Autor: Simone Schwarzer

  • Die zerrissene Republik

    Beltz Verlag, Weinheim 2020, 414 Seiten, 24,95 €, ISBN 978-3-7799-6114-7

    Seit geraumer Zeit ist das Problem wachsender Ungleichheit das Kardinalproblem unserer Gesellschaft, wenn nicht der gesamten Menschheit. Während daraus im globalen Maßstab ökonomische Krisen, Kriege und Bürgerkriege resultieren, die wiederum größere Migrationsbewegungen nach sich ziehen, sind in Deutschland der soziale Zusammenhalt und die repräsentative Demokratie bedroht. Daher wird nicht bloß thematisiert, wie soziale Ungleichheit entsteht und warum sie zugenommen hat, sondern auch, weshalb die politisch Verantwortlichen darauf kaum reagieren und was getan werden muss, um sie einzudämmen.

  • Nacht der Solidarität

    In Berlin wurden in der Nacht vom 29. auf den 30. Januar 2020 obdachlose Menschen gezählt, die auf der Straße oder in Einrichtungen der Kältehilfe angetroffen wurden. Dies war die erste Zählung obdachloser Menschen deutschlandweit. Erste Ergebnisse wurden am 7. Februar vorgestellt.

    Wie viele Menschen wurden gezählt?

    • Insgesamt wurden 1.976 obdachlose Menschen gezählt.
    • 807 Menschen wurden bei der Straßenzählung im öffentlichen Raum registriert.
    • 15 obdachlose Menschen wurden in Rettungsstellen in Berliner Krankenhäusern gezählt.
    • 158 Obdachlose im ÖPNV (112 in der S-Bahn, 46 bei der BVG)
    • 12 in Polizeigewahrsam
    • 942 in Einrichtungen der Kältehilfe
    • 42 im Warte- und Wärmeraum Gitschiner Straße 15

    Was wissen wir jetzt von den befragten Menschen?

    • Von den 807 Personen, die bei der Straßenzählung angetroffen wurden, ließ sich ca. jede dritte auch befragen (288 Personen).
    • 56 Prozent der 288 befragten Personen waren zwischen 30 und 49 Jahre alt, drei Personen waren noch nicht volljährig.
    • Von den 288 befragten Personen waren 39 weiblich (14 Prozent), 243 männlich (84 Prozent), niemand inter/divers, sechs Menschen machten keine Angabe.
    • Die 288 Befragten hatten folgende Herkunft: 113 deutsch, 140 EU, 31 Drittstaaten, vier machten keine Angabe.
    • Fast die Hälfte (47 Prozent) hatte seit mehr als drei Jahren keine feste Wohnung mehr.
    • Von den 288 Befragten leben:
      • 117 Personen allein,
      • 74 mit einem weiteren Erwachsenen zusammen, 25 davon leben in einer Beziehung, weitere zwei davon mit einem Kind,
      • 13 mit zwei weiteren Erwachsenen zusammen,
      • 19 mit drei oder mehr Erwachsenen zusammen.
      • 65 machten dazu keine Angaben.
    • Von den 288 Befragten leben:
      • 74 Personen ohne Tier,
      • 14 Personen mit einem Tier,
      • vier Personen mit zwei Tieren,
      • zwei Personen mit drei oder mehr Tieren auf der Straße zusammen.
      • 194 Personen machten dazu keine Angaben.

    Elke Breitenbach, Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales: „Wir haben in Berlin zum ersten Mal erfolgreich eine Obdachlosenzählung auf der Straße durchgeführt und stadtweit 807 obdachlose Menschen in einer Januarnacht auf Berlins Straßen angetroffen. Etwa ein Drittel dieser Menschen hat den Zählteams über ihre Lebenssituation berichtet. Wir wissen jetzt mehr über das Alter obdachloser Menschen, ihr Geschlecht, woher sie kommen und erstmals auch, wie lange sie schon wohnungslos sind. Wir werden jetzt die Daten der einzelnen Zählräume auswerten und in Zusammenarbeit mit den Bezirken sowie den Akteurinnen und Akteuren der Wohnungslosenhilfe überprüfen, welche Hilfsangebote vor Ort verbessert werden müssen.“

    Susanne Gerull, Professorin für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin, Armutsforscherin und Mit-Initiatorin der Nacht der Solidarität: „Die in Berlin angewandte Methode der Straßenzählung beruht auf einem Modell, das in New York entwickelt und in mehreren europäischen Metropolen umgesetzt wurde und wird. Nach allen mir bisher bekannten Informationen aus den Freiwilligen-Teams ist die Zählung nach allen Regeln sozialwissenschaftlicher Forschung erfolgreich durchgeführt worden. Es gab keine systematischen Verzerrungen, die ethischen Richtlinien wurden eingehalten. Wir konnten mit der Zählung nur die sichtbar im öffentlich zugänglichen Raum lebenden Menschen an einem Stichtag erfassen. Subjektive Einschätzungen, wie viele Menschen sich womöglich versteckt haben, um nicht gezählt zu werden, sind sozialwissenschaftlich nicht haltbar.“

    Einen Stadtplan mit der stadtweiten Verteilung obdachloser Menschen als Ergebnis der Zählung finden Sie im Internet unter: www.berlin.de/sen/ias/presse/downloads/

    Weitere Informationen: https://www.berlin.de/nacht-der-solidaritaet/

    Quelle: Pressestelle der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales Berlin, 07.02.2020

  • Gemeinsame Gestaltung des Reha-Prozesses

    Für mehr Rollen- und Aufgabenklarheit im Reha-Prozess hat die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e. V. (BAR) eine Übersicht veröffentlicht, in der die Aufgaben und Verantwortlichkeiten der Leistungserbringer beschrieben werden. 

    Reha-Träger und Leistungserbringer tragen beide Verantwortung für den Erfolg von Leistungen zur Teilhabe für Menschen mit Behinderungen. Die Reha-Träger entscheiden über den Leistungsanspruch und sind auch für die Organisation der Leistungserbringung verantwortlich. Für die Durchführung sind sie auf geeignete Leistungserbringer angewiesen, die den Reha-Prozess in verschiedenen Phasen aktiv mitgestalten und steuern, indem sie z. B. neue oder veränderte Bedarfe erkennen. Nur gemeinsam können Reha-Träger und Leistungserbringer somit eine möglichst umfassende Teilhabe am Leben in der Gesellschaft durch Reha- und Teilhabeleistungen erreichen.

    Für eine zielorientierte Zusammenarbeit ist es wichtig, die jeweiligen Aufgaben und Verantwortlichkeiten gegenseitig zu kennen und zu verstehen. In der Übersicht der BAR wird hierfür die Rolle der Leistungserbringer entlang der Phasen des Reha-Prozesses verdeutlicht. Grundlage der Beschreibung sind gesetzliche Reglungen ebenso wie die auf Ebene der BAR trägerübergreifend abgestimmten Gemeinsamen Empfehlungen der Reha-Träger.

    Die Übersicht richtet sich für ein gemeinsames Verständnis an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Leistungserbringern und bei Leistungsträgern. Neben ausführlichen Informationen wird unter der Rubrik „Kurz & Knapp“ eine schnelle Zusammenfassung der Inhalte bereitgestellt. Damit kann die Übersicht sowohl einen Einstieg in das Thema bieten als auch zur Vertiefung bestehender Kenntnisse genutzt werden.

    Die Übersicht ist unter folgendem Link abrufbar: https://www.bar-frankfurt.de/themen/reha-prozess/rolle-der-leistungserbringer-im-reha-prozess.html

    Quelle: Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V. (BAR), 19.02.2020

  • Die deQus wird 20!

    Hildegard Winkler (Vorsitzende) und Iris Otto (Geschäftsstelle) beim Anschneiden der Jubiläumstorte

    „Zertifiziert nach deQus“ – das stand auf der Torte, die jede Mitgliedseinrichtung der Deutschen Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der Suchttherapie (deQus) zu ihrer Zertifizierungsfeier überreicht bekam. Zum 20-jährigen Jubiläum schenkte die deQus sich nun selbst eine Torte und teilte sie mit allen Teilnehmenden des Workshops für Qualitätsbeauftragte (QB-Workshop), der am 4. und 5. Februar 2020 in Kassel stattgefunden hat.

    Wie in jedem Jahr kamen rund 100 Qualitätsbeauftragte (QBs) aus den Mitgliedseinrichtungen nach Kassel. Schon bei der Gründung der deQus war geplant, außer Schulungsmaßnahmen auch fachliche Unterstützung beim Aufbau und bei der Pflege des Qualitätsmanagement-Systems (QM-System) anzubieten. Daraus entwickelte sich schnell ein jährliches Treffen der QBs, das nicht nur der Fortbildung, sondern auch dem Austausch unter den Kollegen und Kolleginnen dient, die ja meist als Einzelkämpfer in ihren Einrichtungen das Qualitätsmanagement lebendig halten sollen. Und genau das ist nach 20 Jahren immer noch ein schwieriges Unterfangen.

    Jubiläum mit Ehrengästen

    Vorstand und Ehrengäste: Martin Hoppe, Prof. Dr. Andreas Koch, Claudia Lingelbach-Fischer, Hildegard Winkler, Dr. Martin Beutel, Gero Skowronek, Josef Müller (v.l.n.r.)

    Das Jubiläum bot eine gute Gelegenheit, im Tagesgeschäft einmal innezuhalten und die Vergangenheit der deQus zu betrachten, um daraus Hinweise für die Gestaltung der Zukunft zu gewinnen. Dazu waren einige Ehrengäste eingeladen, die mit der Geschichte der deQus eng verbunden sind. Gemeinsam mit dem jetzigen Vorstand reflektierten sie die Entwicklung.

    Zunächst erläuterte der Initiator, Dr. Martin Beutel, damals Chefarzt zweier Suchtkliniken und langjähriger Vorstandsvorsitzender des buss, wie er Ende der 1990er Jahre auf die Idee kam, ein QM-System für die buss-Kliniken zu entwickeln: Die gesellschaftliche Situation der 90er Jahre war geprägt durch die Integration Ostdeutschlands und eine hohe Arbeitslosigkeit von zehn Prozent. Die Politik reagierte 1997 mit dem Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG) und löste damit eine Reha-Krise aus. Zuzahlungen wurden erhöht, Lohnersatzleistungen reduziert, Reha wurde teilweise auf den Jahresurlaub angerechnet. In der Folge gingen die Reha-Anträge zurück – zwischen 1995 und 1997 um 34 Prozent. Dr. Beutel fragte sich, welche Kliniken wohl am ehesten mit Zuweisungen rechnen könnten. Würden die Ergebnisse des QS Programms der DRV oder würde die Qualität der Einrichtungen eine Rolle spielen? Der Chefarzt setzte darauf, dass ein QM-System mit klar definierten Prozessen und der Fähigkeit zur schnellen Entwicklung neuer Angebote einen Wettbewerbsvorteil erzielen könnte. Also schrieb er einen Projektentwurf für ein QM-System für die Suchttherapie.

    Rückblick auf die Geschichte der deQus.

    Zu den weiteren Ehrengästen beim QB-Workshop zählten Josef Müller, Prof. Dr. Andreas Koch, Prof. Dr. Edwin Toepler und Claudia Lingelbach-Fischer. Gemeinsam mit Hildegard Winkler, Vorstandsvorsitzende, und Martin Hoppe, Vorstandsmitglied, erzählten Dr. Beutel, Josef Müller und Prof. Koch kurzweilig die Erfolgsgeschichte der deQus aus ihrer Sicht:

    Am 20.06.2000 gründete der Vorstand des buss die „Deutsche Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der Suchttherapie – deQus“. In den deQus-Vorstand wurden Dr. Martin Beutel, Wolfram Schuler (Geschäftsführer des buss) und Hildegard Winkler gewählt.

    Im Oktober 2000 erarbeitete der Vorstand mit Unterstützung von Claudia Lingelbach-Fischer (buss-Geschäftsstelle) in der Nähe von Montpellier das Musterhandbuch der deQus.

    Ab Februar 2001 fanden die ersten Qualifizierungsmaßnahmen für Qualitätsbeauftragte statt, die Dr. Beutel zusammen mit Prof. Toepler, Sozial- und Arbeitsmedizinische Akademie (SAMA), konzipiert hatte. Maßgeblich durchgeführt wurden die Kurse von Prof. Koch. 276 QBs wurden seit 2001 geschult, zunächst durch die SAMA, seit 2007 durch die deQus selbst.

    Überreichung der ersten Zertifizierungs-Torte durch Hildegard Winkler

    Am 13.11.2002 wurde als erste Klinik das St. Marienstift, Neuenkirchen-Vörden, nach deQus zertifiziert. Von ihrem Träger wurden die drei Mitarbeitenden, die sich um das Zertifikat verdient gemacht hatten, mit Reisegutscheinen und entsprechendem Sonderurlaub belohnt. Der damalige QB Josef Müller erinnerte sich in seinem Vortrag an einige Anekdoten aus dieser Pionierzeit und daran, wie lehrreich es war, die internen Audits im Vorfeld im kollegialen Austausch durchzuführen. Ein Kollege aus einer anderen Klinik hatte damals im Marienstift die „Generalprobe“ durchgeführt, und nach der erfolgreichen Zertifizierung war Josef Müller gern gesehener Experte in deQus-Kliniken, die kurz vor dem großen Ereignis „externes Audit“ standen.

    Eine wissenschaftliche Untersuchung (Hildegard Winkler, Prof. Dr. Aloys Prinz, Münster) belegte 2009, dass ein zertifiziertes QM-System, so wie Dr. Beutel es vorausgesehen hatte, zu einem Qualitätszuwachs in den Einrichtungen führte, der höher war, als diese zuvor erwartet hatten. Dieser Effekt lässt sich nun nach 20 Jahren QM-Routine jedoch nicht mehr erkennen.

    In seinem abschließenden Redebeitrag fasste Dr. Beutel zusammen, dass die Gewinne, die durch Verbesserung der Prozesse entstanden waren, eingestrichen sind und externe Auditoren vor allem gesetzliche Vorgaben prüfen und keine Impulse für das Kerngeschäft, die Behandlung kranker Menschen, geben können. Sein Resümee: Was heute aufgrund der gesetzlichen Anforderungen läuft, ist kein QM mehr.

    Abschließend zeigten die drei Vorstandsmitglieder der deQus (Hildegard Winkler, Martin Hoppe und Gero Skowronek) Perspektiven für die Weiterentwicklung des QMs auf. Ihre zentrale These: Qualitätsbeauftragte entwickeln sich zu Qualitätsmanager*innen.

    • Erfahrungen austauschen – Kontakte knüpfen

      Ihre Aufgabe ist die Weiterentwicklung der Qualität der Patientenversorgung bzw. der Betreuung von Klienten/Bewohnern. Hierfür haben sie gemeinsam mit den Fachkräften ein schlankes Prozessmanagement entwickelt, das die Mitarbeitenden unterstützt. Ein Höhepunkt des QM-Jahres ist das interne Audit, in dem die Prozessabläufe überprüft und im Interesse der Beteiligten modifiziert werden.

    • Ihre Aufgabe ist die Beratung des Managements. Hierfür haben sie ein Kennzahlensystem entwickelt, das den Leitungskräften zur Steuerung des Unternehmens dient. Ein Höhepunkt des QM-Jahres ist die datenbasierte Strategieentwicklung im Management-Review.
    • Für ihre Aufgaben sind sie bestmöglich qualifiziert. In der deQus finden sie Unterstützung, damit auch kleine Einrichtungen große Projekte erfolgreich bewältigen können. Ein Höhepunkt des QM-Jahres ist der QB-Workshop, dessen Ziel es ist, im Verbund der Einrichtungen QM so weiterzuentwickeln, dass es vorrangig dem Kerngeschäft der Mitglieder nutzt.

    Fachliche Impulse

    Entsprechende fachliche Impulse vermittelten die Vorträge und Arbeitsgruppen der Veranstaltung. Dr. Benedikt Sommerhoff (Leiter Innovation, Transformation, Themenmanagement bei der DGQ Frankfurt) und Artur Sawadsky (Personalleiter im Verbund Katholischer Kliniken Düsseldorf) zeigten neue Ansätze auf, Qualitätsmanagement und Führung agiler und damit wirkungsvoller zu gestalten. Der QB-Workshop schloss mit einer Podiumsdiskussion ab, in der Einrichtungsleitungen aus stationären und ambulanten Einrichtungen mit PD Dr. Axel Kobelt-Pönicke (DRV Braunschweig-Hannover) und Prof. Dr. Edwin Toepler (Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Hennef) die Frage diskutierten, welche Kennzahlen den Erfolg der Rehabilitation belegen können. Äußerst relevant ist diese Frage im Hinblick auf die qualitätsorientierte Belegungssteuerung, die derzeit von der Deutschen Rentenversicherung in einer Machbarkeitsstudie untersucht wird.

    Auftritt der Theatertruppe aus der Bernhard-Salzmann-Klinik

    Gefeiert wurde am Abend des ersten Tages mit einem gemeinsamen Abendessen beim Italiener. Viel Spaß machte die Aufführung einer Realsatire über Vorkommnisse in einer Suchtklinik – vom Einzelgespräch bis zum Audit. Die Theatertruppe aus der Bernhard-Salzmann-Klinik Gütersloh präsentierte mit professioneller Performance ein quietsch-lebendiges Feuerwerk an Ideen.

    Text: Hildegard Winkler, Vorstandsvorsitzende deQus

  • Exzessives Sporttreiben bei Essstörungen

    Unbestritten ist, dass Sport die Gesundheit fördert. Wird Sport jedoch exzessiv und zwanghaft betrieben und im Extremfall zur „Sportsucht“, kann dies krank machen. Dieses ungesunde Sporttreiben ist nachweislich besonders ausgeprägt bei Personen, die unter Essstörungen leiden. Ein Forschungsteam am Institut für Sport und Sportwissenschaft (IfSS) des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) und der Universität Freiburg konnte nun erstmals psychologische Alltagsmechanismen aufdecken, die diesem pathologischen Sporttreiben zugrunde liegen. Die Methode, die diese Studie möglich machte, heißt Ambulantes Assessment. Sie erfasst menschliches Erleben und Verhalten im Alltag und wurde von einer Expertengruppe am IfSS entwickelt und eingesetzt. „Der Kerngedanke ist, dass wir die Spezies Mensch in ihrem natürlichen Lebensumfeld untersuchen müssen, um menschliches Verhalten verstehen zu können“, sagt Professor Ulrich Ebner-Priemer, Leiter des Mental mHealth Labs am KIT.

    In der vorliegenden Studie wurden spezifisch entwickelte Aktivitäts-getriggerte elektronische Tagebücher auf Smartphones eingesetzt. „Mit diesen elektronischen Tagebüchern konnten wir das dynamische Wechselspiel von körperlicher Aktivität und psychologischen Variablen im Alltag untersuchen“, erläutert Markus Reichert, der am KIT in der Arbeitsgruppe von Professor Ebner-Priemer forscht und zusammen mit Dr. Sabine Schlegel von der Universität Freiburg einer der beiden Erstautoren der Studie ist. „Dank dieser Technologie war es möglich, subjektive Selbstberichte bei auffälligen Bewegungsepisoden gezielt anzufordern und so eine hohe statistische Varianz der Daten zu generieren.“

    Mithilfe dieser Methodik wurde die körperliche Aktivität von 29 Patientinnen mit Essstörungen und 35 gesunden Kontrollprobandinnen per Accelerometer, einem Bewegungssensor, objektiv und kontinuierlich in deren Alltag über sieben Tage hinweg aufgezeichnet. Der Accelerometer war via Bluetooth mit einem Smartphone verbunden, eine installierte App löste beim Über- und Unterschreiten bestimmter Aktivitätsschwellen Tagebuchabfragen aus, und die Testpersonen wurden zusätzlich aufgefordert, sowohl vor als auch nach dem Sporttreiben über ihre Befindlichkeit zu berichten.

    Dabei stellte das Forschungsteam fest, dass bei Patientinnen mit Essstörungen dem Sporttreiben ein Stimmungsabfall vorausging. Dieser Effekt zeigte sich bei den gesunden Kontrollprobandinnen nicht, vielmehr fühlten sie sich vor dem Sport besonders energiegeladen. Nach dem Sporttreiben waren die Patientinnen mit Essstörungen im Vergleich zu den gesunden Kontrollprobandinnen und relativ zu ihrer durchschnittlichen Stimmung besser gelaunt, fühlten sich entspannter, verspürten weniger Druck, schlank sein zu müssen, und waren mit ihrem Körper zufriedener. Dieser Effekt hielt aber nur für eine begrenzte Zeit an, je nach Probandin von circa einer Stunde bis zu drei Stunden.

    Die Ergebnisse, die das Autorenteam in der Fachzeitschrift Psychotherapy and Psychosomatics veröffentlicht hat, lassen den Schluss zu, dass Patientinnen mit Essstörungen das Sporttreiben dazu nutzen, um bedrückende Stimmungslagen und negative essstörungsbezogene Gedanken zu regulieren. „Um mit schwierigen emotionalen Zuständen und negativem Körpererleben umzugehen, treiben sie Sport, vermutlich auch mangels fehlender alternativer Strategien in solchen Momenten“, erläutert Markus Reichert. „Naheliegend ist auch, dass die positiven Effekte des Sporttreibens das ungesunde Sporttreiben verstärken – sich nach dem Sport befreit zu fühlen, führt zu erneutem Sportreiben, wenn die Wirkung wieder abklingt. Dies kann dann in einen Teufelskreis hineinführen, in welchem immer mehr Sport getrieben werden ‚muss‘ um sich gut zu fühlen“, resümieren Markus Reichert und Professorin Almut Zeeck, Koordinatorin der Sudie am Universitätsklinikum Freiburg.

    Laut Zeeck liefern diese Erkenntnisse wichtige Implikationen für die Therapie und weitere Forschung. So könnte Sport in der Therapie gezielt und dosiert eingesetzt werden, um die Stimmung und das Körpererleben essgestörter Menschen positiv zu beeinflussen. Von zentraler Bedeutung sei es jedoch, den Patientinnen und Patienten alternative Handlungsstrategien zu vermitteln, um ungesundes, übermäßiges Sporttreiben zu verhindern. Hier könnten neueste Technologien, wie beispielsweise Alltagsintervention auf Smartphones helfen. „Damit eröffnen sich neue Perspektiven für therapeutische Interventionen, die Patientinnen und Patienten in ihrem Alltag erreichen und eine wichtige Ergänzung zu einer ambulanten Psychotherapie darstellen können“, so Zeeck.

    Originalpublikation:
    Markus Reichert, Sabine Schlegel, Friederike Jagau, Irina Timm, Lena Wieland, Ulrich Ebner-Priemer, Armin Hartmann and Almut Zeeck: Mood and Dysfunctional Cognitions Constitute Within-Subject Antecedents and Consequences of Exercise in Eating Disorders. Physotherapy and Psychosomatics. DOI: 10.1159/000504061.
    Abstract unter https://www.karger.com/Article/Abstract/504061

    Pressestelle des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT), 30.01.2020

  • BTHG

    Das BMAS hat nach § 13 SGB IX in den Jahren 2018 und 2019 eine bundesweite Studie zur Bedarfsermittlung für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen durchführen lassen. Auftragnehmer der Studie war die Kienbaum Consultants International GmbH unter Beteiligung von Herrn Prof. Dr. Matthias Morfeld und Herrn Prof. Dr. Harry Fuchs. In dieser Untersuchung wurde bei den Rehabilitationsträgern nach § 6 SGB IX (gesetzliche Krankenkassen, Bundesagentur für Arbeit, gesetzliche Unfallversicherung, gesetzliche Rentenversicherung) untersucht, welche konkreten Verfahren die Rehabilitationsträger entwickelt haben, um Teilhabebedarfe von Menschen mit Behinderungen zu identifizieren, Teilhabeziele zu definieren und diesen Zielen entsprechende Leistungen zu erbringen.

    Die Studie enthält neben umfangreichen Darstellungen der gegenwärtigen Verwaltungspraxis auch Vorschläge an die Rehabilitationsträger und an die Bundesregierung für Ansätze zur Verbesserung und zur Vereinheitlichung von Verwaltungsabläufen. Die hiermit vorgelegte Studie soll den Meinungsaustausch in der Fachöffentlichkeit über die Erfahrungen bei der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes unterstützen. Sie gehört zu einem breit angelegten Forschungsansatz der „Umsetzungsbegleitung zum Bundesteilhabegesetz“ (Artikel 25 BTHG), der mit einer Vielzahl von Forschungsprojekten die Wirkungen gesetzlicher Änderungen in den Blick nimmt.

    Fazit und Empfehlungen (Auszug aus dem Forschungsbericht, S. 17)

    Im Rahmen der Implementationsstudie hat sich insgesamt gezeigt, dass die Rehabilitationsträger die Feststellungen weiterhin überwiegend auf dem vorliegenden Leistungsantrag und damit auf die trägerspezifischen Leistungsvoraussetzungen bezogen vornehmen. Die Grundlage der Bedarfsermittlung bzw. der Feststellung, ob eine Behinderung vorliegt, ist bei allen Trägern zunächst eine ICD-Diagnose, die im Laufe des Verfahrens in unterschiedlichem Maße um weitere Entscheidungskriterien angereichert wird. Die Beeinträchtigung der Aktivitäten wird bisher nur teilweise und dann auch nur in sehr knapper und abstrakter Form erhoben und dokumentiert. Inhalt und Aussagefähigkeit bleiben bei den Sozialversicherungsträgern hinter der WHO-Checkliste zurück, die hier als mit geringem Aufwand praktikabel nutzbares Instrument Maßstab sein könnte (Dokumentationsmatrix). Die Nutzung der damit eng verknüpften ICF, ihrer Möglichkeiten, aber auch ihre Beschränkungen hinsichtlich der Anwendung im Bereich der Bedarfsermittlung sind bei einer Vielzahl der Träger noch entwicklungsfähig. Zum jetzigen Zeitpunkt sind darüber hinaus noch keine Aktivitäten zur Entwicklung eines trägerübergreifend einheitlichen Dokumentationsverfahrens erkennbar.

    Insgesamt ergeben sich aus Sicht des Forschungsnehmers eine Reihe von möglichen Empfehlungen, die in der untenstehenden Grafik zusammenfassend dargestellt sind. Eine ausführliche Erläuterung der Handlungsempfehlungen findet sich im Bericht in Kapitel 7.

    Abb. 1: Empfehlungen für die Bedarfsermittlung. Grafik: Forschungsbericht, S. 18

    Publikation:
    BMAS (Hg.) (2019): Forschungsbericht 540. Studie zur Implementierung von Instrumenten der Bedarfsermittlung, Dezember 2019. Die Studie ist auf der Website des BMAS abrufbar.

    Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales