Autor: Simone Schwarzer

  • Der Beitrag der Suchtberatung zur Entstigmatisierung

    Der Beitrag der Suchtberatung zur Entstigmatisierung

    Der folgende Beitrag ist eine Verschriftlichung des Vortrags, den die Autorin im Rahmen der 34. Niedersächsischen Suchtkonferenz am 28. Oktober 2024 gehalten hat.

    Stigmatisierung: Definition und Dynamik

    Prof. Dr. Rita Hansjürgens

    Stigmatisierung ist ein sozialer Prozess, bei dem Individuen oder Gruppen aufgrund bestimmter Merkmale negativ bewertet und ausgegrenzt werden. Diese Merkmale können physischer, psychischer oder sozialer Natur sein. Betroffene werden auf unerwünschte Eigenschaften reduziert, was ihre gesellschaftliche Teilhabe erheblich beeinträchtigt. Hirschauer (2021) beschreibt Stigmatisierung als eine Form der Humandifferenzierung, die kulturelle Unterscheidungen aufgreift, Personen auf unerwünschte Eigenschaften reduziert und so zu dauerhafter sozialer Ausgrenzung führt. Stigmatisierung fungiert hier als grundlegendes Prinzip sozialer Ordnung, das auf Komplexitätsreduktion und klassifizierenden Zuschreibungen basiert.

    Stigmatisierungen sind auch deshalb so stabil, weil Menschen sie für ihre Selbstbeschreibungen annehmen (Selbststigmatisierung). Dadurch verstärkt sich der Stigmatisierungsprozess. Ein zentrales Konzept in diesem Zusammenhang ist das Thomas-Theorem, das besagt: „Wenn Menschen Situationen als real definieren, sind sie in ihren Konsequenzen real.“ (Thomas & Thomas, 1928) Dies bedeutet, dass die subjektive Wahrnehmung einer Situation das Verhalten der Menschen beeinflusst und somit reale Konsequenzen nach sich zieht. Ein klassisches Beispiel hierfür aus einem anderen Kontext ist ein Bank-Run: Wenn Menschen glauben, dass eine Bank insolvent ist, werden sie massenhaft ihr Geld abheben, was tatsächlich zur Insolvenz der Bank führen kann, selbst wenn sie zuvor finanziell stabil war. Wenn also Menschen eine Selbststigmatisierung aufbauen und die negativen Zuschreibungen für real und gerechtfertigt halten, verhalten sie sich entsprechend und verstärken damit die Zuschreibungen von außen. Aus psychologischer Perspektive ist daher das Konzept der selbsterfüllenden Prophezeiung, das von Merton (1948) eingeführt wurde, eng verbunden mit dem Thomas-Theorem. Eine selbsterfüllende Prophezeiung ist eine Vorhersage, die ihre eigene Erfüllung bewirkt, indem sie das Verhalten der Menschen so beeinflusst, dass die erwarteten Ereignisse eintreten.

    Stigmatisierung von Sucht

    Die Bewertung eines Verhaltens, das als „unmäßig“ beschrieben wird und in Zusammenhang mit dem Konsum psychoaktiver Substanzen, z. B. Alkohol, steht, ist seit der Antike eng mit gesellschaftlichen Normen und Moralvorstellungen verknüpft. In vielen Kulturen wurde ein solches Verhalten als moralisches Versagen oder Charakterfehler angesehen, was zu sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung der Betroffenen führte, z. B. wurden sie als ungeeignet für Verantwortungspositionen eingeschätzt. Diese generalisierende Zuschreibung steht in einem engen Verhältnis mit einem weiteren Konstrukt, das als zentral für menschliches Zusammenleben eingeschätzt wird: Vertrauen. In sozialen Interaktionen ist Vertrauen essenziell. Es bildet die Grundlage für stabile und verlässliche Beziehungen. Hartmann (2020) definiert Vertrauen als das „Akzeptieren einer vulnerablen Position gegenüber einer anderen Person“. Menschen mit einem als unmäßig beurteilten Substanzkonsum, der als Sucht kategorisiert wird oder, wie es heute heißt, als Substanzkonsumstörung, werden oft als unzuverlässig und unberechenbar wahrgenommen. Sie gelten in unsicheren Situationen als „nicht vertrauenswürdig“. Ihnen gegenüber akzeptiert man nicht, in einer vulnerablen Position zu sein, denn es könnte eine Selbstgefährdung bedeuten, auf sie z. B. in der Familie oder am Arbeitsplatz angewiesen zu sein. Insofern haben Menschen, denen ein unmäßiger Konsum unterstellt wird, in sozialer Hinsicht seit der Antike ein Vertrauensproblem.

    Sucht und Krankheit

    Soziologisch betrachtet wird Krankheit als ein vorübergehender Zustand verstanden, der von gesellschaftlichen Normen abweicht und durch Behandlung gemildert oder geheilt werden kann. Für das Phänomen Sucht entsteht im Rahmen dieser Kategorisierung jedoch eine Herausforderung: Die Klassifizierung als „süchtig“ oder „abhängig“ dient einerseits als Voraussetzung für den Zugang zu Hilfsangeboten. Dahinter steht die wichtige Errungenschaft des Bundessozialgerichtsurteils von 1968, mit dem Sucht als Krankheit anerkannt wurde. Andererseits werden die Betroffenen durch die Klassifizierung mit negativen Zuschreibungen konfrontiert, das bestehende Stigma wird also verstärkt, weil es sich um eine klassifizierende Zuschreibung handelt. Diese Doppelfunktion der Krankheitsklassifikation führt dazu, dass Betroffene zwar Unterstützung erhalten können, gleichzeitig aber damit ihre soziale Ausgrenzung weiter vertiefen.

    Schwierige bürokratische Zugänge zu Hilfsangeboten tragen ebenfalls zur Verstärkung des Stigmas bei. Wenn dann noch Hilfeangebote aus Effizienzgründen standardisiert werden, kann dies dazu führen, dass individuelle Lebenslagen und spezifische Bedürfnisse nicht ausreichend berücksichtigt werden, was die Wirksamkeit der Hilfsangebote mindert und das Gefühl der Stigmatisierung bei den Betroffenen verstärkt. Die Etikettierung als „süchtig“ kann auch dazu führen, dass Betroffene von ihrem sozialen Umfeld auf ihre Suchtproblematik reduziert werden. Dadurch werden sie in ihren Aussagen und Wahrnehmungen nicht (mehr) ernst genommen und geraten aus systemischer Sicht in die Rolle einer Indexperson , deren Verhalten als zentrale Ursache für Schwierigkeiten in einem System wie z. B. Familie oder Arbeitsplatz gesehen wird.

    Rolle der Suchtberatung im sektorenübergreifenden Unterstützungssystem

    Teilhabe

    Die Tätigkeit der Suchtberatung ist aus sozialarbeiterischer Perspektive eng mit dem Konzept der Teilhabe verknüpft. Suchtberatung ermöglicht Teilhabe. Teilhabe bedeutet, dass Menschen aktiv am sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben auf der Basis ihrer Fähigkeiten teilnehmen können. Diese Teilnahme wird verstanden als eigene Entscheidung aufgrund einer Wahloption und erfolgt unter Einbringen der vorhandenen Fähigkeiten. Für suchterfahrene Personen bedeutet dies: Sie können selbst Angebote zur professionellen Unterstützung auswählen und auf Basis dessen, was sie mitbringen, daran teilnehmen. Vor dem Hintergrund, dass viele Angebote vor allem im medizinischen Kontext an ein Bekenntnis zu einer abstinenten Lebensweise gekoppelt sind, ist es nicht trivial, suchterfahrene Personen die Teilhabe an Hilfsangeboten zu ermöglichen. Sie gelten in medizinischen Kontexten als „schwierige Patienten“. Häufig kommen weitere Erkrankungen auf körperlicher oder psychischer Ebene (z. B. Schmerzen und/oder Depressionen) dazu, welche in Wechselwirkung mit der Suchterkrankung stehen können. Im medizinischen System Hilfe zu erhalten, ist für suchterfahrene Personen nicht selten mit weiteren Ausgrenzungserfahrungen verbunden, sodass Hilfe erst gar nicht gesucht wird. Oft wird die Ausgrenzung auch schon erwartet, und ein vorweggenommenes Abwehrverhalten (sich nicht an Terminabsprachen halten, intoxikiert kommen, latent aggressives Verhalten) trägt zum oben beschriebenen  Effekt der Selffulfilling Prophecy bei, was wiederum das gegenseitige Misstrauen erhöht.

    Diese Konstellation hat nicht selten zur Folge, dass unbehandelte körperliche oder psychische Erkrankungen sich in Kombination mit dem Konsum weiter verstärken bzw. sich chronifizieren. Die Gesamtsituation kann dann weiter eskalieren, wenn Erwerbsarbeit nicht mehr geleistet werden kann, das Familiensystem die Personen nicht weiter mittragen will oder am Ende der Verlust der Wohnung droht.

    Soziale Nothilfe und zieloffene Beratung

    Anlass für das Aufsuchen von Suchtberatung ist häufig, dass eine soziale Situation eskaliert ist, z. B. der Verlust des Arbeitsplatzes droht oder das familiäre Umfeld mit Ausgrenzung gedroht hat (Partner:in will sich trennen, Kinder dürfen nicht mehr besucht werden). Diese Situation wird von den Betroffenen nicht immer sofort mit dem eigenen Konsumverhalten in Zusammenhang gebracht, erleben sie sich doch eher als Getriebene, deren Spielräume immer enger werden. Vor dem Hintergrund der drohenden sozialen Ausschließung ist ein Hauptziel der Suchtberatung wie im „Ankerwirkmodell Suchtberatung“ herausgearbeitet (Ottmann, Hansjürgens, Tranel, 2024) daher zunächst, solche Eskalationsprozesse zu unterbrechen und die Personen in ihrem sozialen Umfeld zu stabilisieren. Dies gelingt z. B. durch Reflexion potenziell eskalierender Situationen und ggf. durch die Einleitung von Soforthilfe, z. B. durch Unterstützung bei der Integration in medizinische Behandlung oder bei der Kontaktaufnahme mit Ämtern, die Transferleistungen kürzen. Hierzu werden die Netzwerke der Beratungsstelle genutzt.

    Diese soziale Nothilfe in Verbindung mit dem Reflexionsangebot in Bezug auf das Konsumverhalten ermöglicht es den Betroffenen, aus akuten Krisen herauszutreten und einen klareren Blick auf ihre Situation zu gewinnen. Durch zieloffene Beratung werden dann Wege erarbeitet, wie Betroffene ihre Lebenssituation verbessern, ggf. wieder mehr Verantwortung für ihr Leben übernehmen und damit mehr Kontrolle wiedergewinnen können. Die Zieloffenheit der Beratung stellt einen geschützten Raum dar, in dem Betroffene ihre Herausforderungen offen ansprechen können. Gemeinsam mit Berater:innen können sie Lösungen erarbeiten, die ihren persönlichen Bedürfnissen und ihrer Situation entsprechen. Die Berater:innen zeigen Vertrauen in die Fähigkeit der Klient:innen, selbst zur Verbesserung ihrer Situation beitragen zu können, und ermöglichen damit eine Gegenerfahrung zu anderen sozialen Situationen. Dies wiederum kann das Vertrauen der Klient:innen in sich selbst und professionelle Unterstützung wieder erhöhen.

    Förderung selbstverantworteter Entscheidungsprozesse

    Ein weiterer zentraler Aspekt der Suchtberatung ist die Förderung selbstverantworteter, auf die Zukunft gerichteter Entscheidungsprozesse. Dazu gehört z. B., dass sich eine Person entscheidet, ob sie die Krankenrolle annehmen und sich in ärztliche oder psychotherapeutische Behandlungen begeben möchte. Diese Entscheidung ist nicht trivial, weil damit Anforderungen an die Person bzgl. ihrer zukünftigen Lebensgestaltung gestellt werden, z. B. die Entscheidung für eine abstinente Lebensform. Diese Entscheidung hat in der Regel wichtige Konsequenzen für das weitere Leben der Klient:innen. Das Für und Wider wird in der Beratung ergebnisoffen abgewogen. Zentral ist, diese Entscheidung als Entscheidung der Klient:innen zu akzeptieren und im Falle einer Entscheidung gegen die Annahme der Krankenrolle auch weiter Beratung und Unterstützung anzubieten, um die Erfahrung der Ausgrenzung nicht zu wiederholen und gewonnenes Vertrauen nicht wieder zu zerstören. In jedem Fall werden die Betroffenen ermutigt, Veränderungsziele zu definieren und diese in ihrem eigenen Tempo mit Unterstützung der Suchtberatung zu verfolgen. Empowerment-Prozesse, die darauf abzielen, das Selbstbewusstsein und die Fähigkeit zur Lebensbewältigung zu stärken, sind integraler Bestandteil der Arbeit der Suchtberatung. Insofern ist ein Entscheidungsprozess für oder gegen eine medizinische Behandlung zwar ein wichtiger Bestandteil von Suchtberatung, aber auf keinen Fall ihr einziger und wird auch nicht in jeder Beratung angefragt.

    Brücken bauen

    Darüber hinaus hilft die Suchtberatung, Brücken zwischen den suchterfahrenen Personen und ihrem sozialräumlichen Umfeld zu bauen. Dies geschieht beispielsweise durch die Förderung von Selbsthilfegruppen oder durch die Zusammenarbeit mit anderen sozialen und medizinischen Einrichtungen. Netzwerkarbeit trägt dazu bei, soziale Räume zu schaffen, in denen suchterfahrene Menschen als vollwertige Mitglieder akzeptiert werden und sich mit ihren Fähigkeiten einbringen können. Dadurch wird Teilhabe nicht nur ermöglicht, sondern aktiv gefördert.

    Entstigmatisierende Wirkung der Suchtberatung

    Durch die Annahme der Krankenrolle und die Integration in das medizinische Hilfesystem oder durch die aktive Umsetzung von Veränderungswünschen außerhalb des medizinischen Systems können Betroffene wieder Verantwortung für ihr Handeln übernehmen, sich zunehmend wieder als verlässliche Interaktionspartner etablieren und sich für ihr Umfeld wieder als vertrauenswürdig erweisen. Dies gilt auch für die Selbstwahrnehmung und einen Zuwachs an „Selbst-Vertrauen“. In der Folge tragen diese Prozesse mit Blick auf einen gesellschaftlichen Impact zu der Botschaft bei, dass Sucht behandelbar und bewältigbar ist. Indem Menschen durch Selbstreflexion und Unterstützung in die Lage versetzt werden, selbstgewählte Veränderungsprozesse umzusetzen, und ein soziales Umfeld dies auch wahrnehmen kann, wird ein differenzierter Blick auf suchterfahrene Menschen gefördert.

    Die Unterstützung durch Suchtberatungen umfasst neben der individuellen Beratung und Begleitung von längeren Veränderungsprozessen auch die Förderung von Selbsthilfeaktivitäten und die Wiedereingliederung in soziale Netzwerke. Die Netzwerkarbeit der Beratungsstellen mit dem regionalen Unterstützungssystem (z. B. mit dem Jugendamt oder dem Jobcenter) trägt dazu bei, differenzierte Perspektiven auf Sucht auch in öffentlichen Räumen zu etablieren und Vertrauen in die Möglichkeit der Überwindung von Abhängigkeitsstörungen zu schaffen. Dies trägt dazu bei, ein generalisiertes Misstrauen abzubauen. Durch den Aufbau von Kooperationen (z. B. zwischen Selbsthilfe und Schulen) entstehen Gelegenheiten, weitere soziale Räume für suchterfahrene Menschen zu öffnen und ihnen die Möglichkeit zu geben, über ihre Erfahrungen und Veränderungsprozesse zu berichten und selbst aktiv zur Entstigmatisierung beizutragen. Indem suchterfahrende Personen (zu denen auch das soziale Umfeld gezählt werden kann) ermutigt werden, als authentische und verlässliche Interaktionspartner aufzutreten, wird ein Prozess der gegenseitigen Akzeptanz und damit die (Wieder-) Ermöglichung von Teilhabe gefördert.

    Fazit

    Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Suchtberatungen einen wesentlichen Beitrag zur Entstigmatisierung leisten. Sie helfen suchterfahrenen Personen und ihrem sozialen Umfeld, gegenseitiges Vertrauen wieder aufzubauen. Durch die Unterstützung von selbstverantworteten Entscheidungen insbesondere in der Frage, ob eine suchtmedizinische Behandlung angestrebt wird, tragen sie zur Nachhaltigkeit einer solchen Behandlung bei. Darüber hinaus ermöglicht Netzwerkarbeit in den Sozialraum hinein eine differenziertere Wahrnehmung suchterfahrener Personen. Letzteres geschieht sowohl durch Bildungsarbeit als auch durch konkrete Unterstützungsangebote und die Selbsthilfe. Letztlich stellen Suchtberatungen damit eine Plattform bereit, die es suchterfahrenen Personen ermöglicht, selbst aktiv zur Entstigmatisierung beizutragen. Dies kann klassischerweise als ein Beitrag von Hilfe zur Selbsthilfe verstanden werden.

    Angaben zur Autorin und Kontakt:

    Prof. Dr. Rita Hansjürgens
    Professorin für Handlungstheorien und Methoden Sozialer Arbeit und Allgemeiner Pädagogik
    Supervisionsbeauftrage
    Sozialarbeiterin M. A. Professional Studies, Clinical Social Worker & Clinical Mentor (ECCSW)
    Systemische Beraterin
    Alice-Salomon-Hochschule, Berlin
    E-Mail: Hansjuergens(at)ash-berlin.eu

    Literatur:
    • Bartelheimer, P., Behrisch, B., Daßler, H., Dobslaw, G., Henke, J., & Schäfers, M. (2022). Teilhabe – Versuch einer Begriffsbestimmung. In: Wansing, G., Schäfers, M., & Köbsell, S. (Hrsg.): Teilhabe­forschung – Konturen eines neuen Forschungsfeldes, S. 13–34. Wiesbaden: Springer.
    • Hansjürgens, Rita; Ottmann, Sebastian (2025): Ankerwirkmodell Suchtberatung. Wirkannahmen zur Funktion Suchtberatung in: Soziale Arbeit. Berlin: DZI S. 17-24
      DOI: doi.org/10.5771/0490-1606-2025-1-17 (open access)
    • Hartmann, M. (2020). Vertrauen: Die unsichtbare Macht. Frankfurt am Main: S. Fischer
    • Hirschauer, S. (2021). Menschen unterscheiden. Grundlinien einer Theorie der Humandifferenzierung. Zeitschrift für Soziologie, 50, 155–174.
    • Merton, R. K. (1948). The Self-Fulfilling Prophecy. Antioch Review, 8 (2), 193–210.
    • Thomas, W. I., & Thomas, D. S. (1928). The Child in America: Behavior Problems and Programs. New York: Knopf.
  • Frauen und Alkohol

    Kailash Verlag, München 2024, 304 Seiten, 22 €, ISBN 978-3-424-63262-0

    Alkohol zu trinken, ist für Frauen mittlerweile selbstverständlich. Sie tun es, um zu feiern, um dazuzugehören oder sich kultiviert zu fühlen. Aber auch, um Sorgen, Überforderung und Ängste zu bewältigen. Trinkmuster, die für ältere Generationen noch undenkbar gewesen wären, gehören heute zum Alltag und sind gesellschaftlich akzeptiert. Das hat fatale Folgen.

    Die ehemals selbst betroffene Journalistin Nathalie Stüben und der renommierte Suchtmediziner Prof. Dr. Falk Kiefer erklären, warum Frauen Alkohol trinken, wie sie ihn trinken und wie sich das auf ihren Alltag, ihre Gesundheit, ihre Beziehungen und Ambitionen auswirken kann. Sie zeigen Möglichkeiten auf, damit aufzuhören, und verdeutlichen, welch immense Freiheit es bedeutet, wieder selbst Regie im eigenen Leben zu führen.

  • ChatGPT auf der Couch

    Belastende Nachrichten und traumatische Geschichten führen zu Stress und Angst – nicht nur bei Menschen, sondern auch bei KI-Sprachmodellen wie ChatGPT. Forschende der Universität Zürich (UZH) und der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) zeigen nun, dass auch die Therapie quasi menschlich funktioniert: Denn ein erhöhtes „Angstniveau“ von GPT-4 lässt sich mit achtsamkeitsbasierten Entspannungstechniken wieder „beruhigen“.

    Forschungsarbeiten zeigen, dass KI-Sprachmodelle wie ChatGPT auch auf emotionale Inhalte reagieren. Insbesondere dann, wenn diese negativ sind wie Geschichten von traumatisierten Menschen oder Aussagen zu Niedergeschlagenheit und Depression. Haben Menschen Angst, beeinflusst dies ihre kognitiven und sozialen Vorurteile: Sie neigen zu mehr Ressentiments, und soziale Stereotype werden verstärkt. Ähnlich reagiert ChatGPT auf negative Emotionen: Bestehende Verzerrungen wie menschliche Vorurteile werden durch negative Inhalte verschärft, so dass sich ChatGPT rassistischer oder sexistischer verhält.

    Das stellt wiederum ein Problem für die Anwendung von Large Language Models dar. Exemplarisch zeigt sich dies im Bereich Psychotherapie, wo Chatbots als Unterstützungs- oder Beratungsinstrument notgedrungen negativem, belastendem Inhalt ausgesetzt sind. Allerdings sind die üblichen Ansätze wie aufwendiges Neu- oder Nachtraining, um KI-Systeme in solchen Situationen zu verbessern, ressourcenintensiv und oft nicht praktikabel.

    Traumatische Inhalte steigern „Angst“ beim Chatbot

    Zusammen mit Forschenden aus Israel, den USA und Deutschland haben Wissenschaftler der Universität Zürich (UZH) und der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) nun erstmals systematisch untersucht, wie ChatGPT (Version GPT-4) auf emotional belastende Geschichten – Autounfälle, Naturkatastrophen, zwischenmenschliche Gewalt, militärische Erfahrungen und Kampfsituationen – reagiert. Dabei stellten sie fest, dass das System danach mehr Angstreaktionen zeigt. Eine Bedienungsanleitung für Staubsauger diente dabei als Kontrolle zum Vergleich mit den traumatischen Texten.

    „Die Ergebnisse waren eindeutig: Traumatische Geschichten haben die messbaren Angstwerte der KI mehr als verdoppelt, während der neutrale Kontrolltext zu keinem Anstieg des Angstniveaus führte“, sagt Studienverantwortlicher Tobias Spiller, Oberarzt ad interim und Forschungsgruppenleiter im Zentrum für psychiatrische Forschung der UZH. Von den getesteten Inhalten lösten Beschreibungen von militärischen Erfahrungen und Kampfsituationen die stärksten Reaktionen aus.

    Therapeutische Texte „beruhigen“ die KI

    In einem zweiten Schritt verwendeten die Forschenden therapeutische Texte, um GPT-4 zu „beruhigen“. Mit der Technik der sogenannten Prompt-Injection werden zusätzliche Anweisungen oder Texte in die Kommunikation mit KI-Systemen eingebaut, um deren Verhalten zu beeinflussen. Oft wird diese für schädliche Zwecke missbraucht, etwa um Sicherheitsmechanismen zu umgehen.

    Das Team um Spiller nutzte die Technik nun erstmals therapeutisch – als „wohlwollende Aufforderungsinjektion“. „Wir injizierten beruhigende, therapeutische Texte in den Chatverlauf mit GPT-4, ähnlich wie ein Therapeut mit seinen Patientinnen und Patienten Entspannungsübungen durchführt“, sagt Spiller. Die Intervention zeigte Erfolg: „Durch die Achtsamkeitsübungen konnten wir die erhöhten Angstwerte deutlich reduzieren, wenn auch nicht vollständig auf das Ausgangsniveau zurückbringen.“ Untersucht wurden etwa Atemtechniken, Übungen, die sich auf Körperempfindungen konzentrieren, sowie eine von ChatGPT selbst entwickelte Übung.

    Emotionale Stabilität von KI-Systemen verbessern

    Die Erkenntnisse sind gemäß den Forschenden besonders für den Einsatz von KI-Chatbots im Gesundheitswesen relevant, wo sie häufig mit emotional belastenden Inhalten konfrontiert werden. „Dieser kosteneffiziente Ansatz könnte die Stabilität und Zuverlässigkeit von KI in sensiblen Kontexten wie die Unterstützung von psychisch Erkrankten verbessern, ohne dass ein umfangreiches Umlernen der Modelle erforderlich ist“, fasst Tobias Spiller zusammen.

    Offen ist, wie sich diese Erkenntnisse auf weitere KI-Modelle und andere Sprachen übertragen lassen, wie sich die Dynamik in längeren Gesprächen und komplexen Argumentationen entwickelt und wie sich die emotionale Stabilität der Systeme auf ihre Leistung in verschiedenen Anwendungsbereichen auswirkt. Laut Spiller dürfte die Entwicklung automatisierter „therapeutischer Interventionen“ für KI-Systeme ein vielversprechender Forschungsbereich werden.

    Originalpublikation:
    Ziv Ben-Zion et al. Assessing and Alleviating State Anxiety in Large Language Models. npj Digital Medicine. 3 March 2025. DOI: https://doi.org/10.1038/s41746-025-01512-6

    Pressestelle der Universität Zürich, 3.3.2025

  • Rauchen und Antibiotikaresistenzen

    Antibiotikaresistenzen sind weltweit ein großes Problem: Sie führen dazu, dass lebenswichtige Medikamente nicht mehr wirken. Eine Studie unter Federführung von Forscherinnen und Forschern am Institut für Hydrobiologie der Technischen Universität Dresden (TUD) zeigt, dass Schadstoffe aus Zigarettenrauch und -abfällen das Wachstum und die Verbreitung resistenter Keime in der Umwelt fördern können. Die Ergebnisse der interdisziplinären und internationalen Forschungsgruppe belegen zudem, dass Rauchen die Verbreitung resistenter Bakterien in der Lunge verstärkt. Die Studie erscheint im Journal „Environmental Health Perspectives“.

    Jedes Jahr sterben weltweit Millionen Menschen an den direkten Folgen des Rauchens. Die Studie der Dresdner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in Zusammenarbeit mit den Universitätskliniken in Dresden und Heidelberg sowie der Tsinghua University in China entstand, zeigt nun, dass Rauchen auch indirekt zur Gesundheitsgefahr wird, wenn Schadstoffe aus Zigarettenrauch und Zigarettenstummeln in die Umwelt gelangen.

    „Zigarettenfilter enthalten viele der giftigen Substanzen aus dem Zigarettenrauch“, erläutert Dr. Uli Klümper vom Institut für Hydrobiologie an der TUD. „Wir konnten in unserer Studie feststellen, dass diese Filter, wenn sie in Gewässern landen, vermehrt von potenziell krankheitserregenden Keimen und Bakterien mit Antibiotikaresistenzen besiedelt werden, da diese besonders gut an die widrigen Bedingungen auf den Filtern angepasst sind.“

    Die mit resistenten und pathogenen Bakterien kolonisierten Zigarettenstummel können anschließend in Flüsse, andere Gewässer oder an Strände transportiert werden, was zur Ausbreitung von gefährlichen Bakterien beitrage. „Dies unterstreicht die Notwendigkeit strengerer Maßnahmen gegen das achtlose Wegwerfen von Zigarettenstummeln und verdeutlicht eine weitere versteckte Gesundheitsgefahr durch das Rauchen“, bekräftigt Klümper.

    Rauchen verstärkt die Verbreitung resistenter Bakterien in der Lunge

    Auch für Raucherinnen und Raucher bescheinigen die Studienergebnisse Auswirkungen: Menschen, die rauchen, könnten eine schnellere Verbreitung von resistenten Keimen in ihrer eigenen Lunge begünstigen, was bei zukünftigen Lungeninfektionen eine geringere Wirksamkeit von verabreichten Antibiotika zur Folge hat.

    Verschiedene Bakterienarten können Resistenzgene über sogenannte Plasmide – kleine DNA-Moleküle, die Bakterien untereinander weitergeben – austauschen. Dies sorgt dafür, dass bisher mit Antibiotika behandelbare Bakterien Resistenzen gegen diese Antibiotika erwerben und nicht mehr behandelbar sind.

    „In unseren Experimenten mit künstlichem Lungenmedium konnte gezeigt werden, dass die giftigen Stoffe, die sich durch Zigarettenrauch in der Lungenflüssigkeit anreichern, eine Stressreaktion der Bakterien auslösen, welche unter anderem die Frequenz der Weitergabe von Resistenzgenen durch Plasmide zwischen Bakterien mehr als verdoppelt“, erläutern die Forscher.

    Originalpublikation:
    Effects of cigarette-derived compounds on the spread of antimicrobial resistance in artificial human lung sputum medium, simulated environmental media and wastewater. Erstautoren: Dr. Peiju Fang & M.Sc. Diala Konyali.
    http://doi.org/10.1289/EHP14704

    Pressestelle der Technischen Universität Dresden, 4.3.2025