der Agentur oder dem Jobcenter kam, sehr unterschiedlich sein können und mit den vorgegebenen Antwortkategorien nur unzureichend erfasst werden konnten. Nach Rücksprache mit den an der Untersuchung teilnehmenden Einrichtungen verbergen sich hinter den „sonstigen Gründen“, die eine erfolgreiche Kontaktaufnahme verhindert haben, z. B. folgende Aspekte:
Jobcenterwechsel nach Wohnortwechsel kurz vor/nach der Entlassung,
Misstrauen gegenüber der Arbeitsverwaltung aufgrund negativer Vorerfahrungen,
realistische Möglichkeit, eine Arbeit aufgrund eigener Initiative aufzunehmen,
kein Kontakt aufgrund von vorzeitigem Behandlungsende,
Rehabilitand*in bevorzugt eigene Lösung und lehnt jede Hilfe ab,
Rehabilitand*in verfolgt ein Rentenbegehren und lehnt jede Hilfe ab,
negative sozialmedizinische Prognose.
Für den Entlassungsjahrgang 2019 wurde diese weitergehende Ursachenanalyse ausgewertet (s. Tabelle 8). Hervorzuheben ist hier, dass bei etwa einem Viertel der Fälle die Eigeninitiative der Rehabilitand*innen im Vordergrund steht und ggf. zu einer Arbeitsaufnahme führen kann (Kategorie 4 = 12,5% und Kategorie 6 = 12,1%).
Tabelle 8: Differenzierte Analyse der Gründe für nicht erfolgten Kontakt
Wenn der Kontakt zum Jobcenter bzw. zur Arbeitsagentur hergestellt werden konnte (n=1.613), wurde mit dem letzten Item erfasst, wie der Beratungsprozess weiter verlaufen ist (s. Tabelle 9). Bei etwa einem Drittel der Fälle hat noch während der Reha ein erster Beratungstermin stattgefunden, bei weniger als 20% der Fälle konnte kein Beratungstermin vereinbart werden. Die häufigste Option mit 46,8% (n=755) ist die Vereinbarung eines Termins für die Zeit nach der Reha. Zu berücksichtigen sind in diesem Zusammenhang auch die Fälle ohne erfolgreiche Kontaktaufnahme, bei denen schon der Erstkontakt auf die Zeit nach der Reha verschoben wurde (n=236; s.a. Tabelle 7).
Tabelle 9: Vereinbarung eines Beratungstermins
Zusammenfassung und Diskussion
Mit der vorliegenden Auswertung der Zusatzitems zur „Erfassung der Aktivitäten zur Verbesserung der beruflichen Teilhabe in der Suchtrehabilitation an der Schnittstelle zu Jobcenter und Arbeitsagentur“ konnten erstmalig Daten zu dieser, für das Rehabilitationsziel der Deutschen Rentenversicherung sehr bedeutsamen Fragestellung vorgelegt werden. Es hat sich gezeigt, dass für mehr als die Hälfte der Rehabilitand*innen in der Entwöhnungsbehandlung ein Kontakt zur Agentur für Arbeit bzw. dem Jobcenter erforderlich ist, um die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt nach erfolgter erfolgreicher Behandlung zu organisieren und umzusetzen. Insbesondere die arbeitslosen Rehabilitand*innen sind am Ende ihrer Behandlung auf eine möglichst engmaschige Betreuung angewiesen, nicht nur, um die verschiedenen persönlichen und arbeitsmarktbedingten Vermittlungshemmnisse überwinden zu können, sondern auch, um nicht schon an der Schwelle zwischen Entlassung und Alltag in Misserfolgserlebnisse zu geraten, die das Rückfallrisiko erhöhen. Diese Betreuung ist vor allem angesichts der Tatsache notwendig, dass ein Großteil der arbeitslosen Rehabilitand*innen unter 50 Jahre alt ist. Vor diesem Hintergrund ist es problematisch, dass bei nur etwa der Hälfte der ratsuchenden Personen eine Kontaktaufnahme zur Agentur für Arbeit bzw. zum Jobcenter erfolgreich war. Bei lediglich 34% der Rehabilitand*innen, die einen Kontakt herstellen konnten, fand noch während der Entwöhnungsbehandlung ein Termin statt, was etwa 17% der betreuungsbedürftigen Rehabilitand*innen entspricht, für die der Kontakt zur Agentur für Arbeit bzw. zum Jobcenter notwendig war. Bei rund 47% der Rehabilitand*innen mit erfolgreicher Kontaktaufnahme wurde zwar ein Beratungstermin für die Zeit nach der Entwöhnungsbehandlung geplant, es bleibt jedoch offen, ob der Termin tatsächlich von den Versicherten wahrgenommen wurde. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass sich die Verteilung auf die einzelnen Kategorien der verschiedenen Items zwischen den Jahrgängen nur unwesentlich unterscheidet.
Im Rahmen des von der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover angebotenen Fallmanagements (Piegza et al., 2013) hat sich in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass die vereinbarten Termine nach Entlassung aus der Entwöhnungsbehandlung nicht mehr zustande kamen. Die Einschränkung, dass sogar die Kontaktherstellung erst nach erfolgter Entwöhnungsbehandlung erfolgen soll, erschwert die Betreuung der Rehabilitand*innen, für die gerade die Entlassung ein kritischer Zeitpunkt ist, zusätzlich.
Unsere Untersuchung unterstreicht die Ergebnisse von Henke (2019), die zeigen konnte, dass nur etwa 30% der arbeitslosen Rehabilitand*innen nach einer Entwöhnungsbehandlung nahtlos vom Jobcenter weiterbetreut wurden, 43% nur manchmal und 14% der Rehabilitand*innen fast nie.
Unsere Untersuchung zeigt aber auch, dass die Vernetzung mit dem nachbetreuenden System zur Wiedereingliederung in eine Arbeitstätigkeit nicht nur von den Kontaktmöglichkeiten der Agentur für Arbeit bzw. der Jobcenter abhängt. Ein nicht unerheblicher Teil der Versicherten, für die eine Beratung durch die Agentur oder das Jobcenter angezeigt wäre, lehnte die Kontaktaufnahme aus persönlichen Gründen, wegen schlechter Erfahrungen oder deswegen ab, weil sie sich selbst um eine Arbeitsaufnahme kümmern wollten. Vor dem Hintergrund, dass es nur wenigen arbeitslosen Rehabilitand*innen nach der Entwöhnungsbehandlung gelingt, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, sollte die Zurückweisung von Hilfsangeboten im therapeutischen Prozess kritisch hinterfragt bzw. in der nachstationären Phase engmaschig begleitet werden (Kulick, 2009).
Die insgesamt nur teilweise erfolgreiche Kooperation mit der Agentur für Arbeit und den Jobcentern auf der einen Seite und die mangelnde bzw. unzuverlässige Inanspruchnahme von Fallmanagementangeboten durch die Rehabilitand*innen nach erfolgter Entwöhnungsbehandlung auf der anderen Seite erfordern möglicherweise eine Intensivierung bestehender Konzepte des „supported employment“ (Viering et al., 2015) bzw. des therapeutisch begleiteten Fallmanagements, z. B. im Rahmen der ambulanten Weiterbehandlung.
Es sollte deutlich geworden sein, dass zur Wiedereingliederung der doch erheblichen Anzahl arbeitsloser Abhängigkeitserkrankter eine multiprofessionelle bzw. institutionsübergreifende Betreuung und Begleitung notwendig ist, um erfolgreich sein zu können, vor allem dann, wenn die Versicherten nicht durch Leistungen zur beruflichen Rehabilitation unterstützt werden können. Unsere Ergebnisse zeigen, dass trotz der Bemühungen der Rehabilitationseinrichtungen, die Vernetzung zu initiieren, vermutlich nur ein kleiner Anteil im nachfolgenden System ankommt. Sie zeigen aber auch, dass wenn die Vernetzung nur unzureichend funktioniert, bestehende BORA-Konzepte noch mehr hinsichtlich erfolgreicher beruflicher Wiedereingliederung ausgerichtet sein müssen. Dazu kann die engere Zusammenarbeit mit Berufsförderungswerken (Jankowiak et al., 2018; Renkowski, 2014), der bedarfsgerechte Ausbau des Fallmanagements im Rahmen der ambulanten Weiterbehandlung bzw. der Nachsorge, aber auch die Prüfung wohnortnaher Möglichkeiten für die Entwöhnungsbehandlung für Arbeitslose dienen, da sich zeigt, dass die Kontaktaufnahme mit der Agentur für Arbeit oder mit dem Jobcenter erschwert ist, wenn die medizinische Rehabilitation wohnortfern durchgeführt wird. Möglicherweise relativiert sich dieser Aspekt, wenn die Online-Kontaktaufnahme stärker genutzt wird.
Prof. Dr. Andreas Koch, ehem. Geschäftsbereichsleitung Suchthilfe / Kinder- und Jugendhilfe, Deutscher Orden Ordenswerke, Weyarn (bis 30.04.2020); Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung, Hennef PD Dr. Axel Kobelt-Pönicke, Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover, Hauptabteilung 1 Leistung, Rehastrategie – Psychische Erkrankungen, Laatzen; Universität Hildesheim, Institut für Psychologie, Abt. Klinische Psychologie und Psychotherapie, Hildesheim Dirk Laßeur, Leiter der Stabsstelle Qualitätsmanagement der CRT Caritas-Reha und Teilhabe GmbH, Osnabrück Moritz Radamm, Leiter der Klinik am Kronsberg, Fachabteilungsleitung Behandlung, STEP gGmbH, Hannover
Literatur:
Achatz, J., Trappmann, M. (2011). Arbeitsmarktvermittelte Abgänge aus der Grundsicherung. Der Einfluss von personen- und haushaltsgebundenen Arbeitsmarktbarrieren. IAB-Discussion Paper 2/2011. Beiträge zum wissenschaftlichen Dialog aus dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.
Amelung V., Jensen, S., Krauth, C., Wolf, S. (2013). Pay-for-Performance: Märchen oder Chance einer qualitätsorientierten Vergütung? Gesundheit und Gesellschaft – Wissenschaft, Jg. 13, Heft 2, S. 7-15.
Bachmeier, R., Bick-Dresen, S., Dreckmann, I., Feindel, H., Funke, W., Kemmann, D., Kersting, S., Medenwaldt, J., Missel, P., Neumann, E., Premper, V., Teigeler, H., Wagner, A., Köstler, U., Weissinger, V. (2019). Basisdokumentation 2018. Ausgewählte Daten zur Entwöhnungsbehandlung im Fachverband Sucht e.V. Qualitätsförderung in der Entwöhnungsbehandlung, Band 26.
Bahemann, A., Koch, A., Zemlin, U., Weissinger, V. (2012). Förderung der Teilhabe Abhängigkeitskranker am Arbeitsleben. Sucht, 58 (3), 207–209.
Baumeister, H. (2016). Arbeitsplatzprobleme und Sucht. In M. Vogelgesang, P. Schuhler (Hrsg.), Psychotherapie der Sucht. Methoden, Komorbidität und klinische Praxis (S. 121-144), Lengerich: Pabst.
Bestmann, A., Flach, L., Büschges, J., Köhler, J. (2019). Was begünstigt oder behindert die Rückkehr in Erwerbstätigkeit nach einer Entwöhnungsbehandlung durch die Deutsche Rentenversicherung. Sucht aktuell, 3, 54-61.
Buruck, G., Dörfel, D., Kugler, J., Brom, S. (2016). Enhancing Well-Being at Work: The Role of Emotion Regulation Skills as Personal Resources. Journal of Occupational Health Psychology, 21(4), 480-493.
Buschmann-Steinhage, R. & Zollmann, P. (2008). Zur Effektivität der medizinischen Rehabilitation bei Alkoholabhängigkeit. Suchttherapie, 9 (2), 63–69.
Dietz, M., Müller, G., Trappmann, M. (2009). Bedarfsgemeinschaften im SGB II. Warum Aufstocker trotz Arbeit bedürftig bleiben. IAB-Kurzbericht 2/2009.
Henke, J., Henkel, D., Nägele, B., Wagner, A. (2019). Erhebung von Ansätzen guter Praxis zur Integration Suchtkranker ins Erwerbsleben nach dem SGB II. Suchttherapie, 20, 39-47.
Henkel, D. (2011). Unemployment and substance use: a review of the literature (1990-2010). Current drug abuse reviews, 4 (1), 4–27.
Höder, J., Hüppe, A. (2019). Zur Frage der klinischen Signifikanz in deutschen rehabilitationswissenschaftlichen Interventionsstudien: eine Bestandsaufnahme der gängigen Praxis. Rehabilitation, 58 (06), 405-412.
Jankowiak, S., Kocks, A., Borgelt, J., Kaluscha, R., Krischak, G. (2018). Beruflich Orientierte Rehabilitation Suchtkranker in Stufen (BOSS) – Intensivierung des Berufsbezugs in der Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter. DRV-Schriften. 27. Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium. Deutsche Rentenversicherung Bund. Band 113: 476-479.
Kobelt, A., Stöckler, C., Kessemeier, F. (2017). Wieviel Psychotherapie muss sein, sollte sein, um das Rehaziel der beruflichen Wiedereingliederung zu erreichen? Sucht Aktuell (2), 34-38.
Kobelt, A., Schattschneider, L., Petermann, F. (2019). Welche Patientengruppen mit einer Alkoholabhängigkeit profitieren von einer Entwöhnungsbehandlung? Hilft uns der Sozialbericht bei der Einschätzung der Rehaprognose und des Rehaerfolgs? DRV-Schriften. 28. Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium. Deutsche Rentenversicherung Bund. Band 17: 418-419
Köhler, J. (2009). Grundsätzliche Vorstellungen, Anforderungen und Erfahrungen bei der arbeitsbezogenen Rehabilitation aus Sicht der Rentenversicherung. Sucht Aktuell (2), 39–42.
Krischak, G., Kaluscha, R. (2018). Modellierung des Einflusses von Rehabilitationseinrichtungen auf die Integration. Unveröffentlichter Projektabschlussbericht.
Kulick, B. (2009). Innovative Elemente der Entwöhnungsbehandlung. Sucht aktuell, 2, 5-11.
Mewes, R., Rief, W., Martin, A., Glaesmer, H., Brähler, E. (2013). Arbeitsplatzunsicherheit vs. Arbeitslosigkeit: Trotz der Unterschiede im sozioökonomischen Status sind die Auswirkungen auf psychische Gesundheit und Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen ähnlich. Psychother Psych Med, 63, 138-144.
Nübling, R., Kaluscha, R., Krischak, G., Kriz, D., Martin, H., Müller, G., Renzland, J., Reuss-Borst, M., Schmidt, J., Kaiser, U., Toepler, E. (2016). Return to Work nach stationärer Rehabilitation – Varianten der Berechnung auf der Basis von Patientenangaben und Validierung durch Sozialversicherungs-Beitragszahlungen. Phys Med Rehab Kuror, 26, 293-302.
Piegza, M., Schwarze, M., Petermann, F., Kobelt, A. (2013). Fallmanagement als innovativer Ansatz in der medizinisch-psychosomatischen Rehabilitation. Phy Med Rehab Kuror, 23, 348-352.
Viering, S., Jäger, M., Kawohl, W. (2015). Welche Faktoren beeinflussen den Erfolg von Supported Employment? Psychiat Prax, 42(06), 299-308.
Zenger, M., Hinz, A., Petermann, F., Brähler, E., Stöbel-Richter, Y. (2013). Gesundheit und Lebensqualität im Kontext von Arbeitslosigkeit und Sorgen um den Arbeitsplatz. Psychother Psych Med, 63, 129-137.
Wie stark erleben Menschen die psychosozialen Folgen der Corona-Pandemie? Wie belastet sind insbesondere Menschen mit Suchterkrankungen oder anderen psychischen und sozialen Problemen in dieser Zeit? Das möchte die Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen (KatHO NRW) mit einer bundesweiten Online-Befragung herausfinden.
Die Corona-Pandemie hat auch in Deutschland das Leben der Menschen stark verändert. Wochenlang galten strenge Ausgangsbeschränkungen, soziale Kontakte waren stark reduziert. Psychologen warnten angesichts des Shutdowns vor einer erheblichen Zunahme an Depressionen, Angstzuständen und häuslicher Gewalt. Vor allem die Versorgung und der Zustand von Menschen mit vorhandener Diagnose werde sich verschlechtern, warnten Experten, da Betroffene aus Angst vor Ansteckung seltener Ärzte und Psychologen aufsuchten und mit den veränderten Lebensbedingungen schlechter zurechtkämen.
Doch wie sehr sind die Menschen durch die Corona-Pandemie wirklich belastet? Wie haben insbesondere Menschen mit Suchterkrankungen oder anderen psychischen und sozialen Problemen diese Zeit erlebt und haben sich ihre Erkrankungen sogar verstärkt? Das möchten Aachener Studierende des Masterstudiengangs „Klinische Sozialarbeit“ an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen (KatHO NRW) mit einer bundesweiten Online-Befragung herausfinden. Alle Interessierten sind eingeladen, bis zum 15. Juli 2020 unter www.katho-nrw.de/coronaumfrage an der 15-minütigen Befragung teilzunehmen.
„Im Fokus unserer Befragung stehen Menschen, die psychisch vulnerabel sind und schon vor dem Shutdown auf psychosoziale Hilfen angewiesen waren“, sagt Studienleiter Professor Dr. Daniel Deimel. „Auch gehen wir der Frage nach, ob sich bestehende Probleme im Shutdown verstärkt haben und auf welche Unterstützungssysteme Betroffene zurückgreifen können.“ Ebenso werden in der geplanten Gelegenheitsstichprobe Daten zu finanzieller Belastung, Angst vor Jobverlust, Stress durch Kinderbetreuung und Homeschooling in der Corona-Krise erhoben.
Neben Erkenntnissen zur Lebenssituation von psychisch vulnerablen und sozial belasteten Menschen in der aktuellen Zeit möchte die KatHO NRW Unterstützungsbedarfe ermitteln und diese an psychosoziale Hilfseinrichtungen rückmelden. So können die Einrichtungen zielgerichtet Maßnahmen entwickeln. Unterstützt wird die Umfrage von der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP), der Deutschen Aidshilfe (DAH), der Deutschen Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen (DVSG), der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe (DG-SAS), der Telefonseelsorge Aachen und vom Psychiatrie Verlag.
Pressestelle der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen (KatHO NRW), 03.06.2020
Beltz Verlag, Weinheim 2020, 254 Seiten, 18,95 €, ISBN 978-3-407-86587-8, auch als E-Book erhältlich
Wir haben feste Erwartungen an die Geschlechterrollen, die Jungen zu erfüllen haben. Noch immer sollen sie stark sein, ab einem gewissen Alter lieber nicht mehr weinen und keine Röcke tragen. Der Feminist, Journalist und Vater Nils Pickert hat ein leidenschaftliches, gedanklich präzises und berührendes Plädoyer für die Freiheit von Geschlechterrollen in der Erziehung unserer Söhne geschrieben. Er beschreibt, wo diese Männlichkeits-Normierung beim Spielzeugkauf, auf dem Schulhof oder im Gefühlsleben stattfindet und wie sehr sie Jungen in ihrer Entfaltung schadet. Der Autor zeigt, wie sehr viele Jungen Fürsorglichkeit und Puppen lieben – und brauchen. Es gibt eine unendliche Vielfalt an Wegen, vom Jungen zum Mann zu werden. Wie Eltern ihre Söhne dabei unterstützen können, schildert Nils Pickert mit vielen Hinweisen und Beispielen.
Verlag Barbara Budrich/utb., Opladen & Toronto 2020, 2. überarb. Auflage, 396 Seiten, 25,00 €, ISBN 978-3-825-25323-3, auch als E-Book erhältlich
Dieses Lehrbuch zeigt Studierenden sowie Praktikerinnen und Praktikern der Sozialen Arbeit, wie sie ihre Beratungskompetenzen erweitern können. Nach einer theoretischen Einführung in integrative und systemische Beratungskonzepte können sich die Leserinnen und Leser mit Hilfe verschiedener Arbeitsmaterialien Praxisstrategien aneignen. Die Verknüpfung von Grundwissen und praktischen Ansätzen bietet eine ideale Basis für Einsteiger aus allen sozialen Arbeitsfeldern, die Beratung lernen möchten.
Der Lockdown zur Eindämmung von Covid-19 kann eine Verstärkung von traditionellen Rollenmustern in Familien zur Folge haben. Zwar bietet Homeoffice Müttern die Chance, ihre Arbeitszeit aufzustocken. Gleichzeitig müssen sie aber auch mehr Haushalts- und Erziehungsarbeit übernehmen – vor allem, wenn die Väter nicht von zu Hause aus arbeiten können. Nur in etwa 30 Prozent der Haushalte sind Väter beruflich flexibler als Mütter und könnten daher mehr Zeit für die Kindererziehung und den Haushalt aufwenden. In der Mehrzahl der Familien kommt allerdings Mehrarbeit auf Frauen zu. Das geht aus einer aktuellen Kurzexpertise des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung Mannheim (ZEW) hervor.
„Wenn Väter jetzt mehr Haushaltsaufgaben übernehmen, können Mütter davon langfristig profitieren“, sagt Prof. Dr. Melanie Arntz, stellvertretende Leiterin des ZEW-Forschungsbereichs „Arbeitsmärkte und Personalmanagement“ und Mitautorin der ZEW-Kurzexpertise. „Wo durch Covid-19 traditionelle Rollenmuster Aufwind haben, dürften die Karrieren von Frauen darunter leiden.“
Homeoffice hat durch die Krise an Akzeptanz gewonnen
Die Covid-19-Pandemie hat einen massiven Wandel der Arbeitswelt mit sich gebracht. Während im Jahr 2018 knapp zwölf Prozent der Beschäftigten in Deutschland regelmäßig im Homeoffice arbeiteten, waren es im April 2020 mehr als 35 Prozent. 26 Prozent arbeiteten sogar ausschließlich von zu Hause.
„Durch die Krise ist Homeoffice wesentlich üblicher geworden. Das wird langfristig dazu führen, dass es auch seitens der Arbeitgeber positiver beurteilt wird und häufiger verfügbar ist“, sagt Melanie Arntz. „Unternehmen und ihre Beschäftigten sammeln jetzt Erfahrung mit mobilem Arbeiten und stellen fest, dass es funktioniert. Außerdem wird es in Zukunft auch leichter sein, von zu Hause aus zu arbeiten, weil die Unternehmen jetzt entsprechende Investitionen tätigen und ihre Prozesse anpassen mussten. Wahrscheinlich werden Unternehmen auch nach der Krise häufiger Arbeitsformen ermöglichen, die Tätigkeiten und Meetings vor Ort ersetzen. Wenn Homeoffice besser verfügbar ist, führt das dazu, dass insbesondere Mütter mehr arbeiten.“
Die langfristigen Wirkungen werden aber auch davon abhängen, wie die zusätzlichen Betreuungsaufgaben zwischen Müttern und Vätern verteilt werden, die aufgrund der Schul- und Kitaschließungen anfallen. Um dies zu untersuchen, betrachten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, wie flexibel das Beschäftigungsverhältnis beider Elternteile einer Familie während der Pandemie ist. Dabei gelten systemrelevante Berufe und andere Tätigkeiten, die vor Ort stattfinden müssen, als besonders unflexibel. Arbeitslosigkeit bzw. Kurzarbeit sind besonders flexibel. Begrenzt flexibel sind Berufe, die sich teilweise oder vollständig im Homeoffice erbringen lassen. Betrachtet man nun die Haushalte mit Kindern unter 13 Jahren nach der Flexibilität der beruflichen Tätigkeit der beiden Partner, so zeichnet sich ab, dass in der Mehrzahl der Familien vermutlich Mehrarbeit auf die Frauen zukommt.
Mütter sind in den meisten Familien beruflich flexibler
In insgesamt 28 Prozent der Haushalte verfügen Mütter in der Corona-Krise über mehr Flexibilität als Väter und können deshalb noch mehr Erziehungs- und Haushaltsaufgaben übernehmen als zuvor. In etwa 24 Prozent der Familien ist die Flexibilität beider Eltern vergleichbar. In diesen Haushalten ist es ebenfalls wahrscheinlich, dass Mütter mehr Zeit für Familie und Hausarbeit aufwenden werden. Denn schon vor der Pandemie war die Aufgabenverteilung in Haushalten mit Kindern unter 13 Jahren in Deutschland sehr ungleich. Selbst bei Doppelverdienerpaaren wandten Mütter etwa dreimal so viel Zeit für die Kindererziehung und doppelt so viel Zeit für Haushaltsarbeit auf wie Väter. Bei 85 Prozent dieser Paare arbeiteten die Mütter weniger Stunden, und in über 60 Prozent der Fälle verdienten sie einen geringeren Stundenlohn.
Allerdings arbeiten zurzeit 40 Prozent der Mütter, aber nur 23 Prozent der Väter in einem während der Krise systemrelevanten Beruf. Insgesamt verfügt in knapp 30 Prozent aller Haushalte mit einem Kind unter 13 Jahren die Mutter über weniger berufliche Flexibilität als der Vater. In diesen Haushalten könnte Covid-19 also der traditionellen Rollenverteilung entgegenwirken. „Wenn Väter jetzt mehr Aufgaben in der Kindererziehung und im Haushalt übernehmen, könnte das langfristig positive Folgen für Frauen haben”, sagt Melanie Arntz. „Für einen beträchtlichen Anteil der Familien ist das jedoch nicht der Fall. Wenn der Lockdown die klassische Rollenverteilung stärkt, profitieren Frauen von einer verstärkten Nutzung der Heimarbeit nach der Coronapandemie vermutlich weniger, mit nachteiligen Auswirkungen auf ihre langfristigen Karrierechancen.“
Pressestelle des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung GmbH (ZEW), 03.06.2020
Bettina Bayer erhielt den Hochschulpreis für die beste Bachelorarbeit des Fachbereichs Sozialwesen (Foto: priv.)
Ist Soziale Arbeit eine Wissenschaft oder „nur“ ein Beruf? Schon seit Jahren beeinflusst die Debatte um Professionalisierung und Akademisierung dieses Berufsfeldes das Selbstverständnis von Fachkräften der Sozialen Arbeit. Theorien und Konzepte dieser Disziplin sind bisher jedoch noch nicht selbstverständlich in der praktischen Arbeit verankert. Einen Beitrag hierzu leistet die Bachelorarbeit von Bettina Bayer. Die Absolventin der FH Münster hat das Lebensbewältigungskonzept nach Lothar Böhnisch angewendet, um die verbreitete Praxis der Suchtberatung − gestützt auf diese Theorie − zu systematisieren. Dafür wurde sie von der Hochschule mit dem Preis für die beste Bachelorarbeit am Fachbereich Sozialwesen im Jahr 2019 ausgezeichnet.
„Meine Hypothese war, dass die ambulante Suchtberatung zwar nach den theoretischen Vorstellungen der Disziplin handelt, sich dessen aber meist nicht bewusst ist“, erklärt die 23-Jährige. Um dies zu ändern, zog sie Böhnischs Modell heran, das verschiedene Annahmen zum Verhalten von Menschen in kritischen Lebenskonstellationen formuliert. „Meine Ergebnisse zeigen, dass die Inhalte seines Lebensbewältigungskonzepts durchaus geeignet sind, um den Großteil des Erklärungs-, Beschreibungs- und Wertewissens der Suchtberatung zu systematisieren.“
Theorie und Praxis miteinander zu verknüpfen, ist der jungen Sozialarbeiterin schon seit dem zweiten Semester ein wichtiges Anliegen. Bereits damals hatte sie begonnen, sich als Tutorin näher mit der Professionalisierung ihrer Fachdisziplin zu befassen. „Nach meinem Praxissemester in der Suchtberatung war mir dann ziemlich schnell klar, worüber ich meine Abschlussarbeit schreiben wollte“, erinnert sich Bayer. Die Ergebnisse ihrer Arbeit kommen ihr jetzt auch in der Praxis zugute: Direkt nach ihrem Abschlusskolloquium hat sie begonnen, in der Fachstelle Suchtprävention der Caritas im Kreis Coesfeld zu arbeiten.
„Frau Bayer liefert mit ihrer Ausarbeitung eine für den begrenzten Rahmen einer Bachelorarbeit bemerkenswert eigenständigen und anspruchsvollen Beitrag zum Thema der Professionalisierung und damit Konturierung Sozialer Arbeit im Kontext der Suchthilfe, speziell im Bereich der ambulanten Suchtberatung“, sagt Prof. Dr. Martin Wallroth vom Fachbereich Sozialwesen. Er hatte Bayers Abschlussarbeit betreut und für den Preis vorgeschlagen.
Den Hochschulpreis erhält circa ein Prozent aller Absolventinnen und Absolventen eines Jahrgangs. Jedes Jahr kürt das Präsidium gemeinsam mit der Gesellschaft der Freunde der FH Münster e.V. (gdf) auf Vorschlag der Fachbereiche und der Zentralen Wissenschaftlichen Einrichtung die besten Abschlussarbeiten. Zu den Preisträgerinnen und Preisträgern des Hochschulpreises 2020 für die besten Arbeiten aus 2019 gehört auch Bettina Bayer vom Fachbereich Sozialwesen. Eine vollständige Übersicht aller gewürdigten Absolventinnen und Absolventen ist im Jahresbericht 2019 ab Seite 46 abrufbar: fhms.eu/jahresbericht-19.