Eine intakte basolaterale Amygdala ist notwendig, um einer Person Vertrauen zu schenken. Zu diesem Ergebnis kam ein Team von Psycholog*nnen um Lisa Rosenberger und Jack van Honk. In einer neuen Studie erforschten sie die Vertrauensbildung von Patientinnen mit dem seltenen Urbach-Wiethe-Syndrom, das durch Verkalkungen von Teilen des Gehirns gekennzeichnet ist. Die Ergebnisse sind wegweisend für personalisierte Behandlungsmethoden von psychischen Erkrankungen und erscheinen aktuell in „Current Biology“.
Vertrauen ist ein Grundbaustein für unsere Beziehungen mit anderen. Naives Vertrauen führt zu Ausbeutung; extremes Misstrauen manifestiert sich in psychischen Erkrankungen wie der paranoiden und der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Eine genaue Identifizierung der Bausteine des Gehirnnetzwerks, das die Vertrauensbildung reguliert, ist notwendig, um neue medizinische Behandlungen entwickeln zu können.
Die Forscher*innen untersuchten Patientinnen mit dem Urbach-Wiethe-Syndrom. Dieses ist eine genetisch bedingte, äußerst seltene Krankheit mit weltweit nur ungefähr 100 bekannten Fällen, von denen ein Großteil in Südafrika vorkommt. Für das Forschungsprojekt hat das Team dort bei fünf Patientinnen Daten erhoben. Die Gehirnschädigungen der Patientinnen sind ausschließlich auf eine Teilregion der Amygdala, die so genannte basolaterale Amygdala, beschränkt – eine solche spezifische Gehirnschädigung ist einzigartig in der menschlichen Hirnforschung.
In der Studie wurde ein Verhaltensexperiment durchgeführt – das so genannte Vertrauensspiel, bei dem die Teilnehmerinnen bei ökonomischen Interaktionen lernen, dass einer großzügigen Mitspielerin zu vertrauen ist und einer selbstsüchtigen Mitspielerin nicht. Die Urbach-Wiethe-Patientinnen mit der basolateralen Amygdala-Schädigung konnten das nicht lernen und haben sowohl die großzügige als auch die selbstsüchtige Mitspielerin gleichbehandelt.
„Wir haben mit Hilfe von Kontrollmessungen gezeigt, dass die Schädigung der basolateralen Amygdala – und nicht etwa allgemeine Lernprobleme oder der sozioökonomische Status – für die Defizite bei der Vertrauensbildung der Probandinnen verantwortlich ist“, sagt Rosenberger. Durch die defekte basolaterale Amygdala wurden Informationen über die Vertrauenswürdigkeit der Mitspielerinnen nicht an die notwendigen Regionen des involvierten Gehirnnetzwerks weitergeleitet, wodurch die Patientinnen ihr Vertrauen gegenüber den Mitspielerinnen nicht verändern konnten.
Die Ergebnisse der Studie erweitern die Kenntnisse über das Gehirnnetzwerk und die Mechanismen der Vertrauensbildung. Das ist eine wichtige Basis für die Entwicklung moderner, personalisierter Behandlungsmöglichkeiten von psychischen Störungen mit Vertrauensdefiziten. Gleichzeitig bestätigen die Ergebnisse, dass die Amygdala nicht als eine uniforme Gehirnregion betrachtet werden sollte, sondern dass Teilregionen unabhängige Funktionen haben.
Originalpublikation in „Current Biology“:
Lisa A. Rosenberger, Christoph Eisenegger, Michael Naef, David Terburg, Jorique Fourie, Dan Stein und Jack van Honk (2019). The human basolateral amygdala is indispensable for social experiential learning. Current Biology. DOI: 10.1016/j.cub.2019.08.078
Die Studie wurde im Rahmen des WWTF-Projekts „The neurobiology of belief updating during dynamic social interaction“ und eines Marietta-Blau-Stipendiums durchgeführt.
Der EU-Drogenmarktbericht 2019 in englischer Sprache steht als Download zur Verfügung.
Mindestens 30 Milliarden Euro gibt die europäische Bevölkerung jedes Jahr auf Endverbraucherebene für Drogen aus, womit der Drogenmarkt eine Haupteinnahmequelle für kriminelle Organisationen in der Europäischen Union ist. Diese Zahl wurde im November im EU-Drogenmarktbericht 2019 bekanntgegeben, der von der EU-Drogenbeobachtungsstelle (EMCDDA) und Europol veröffentlicht wird. Etwa zwei Fünftel des Gesamtvolumens (39 Prozent) entfallen auf Cannabis, 31 Prozent auf Kokain, 25 Prozent auf Heroin und fünf Prozent auf Amphetamine und MDMA.
Die beiden Agenturen haben sich zusammengeschlossen, um zum dritten Mal einen aktuellen Überblick über den europäischen Markt für illegale Drogen zu liefern. Der Bericht zeigt Trends entlang der Lieferkette von Produktion bis Verkauf auf. Es wird beschrieben, welche weitreichenden Auswirkungen der Drogenmarkt auf Gesundheit und Sicherheit hat und weshalb ein ganzheitlicher Ansatz für eine wirksame Drogenkontrollpolitik von entscheidender Bedeutung ist.
Die strategische und maßnahmenorientierte Analyse kombiniert Daten aus dem Drogenüberwachungssystem der EMCDDA mit operativen Erkenntnissen von Europol im Bereich der organisierten Kriminalität. Aus den jüngsten Daten (sofern nicht anders angegeben, beziehen sich die Daten in diesem Bericht auf das Jahr 2017) geht hervor, dass die allgemeine Verfügbarkeit von Drogen in Europa nach wie vor „sehr hoch“ ist und Konsumierende Zugang zu einer großen Vielfalt von Produkten mit hohem Reinheitsgrad und hoher Wirksamkeit haben, während die Preise konstant bleiben oder sinken. Ein wichtiges Querschnittsthema im Bericht sind die Umweltauswirkungen der Drogenproduktion, einschließlich Waldrodung und Entsorgung chemischer Abfälle, die zu ökologischen Schäden, Sicherheitsrisiken und hohen Reinigungskosten führen können.
Zunehmende Gewalt und Korruption im Zusammenhang mit Aktivitäten des europäischen Drogenmarkts
Der Bericht hebt die wachsende Bedeutung Europas sowohl als Zielregion für den Handel wie auch als Drogenproduktionsregion hervor und zeigt auf, inwiefern Gewalt und Korruption, welche seit langem in traditionellen Drogenproduktionsländern beobachtet werden, sich nun in der EU immer stärker abzeichnen. Zu den weitreichenden Folgen des Drogenmarktes, die in der Analyse dargelegt werden, zählen seine negativen Auswirkungen auf die Gesellschaft (z. B. Bandengewalt, drogenbedingte Tötungsdelikte) und die Belastung öffentlicher Einrichtungen. Die Zusammenhänge zwischen dem Drogenmarkt und einem breiteren Spektrum krimineller Aktivitäten (z. B. Menschenhandel, Terrorismus) werden ebenso beleuchtet wie seine negativen Auswirkungen auf die legale Wirtschaft (z. B. wie die mit dem Drogenhandel verbundene Geldwäsche seriöse Unternehmen schwächt.
Handel, Technologie und kriminelle Instrumente – marktfördernde Faktoren
Dem Bericht zufolge sind Globalisierung, Technologie/Innovation sowie kriminelle Instrumente drei Kräfte, die die Entwicklung des Drogenmarktes steuern und antreiben. Auf einem stärker global vernetzten und technologiefähigen Markt nutzen kriminelle Organisationen die Chancen, die sich aus der Ausweitung der Handelsmärkte, damit verbundenen logistischen Entwicklungen und der Digitalisierung ergeben. Der Bericht schildert bedenkliche Entwicklungen durch die größere Diversifizierung des Drogenhandels auf dem Seeweg und den Missbrauch der allgemeinen Luftfahrt (z. B. Privatflugzeuge, Drohnen) für kriminelle Zwecke. Auch die Nutzung von Post- und Paketdiensten für die Beförderung von Drogen nimmt entsprechend dem wachsenden Trend zu Online-Einkäufen in Europa und dem größeren Warenverkehr rasch zu.
Surface-Web- und Darknet-Märkte sowie Social Media, Messaging-Services und mobile Apps ermöglichen den Verkauf von Drogen über das Internet. Neben Darknet-Märkten, die sich nach wie vor hartnäckig halten (rund zehn sind heute noch aktiv), sind inzwischen auch Online-Verkaufsshops und -Märkte, die spezifische Nationalitäten und Sprachgruppen als Zielgruppe haben, in Erscheinung getreten. Illegale Schusswaffen, verschlüsselte Smartphones und falsche Dokumente gehören zu den wichtigsten kriminellen Instrumenten, die von Drogenhändlern zunehmend eingesetzt werden.
Wichtige Drogenmärkte unter der Lupe
Der Bericht befasst sich eingehend mit den Märkten für die wichtigsten Drogen in Europa und betrachtet den Weg von der Produktion bis zum Konsum.
Cannabis – Produkte von immer größerer Vielfalt:
Mit einem geschätzten Wert von mindestens 11,6 Milliarden Euro handelt es sich um den größten Drogenmarkt in Europa, wobei rund 25 Millionen Europäerinnen und Europäer (zwischen 15 und 64 Jahren) die Droge im vergangenen Jahr konsumiert haben. Der Bericht veranschaulicht, dass Cannabiskraut und -harz zwar nach wie vor den Markt dominieren, Cannabisprodukte in Europa jedoch immer vielfältiger werden. Hochwirksame Extrakte, auf Cannabis basierende medizinische und gesundheitsorientierte Produkte sowie immer mehr Cannabidiol (CBD) oder Produkte mit niedrigem THC-Gehalt werden in verschiedenen Formen verkauft. Daher müssen ihre Wirksamkeit und ihre potenziellen gesundheitlichen Auswirkungen genau überwacht werden. Die zunehmende Gewalt zwischen kriminellen Organisationen, die mit Cannabis handeln, stellt eine zusätzliche Belastung für die Strafverfolgung dar.
Heroin und andere Opioide – schwerwiegende Gesundheitsrisiken und Bedenken in Bezug auf Vorläufersubstanzen:
Der Konsum von Opioiden ist nach wie vor für den größten Teil der Schäden (darunter Todesfälle) verantwortlich, die mit dem illegalen Drogenkonsum in der EU in Verbindung stehen. Mit rund 1,3 Millionen problematischen Opioid-Konsumierenden (hauptsächlich Heroin) in der EU beträgt der geschätzte Handelswert des Heroinmarktes mindestens 7,4 Milliarden Euro pro Jahr. Die Balkanroute ist immer noch der wichtigste Korridor für Heroin in die EU, doch es gibt Anzeichen für einen zunehmenden Heroinschmuggel entlang der südlichen Route, insbesondere über den Suezkanal. Es gibt außerdem Hinweise darauf, dass die Heroinvorläufersubstanz Essigsäureanhydrid innerhalb der EU abgezweigt und illegal in heroinproduzierende Gebiete exportiert wird. Hochwirksame synthetische Opioide (z. B. Fentanyl-Derivate) stellen ein steigendes Gesundheitsrisiko dar. Diese werden zunehmend online gehandelt und per Post versandt, häufig in kleinen Paketen, die eine große Zahl potenzieller Dosen für Konsumierende enthalten.
Kokain – Rekordproduktion und expandierende Märkte:
Hierbei handelt es sich um die am zweithäufigsten konsumierte illegale Droge in der EU, deren Markthandelswert auf 9,1 Milliarden Euro geschätzt wird. Etwa vier Millionen Europäerinnen und Europäer (zwischen 15 und 64 Jahren) haben diese Droge ihren Angaben zufolge im vergangenen Jahr konsumiert. Die Nutzung konzentriert sich nach wie vor auf den Süden und Westen Europas, doch der Markt scheint sich auszuweiten. Die Rekordproduktion in Lateinamerika hat den illegalen Handel in die EU (vor allem in Seecontainern) verstärkt. Hier wurden Rekordbeschlagnahmungen verzeichnet. Die Präsenz europäisch organisierter krimineller Gruppen in Lateinamerika ermöglicht eine „End-to-end“-Steuerung der Lieferkette. Dies kurbelt möglicherweise den Wettbewerb auf dem Kokainmarkt an, der mit Gewalt in der EU in Zusammenhang steht. Die EU scheint sich zu einem Transitgebiet für Kokain, das für andere Märkte bestimmt ist (z. B. Naher und Mittlerer Osten, Asien), zu entwickeln.
Amphetamin, Methamphetamin und MDMA – Großproduktion in Europa für den inländischen Konsum und Export:
Diese Drogen machen etwa fünf Prozent des gesamten Drogenmarktes in der EU aus, wobei der geschätzte EU-Markthandelswert für Amphetamin und Methamphetamin mindestens eine Milliarde Euro und für MDMA mindestens 0,5 Milliarden Euro beträgt. Rund 1,7 Millionen Europäerinnen und Europäer (zwischen 15 und 64 Jahren) haben im vergangenen Jahr Amphetamin oder Methamphetamin ausprobiert und rund 2,6 Millionen MDMA („Ecstasy“). Die Produktion dieser Substanzen erfolgt teilweise in „industriellem Maßstab“ in der EU für den inländischen Konsum und für den Export. Neue Produktionsmethoden liefern reinere und günstigere Produkte, wobei kriminelle Organisationen die gesamte Logistikkette kontrollieren.
Neue psychoaktive Substanzen (NPS) – weniger Neuentdeckungen, doch starke Substanzen stellen ernsthafte Gesundheitsbedrohungen dar:
Hierbei handelt es sich um verschiedene Substanzen, die nicht Gegenstand internationaler Drogenkontrollen sind. Der Wert des NPS-Marktes ist unbekannt. Im Jahr 2018 wurden 55 NPS im Rahmen des EU-Frühwarnsystems erstmalig gemeldet, wodurch die Gesamtzahl der überwachten NPS auf 731 gestiegen ist. Die Hauptquellenländer sind China und in geringerem Maße Indien. Es wird davon ausgegangen, dass politische Reaktionen und Strafverfolgungsmaßnahmen in Quellenländern zur Verlangsamung des Auftretens von NPS beigetragen haben (im Jahr 2014 wurden noch 101 NPS erstmalig gemeldet). NPS stellen jedoch nach wie vor eine ernsthafte grenzüberschreitende Gesundheitsbedrohung dar, da starke synthetische Opioide, Cannabinoide und „gefälschte“ Benzodiazepine auf dem Markt auftauchen, die mit Berichten über gesundheitliche Notfälle und Todesfälle in Zusammenhang stehen.
Bekämpfung der Drogenmärkte: Maßnahmen für aktuelle und zukünftige Szenarien
Auf einem Drogenmarkt, der immer komplexer, anpassungsfähiger und dynamischer wird, muss dem Bericht zufolge die Politik und Reaktion der EU ebenso flexibel, anpassungsfähig und vernetzt sein. Der Bericht stellt ein breites Spektrum laufender Maßnahmen zur Bekämpfung der illegalen Drogenlieferkette vor – von operativen Maßnahmen über Korruptionsbekämpfung in Häfen bis hin zur Schulung von Beamten in der Vernichtung illegaler Drogenlaboratorien. Es wird auch eine Reihe verfügbarer politischer Instrumente beschrieben (z. B. Koordinierungsstrukturen, Rechtsvorschriften, Kooperationsprogramme und Finanzierungsinstrumente).
Zu den wichtigsten Handlungsfeldern, die im Bericht genannt werden, gehören die Bekämpfung der Geschäftsmodelle krimineller Organisationen auf höchster Ebene, die auf dem globalen Drogenmarkt aktiv sind, sowie die Beseitigung von Schwachstellen an den Außengrenzen. Um mit Innovationen im Bereich der Drogenproduktion Schritt zu halten, werden Investitionen in forensische und toxikologische Kapazitäten benötigt.
EMCDDA und Europol betonen, dass die Verfolgung eines zukunftsorientierten Ansatzes das Reaktionsvermögen der EU im Hinblick auf potenzielle zukünftige Herausforderungen erhöhen wird. Diese umfassen etwa den Umgang mit virtuellen Währungen, Drohnentechnologie, Automatisierung in der Lieferkettenlogistik und künstliche Intelligenz.
Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgau 2019, 122 Seiten, 25,00 €, ISBN 978-3-7841-3060-6, auch als E-Book erhältlich
Für arbeitslose Menschen ohne feste Tagesstruktur und haltgebende Umwelt ist es besonders schwierig, suchtmittelabstinent zu leben. Entscheidungen für ein gesünderes und selbstfürsorglicheres Leben fallen schwer ohne Arbeitsplatz oder andere sinnstiftende und selbstwertsteigernde Betätigung. Das Manual, das aus der Praxis für die Praxis entstand, bietet Grundelemente und Vorgehensweisen zur niedrigschwelligen Unterstützung von Menschen, die an einer Abhängigkeitsstörung leiden und ihre Abstinenz sichern wollen. Die Trainingselemente wie etwa Rückfallrisikominimierung oder allgemeine Stabilisierung sind insbesondere für Menschen nützlich, die wenig förderliche Strukturen in ihrem Alltag haben.
„Mit dem Rauchen aufzuhören, ist kinderleicht, das habe ich schon hundertmal geschafft“, soll der Schriftsteller Marc Twain gesagt haben. Das Rauchen aufzugeben, fällt vielen Menschen wohl eher schwer. Schließlich regt Nikotin Nervenzellen an und steigert zumindest kurzfristig Prozesse der Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Gedächtnisbildung. Vor allem letzter Punkt ist für die Forschung interessant und wird nun in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (IfADo) genauer beleuchtet.
Neurowissenschaftlerin Dr. Min-Fang Kuo wird mit ihrem Team in den nächsten drei Jahren den Einfluss von Nikotin auf die Gehirnaktivität untersuchen. Die Neurowissenschaftlerin wird dabei erforschen, wie Neuroplastizität und kognitive Funktionen bei Teilnehmenden unterschiedlichen Alters mit und ohne Nikotinabhängigkeit beeinflusst werden, wenn Nikotinrezeptoren aktiviert werden. Neuroplastizität bezeichnet die Fähigkeit des Gehirns, sich zu verändern und so etwas Neues zu lernen. Insgesamt sollen knapp 90 Personen untersucht werden. Bei dem Versuch wird jedoch niemand rauchen müssen. Die Teilnehmenden erhalten den Wirkstoff Varenicline, der die nikotinischen Rezeptoren aktiviert und therapeutisch zur Raucherentwöhnung eingesetzt wird. Sollten Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen oder Übelkeit auftreten, stehen den Probanden medizinische Betreuer zur Verfügung. Zur Kontrolle werden auch Placebos, also Mittel ohne Wirkstoff, eingesetzt.
Bei der Untersuchung kommen zwei Methoden zum Einsatz: Nicht-invasive Hirnstimulation und Elektroenzephalographie (EEG). Neuroplastizität wird dabei sowohl durch eine Lernaufgabe angeregt als auch durch die elektrischen Impulse der nicht-invasiven Hirnstimulation. Parallel zu der Lernaufgabe wird mittels EEG erfasst, welche Bereiche im Gehirn gleichzeitig aktiv sind und wie schnell diese arbeiten. Für die Auswertung wird der Zusammenhang zwischen Gehirnaktivität und den Reaktionen auf die Lernaufgabe untersucht. Hierbei wird eine Rolle spielen, inwiefern sich Raucher und Nichtraucher bzw. jüngere und ältere Probanden voneinander unterscheiden.
Mit diesem Wissen kann dann überlegt werden, wie sich Alterungsprozesse des Gehirns kompensieren lassen und inwiefern nikotinhaltige oder ähnlich wirkende Medikamente bei der Behandlung von Demenz sinnvoll sein können. „Das heißt nicht, dass Rauchen gesund ist. Das Nikotin einer Zigarette regt das Gehirn nur kurzfristig an, hat aber in Kombination mit den anderen Inhaltsstoffen des Tabaks langfristig immense negative Folgen“, sagt Kuo. Tatsächlich ist die Leistung des Gehirns zumindest kurzfristig geringer, wenn jemand mit dem Rauchen aufgehört hat. Wie lange sich dieser Effekt hält, muss in folgenden Studien untersucht werden.
Pressestelle des Leibniz-Instituts für Arbeitsforschung an der TU Dortmund, 09.10.2019
Seit der Verkündung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) am 29.12.2016 tritt stufenweise bis 2023 ein neues Reha- und Teilhaberecht in Kraft. Die Umsetzung der jeweils in Kraft getretenen Teilbereiche des BTHG ist sehr komplex und mit vielen Veränderungen verbunden.
Die Komplexität des Vorhabens entspringt u. a. der Idee des radikal geänderten Hilfeansatzes, der die Partizipation Betroffener und die personenzentrierte und individualisierte Leistungserbringung im Rahmen der Eingliederungshilfe in den Mittelpunkt stellt. Damit verbunden sind eine grundlegende Veränderung der Haltung in der Leistungserbringung sowie weitreichende gesetzliche Neuregelungen, die sich deutlich auf das Leben der Hilfebedürftigen und die Praxis der Leistungserbringung auswirken.
Die Besonderheit des Bundesteilhabegesetzes ist auch in seiner Anlage begründet: Es ist ein Artikelgesetz bzw. Gesetzgebungsverfahren, durch das Regelungen in verschiedenen bestehenden Sozialgesetzbüchern und weiteren Gesetzen verändert werden. Zudem tritt das Bundesteilhabegesetz zeitversetzt in Teilen in Kraft, so dass die Umsetzung einen prozesshaften Charakter erhält und die Ergebnisse im Vorfeld nicht endgültig bestimmbar sind. Das zeigt sich beispielsweise in der Neugestaltung des Zugangs zur Eingliederungshilfe und der damit verbundenen Frage nach dem leistungsberechtigten Personenkreis, dessen Neubestimmung erst zum 01.01.2023 in Kraft tritt.
Der prozesshafte Charakter zeigt sich in den derzeit noch nicht vollständig absehbaren Auswirkungen für Betroffene und Leistungserbringer durch die Trennung von Fachleistungen und existenzsichernden Leistungen, die zum 01.01.2020 in Kraft treten soll. Deutlich wird er auch bei der Umsetzung eines trägerübergreifenden Teilhabeplans zur Verbesserung der Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gesellschaft, wenn verschiedene Leistungsgruppen oder mehrere Rehabilitationsträger an der Hilfeleistung beteiligt sind, und bei der Einführung eines Gesamtplanverfahrens in der Eingliederungshilfe. Beide Regelungen sind bereits seit dem 01.01.2018 in Kraft. Damit sind einige Bereiche benannt, in denen das BTHG Auswirkungen insbesondere für suchtkranke Menschen und Einrichtungen der Suchthilfe im Rahmen der Eingliederungshilfe hat.
Ziel dieses Artikels ist eine Bestandsaufnahme und Zwischenbilanz der sukzessiven Umsetzung des BTHG im Bereich der Suchthilfe. Hierzu haben wir bundesweit Praktiker*innen mit demselben Fragenkatalog nach ihrer Einschätzung gefragt. Die Fragen lauteten:
Bemerken Sie in Ihrem Tätigkeitsfeld bereits Auswirkungen durch das BTHG? Wenn ja, welche?
Welchen Nutzen hat das BTHG für die Suchthilfe?
Welche Nachteile hat das BTHG für die Suchthilfe?
Welche Veränderungen ergeben sich für Ihren Träger/Ihre Einrichtung durch das BTHG?
Wie bereiten Sie sich auf die Veränderungen vor?
Auch ein Vertreter eines Leistungsträgers hat aus seiner Sicht eine Zwischenbilanz gezogen. Sein Statement findet sich am Ende des Artikels.
Weitere Informationen zum Thema finden Sie auf www.partnerschaftlich.org. Dort sind unter dem Titel „Das Bundesteilhabegesetz im Blick: Partizipation abhängigkeitskranker Menschen per Gesetz?!“ die Beiträge des gleichnamigen Fachtags aus dem Oktober 2019 und weitere Fachartikel erschienen.
Stefan Bürkle, Geschäftsführer Caritas Suchthilfe (CaSu), Mitglied im Fachbeirat KONTUREN online
1. Bemerken Sie in Ihrem Tätigkeitsfeld bereits Auswirkungen durch das BTHG? Wenn ja, welche?.
Das BTHG hat zum Ziel, Menschen mit Beeinträchtigungen so weit als möglich an gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen und sie zu befähigen, mit dem richtigen Maß an Unterstützung für die eigenen Belange selbst eintreten zu können. Suchthilfe hat sich von jeher mit den Themen Autonomie und Abhängigkeit auseinanderzusetzen. Daher ergeben sich für die inhaltliche Arbeit zunächst einmal wenige Veränderungen.
Der Assistenzbegriff wird den Betreuungsbegriff ablösen. Damit müssen sich die Fachkräfte auseinandersetzen und ihre Haltungen hinterfragen. Im Bereich Verwaltung ergibt sich zukünftig weitgehend Mehrarbeit, siehe Pkt.3. Die Vorbereitung auf die Umstellung im Jahr 2020 bindet im Vorfeld sehr viel Energie und Arbeitszeit.
2. Welchen Nutzen hat das BTHG für die Suchthilfe?
Das Zugrundelegen der ICF-Kriterien und ‑Kodierungen bietet eine hervorragende Grundlage für Diagnostik sowie Ziel- und Maßnahmeplanung. In der vorgeschalteten Teilhabeplanung kommen die unterschiedlichen Akteur*innen der Hilfeplanung an einen Tisch (EGH, Reha, Berufsförderung etc.). Damit ist ein passgenaueres Angebot möglich.
Die Themen „Verantwortung“, „mündige*r Bürger*in“ etc. bekommen ein größeres Gewicht, was im Assistenzprozess von Nutzen sein kann.
3. Welche Nachteile hat das BTHG für die Suchthilfe?
Insbesondere die vormals stationären Einrichtungen werden ab 2020 ein weitaus größeres Risiko in der Gegenfinanzierung haben als noch heute: Die bisher im Kostensatz eingepreisten (und für die Klienten bis dato selbstverständliche) Leistungen sind nun direkt von den Klient*innen zu zahlen, was zu Verwerfungen im Alltag führen kann. Dies führt in der Verwaltung zu einem höheren Aufwand in Buchhaltung und Mahnwesen, in der Einrichtung direkt zu einem höheren Kontrollaufwand. Betreuer*innen bekommen dadurch eine erweiterte Rolle, indem sie kontrollieren müssen, ob der/die Klient*in auch bezahlt hat, was er/sie bekommt. Dieser neue Kontrollbedarf könnte sich negativ auf den Aufbau einer betreuerischen und bindenden Beziehung auswirken. Klient*innen bekommen durch ihr Mietverhältnis eine andere Rolle als Mieter*in, was u. U. zu rechtlichen Auseinandersetzungen führen kann.
4. Welche Veränderungen ergeben sich für Ihren Träger/Ihre Einrichtung durch das BTHG?
Die Verwaltung hat einen erheblich höheren Aufwand (siehe Pkt.3). Mitarbeitende erfahren eine Veränderung in ihrer Rolle und müssen sich mit Anforderungen der Assistenz und den veränderten Bedingungen in der Gesamt- und Teilhabeplanung auseinandersetzen und neu finden.
5. Wie bereiten Sie sich auf die Veränderungen vor?
Natürlich werden die Verwaltungsprozesse entsprechend aufgestellt, die Verträge entsprechend der Vorgaben neu gefasst. In Bezug auf die Mitarbeitenden laufen schon seit längerem Schulungen und Informationsveranstaltungen zu den Themen ICF und BTHG. Bewohner*innen werden informiert und auf die sie betreffenden Veränderungen vorbereitet.
Rodger Mahnke
Rodger Mahnke
Einrichtungsleitung Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld, Facheinrichtung für Suchterkrankungen, Alida Schmidt-Stiftung, Hamburg
1. Zunächst ist das ganze Vorhaben ja noch Theorie. Aktuell sind Leistungserbringer und Leistungsträger mit der Erarbeitung der Handlungsstrukturen beschäftigt – in sehr unterschiedlicher Qualität und mit sehr unterschiedlichem Ergebnis. Auswirkungen aktuell sind eher Verunsicherung und Sorge um die Erträge und Arbeitsabläufe.
2. Den Nutzen haben wir noch nicht erkannt.
3. Die bisherige Finanzierung über einen Pflegesatz wird im Bereich der Eingliederungshilfe auf drei Kostenpositionen aufgeteilt, die von jeweils unterschiedlichen Leistungsträgern bedient werden. Das führt zu einem erheblichen Mehraufwand in der Verwaltung in den Einrichtungen, der sich dadurch noch steigert, dass die Betreuungszeiten mit ca. drei Monaten sehr kurz sind. Darüber hinaus wird die Realisation der Einnahmen für Lebensunterhaltsleistungen und Wohnen auf die Leistungserbringer übertragen – mit allen Risiken im Verhältnis zu den betreuten Klient*innen.
4. Es ist ein deutlich erhöhter Verwaltungsaufwand mit der entsprechenden Personalressource umzusetzen bei nur geringer Bereitschaft zu einer Gegenfinanzierung durch den Leistungsträger. Dadurch müssen in den Einrichtungen Personalressourcen von der sozialtherapeutischen Betreuung in den Verwaltungsbereich verlagert werden. Das hat Auswirkungen auf die Betreuungsqualität.
5. Wir erarbeiten neue Prozesse für die Abwicklung der Leistungserbringung und des Vertragswesens mit den Klient*innen. Wir schulen das Personal für diese neuen Prozesse. Wir erproben die neuen Prozesse mit Leistungsträgern und Klient*innen.
Heike Thorwarth, Thomas Klingsporn
Heike Thorwarth, Thomas Klingsporn
Fachabteilungsleitung stationäre und ambulante Eingliederungshilfe, STEP gGmbH, Hannover
1. Erste Auswirkungen sind spürbar. Es gibt inzwischen in Niedersachsen eine geregelte und fundierte Bedarfsfeststellung für Leistungsnehmer*innen. Die Anwendung der Bedarfsermittlung Niedersachen (B.E.Ni) ist regional unterschiedlich. In Hannover und der Region ist sie eingeführter Standard. Bei den örtlichen Sozialhilfeträgern anderer Landkreise und Kommunen hat sich das Instrument noch nicht umfänglich durchgesetzt.
Aufgrund der Veränderungen im Beantragungsprozess zeigt sich unsere Klientel – nach unseren Beobachtungen – vielfach verunsichert. Im Vorfeld der Bedarfsermittlungsgespräche ist es daher sinnvoll, die Leistungsnehmer*innen auf das neue Verfahren gut vorzubereiten. Bei der ambulanten Eingliederungshilfe und den Einrichtungen für besondere Wohnformen sind derzeit überall dort, wo B.E.Ni angewendet wird, die Bearbeitungszeiträume ab Beantragung einer Leistung deutlich länger. Dieses gilt für alle Einrichtungstypen. Dauerte es früher vier bis sechs Wochen, bis Leistungsnehmende ihren „Bescheid“ bekamen, liegen die Fristen derzeit bei drei bis sechs Monaten. Dies ist auf die umfassende Befragung und Prüfung zurückzuführen.
2. Vorweg und deutlich formuliert: Das BTHG bringt Vorteile für betroffene Menschen – um ein Anrecht auf Eingliederungshilfe zu bekommen, müssen suchtkranke Menschen mit Behinderungen künftig nicht mehr mittellos sein, da die Einkommens- und Vermögensfreibeträge sowie der Schonbetrag für Barvermögen für Bezieher von SGB XII-Leistungen deutlich angehoben wurden.
Die Selbstbestimmungsfreiräume für Leistungsnehmende werden deutlich gestärkt. Ihre persönlichen Ziele finden umfassende Beachtung. Individuelle Unterstützungs- und Hilfsangebote, die auf die jeweilige Situation der von Sucht betroffenen Menschen passen, rücken deutlicher in den Vordergrund. Gut ist auch, dass ein neuer und moderner Beeinträchtigungsbegriff eingeführt wurde, der sich am biopsychosozialen Modell des ICF orientiert. Funktionale Beeinträchtigungen werden nicht mehr als Eigenschaft oder Defizit, sondern im Zusammenspiel mit Kontextfaktoren sowie den Interessen und Wünschen des betroffenen Menschen betrachtet.
Auch für unsere Mitarbeiter*innen eröffnet das BTHG neue Möglichkeiten. Die verschiedenen Bedürfnisse unserer Klient*innen suchen ihre Spiegelung in noch individualisierteren Einrichtungsangeboten. Das ist eine Chance für positive Veränderungen und zugleich eine konzeptionelle Herausforderung.
3. Menschen mit einer Suchterkrankung sind häufig in ihrem Wirkungskreis massiv eingeschränkt. Ohne Unterstützung bewältigen sie das notwendige Verfahren oft nicht. Für die Umsetzung des BTHG brauchen sie eine intensive Begleitung und die entsprechende Beziehungsarbeit durch Dritte, um Leistungen des BTHG überhaupt abrufen zu können.
Dieses Unterstützungssystem ist jedoch meistens nicht vorhanden bzw. für potentielle Leistungserbringende nicht gegenfinanziert. Leistungen, auf die grundsätzlich Anspruch bestünde, werden daher noch zu häufig nicht wahrgenommen.
Die institutionell seit 2017 neu eingerichtete „Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung“ wird von unseren Leistungsnehmenden nach unseren Erkenntnissen bisher kaum genutzt und ist im Umkreis der Suchthilfe nur wenig bekannt.
4. Für die Einrichtungen der Suchthilfe stehen zukünftig die personenzentrierte Ausrichtung und die ganzheitliche Bedarfsermittlung, Planung, Steuerung, Dokumentation sowie Wirkungskontrolle im Mittelpunkt. Vor diesem Hintergrund stellt die Umsetzung des BTHG für uns als Leistungserbringer eine große Herausforderung dar. Es entsteht ein deutlich erhöhter Verwaltungsaufwand. Dieser beinhaltet den Abschluss neuer Wohn- und Betreuungsverträge mit den Bewohner*innen und die zukünftige Erstellung von Nebenkostenabrechnungen.
Eines ist bereits jetzt klar: Träger in der Eingliederungshilfe müssen künftig noch mehr als bisher ihr Profil als Dienstleister schärfen. Das heißt, mit einer diversifizierten Angebotsvielfalt aufwarten, so dass für Leistungsnehmende die Versprechungen des BTHG greifbar werden. Bisherige Arbeitsroutinen innerhalb unserer Einrichtungen werden momentan aufgelöst. Denn aktuell sind amtliche Zuständigkeiten und anzuwendende Verfahren oftmals intransparent. Bewährte Abläufe werden erschwert oder kommen zum Stillstand. Die Veränderungen im Antragsverfahren und bei den Leistungsnachweisen fordern von unseren Mitarbeiter*innen Verständnis und Geduld. Um die organisatorischen Herausforderungen zu bewältigen und wirtschaftliche Risiken für uns als Träger auszuschließen, ist ein enger Austausch zwischen allen Beteiligten derzeit das Wichtigste. Wir spüren deutlich das gemeinsame Ringen um konstruktive Lösungen in Umsetzungsfragen. Das gilt für Leistungserbringer und Leistungsträger gleichermaßen.
5. In Niedersachsen konnte inzwischen eine Übergangsregelung zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes vereinbart werden, so dass hier für die nächsten zwei Jahre Rechtssicherheit besteht. Folgende Schritte sind momentan zu bearbeiten und zu beachten:
Aufgrund der Systemumstellung (Trennung der existenzsichernden Leistungen von den Fachleistungen) für besondere Wohnformen ist der Abschluss neuer Wohn- und Betreuungsverträge nach dem Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz erforderlich. Hier werden die Bewohner*innen derzeit von uns umfassend über die Veränderungen informiert.
Bewohner*innen bzw. deren rechtliche Betreuer*innen müssen über ein eigenes Girokonto verfügen, da die Leistungen der Grundsicherung nicht mehr direkt an die besondere Wohnform, sondern an die Bewohner*innen gezahlt werden.
Die Leistungen der Grundsicherung müssen gegebenenfalls genauso wie die Eingliederungshilfeleistungen (Fachleistungen) von unseren Klient*innen für den Zeitraum ab 2020 neu beantragt werden.
Bei diesen sehr praktischen Schritten unterstützen wir unsere Klient*innen. Trägerintern bauen wir Verwaltungsstrukturen auf, die diese Vorgänge erfassen und sicherstellen, dass alles korrekt und zeitnah umgesetzt werden kann.
Einrichtungsleitung Theresienhaus Glandorf, CRT – Caritas Reha und Teilhabe GmbH
1. Unsere Erfahrungen sind vielfältig: Im Gesamtplanverfahren ist unsere Beteiligung als potentieller Anbieter und Vertrauensperson nicht vorgesehen, so dass der Assessment- und Hilfeplanprozess bei uns „von vorne“ beginnt. „Hilfen wie aus einer Hand“ stelle ich mir anders vor, unsere Vorleistungen in der Suchthilfe durch Beratung und Behandlung der Adressaten werden in diesen Fällen nicht gewürdigt. Wir haben auch bereits erlebt, dass an dieser Schnittstelle Adressaten im System „verloren“ gegangen sind. Besser läuft es dort, wo wir als Experten „rechtzeitig“ beteiligt werden, so dass eine gemeinsame Wissensbasis entsteht und ein wirksamer Leistungsprozess fortgesetzt werden kann.
Bei der Überprüfung der personenbezogenen Wirksamkeit unserer Leistungen sind die negativen Erfahrungen im Moment noch selten. Eine neue Misstrauenskultur mit Blick auf die Zielerreichung und Wirtschaftlichkeit hat bereits zu Enttäuschung bei Leistungsberechtigten geführt – Enttäuschung dadurch, dass der individuelle, positive Befähigungsprozess nicht gewürdigt wird und die inzwischen vertraute Betreuungsperson wieder „abgezogen“ und z. B. durch einfache Assistenz ersetzt werden soll. Unsere Überzeugung ist, dass die Wirkungskontrolle im Gesamtplanverfahren gegenüber dem Leistungsträger Transparenz und Vertrauen in den Arbeitsprozess herstellen kann. So wird auch der Wert der Sozialen Arbeit besser sichtbar.
2. Das BTHG steht für personenzentrierte, wirkungsorientierte und vielfältige Leistungen ein. Das entspricht den bereits langjährig angewandten Standards der Suchthilfe in der Prävention, Beratung, Behandlung und Betreuung. Die Beteiligung der Adressat*innen hat in der Suchthilfe eine lange Tradition, auch in der engen Zusammenarbeit mit den Selbsthilfeverbänden. Die Finanzierung von Leuchtturmprojekten, die später in Regelangebote übergegangen sind, war stets mit erheblichem Einsatz von Trägermitteln verbunden. Es ist zu wünschen, dass mit der Umsetzung des BTHG die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen, damit wir weiterhin den individuellen Bedarfslagen und Erwartungen unserer Adressat*innen entsprechende Leistungen anbieten können. Dem steht der haushaltspolitische Anspruch einer Begrenzung der Ausgabendynamik in der Eingliederungshilfe entgegen.
3. Die ursprüngliche Formulierung des § 99 Personenkreis (so genannte „5 aus 9“-Formel) hätte viele chronisch Suchtkranke von wirksamen Betreuungsleistungen ausgeschlossen. Diese Kuh ist seit der Studie von Prof. Welti und Kollegen hoffentlich vom Eis. Irritiert bin ich über den erheblichen bürokratischen Aufwand und damit verbundene Kosten. Das betrifft sowohl die Erforschung der Wirksamkeit des Artikelgesetzes und dessen Umsetzung. An bestimmten Schnittstellen werden Doppelstrukturen aufgebaut, die eigentlich vermieden werden sollten.
Die Trennung der Leistungen soll zur Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen beitragen. Ich bin allerdings skeptisch, welchen Wert das für die Adressaten hat, deren Hilfebedarf beispielsweise im Umgang mit Geld liegt. Was für einen Menschen mit einer Körperbehinderung und der Fähigkeit zum Management diverser Leistungsbestandteile sinnvoll ist, stellt für einen chronisch mehrfach beeinträchtigten Suchtkranken mit Korsakow-Syndrom eine Überforderung dar. Die Nutzer*innen unserer Angebote stellen mir zunehmend die Frage nach dem Sinn des BTHG.
Die Suchthilfe hat schon immer Gesetzgebung aus der Praxis heraus mitgestaltet. Ich bin überzeugt, dass dieses Engagement auch weiter notwendig ist, damit die UN-Behindertenrechtskonvention tatsächlich auch bei den Menschen mit Behinderung ankommt.
4. Bei unserem ambulanten Betreuungsangebot ändert sich erstmal nichts, hier sind wir bereits seit 2004 „BTHG-konform“ unterwegs und bauen das Angebot weiter aus. Das Konzept der besonderen Wohnform, also das Theresienhaus als Wohnheim mit interner Tagesstruktur, verfügt bereits seit der Gründung über eine Binnendifferenzierung und ermöglicht individuelle Lösungen für individuelle Bedarfe. Statt eines zentralen Leistungsträgers haben wir zukünftig mehrere Stellen, von denen das Geld für unsere gute Arbeit kommt. Diese Umwege sind den Nutzer*innen nur schwer zu vermitteln, da reicht keine einfache Sprache. Die Adressaten haben einen Anspruch auf gesicherte Leistungen und unsere Mitarbeiter*innen auf ihr wohlverdientes Gehalt.
5. Die Berechnungen der einzelnen Leistungskomponenten liegen vor. Die Nutzer*innen, Betreuer*innen und Heimaufsicht wurden informiert, die neuen Verträge liegen bald vor. Die Grundsicherungsanträge laufen. Das ist ein echter Kraftakt. Ansonsten arbeiten wir wie gewohnt an der Weiterentwicklung unserer Leistungen. Im Bereich Qualitätsmanagement sind wir sehr gut aufgestellt, so dass wir uns hoffentlich bald wieder auf das Kerngeschäft konzentrieren können, die Adressat*innen bei der Erreichung ihrer Ziele zu begleiten.
Joachim Messer
Joachim Messer
Wolfgang-Winckler Haus, Entgiftungsstation und Übergangseinrichtung, Kelkheim-Eppenhain
1. Das BTHG sowie das Gesetz zur Umsetzung des BTHG in Hessen haben bereits jetzt erhebliche Auswirkungen. Die Trennung von Fachleistungen und existenzsichernden Leistungen ist für besondere Wohnformen bereits erfolgt. Ungeklärt ist nach wie vor die Frage der „doppelten Miete“ in Übergangseinrichtungen. Pflegeeinrichtungen, die bisher Vergütungsvereinbarungen mit dem Landeswohlfahrtsverband Hessen (LWV) hatten, sollen nun mit den Örtlichen Trägern der Sozialhilfe Vereinbarungen abschließen, ohne dass hierfür bei den Kommunen finanzielle Spielräume vorhanden wären.
2. Der Nutzen liegt vor allem darin, dass eine noch stärkere Personenorientierung realisiert werden muss und damit überholte Vorstellungen hinsichtlich der Rollenzuordnung von betreuter Person und betreuender Person verändert werden müssen
3. Die Nachteile liegen eindeutig im erhöhten Risiko für die Träger: Nutzungskosten für den Wohnraum und der Verpflegung in besonderen Wohnformen werden voraussichtlich häufiger nicht bezahlt werden. Der vom LWV Hessen anerkannte Mietausfall beträgt zwei Prozent – das ist für die Suchthilfe unrealistisch. Hinsichtlich der Fachleistung gilt das Nettoprinzip. Auch hier werden sich Mindereinnahmen ergeben, die sich de facto als Pflegesatzkürzung auswirken werden.
4. Wie bereits beschrieben sind einige für die Einrichtungen existenzielle Fragen noch nicht geklärt. In hessischen Übergangseinrichtungen mit hoher Fluktuation wegen der kurzen Aufenthaltsdauer erzwingt das BTHG ein vollständig geändertes Aufnahmeverfahren. Der administrative Aufwand, auch für die Klientel, ist dabei erheblich geworden. Hieraus können sich im Alltag Probleme ergeben. Wir verkaufen künftig im Prinzip Hotelfunktionen und werden vermutlich damit auch anders wahrgenommen.
5. Wir haben alle notwendigen Formulare und Verträge entwickelt und können intern die notwendigen Prozesse ab 01.01.2020 umsetzen. Es bleiben die oben erwähnten Unsicherheiten, die im Wesentlichen juristischer Natur sind, und da es juristisches Neuland ist, gilt: zwei Juristen – drei Meinungen! Es steht zu befürchten, dass wir sehr viel öfter über Geld reden müssen und sich damit der Charakter des Beziehungsangebotes ändert.
Jürgen Häuser
Jürgen Häuser
Einrichtungsleitung Haus im Niederfeld und Haus Kleyerstraße, Darmstadt
1. Für die Bewohner unserer stationären Einrichtung sind bisher kaum Auswirkungen erkennbar. Lediglich die Eröffnungen eigener Bankkonten sind erste Anzeichen der anstehenden Veränderungen. Für uns als Träger hingegen wächst die Anspannung, da wir vermehrt Anfragen von gesetzlichen Betreuern nach Mietbescheinigungen erhalten, die für die Anträge auf KdU (Kosten der Unterkunft und Heizung) beim örtlichen Sozialhilfeträger benötigt werden. Diese konnten wir jedoch bisher nicht ausstellen, da sich auf Kostenträgerseite die notwendigen Vorarbeiten zeitlich verzögert haben.
2. Für den Bereich, für welchen ich Verantwortung trage, eine soziotherapeutische Einrichtung für chronisch mehrfach beeinträchtigte suchtkranke Frauen und Männer, fällt es mir ehrlich gesagt schwer, einen Nutzen für unsere Bewohner zu erkennen, und fürchte eine Überforderung. Ich hoffe, ich werde eines besseren belehrt und die Bewohner können von dem Mehr an Selbstbestimmung profitieren.
3. Bewohner erhalten zukünftig ihre existenzsichernden Leistungen direkt ausbezahlt und begleichen damit die in diesem Bereich erbrachten Leistungen. Nicht jeder ist jedoch in der Lage, mit diesen finanziellen Mitteln angemessen und zweckbestimmt umzugehen. Kommt es zu Forderungsausfällen, wird dies das Verhältnis zwischen uns und dem Bewohner belasten und verändern. Ein produktiver soziotherapeutischer Prozess wäre unter diesen Vorzeichen nur erschwert möglich.
Ich erwarte ein Zunahme von Verschuldungen der Bewohner, vermehrte Abbrüche und eine Verschiebung der Hilfen in Richtung der Wohnungslosenhilfe.
4. Für die soziotherapeutischen Einrichtungen als Teil der Eingliederungshilfe wird sich der Verwaltungsaufwand ganz erheblich erhöhen. Es steht zu erwarten, dass es zu Ausfällen bzw. Verzögerungen bei den Kostenerstattungen kommen wird. Insbesondere zu Beginn der Umstellung kann es zu Liquiditätsengpässen kommen. Es ist nicht klar, ob wir alle Qualitäten unseres Angebotes aufrechterhalten können (z. B. unsere eigene Küche).
Insgesamt wird unser Angebot noch einen stärkeren ambulanten Charakter erhalten. Dies ist für einige unserer Bewohner sicher von Vorteil, für die Mehrzahl jedoch nicht.
5. Wir besuchen so viele Veranstaltungen zu diesem Thema wie möglich, um alle Informationen und Entwicklungen möglichst frühzeitig zu erhalten. Gleichzeitig haben wir die Bewohner und ihre gesetzlichen Betreuer zeitnah über die anstehenden Veränderungen informiert. Im Bereich der Verwaltung sind wir dabei, zusätzliche Ressourcen aufzubauen. Für die ersten Monate der Umstellung und die dann zu erwartenden Verzögerungen in der Rechnungsbegleichung haben wir finanzielle Rückstellungen gebildet.
1. In meinem Tätigkeitsfeld bemerke ich bereits folgende Auswirkungen durch das BTHG:
viel Unsicherheit und Unklarheit bzgl. der praktischen Umsetzung
Skepsis bzgl. einer termingerechten Umsetzung zum 01.01.2020 (z. B. in Hessen, wo es keine bayerische Übergangsregelung gibt)
einen erheblichen Mehraufwand in der täglichen Arbeit bzgl. Information und Aufklärung von Bewohnern und deren Betreuern sowie Kostenträgern und Wohngeldstellen
2. Ich sehe folgenden Nutzen des BTHG für die Suchthilfe:
Ermöglichung von ggf. neuen finanzierten Arbeitsformen/-bereichen (Budget für Arbeit)
im Idealfall Rückerlangung von mehr Selbstachtung und Würde für den Einzelnen
3. Ich sehe folgende Nachteile des BTHG für die Suchthilfe:
Die Möglichkeit zur eigenen Verwaltung von recht hohen Geldsummen verstärkt die Tendenz zur Selbstüberschätzung und unrealistischer Haushaltsplanung.
Der Einblick in genauere Kostenstrukturen z. B. bzgl. Unterkunft und Verpflegung kann ein häufig vorhandenes unrealistisches Anspruchsdenken ungut befördern und zu vielen unfruchtbaren Diskussionen in den Einrichtungen führen.
Die Möglichkeit zur Auszahlung des gesamten Lebensmittelgeldes und zum möglichen Selbsteinkauf/-versorgung kann sehr negative Auswirkungen auf das Ernährungsverhalten, die Hygiene und die therapeutische Gemeinschaft haben, die sich auch durch gemeinsame Mahlzeiten ausdrückt.
4. Folgende Veränderungen ergeben sich für meine Einrichtungen durch das BTHG:
ein erheblicher Verwaltungsmehraufwand aufgrund eines zukünftig nicht mehr alleinigen und einzigen Kostenträgers
die Notwendigkeit eines Mahn- und Risikomanagements zum Eingang vereinbarter Monatszahlungen
Wohn- und Verpflegungsangebote müssen sich zukünftig noch stärker und regelmäßiger den Wünschen der Bewohner gegenüber verändern und verbessern, da mehr Kostentransparenz und Vergleich möglich ist.
5. So bereiten wir uns auf die Veränderungen vor:
Auf- und Ausbau eines guten Fehler- und Beschwerdemanagements in der Einrichtung
Sensibilisieren der Mitarbeiter für die vom Gesetzgeber gewollte Eigenverantwortung und Eigenständigkeit auch von Menschen mit einer Beeinträchtigung/Behinderung, ohne suchtrelevante Grenzziehungen und Verhaltensspiegelungen zu unterlassen
Erarbeitung von neuen Wohn- und Betreuungsverträgen, die sowohl ausreichende Refinanzierung als auch notwendige Handlungsspielräume im täglichen Betreiben einer Einrichtung mit Suchtkranken ermöglichen
Jede Neuerung bringt Verunsicherung mit sich. So auch im Mitarbeiterteam unserer Einrichtung, in dem wir uns seit geraumer Zeit intensiv mit den Anforderungen des BTHG – und damit auch mit dessen Chancen und Risiken – auseinandersetzen.
Chancen und Risiken – und damit einhergehend auch Hoffnungen und Ängste – ergeben sich durch die Vorgaben des BTHG in allen therapeutischen, organisatorischen, wirtschaftlichen und personellen Prozessen und Bereichen. So wird eben auch die Umsetzung weitreichende Auswirkungen und Folgen nicht nur für die Nutzer („Kunden“) haben, sondern auch für die Menschen, die die gesetzlichen Bestimmungen auszuführen haben.
Die Umsetzung des BTHG wird, blickt man auf die Seite der Mitarbeiter in der Suchthilfe, vor allem auch beschäftigungsrelevante und arbeitskulturelle Bedeutung haben, obwohl dies nicht primäre Absicht, sondern nur die Folge des Gesetzes ist. So werden sich die zu erbringenden „Arbeitsleistungen“ und die „Arbeitsziele“ in wesentlichen Punkten im Arbeitsfeld „soziotherapeutische Suchthilfe“ verändern. Von den Beschäftigten werden dann teilweise andere Arbeitsergebnisse und ‑gewichtungen erwartet, als es bisher gefordert war. Somit bedarf auch die suchttherapeutische (Grund-)Haltung der einzelnen Mitarbeiter einer umfassenden Transformation, da der Mitarbeiter „in Zukunft etwas anderes machen soll, als das, wofür er einmal angetreten ist und wovon er überzeugt war“ (Zitat eines Mitarbeiters).
Verständlich, dass diese neuen Anforderungen an Mitarbeiter auch Unsicherheiten in Bezug auf den Arbeitsplatzerhalt und auch auf die Bewertung der Arbeitsleistungen, die zukünftig erbracht werden müssen, erzeugen. Dies wurde und wird in der aktuellen Diskussion nicht weiter problematisiert und lässt damit die Menschen, die dieses Gesetz „alltagstauglich“ machen sollen, „außen vor“.
Soziotherapeutische Einrichtungen der Suchthilfe betrachteten bisher den Heilungserfolg (Rehabilitation und Resozialisation = Überwindung der Krankheit und Etablierung einer Lebenswelt, die das erneute Ausbrechen der Krankheit verhindert) als das Ziel all ihrer therapeutischen/betreuerischen Maßnahmen. Der klassische Handlungsansatz ist/war die „Betreuung“. Betreuung schließt Fürsorge ebenso mit ein wie die Verantwortung für die vorgeschlagene Betreuungsmaßnahme. Der Begriff „Betreuung“ wird nun im BTHG durch „Assistenz“ ersetzt. „Assistenz“ ist die Unterstützung einer Maßnahme, die der Betroffene vorgibt und die durchaus auch einem (vom Betreuer / Angehörigen / Arzt / von der Krankenkasse / der Gesellschaft) gewünschten Therapieerfolg zuwiderlaufen kann. Der Gesetzgeber hat damit ganz eindeutig die persönliche Wahlfreiheit über das ehemalige Gesundheitsziel gestellt.
Bisher empfahlen die Mitarbeiter aufgrund ihres Wissens und ihrer Erfahrungen den suchtkranken Menschen therapeutische Hilfsangebote, die diese dann in ihre verbindliche therapeutische Zielplanung mitaufnahmen und die dann gemeinsam von Betreutem und Therapeut verfolgt wurde. Diese „therapeutische Partnerschaft“ definierte u. a. die Pflichten, die der Betroffene auf sich nahm, um so die gemeinsam vereinbarten Ziele (= berufliche und soziale Integration, Suchtfreiheit) zu erreichen. Der Mitarbeiter nahm dabei nicht nur die die Rolle des Wegbegleiters, sondern auch des Trainers und eben auch des „Controllers“ ein, der auch darüber wachte, ob die gemeinsamen Vereinbarungen, die den späteren Erfolg erst ermöglichen können, auch eingehalten werden.
Die „Mitwirkungspflicht“ bzw. „Compliance“ ist Dreh- und Angelpunkt jeder Heilbehandlung, ob somatisch oder psychosomatisch, da sie den Betroffenen aktiv mit einbindet und somit dessen Selbstheilungskräfte aktiviert und mobilisiert. Die Verantwortung für eine „Heilung“ wird dabei nicht an Ärzte, Therapeuten, Medikamente oder Methoden delegiert. Heilung ist in der Summe das Erfolgsergebnis eines verpflichtenden Zusammenspiels vieler Akteure, in dessen Mittelpunkt der Betroffene selbst steht.
Beim BTHG (bezogen auf die Suchthilfe) steht nun also nicht mehr die Krankheit im Mittelpunkt. Es geht also nicht in erster Linie um Gesundung. Vielmehr geht es um Rechte und gesellschaftliche Gleichstellung eines Menschen, der krank ist oder eben auch Defizite hat. Weder Krankheit noch Defizite sollen den Betroffenen hindern, die gleichen Rechte wie Menschen ohne Behinderungen wahrnehmen zu können. Diesem Anliegen gilt es hier auch nicht zu widersprechen. Es wird lediglich kritisiert, dass es einen (sucht-)kranken Menschen von der Pflicht zur Mitwirkung entbindet.
Selbstverständlich ergeben sich auch neue Ansätze, Perspektiven und dementsprechend auch Hilfsangebote durch das BTHG in der Soziotherapie für Suchtkranke. Gerade im Bereich des „peer counceling“, also des Hilfsansatzes der „Beratung/ Betreuung/ Begleitung von Betroffenen für Betroffene“, werden hohe Nachfragen (= „Kundenwünsche“) entstehen.
Die langjährigen Erfahrungen in der Behindertenarbeit, speziell Suchtkrankenbehandlung, zeigen nämlich, dass ehemals Betroffene sehr gute Ratgeber und Wegbegleiter sind, dem Betroffenen geeignete und gangbare Wege aus der Krankheit/ Behinderung aufzuzeigen. Aus ihrer eigenen Erfahrung heraus können sie glaubhaft vermitteln, dass Krankheit/ Behinderung überwunden bzw. mit der Krankheit selbstbestimmt gelebt werden kann. Als Stärken des „Peer Counceling“ werden gesehen:
Mut zur Veränderung aufzeigen
Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten vermitteln
Fähigkeit aufzeigen, das Leben wieder in die eigene Hand zu nehmen
Vermittlung der Grundhaltung, durch eigene Kraft Lösungen, Krisen, Krankheiten, etc. überwinden zu können
Einfühlungsvermögen/ Empathie für die Gefühlslage des Betroffenen aufgrund der eigenen Lebensgeschichte
Durch den Einsatz von Betroffenen wird die Gefahr der „Distanz“ zwischen professionellem Helfer und behindertem Menschen abgebaut. Die Interaktion findet auf Augenhöhe statt, was wiederum den Zugang zu Hilfsangeboten und die Inanspruchnahme von Hilfsmaßnahmen für die Betroffenen wesentlich erleichtert.
Gerade der Einsatz von ausgebildeten Ex-Usern (vgl. Konzept Laufer Mühle, soziotherapeutische Assistenten/IHK) in der Soziotherapie hat sich über mehr als zwei Jahrzehnte hin bewährt und zu beachtlichen Rehabilitations- und Sozialisationserfolgen geführt. Allerdrings wurden diese wichtigen Lebensberater und -begleiter von den Kostenträgern bis heute nicht als professionelle Unterstützer anerkannt.
Unter anderem hat nun die die Diskussion um das BTHG dazu geführt, „Betroffene“ (in der Suchthilfe sind es die „Ex-User“) nach einer fundierten Qualifikation als Genesungsbegleiter anzuerkennen und ihnen einen dementsprechenden Stellenwert im Heilungsprozess von kranken Menschen zuzuweisen. Die eingeleiteten Schritte sind erfolgsversprechend.
Leah Schreiner
Leah Schreiner
Projektmanagement/Risikomanagement, Geschäftsbereich Sucht-/ Kinder- und Jugendhilfe, Deutscher Orden Ordenswerke, Hauptgeschäftsstelle, Weyarn
1. Ja! Zurzeit nehmen die Aufgaben, die das BTHG betreffen, mind. 50 Prozent meiner Arbeitszeit ein. Die Vorbereitungen auf die Umstellungen zum 01.01.2020 bedeuten sehr viel Fleißarbeit, sowohl für die Einrichtungen als auch für unser Team in der Hauptgeschäftsstelle (Flächenberechnungen, Kostenkalkulationen, neue Zahlungswege, neue Heimverträge etc.).
2. Für einen Teil unserer Bewohner/innen wird die finanzielle Leistungsgewährung in Zukunft fairer abgebildet, z. B. werden einige Bewohner zukünftig einen Teil ihrer Rente erhalten und auch selbst verwalten können. Das finde ich schön, wenn man bedenkt, dass viele ihr Leben lang dafür gearbeitet haben. Es wird insgesamt deutlich, dass die seelisch behinderten Menschen in den Suchthilfe-Einrichtungen mehr Autonomie ausüben sollen/können.
3. Da die Suchthilfe-Einrichtungen nur einen ganz kleinen Teil der gesamten Eingliederungshilfe einnehmen, können teilweise die Besonderheiten der „Suchthilfeklientel“ nicht ausreichend berücksichtigt werden. Das zeigt sich vor allem am zukünftigen „leistungsberechtigten Personenkreis“ (Zugangsvoraussetzungen). Es könnte sein, dass dadurch einige unserer Bewohner/innen in Zukunft Schwierigkeiten haben, Eingliederungshilfeleistungen zu erhalten.
4. Für unseren Träger wird es hauptsächlich Veränderungen in den Verwaltungsprozessen geben. Diese werden umfangreicher und komplizierter. Es wird sich möglicherweise die Atmosphäre in den Einrichtungen verändern, welche bislang stark vom Prinzip der „Therapeutischen Gemeinschaft“ geprägt waren.
5. Wir versuchen immer auf einem aktuellen Informationsstand bzgl. der jeweiligen Umsetzung auf Landesebene zu sein. Das sind bei unserem Träger fünf Bundesländer, und es gibt in jedem Bundesland verschiedene Regelungen. Bisher konnten wir gut Schritt halten und alle notwendigen Umsetzungsschritte einleiten.
Karl-Heinz Schön
Karl-Heinz Schön
Leitung Fachbereich für Menschen mit seelischen Behinderungen und Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen, Landeswohlfahrtsverband Hessen, Darmstadt
1. Welchen Nutzen hat das BTHG für Menschen, die aufgrund einer Suchterkrankung behindert sind/werden? Der Nutzen des BTHG geht über die Orientierung an einer Zielgruppe hinaus. Im LWV Hessen orientieren wir uns vorrangig am Willen eines behinderten Menschen und seinen Ressourcen. Mit dem Budget für Arbeit, der Ausgestaltung der künftigen Assistenzleistungen und der Beteiligung der Betroffenen an der Planung ihres Teilhabebedarfes werden dem behinderten Menschen (Sucht) Möglichkeiten für mehr Selbstbestimmung zur Verfügung stehen. Lohnenswerte Ziele zur Teilhabe in den Bereichen Arbeit, Wohnen, soziale Beziehungen und Freizeitgestaltung bieten Anreize, den Suchtmittelkonsum einzuschränken oder zu beenden. Die Orientierung am Sozialraum bietet die Chance, Individualisierung zu überwinden. Die Reduzierung des Einsatzes von Einkommen und Vermögen erleichtert die Inanspruchnahme von Unterstützung.
2. Welche Nachteile hat das BTHG für Menschen, die aufgrund einer Suchterkrankung behindert sind/werden? Längerfristige Nachteile des BTHG für Menschen, die aufgrund einer Suchterkrankung behindert sind/werden, sehen wir keine. Kurzfristig kann es durch die Trennung der Fachleistungen von den existenzsichernden Leistungen und das Nettoprinzip zu Verunsicherungen kommen. An diese Veränderungen müssen sich die behinderten Menschen, ihre gesetzlichen Betreuer, die Träger der Grundsicherung bzw. der Hilfe zum Lebensunterhalt und die Leistungserbringer in besonderen Wohnformen in den nächsten beiden Jahren anpassen. Das kann vorübergehend im Einzelfall dazu führen, dass Personen in Angebote nicht aufgenommen oder aufgrund von offenen Forderungen der Leistungserbringer entlassen werden. Auch bei der Beratung und Bedarfsermittlung gab es zu Beginn der Umstellung in Hessen Anpassungsprobleme, die wir Zug um Zug durch Praxiserfahrung verbessern. Unser Bestreben als Leistungsträger ist es, allen erforderlichen Angeboten einen wirtschaftlichen Betrieb zu ermöglichen und damit ein zukunftsorientiertes Angebot für behinderte Menschen sicherzustellen.
3. Welche wesentlichen Veränderungen durch das BTHG ergeben sich für die Suchthilfe aus Ihrer Sicht als Leistungsträger? Wir werden als Leistungsträger darauf drängen, vorrangige Leistungen in Anspruch zu nehmen. Im Bereich der Suchthilfe sind das z. B. die Angebote der medizinischen Rehabilitation (ambulant, ganztägig ambulant und stationär), die Soziotherapie und ambulante psychiatrische Pflege. Die Teilhabekonferenzen bieten dazu Möglichkeiten. Wir werden auch die nichtprofessionellen, sozialräumlichen Unterstützungsmöglichkeiten und verbindliche Kooperationen unterschiedlicher Unterstützungsangebote (be)fördern. Wir werden darauf hinarbeiten, Menschen in normalen Wohnformen und normalen Arbeitsplätzen zu unterstützen. Wir hoffen dabei auf eine partnerschaftliche Kooperation mit den Leistungserbringern in der Suchthilfe, so wie wir das in der Vergangenheit auch in vielen Fällen erlebt haben.
Das Robert Koch-Institut hat anlässlich des kommenden Welt-AIDS-Tages im Epidemiologischen Bulletin eine umfassende Darstellung der HIV/AIDS-Situation in Deutschland veröffentlicht. Im Jahr 2018 haben sich geschätzt 2.400 Personen in Deutschland mit HIV infiziert, 2017 waren es 2.500 Neuinfektionen. Der Ausbau von zielgruppenspezifischen Testangeboten und ein früherer Behandlungsbeginn zeigen offenbar auch in Deutschland Erfolge. „Dieser Weg sollte konsequent weiter umgesetzt werden, insbesondere durch eine weitere Verbesserung der Testangebote und die Gewährleistung des Zugangs zur Therapie für alle Menschen, die in Deutschland mit HIV leben“, betont Lothar H. Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts.
Die Zahl der Menschen mit einer HIV-Infektion in Deutschland ist bis Ende 2018 auf 87.900 gestiegen. Von diesen sind etwa 10.600 HIV-Infektionen noch nicht diagnostiziert. „Wer von seiner Infektion nichts weiß, kann das Virus unbeabsichtigt weitergeben, außerdem ist bei Spätdiagnosen die Sterblichkeit höher“, unterstreicht Wieler. Etwa jede dritte Neuinfektion wird erst mit einem fortgeschrittenen Immundefekt diagnostiziert. Im Jahr 2018 sind geschätzt 440 Menschen an HIV gestorben. Die Gesamtzahl der Todesfälle seit Beginn der Epidemie in den Achtzigerjahren schätzen die RKI-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler auf 29.200.
Der positive Trend kommt aus der wichtigsten Betroffenengruppe – Männer, die Sex mit Männern haben. Bei ihnen ging die Zahl der geschätzten HIV-Neuinfektionen von etwa 2.200 Neuinfektionen im Jahr 2013 auf 1.600 Neuinfektionen im Jahr 2018 zurück. Diese Entwicklung ist wahrscheinlich in erster Linie darauf zurückzuführen, dass es bei Männern, die Sex mit Männern haben, gelungen ist, die Testbereitschaft zu steigern und die Testangebote auszuweiten. Außerdem wirkt sich die Empfehlung zu einem sofortigen Behandlungsbeginn positiv aus. Eine erfolgreiche Therapie führt dazu, dass die Weitergabe von HIV nicht mehr möglich ist.
Der Anteil von Menschen mit HIV, die eine antiretrovirale Behandlung erhalten, hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen und liegt inzwischen bei 93 Prozent. Bei 95 Prozent der Behandelten ist die Behandlung erfolgreich, so dass die Behandelten nicht mehr infektiös sind. Seit 2015 empfehlen die HIV-Behandlungsleitlinien, jede diagnostizierte HIV-Infektion in Deutschland umgehend antiretroviral zu therapieren. Die Empfehlung, Kondome zu benutzen, bleibt weiter ein Grundpfeiler der Prävention von HIV und weiteren sexuell übertragbaren Infektionen.
Das RKI schätzt die Zahl der HIV-Neuinfektionen jedes Jahr neu. Durch zusätzliche Daten und Informationen sowie Anpassung der Methodik können sich die Ergebnisse der Berechnungen von Jahr zu Jahr verändern und liefern jedes Jahr eine aktualisierte Einschätzung des gesamten bisherigen Verlaufs der Epidemie. Die neuen Zahlen können daher nicht direkt mit früher publizierten Schätzungen verglichen werden. Die geschätzten Neuinfektionen sind nicht zu verwechseln mit den beim RKI gemeldeten Neudiagnosen. Da HIV über viele Jahre keine auffälligen Beschwerden verursacht, kann der Infektionszeitpunkt länger zurückliegen. Die neue Schätzung ist im Epidemiologischen Bulletin 46/2019 veröffentlicht, diese Ausgabe geht auch auf die Entwicklung der HIV-Neudiagnosen ein.
Das Epidemiologische Bulletin und weitere Informationen, darunter Eckdaten für die einzelnen Bundesländer, sind online abrufbar: www.rki.de/hiv.
Pressestelle des Robert Koch-Instituts, 14.11.2019