Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgau 2018, 404 Seiten, € 34,90, ISBN 978-3-7841-3029-3, Sonderpreis für Mitglieder des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge € 28,90
Die Herausgeber/innen legen ein Handbuch vor, das neuesten Stand theoretischer Perspektiven, Konzepte, Instrumente und Verfahren Sozialer Diagnostik abbildet. Damit eröffnet es neue Zugänge für Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit. Anhand von acht Perspektiven (Identität, Biografie, Ressourcen, Sozialraum, Inklusion u.a.) werden die theoretischen Zugänge und thematischen Foki einer Diagnostik in der Sozialen Arbeit dargelegt. In 15 Beiträgen werden aktuelle Konzepte Sozialer Diagnostik erläutert, illustriert von Fallbeispielen, und schließlich werden 16 diagnostische Instrumente vorgestellt, die sich für einen arbeitsfeldübergreifenden Einsatz eignen.
Der Öffnung der Muster-Berufsordnung für eine psychotherapeutische Fernbehandlung hat am 17.11.2018 der Deutsche Psychotherapeutentag in Berlin zugestimmt. Dabei sind die Sorgfaltspflichten psychotherapeutischen Handelns einzuhalten. Weiterhin erfordern Eingangsdiagnostik, Indikationsstellung und Aufklärung die Anwesenheit zwischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und den Patienten. Die Deutsche PsychotherapeutenVereinigung (DPtV) begrüßt die Öffnung der Muster-Berufsordnung.
„Dadurch können wir die psychotherapeutische Versorgung flexibler auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten ausrichten. Insbesondere bei der Behandlung von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen aufgrund somatischer oder psychischer Erkrankungen wie auch anderer persönlicher Lebensumstände haben wir jetzt mehr Handlungsspielräume. So können wir in diesen Fällen z. B. Videosprechstunden durchführen und geeignete elektronisch gestützte Anwendungen nutzen“, sagte die DPtV-Bundesvorsitzende, Dipl.- Psych. Barbara Lubisch. „Wir sehen dabei weiterhin den persönlichen Kontakt zwischen Psychotherapeut und Patient als ‚Goldstandard‘ psychotherapeutischen Handelns in der Beziehung zu den Patientinnen und Patienten an.“
Diese Öffnung der Muster-Berufsordnung kommt zum richtigen Zeitpunkt: Mit dem kürzlich verabschiedeten Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG) wird der Anwendungsbereich von telemedizinischen Leistungen auch auf die psychotherapeutische Behandlung erweitert. Die Regelung sieht vor, dass mit Wirkung zum 1. April 2019 durch den Bewertungsausschuss eine Regelung im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) zu treffen ist, nach der Videosprechstunden ermöglicht werden. Die Besonderheiten in der psychotherapeutischen Versorgung sind dabei zu berücksichtigen. „Der nächste Schritt ist nun die Umsetzung in die Regularien der ambulanten Versorgung. Hier sind insbesondere die gesetzlichen Krankenkassen gefordert, realisierbare patientenfreundliche und sichere Lösungen zu unterstützen“, betonte Barbara Lubisch.
Pressestelle der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung, 20.11.2018
Im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) hat das infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft im September 2018 eine Machbarkeitsstudie für das Forschungsvorhaben „Wirkungsprognose nach Artikel 25 Absatz 2 BTHG“ vorgelegt. Die Evaluation soll feststellen, ob die zwei wesentliche Ziele der Reform der Eingliederungshilfe durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) erreicht werden: die Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen und eine Dämpfung der Ausgabendynamik.
Das Gesetzgebungsverfahren zum BTHG war von einer intensiven Beratung mit den Bundesländern, Leistungsträgern, Kommunalverbänden, Behindertenverbänden und Verbänden der Leistungserbringer begleitet. Wegen der unterschiedlichen Erwartungen und Befürchtungen knüpft der Gesetzgeber die Rechtsänderungen an einen Evaluationsvorbehalt. Die vorliegende Machbarkeitsstudie hat die methodischen Grundlagen für die geplante Forschung vorbereitet.
Im Zentrum des Berichts stehen zehn Regelungsbereiche, die mit dem Bundesteilhabegesetz geändert bzw. präzisiert wurden:
Personenzentrierte Eingliederungshilfeleistung (Wunsch- und Wahlrecht)
Gemeinsame Inanspruchnahme
Bedarfsermittlung
Gesamtplankonferenz und Gesamtplan
Steuerungsinstrumente und Verbesserung der Steuerungsfähigkeit
Beitrag der Leistungsberechtigten
Verhältnis zwischen Eingliederungshilfe und Pflegeleistungen
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
Leistungen zur Teilhabe an Bildung
Leistungen zur Sozialen Teilhabe
Das Gutachten umreißt den Evaluationsgegenstand, formuliert relevante Evaluationsfragen und gibt Empfehlungen für die Durchführung der Evaluation. Die Autoren schlagen drei Teilstudien vor:
Im Zentrum einer Implementationsanalyse soll die Umsetzung des novellierten Eingliederungshilferechts stehen. Dabei geht es um das Verwaltungshandeln der Leistungsträger. In 80 Kreisen bzw. kreisfreien Städten sollen Prozesse und Lösungswege der Leistungsplanung und -bewilligung untersucht werden, so die Empfehlung.
Um die Auswirkung der Rechtsänderungen auf die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu untersuchen, schlägt der Bericht ein Konzept für eine prozessbegleitende Wirkungsbetrachtung mittels eines Längsschnittansatzes vor. Es wird empfohlen, rund 2.500 leistungsberechtigte Personen in Privathaushalten und rund 1.500 Personen in Einrichtungen in die Befragung einzubeziehen.
Als dritten Baustein empfiehlt die vorliegende Machbarkeitsstudie eine kausale Wirkungsanalyse für die beiden neuen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben „Budget für Arbeit“ und „Andere Leistungsanbieter“. Dabei soll untersucht werden, ob das Budget für Arbeit und andere Leistungsanbieter bessere Teilhabemöglichkeiten eröffnen als die Arbeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen.
Auf der Grundlage der Ergebnisse der Studie wird die Hauptuntersuchung zur Wirkungsprognose voraussichtlich im vierten Quartal 2018 ausgeschrieben und im Frühjahr 2019 vergeben. Die Ergebnisse der Wirkungsprognose sollen im Jahr 2022 vorliegen.
Beltz Verlag, Weinheim 2018, 168 Seiten mit E-Book inside und Arbeitsmaterial, € 26,95,
ISBN 978-3-621-28556-8, auch als E-Book erhältlich
Das Genussverfahren ist ein evaluierter, lerntheoretisch fundierter und störungsübergreifender Behandlungsansatz. Ziel ist es, unabhängig von einer zugrunde liegenden Erkrankung, ein gesundes und positiv-erlebnisaktives Verhalten aufzubauen. In der Therapie werden dafür alle fünf Sinne durch spezifische Übungen sensibilisiert. Patientinnen und Patienten entdecken ihre energiespendenden brachliegenden Ressourcen und reaktivieren ihr Bewältigungswissen. Durch eine differenzierte Wahrnehmung wird das Selbstbild heilsam vervollständigt, wobei das Krankheitsgeschehen nicht verneint wird. Die Therapie eröffnet aber den Blick auf zusätzliche Erlebnismöglichkeiten, die helfen, vergessene oder vernachlässigte Lebenswerte zu präzisieren. Der Band beinhaltet einen breit gefächerten Pool an kreativen Übungen zur individuellen Umsetzung, Arbeitsblätter zur Vor-und Nachbereitung der Sitzungen sowie zusätzliche Audiodateien zum leichten Einsatz im Praxisalltag.
Anlässlich des Welt-AIDS-Tages am 1. Dezember hat das Robert Koch-Institut neue Zahlen zum HIV/AIDS-Geschehen in Deutschland veröffentlicht. Im Jahr 2017 haben sich etwa 2.700 Menschen in Deutschland mit HIV infiziert, die Zahl der Neuinfektionen ist damit gegenüber 2016 (2.900 Neuinfektionen) leicht gesunken. Bei Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), ist die Zahl der geschätzten Neuinfektionen deutlich zurückgegangen, von 2.300 im Jahr 2013 auf 1.700 in 2017. Dazu erklärt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: „Wir wollen die Zahl der Neuinfektionen weiter senken! Deswegen haben wir den Verkauf von HIV-Selbsttests freigegeben. Und deswegen haben wir die Kassen verpflichtet, den medikamentösen Schutz gegen eine Infektion (PrEP) für Menschen mit einem erhöhten Ansteckungsrisiko zu übernehmen.“
„In Deutschland gibt es geschätzt 11.400 Menschen mit HIV, die nicht wissen, dass sie infiziert sind. Freiwillige Selbsttests und niedrigschwellige Testangebote, auch für Menschen ohne Krankenversicherung, sind daher wichtig, damit Menschen mit HIV-Infektion behandelt werden können“, betont Lothar H. Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts. Sobald durch die Therapie eine stabile Absenkung der Viruslast erfolgt ist, werden keine Übertragungen mehr beobachtet. „Die effektive und frühe Behandlung nach der Diagnose, der Ausbau zielgruppenspezifischer Testangebote und die gestiegene Testbereitschaft der Betroffenen sind wesentliche Gründe für die sinkende Zahl der HIV-Neuinfektionen“, unterstreicht Wieler.
Insgesamt lebten Ende 2017 geschätzt 86.100 Menschen mit HIV in Deutschland. Die größte Betroffenengruppe sind nach wie vor Männer, die Sex mit Männern haben. Unter den 86.100 Menschen mit HIV sind rund 53.000 Männer, die Sex mit Männern haben, etwa 11.000 heterosexuelle Männer und Frauen und etwa 8.100 intravenös spritzende Drogengebrauchende.
Die Trends in diesen Gruppen sind unterschiedlich. Bei MSM ist die Zahl der geschätzten Neuinfektionen zurückgegangen. Im Gegensatz dazu scheint die Zahl der Neuinfektionen bei Heterosexuellen und intravenös spritzenden Drogengebrauchenden auf niedrigem Niveau etwas anzusteigen. Bei Drogengebrauchenden könnte der vermehrte Gebrauch neuer psychoaktiver Substanzen, der zum Teil mit hohen Injektionsfrequenzen verbunden ist, eine Rolle spielen.
Menschen, bei denen die HIV-Infektion erst nach vielen Jahren erkannt wird, leiden oft an Erkrankungen, die in ihrer Gesamtheit als AIDS bezeichnet werden. Etwa ein Drittel aller Menschen hat bei der HIV-Diagnose in Deutschland bereits ein sehr geschwächtes Immunsystem und knapp die Hälfte davon eine AIDS-Erkrankung. Dies kann zu Komplikationen bei der Behandlung, langfristigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen sowie einer sinkenden Lebenserwartung führen. Beim Auftreten so genannter HIV-Indikatorerkrankungen, etwa einer Tuberkulose oder einer durch Pilze verursachten Pneumonie, sollte daher generell ein HIV-Test durchgeführt werden. Rund 450 Menschen sind gemäß der neuen RKI-Schätzung 2017 mit oder an HIV gestorben.
Die detaillierten Daten sind im Epidemiologischen Bulletin 47/2018 veröffentlicht.
Am Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen am 20. November veröffentlichte Bundesfrauenministerin Dr. Franziska Giffey die „Kriminalstatistische Auswertung zu Partnerschaftsgewalt 2017“. Erstellt wurde die Auswertung durch das Bundeskriminalamt. Außerdem stellte sie die neue Kampagne zum Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ vor.
Kriminalstatistische Auswertung zur Partnerschaftsgewalt 2017
Die Auswertung wurde gegenüber den beiden Vorjahren erweitert und an die neue Gesetzeslage angepasst. Die Zahlen zeigen, in welchem Umfang und mit welchen Ausprägungen versuchte und vollendete Gewalt in Paarbeziehungen bei der Polizei in 2017 bekannt geworden sind. Deutlich wird, in welcher Beziehung Täter und Opfer zueinander stehen und welche Delikte passiert sind.
Bundesfrauenministerin Dr. Giffey: „Die Zahlen sind schockierend, denn sie zeigen: Für viele Frauen ist das eigene Zuhause ein gefährlicher Ort – ein Ort, an dem Angst herrscht. Häufiger als jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. 2017 starben insgesamt 147 Frauen durch so genannte Partnerschaftsgewalt. Das ist für ein modernes Land wie Deutschland eine unvorstellbare Größenordnung. Es geht um Straftaten, die geahndet werden und für die die Täter zur Verantwortung gezogen werden müssen. Genauso wichtig ist, den Frauen Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen. Dazu haben wir ein Aktionsprogramm gegen Gewalt an Frauen gestartet und einen Runden Tisch von Bund, Ländern und Kommunen eingerichtete, der abgestimmte Gegenmaßnahmen erarbeiten wird.“
Im Jahr 2017 wurden durch ihre Partner oder Ex-Partner insgesamt 138.893 Personen Opfer versuchter und vollendeter Taten. Zu den Delikten gehören Mord und Totschlag, Körperverletzungen, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, Bedrohung, Stalking und Nötigung, Zuhälterei und Zwangsprostitution. Insgesamt waren 113.965 Frauen von Partnerschaftsgewalt betroffen. Die Auswertung des BKA zeigt: Es sind zu über 82 Prozent Frauen, die von Partnerschaftsgewalt betroffen sind. Fast die Hälfte (49,1 Prozent) von ihnen lebte in einem Haushalt mit dem Tatverdächtigen.
Start der neuen Kampagne zum Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“
Gemeinsam mit Petra Söchting, der Leiterin des Hilfetelefons „Gewalt gegen Frauen“, stellte die Bundesministerin die neue Öffentlichkeitskampagne des Hilfetelefons vor. Mit starken, entschlossenen Persönlichkeiten will die Kampagne noch mehr Frauen ermutigen, sich bei Gewalt Hilfe zu holen. Obwohl jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Gewalt erfährt, suchen nur 20 Prozent der Betroffenen Unterstützung. Die unterstützenden Botschaften sollen betroffenen Frauen Mut machen, ihr Schweigen zu brechen.
Bundesfrauenministerin Dr. Franziska Giffey: „‚Du bist doch selber schuld.‘ ‚Dir glaubt doch eh keiner.‘ ‚Die Familie wird dich verstoßen.‘ Es sind Sätze wie diese, mit denen gewaltbetroffene Frauen eingeschüchtert und zum Schweigen gebracht werden sollen – in Deutschland, Tag für Tag, quer durch alle Gesellschaftsschichten. Doch die Frauen in der Kampagne lassen sich nicht mundtot machen. „Aber jetzt rede ich“ lautet ihre Antwort. Diese Frauen setzen der Gewalt etwas entgegen, indem sie nicht länger schweigen. Reden ist für viele Frauen der erste Schritt aus der Gewaltspirale. Mit der neuen Kampagne „Aber jetzt rede ich“ wollen wir noch mehr Betroffenen Mut machen, sich Hilfe zu holen und Unterstützungsangebote wahrzunehmen.“
Steigende Beratungskontakte durch höhere Bekanntheit
In den fünf Jahren seit seiner Gründung verzeichnet das bundesweite Beratungsangebot kontinuierlich steigende Beratungszahlen. 143.020 Mal wurden Ratsuchende per Telefon, Chat oder E-Mail zwischen März 2013 und Dezember 2017 beim Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ beraten.
Ob Gewalt in der Partnerschaft, Mobbing, Stalking, Zwangsheirat, Vergewaltigung oder Menschenhandel – das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ steht betroffenen Frauen rund um die Uhr, an 365 Tagen im Jahr, zu allen Formen von Gewalt zur Seite. Unter der Rufnummer 08000 116 016 und über die Online-Beratung unter www.hilfetelefon.de können sich Betroffene, aber auch Menschen aus dem sozialen Umfeld der Betroffenen und Fachkräfte beraten lassen – anonym, kostenlos, barrierefrei und in 18 Sprachen. Auf Wunsch vermitteln die Beraterinnen an eine Unterstützungseinrichtung vor Ort.
Auch Männer, die sich beim Hilfetelefon melden, werden im Übrigen nicht abgewiesen.
Pressestelle des Bundesfamilienministeriums, 20.11.2018
Frauen, die durch Gewalterfahrungen und eine Suchtmittelproblematik doppelt belastet sind, erfahren auf ihrer Odyssee durch die Hilfesysteme nicht selten auch die doppelte Wucht an Stigmatisierung und Ausgrenzung. Bereits die Offenbarung einer Gewalterfahrung löst häufig eine Lawine von Vorurteilen, negativen Zuschreibungen und Bagatellisierungen aus – nicht immer ausgesprochen, aber als latente Haltung für Betroffene deutlich spürbar. Auf einen in der Regel durch Täterstrategien schon gut bereiteten Boden fallen vor allem Schuldzuweisungen und Vorwürfe: „Sie wird schon ihren Anteil daran haben, dass er sie schlägt!“ Es ist neben der entsetzlichen Angst und der Scham eben genau dieses Gefühl einer wie auch immer gearteten Mitschuld, welches Frauen so lange in gewalttätigen Beziehungen gefangen hält und die Inanspruchnahme von Hilfe schwierig macht. Was aber, wenn dieselbe Frau zusätzlich von einer Suchtmittelproblematik betroffen ist? Missbräuchlich oder abhängig konsumierende Frauen erfahren viel stärker als Männer gesellschaftliche Ächtung und Ausgrenzung. Sucht als Erkrankung wird immer noch eher bei Männern akzeptiert. Süchtige Frauen widersprechen dem traditionellen Rollenbild. Es braucht also nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie hoch die Hürde sein muss, sich mit dieser zusätzlichen Belastung zu offenbaren.
„Das geht einfach nicht. Du kannst dich nicht einfach hinstellen und das erzählen. Ich würde nie … also den wenigsten Menschen erzähl ich davon. Ich sag zwar: ‚Okay, ich bin geschlagen worden.‘ Aber ich sag nicht, dass ich dann noch bei dem geblieben bin. Weil du weißt, was passiert. Und ich würd auch keinem sagen, dass ich Alkoholikerin bin. Die Eltern meines Freundes zum Beispiel, die wissen das nicht. Weil, die mögen mich wahnsinnig. Und ich denk mal, sie würden mich nicht so … Nein, ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht, aber ich hab dann so ’ne Angst – dass das Blatt sich wenden könnte, mit diesem einen Wort, mit diesem einen Satz – der kann Welten verändern.“
Aussage einer Klientin, die im Rahmen des GeSA-Projekts begleitet wurde
Der Zusammenhang von Gewalterfahrung und Sucht
Dabei ist eine Dualproblematik bei Frauen keineswegs die Ausnahme. Frauen und Kinder sind besonders häufig von häuslicher Gewalt betroffen. Für das Jahr 2015 wies die Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes 127.457 von Partnerschaftsgewalt betroffene Personen aus, 82 Prozent davon waren Frauen (Bundeskriminalamt 2015). Betroffene erfahren Gewalt an einem Ort, der eigentlich Schutz und Geborgenheit bieten sollte, und von Menschen, zu denen sie in enger Beziehung stehen. Ein weiteres Merkmal dieser Gewaltform ist, dass es sich nicht um einmalige Übergriffe handelt, sondern Betroffene wiederholt und oft über Jahre hinweg Gewalt erleiden müssen. Das hat Folgen für die physische und vor allem psychische Gesundheit, die zu erheblichen Beeinträchtigungen im Alltag, bei der Ausübung des Berufes und der Gestaltung sozialer Kontakte führen (FRA – Agentur der Europäischen Union für Grundrechte 2014; Schröttle/Müller 2004). Alkohol, Medikamente oder andere Drogen zeigen sich, zumindest kurzfristig gesehen, als hervorragend geeignet, um dem unerträglichen Druck, belastenden Erinnerungen an das Geschehen oder Gefühlen von Angst und Ohnmacht wenigstens für einen Moment entfliehen zu können. Eine repräsentative Umfrage zur Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland ergab, dass 28 Prozent der von Gewalt betroffenen Frauen in der Folge der Gewalterfahrung auf den Konsum von Alkohol, Drogen und Medikamenten zurückgriffen (FRA – Agentur der Europäischen Union für Grundrechte 2014; Schröttle/Müller 2004). So mag es nicht verwundern, dass andere Studien eine überdurchschnittlich hohe Gewaltbelastung süchtiger Frauen belegen (u. a. Vogt/Fritz/Kuplewatzky 2015.
Zugang zu angemessener Hilfe ist schwierig
Dass das Ausmaß der dualen Problematik in den Unterstützungseinrichtungen dennoch unsichtbar bleibt, liegt auch daran, dass die beteiligten Hilfesysteme in der Regel völlig unabhängig voneinander agieren (vgl. Oberlies/Vogt 2014). Eine Beraterin/ein Berater in einer Gewaltschutzeinrichtung weiß von der Gewaltbetroffenheit ihrer/seiner Klientin, nicht zwangsläufig aber auch von ihrer Suchtproblematik. Die/der Therapeut/in einer Suchtklinik hat Kenntnis von der Suchterkrankung ihrer/seiner Patientin, nicht unbedingt aber von ihrer Gewaltbetroffenheit. Systematisch nachgefragt wird selten. Breitgefächerte unspezifische Folgen und Auswirkungen beider Phänomene erschweren das Erkennen von Zusammenhängen zusätzlich.
Aber auch wenn die Dualproblematik offen ist, gestaltet sich der Zugang zu angemessener Hilfe schwierig. Eine Bestandsaufnahme des Unterstützungssystems bei Gewalt gegen Frauen ergab, dass sich fast die Hälfte aller Frauenhäuser als nicht geeignet für die Aufnahme von Frauen mit einer Suchtmittelproblematik sieht (BMFSFJ 2013). Das hat seine Ursache vor allem darin, dass Frauenhäuser, obgleich sie Kriseneinrichtungen sind, über keine 24-Stunden-Betreuung verfügen. Der Anspruch an die Bewohnerinnen, ihren Alltag in der Gemeinschaft selbständig gestalten zu können, ist dadurch sehr hoch. Der Umgang mit einer Suchterkrankung einer Bewohnerin kann dann für alle Beteiligten eine Überforderung darstellen, zumal es auch den Mitarbeiterinnen an Fachwissen und Kompetenz zum Thema Sucht fehlt. Spezialisierte Beratungsstellen schließen die Begleitung von Frauen mit einer Suchterkrankung deutlich seltener aus (BMFSFJ 2013), allerdings können sie auch keinen Schutz gewährleisten. Sie können die Beendigung von Gewalt und die Aufarbeitung von Gewalterfahrungen unterstützen, stoßen mit ihrem Arbeitsauftrag aber schnell an Grenzen, wenn mit Fortsetzung des Suchtmittelkonsums das Risiko erneuter Gewalterfahrungen steigt und notwendige Schritte zur Gestaltung eines gewaltfreien Lebens nicht gegangen werden können bzw. mühsam erarbeitete Veränderungen nicht von Dauer sind.
Also erst die Sucht in den Griff bekommen? Der Behandlung der Suchterkrankung Priorität einzuräumen, gestaltet sich ebenso schwierig. In vielen suchtspezifischen Einrichtungen sehen sich Patientinnen einer deutlichen Überzahl von Patienten ausgesetzt, von denen ein nicht geringer Anteil unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen selbst Täterverhalten gezeigt hat. Das auf die Behandlung in Gruppen ausgerichtete Setting überfordert dual betroffene Frauen und wird ihrem besonderen Bedürfnis nach Sicherheit, Kontrolle und Selbstbestimmung nicht gerecht. Eigene Gewalterfahrungen werden unter diesen Bedingungen eher nicht zur Sprache gebracht, obwohl dies für das Verständnis der Suchtentwicklung und der Funktionalität des Konsums wesentlich ist (vgl. Vogelsang 2007). Zwar gibt es bereits Fachkliniken, die sich auf die Behandlung von Frauen spezialisiert haben und in deren Behandlungskonzept traumaspezifische Angebote integriert sind, allerdings nur an wenigen Standorten. Eine Herauslösung aus dem gewohnten Umfeld mag zwar auf den ersten Blick auch im Sinne der Unterbrechung der Gewalt sinnvoll erscheinen, stellt jedoch für viele Frauen z. B. wegen der Verantwortung für Kinder oder aufgrund der Angst vor Verlust an Kontrolle und Orientierung keine Alternative zu ambulanter Behandlung dar.
Zurück in das eigene Lebensumfeld – Bedarf an nachgehendet Betreuung
Problematisch in Bezug auf die Dualproblematik gestaltet sich dann auch der Wechsel aus dem stationären Setting zurück in das eigene Lebensumfeld. Gewaltschutzeinrichtungen etablieren eine nachgehende Betreuung mit dem Fokus Gewaltfreiheit, suchtspezifische Einrichtungen eine Nachsorge mit dem Fokus auf Aufrechterhaltung der Abstinenz. Nur zusammen kommt das in der Praxis nicht. Aber wie stehen die Chancen auf eine abstinente Lebensgestaltung in einem gewalttätigen Umfeld? Und andersherum: Wie hoch sind die Chancen auf Selbstbestimmung und Gewaltfreiheit bei Fortsetzung des Konsums?
Nicht einfacher wird die Situation dadurch, dass die personellen Ressourcen aller beteiligten Einrichtungen mehr als begrenzt sind und sich viele Kolleg/innen am Rande ihrer Belastbarkeit bewegen. Das hat u. a. zur Folge, dass kaum Spielraum für den Blick über den eigenen Tellerrand bleibt, es eher um Abgrenzung als um Öffnung geht und standardisierte Abläufe zu Ungunsten individueller Lösungsansätze favorisiert werden.
Liegt eine Chance auf Entlastung und für eine bessere Versorgung Betroffener vielleicht genau in der Umkehr dieses Prozesses? Welche Möglichkeiten eröffnen sich, wenn die Durchlässigkeit zwischen den Hilfesystemen erhöht und Ressourcen miteinander verknüpft werden? Diese Fragen haben uns im Verein Frauen helfen Frauen e.V. Rostock bewegt und die Idee von „GeSA“ (Gewalt – Sucht – Ausweg) geprägt. Wenn die Themen Sucht und Gewalt so oft eine Allianz bilden, warum sollten dies dann nicht auch Kolleg/innen aus den Arbeitsbereichen tun, die Betroffene begleiten?
Das Bundesmodellprojekt GeSA
Im Januar 2015 startete GeSA in Trägerschaft des Vereins Frauen helfen Frauen e.V. Rostock und als Bundesmodellprojekt gefördert durch das Bundesgesundheitsministerium.
Netzwerkbildung und Wissenstransfer
Die Umsetzung des Projektes erfolgte auf zwei Arbeitsebenen. Die erste Ebene bildeten die Kooperationsteams Rostock und Stralsund. Ein Kooperationsteam setzte sich aus insgesamt mindestens vier Vertreter/innen der stationären und ambulanten Suchtkrankenhilfe sowie der Gewaltschutzeinrichtungen zusammen. Die Kooperationsteams bildeten das Herzstück des Projektes und trugen die fachliche, inhaltliche und organisatorische Verantwortung. Damit gab es erstmalig eine fallunabhängige, kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen Vertreter/innen beider Hilfesysteme.
Die zweite Ebene bildeten die regionalen Verbände. Innerhalb der regionalen Verbände vereinigten sich verschiedenste Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe, des Gewaltschutzes, des Gesundheitswesens, der Kinder- und Jugendhilfe sowie andere wichtige Kooperationspartner wie z. B. die Wohnungslosenhilfe, die Polizei, der Sozialpsychiatrische Dienst, das Jobcenter oder die Selbsthilfe. Nach einer Phase der Akquise trafen sich die Regionalverbände in den beiden Modellregionen Rostock und Stralsund im Frühjahr 2015 erstmalig. Es ist keine Übertreibung, zu behaupten, dass sich hier eine wahre Schatztruhe an Wissen und Kompetenz zusammenfand.
Wir entschieden uns für eine sehr praxis- und ergebnisorientierte Zusammenarbeit. Den Grundstein legten zwei Fachtage pro Modellregion, die wir dazu nutzten, Basiswissen zu den Themen Sucht und Gewalt, aber auch zur Struktur der entsprechenden Hilfesysteme zu vermitteln. Danach arbeiteten wir im Rahmen von Fachforen zusammen, von denen bisher zehn pro Region stattfanden. Verschiedene Einrichtungen wechselten sich als Gastgeberinnen ab und bekamen die Möglichkeit, sich und ihre Arbeitsinhalte vorzustellen. Es ging darum, unterschiedliche Angebote kennenzulernen, einen Einblick in die Arbeitsweise, die Möglichkeiten und Grenzen der Einrichtung zu bekommen. Der Hauptschwerpunkt der Veranstaltungen lag aber auf der Darstellung eines Falles aus dem Arbeitsalltag der gastgebenden Einrichtung, mit dem wir uns im Rahmen einer Fallkonferenz gemeinsam auseinandersetzten. Die zu Beginn häufig geäußerte Befürchtung, dass es in der eigenen Einrichtung vielleicht gar keine Berührung zur Thematik gäbe, bestätigte sich nicht. Wirklich jede Einrichtung hatte Erfahrungen im Umgang mit betroffenen Frauen und stellte diese, streng anonymisiert, den anderen Beteiligten zur Verfügung.
Da die Sensibilisierung für die Situation betroffener Frauen ein wichtiges Ziel des Projektes darstellte, wurden in den Fallkonferenzen die verschiedenen Positionen der Fallbeteiligten eingenommen – also die Perspektive einer betroffenen Frau, relevanter Personen aus ihrem Umfeld ebenso wie des Hilfesystems. Diese Vorgehensweise führte auf konstruktive Art und Weise zu regen Auseinandersetzungen, in denen sich sehr eindrücklich die Prägung durch das eigene Arbeitsfeld, Ressentiments und Schubladendenken ebenso wie die Unterschiede zwischen Wünschen und Erwartungen von Betroffenen im Vergleich zu denen des Hilfesystems offenbarten. Danach erfolgte der Wechsel zurück zur Perspektive der Expert/innen für das eigene Fachgebiet, um Ideen und Anknüpfungspunkte für sinnvolle Kooperationsmöglichkeiten zu entwickeln. Bei diesen Überlegungen spielte die Wahrung der Selbstbestimmung betroffener Frauen eine grundlegende Rolle. Die erarbeiteten Formen der Kooperation wurden natürlich auch in der Praxis erprobt. Dabei machten wir Erfahrungen von fallübergreifender Relevanz:
Übergänge gestalten
Es ist kein Geheimnis, dass sich Klient/innen ihre Ansprechpartner/innen selbst aussuchen. Kompetenz und Fachwissen spielen für die Auswahl eine untergeordnete Rolle, bestimmend sind vielmehr zwischenmenschliche Aspekte und die Qualität der Beziehung. In der Praxis bedeutet dies, dass eine Klientin mit einer sexualisierten Gewalterfahrung nicht zwingend den Kontakt zu einer entsprechenden Fachberaterin sucht, sondern sich einer bereits vertrauten Person, möglicherweise ihrer Hausärztin, einer Suchtberaterin oder dem Fallmanager vom Jobcenter gegenüber öffnet. Eine unverbindliche Weitervermittlung an zuständige Einrichtungen scheitert oft. Klientinnen fühlen sich dadurch häufig zurückgewiesen, haben das Gefühl, mit dieser Thematik eine zu große Belastung zu sein. Außerdem kann die Kontaktaufnahme zu einer gänzlich unbekannten Institution eine Überforderung darstellen. Solche Übergänge gelangen dann leichter, wenn Klientinnen den Eindruck eines vertrauensvollen Verhältnisses zwischen den Beteiligten der unterschiedlichen Einrichtungen hatten. Klientinnen beschrieben, das habe ihnen Sicherheit vermittelt. Aber auch die professionellen Unterstützer/innen fühlten sich hinsichtlich einer Empfehlung sicherer, wenn sie eine genaue Vorstellung und Kenntnis des jeweiligen Angebotes hatten und wussten, was oder auch wer die Klientin erwarten würde. Noch positiver auf die Gestaltung von Übergängen wirkten sich begleitete Erstkontakte aus. Auch anonyme Erstkontakte, bei denen die Beraterin/der Berater in das vertraute Setting der Klientin eingeladen wird, um sich vorzustellen, erwiesen sich als hilfreich.
Coaching von Kolleg/innen
Eine weitere Möglichkeit stellte das Coaching von Kolleg/innen dar. So konnten Klientinnen Unterstützung auch dann erfahren, wenn sie sich gegen das Aufsuchen spezialisierter Einrichtungen entschieden. Dies musste eben nicht bedeuten, das Thema wieder ‚ad acta‘ zu legen, sondern die Klientinnen konnten erste Anregungen für den Umgang mit der Situation eben schon von der jeweiligen Vertrauensperson erhalten, auch wenn diese nicht Expert/in für das Fachgebiet war. Die Entscheidung über eine Öffnung blieb in der Hand der Klientin.
Begleitung von Klientinnen im Tandem
Als hilfreich erwies sich auch die Begleitung von Klientinnen im Tandem, also durch zwei Berater/innen aus unterschiedlichen Hilfesystemen gleichzeitig. Fachlich lag ein entscheidender Vorteil darin, bei der Entwicklung abstinenzsichernder Handlungsstrategien die besondere Funktionalität des Suchtmittels bei der Bewältigung aktueller oder auch in der Vergangenheit liegender Gewalterfahrungen zu berücksichtigen. Anders in den Blick genommen wurde außerdem die Herstellung eines sicheren und gewaltfreien Lebensraumes als wichtige Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der Abstinenz. Zumindest bei den Klientinnen, die wir im Rahmen des Modellprojektes in dieser Form begleiteten, gab es kaum Kontaktabbrüche und selbst nach Rückfallgeschehen eine hohe Bereitschaft, den Zugang über das eine oder das andere Hilfesystem zu suchen, um Unterstützung bei der Aufarbeitung bzw. zur Beendigung der Krise zu erhalten. Dabei zeigte sich, dass Rückfälle in alte Beziehungsmuster eher der Suchtberaterin anvertraut wurden, Rückfälle in altes Konsumverhalten eher der Beraterin aus dem Gewaltschutzbereich. Zugleich war es aber in den meisten Fällen ausdrücklicher Wunsch, den jeweils anderen Fachbereich wieder mit ins Boot zu holen.
Tandemberatungen ermöglichten auch eine Kontinuität in der Begleitung von Klientinnen. Krankheits- und urlaubsbedingte Abwesenheiten konnten aufgefangen werden und bedeuteten für die Klientin nicht, sich einer für sie fremden Person öffnen zu müssen. Diese Vorgehensweise erscheint auch als spezifische Form der Nachsorge bei der Gestaltung von Übergängen aus der stationären Rehabilitation Sucht oder dem schützenden Rahmen eines Frauenhauses zurück in den Alltag als sinnvoll.
Ergebnisse aus dem Projekt GeSA
GeSA konnte ganz sicher nicht alle Erwartungen erfüllen und auch nicht alle Versorgungslücken schließen. Wir haben keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse geliefert, keine neuen Interventionsmethoden entwickelt, sondern eher dafür gesorgt, das bereits Bekanntes und Erprobtes möglichst vielen am Unterstützungsprozess Beteiligten unkompliziert zugänglich wird. Wir sind auch keine neue Behandlungsstelle, an die Betroffene einfach weitervermittelt werden können. Es fehlt immer noch an einem sicheren Ort für Frauen, die nicht auf den Konsum eines Suchtmittels verzichten können oder wollen, und die dennoch ein Recht auf Schutz vor Gewalt haben. Wunder haben wir also nicht vollbracht. Wir waren nur so gut oder eben auch so schlecht, wie es die Ressourcen aller beteiligten Einrichtungen hergaben. Aber wir konnten zeigen, dass es durch die Reduzierung von Schnittstellenproblemen und eine relativ geringe Ressourcenerweiterung möglich ist, die Situation von Frauen, die von einer Dualproblematik betroffen sind, zu verbessern. Wir haben eine Strategie für eine professions- und systemübergreifende Zusammenarbeit entwickelt, die den Transfer von Wissen und die Erprobung neuer Kooperationsformen im Einzelfall ermöglicht.
Einen zeitlichen Mehraufwand bedeutete dies schon. Ohne die zusätzlichen Ressourcen, die uns als Bundesmodellprojekt zur Verfügung standen, wäre dies nicht leistbar gewesen. Von welchem Aufwand sprechen wir konkret? Die Kooperationsteams von GeSA bestanden aus vier Kolleginnen aus den Arbeitsbereichen Gewaltschutz und Suchthilfe. Ihnen standen fünf Arbeitsstunden pro Woche als zusätzliche Ressource für die Aufgaben im Rahmen des Modellprojektes zur Verfügung. Das erwies sich als ausreichendes zusätzliches Zeitfenster. Mit ihrem Hauptstandbein verblieben die Kolleginnen in ihrem Arbeitsfeld. Und gerade das war für die Reduzierung von Schnittstellen zwischen den Hilfesystemen von entscheidendem Vorteil. Es geht also nicht darum, neue Personalstellen oder Strukturen, z. B. in Form weiterer spezialisierter Einrichtungen, zu schaffen. Vielmehr sollte es ja gerade gelingen, dass sich vorhandene Strukturen auf die besonderen Bedürfnisse betroffener Frauen einstellen und sich miteinander vernetzen. Dies ist tatsächlich ein geringer Aufwand im Verhältnis zum möglichen Nutzen, bedenkt man die massiven Auswirkungen von Sucht und Gewalt auf die psychische und seelische Gesundheit, die Erwerbsfähigkeit und gesellschaftliche Teilhabe Betroffener.
Die Kooperationsteams von GeSA sind das Vorbild, wenn wir im Ergebnis unserer Erfahrungen aus dem vierjährigen Bundesmodellprojekt für die Etablierung und regelhafte Finanzierung regionaler Coachingteams plädieren. Wichtigste Zielsetzungen der Coachingteams sind:
Reduzierung von Schnittstellenproblemen zwischen beteiligten Hilfesystemen
‚Lotsenfunktion‘ für Betroffene, Gestaltung niedrigschwelliger Zugänge in die Hilfesysteme
Abbau von Vermittlungshemmnissen
Intensivere Nachbetreuung Betroffener nach Reha-Aufenthalt unter Berücksichtigung der Dualproblematik mit dem Ziel der Sicherung der Reha-Ergebnisse
Begleitung der Reintegration in das soziale Umfeld unter besonderer Berücksichtigung der Dualproblematik
Vermeidung der Einschränkung bzw. des Verlustes der Erwerbsfähigkeit durch verbesserte Früherkennung einer Dualproblematik und gezieltere Vermittlung
Prävention zum Schutz mitbetroffener Kinder in gewalt- und suchtmittelbelasteten Familien
An engagierten und qualifizierten Fachkräften aus den Bereichen der Suchthilfe und des Gewaltschutzes fehlt es nicht. Das hat sich im vierten Jahr des Modellprojektes, das mit dem Auftrag der bundesweiten Verbreitung verknüpft war, deutlich gezeigt. Was es jetzt noch braucht, ist die Übernahme politischer Verantwortung. Sucht und Gewalt dürfen nicht zum individuellen Problem Betroffener gemacht werden, denn die Ursachen beider Problembereiche sind nicht zuletzt gesellschaftlich determiniert.
Kontakt:
Petra Antoniewski
Projektleiterin GeSA
Frauen helfen Frauen e.V. Rostock
Ernst-Haeckel-Str. 1
18059 Rostock gesa@fhf-rostock.de
Tel. 0381/440 3294 www.fhf-rostock.de/gesa
Angaben zur Autorin:
Petra Antoniewski, Dipl.-Sozialpädagogin, Sozialtherapeutin Sucht, war von 2000 bis 2009 als Bezugstherapeutin in der stationären und ganztägig ambulanten Rehabilitation Sucht tätig. Seit 2009 ist sie Leiterin der Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt des Frauen helfen Frauen e.V. Rostock und seit 2015 Projektleiterin des Bundesmodellprojektes „GeSA“.
Literatur:
BMFSFJ (2013): Bericht der Bundesregierung zur Situation der Frauenhäuser, Fachberatungsstellen und anderer Unterstützungsangebote für gewaltbetroffene Frauen und deren Kinder, Berlin
FRA – Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (Hg.) (2014): Gewalt gegen Frauen. Eine EU-weite Erhebung. Ergebnisse auf einen Blick
Oberlies, D./Vogt, I. (2014): Gewaltschutz für alkohol- und drogenabhängige Frauen/Mütter: Untersuchung zur Passung der Hilfsangebote zum Bedarf. Abschlussbericht
Schröttle, M./Müller, U. (2004): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Ergebnisse der repräsentativen Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Kurzfassung BFMSFJ
Vogelsang, M. (2007): Suchtkranke Frauen: Teufelskreis der Hilflosigkeit. In: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 104, Heft 41
Vogt, I./Fritz, J./Kuplewatzky, N. (2015): Süchtige und von Gewalt betroffene Frauen. Nutzung von formalen Hilfen und Verhaltensmuster bei Beendigung der Gewaltbeziehung. gFFZ Online-Publikation Nr. 4
Ernst Reinhardt Verlag, München 2018, 162 Seiten, € 24,90, ISBN 978-3-497-02724-8, auch als
E-Book erhältlich
Basierend auf wissenschaftlich fundierten traumatherapeutischen Konzepten und dem aktuellen Forschungsstand zur pferdegestützten Arbeit werden Methoden, Voraussetzungen, aber auch Grenzen und Risiken der pferdegestützten Traumatherapie anschaulich dargestellt. Anhand des Fallbeispiels der 16-jährigen Hannah und ihres Therapiepferdes Tamino ermöglichen die Autorinnen einen Einblick in die pferdegestützte Traumatherapie. Welche Maßnahmen der Qualitätssicherung stehen zur Verfügung? Welche Qualifikationen des Therapeuten sind wichtig und wie können Auswahl, Ausbildung und Haltung des Therapiebegleitpferdes optimal gelingen? Das Buch gibt eine Übersicht über Wirkung und Umsetzung pferdegestützter Interventionen in der Traumatherapie und schafft so eine Grundlage für die Weiterentwicklung dieses Therapiebereichs.
Kinder, die viel zucker- und fettreiche Nahrungsmittel zu sich nehmen, haben im Vergleich zu Kindern, die sich fett- und zuckerarm ernähren, ein deutlich erhöhtes Risiko, als Jugendliche regelmäßig Alkohol zu konsumieren. Das ist das Ergebnis einer im Fachmagazin „Public Health Nutrition“ veröffentlichten Studie, an der zehn europäische Institutionen unter Federführung des Leibniz-Instituts für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS beteiligt waren. Die Studie wurde im Oktober 2018 in Lissabon von der European Society for Prevention Research (EUSPR) als herausragende Forschungsleistung mit dem EUSPR Presidents‘ Award ausgezeichnet.
Ob Burger, Pizza, Bratwurst oder Softdrinks – was Kindern (und auch vielen Erwachsenen) besonders schmeckt, ist häufig ungesund, weil es hohe Mengen Fett und Zucker enthält. Für Süßes haben gerade Kinder ein angeborenes Verlangen, das seine Wurzeln in der menschlichen Evolution hat und in einer urzeitlichen Welt des Mangels die für das Wachstum nötige Energiezufuhr sicherstellen soll. Beim Fett spielen ähnliche Mechanismen eine Rolle. Zudem sind Fette gute Geschmacksträger, von denen sich auch viele Erwachsene gern verführen lassen.
Aus zahlreichen Studien ist bekannt, dass der Konsum von Zucker und Fett zu Sucht- oder suchtähnlichem Verhalten führen kann. Anders als bei vielen Drogen ist es bei fett- und zuckerhaltigen Nahrungsmitteln keine einzelne Substanz, die Suchtverhalten auslöst. Jedoch kann offenbar schon die bloße Präferenz dafür zu Suchtverhalten – also zu Überkonsum, Kontrollverlust und gierigem Verlangen, so genanntem Craving – führen.
Ein europäisches Studienteam, zu dem Leonie-Helen Bogl, Hannah Jilani und Professor Wolfgang Ahrens vom BIPS zählen, wollte nun wissen, ob es einen direkten Zusammenhang zwischen der Nahrungsmittelpräferenz in der Kindheit und dem späteren Konsum der am meisten verbreiteten Droge Alkohol gibt. Sprich: Greifen Kinder, die viel Zucker und Fett zu sich nehmen, als Heranwachsende auch häufiger zur Flasche?
Die Antwort auf diese Frage lieferten Daten, die im Rahmen der europäischen IDEFICS/I.Family Kohortenstudie erhoben wurden. Bei der vom BIPS geleiteten IDEFICS-Studie wurden mehr als 16.000 Kinder im Alter von zwei bis neun Jahren in acht europäischen Ländern (Belgien, Deutschland, Estland, Italien, Spanien, Schweden, Ungarn und Zypern) untersucht, um den Einfluss von Ernährung und Lebensstil auf ihre Gesundheit zu erforschen. Im Rahmen der ebenfalls BIPS-geführten Folgestudie I.Family wurde ein großer Teil der Kinder – nun zwischen sieben und 17 Jahre alt – zu einem späteren Zeitpunkt erneut untersucht. Darüber hinaus wurden auch Familienmitglieder befragt.
Das Team um Studienerstautorin Kirsten Mehlig von der Universität Göteborg in Schweden wertete diese Daten nun aus. Das Ergebnis: Wer als Kind viel zucker- und fettreiche Nahrungsmittel konsumiert hat, trinkt später als Jugendlicher deutlich häufiger regelmäßig Alkohol als die Vergleichsgruppe. Dieses Muster fand sich bei beiden Geschlechtern und in allen untersuchten Ländern. Zwar haben die familiären Lebensumstände der Kinder – also etwa Einkommen und Bildungsstand der Eltern – Einfluss auf die Qualität der Ernährung, den positiven Zusammenhang zwischen ungesunder Ernährung und späterem Alkoholkonsum konnten sie allerdings nicht erklären. Die Gründe dafür müssen daher andere sein.
Bei Versuchstieren konnte in der Vergangenheit nachgewiesen werden, dass sich zum Beispiel das Verlangen nach Fett und Alkohol gegenseitig verstärkt. Möglicherweise wird also durch eine fett- und zuckerreiche Ernährung im Kindesalter ein grundsätzliches Verlangen nach suchterzeugenden Stoffen ‚erlernt‘, das sich in späteren Jahren etwa in erhöhtem Alkoholkonsum manifestiert. Ein dem zugrundeliegender neurologischer Mechanismus konnte mit den verfügbaren Daten jedoch nicht identifiziert werden.
Die Studienergebnisse machen allerdings deutlich, wie stark ungesunde Ernährungsgewohnheiten im Kindesalter das Leben und dabei vor allem die Gesundheit im Erwachsenalter negativ beeinflussen können. Es ist daher aus Sicht der Studienautorinnen und ‑autoren enorm wichtig, mithilfe von politischen Maßnahmen das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Auswirkungen ungesunder Ernährung zu schärfen und Produktion und Vertrieb ungesunder Nahrungsmittel stärker zu regulieren – etwa mit einer Zuckersteuer. Die Erkenntnisse der Studie zeigen zudem, wie wichtig es ist, die Probandinnen und Probanden über längere Zeiträume wissenschaftliche zu begleiten. Nur so lassen sich die langfristigen Folgen verschiedener Lebensstile identifizieren. Deshalb plant das Forschungsteam für das Jahr 2019 eine erneute Befragung der dann zwölf bis 22 Jahre alten Studienteilnehmenden.
Originalveröffentlichung:
Mehlig K, Bogl LH, Hunsberger M, Ahrens W, De Henauw S, Iguacel I, et al. Children’s propensity to consume sugar and fat predicts regular alcohol consumption in adolescence. Public Health Nutr. 2018 Aug 24:1-8. doi:10.1017/S1368980018001829.
Pressestelle des Leibniz-Instituts für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS, 16.11.2018