Autor: Simone Schwarzer

  • Gesundheits- und sozialpolitische Maßnahmen im Umgang mit Drogenproblemen

    Wie kann den Problemen älterer Heroinkonsumierender begegnet werden? Wie können Todesfälle infolge des Konsums hochpotenter synthetischer Opioide (wie Fentanyl) vermieden werden? Wie können Schädigungen infolge des Drogen- und Alkoholmissbrauchs auf Festivals und in der Nachtclubszene verhindert werden? Mit solchen Fragen befasst sich der neue europäische Leitfaden der EU-Drogenbeobachtungsstelle (EMCDDA), der am 24.10.2017 unter dem Titel „Health and social responses to drug problems: a European guide“ (Gesundheits- und sozialpolitische Maßnahmen im Umgang mit Drogenproblemen: ein europäischer Leitfaden) veröffentlicht wurde. Gestützt auf Informationen aus 30 Ländern bietet die EMCDDA (in englischer Sprache) erstmals einen Überblick über die Maßnahmen und Interventionen, die zur Bekämpfung der Auswirkungen des illegalen Drogenkonsums aktuell zur Verfügung stehen.

    Der Leitfaden richtet sich sowohl an Personen, die sich auf der Ebene der gesundheitspolitischen Planung mit der Drogenproblematik befassen, als auch an Angehörige von Berufen mit direktem Kontakt zu Drogenkonsumenten. Er wird künftig alle drei Jahre neu aufgelegt (wobei die Online-Fassung regelmäßig aktualisiert wird) und ergänzt den jährlichen Europäischen Drogenbericht sowie den alle drei Jahre erscheinenden EU-Drogenmarktbericht.

    Der Leitfaden beleuchtet die gesundheits- und sozialpolitischen Maßnahmen im Umgang mit Drogenproblemen aus drei verschiedenen Blickwinkeln. Es geht um:

    • Probleme im Zusammenhang mit verschiedenen Arten von Drogen und Konsummustern;
    • die Bedürfnisse verschiedener Gruppen (z. B. Frauen, junge Menschen, Migranten oder ältere Konsumenten);
    • Probleme in verschiedenen Settings (z. B. Haftanstalten, Nachtclubs und Festivals, Schulen, Arbeitsplatz, lokale Gemeinschaften).

    Als Nachschlagewerk für den Einstieg enthält er Zusammenfassungen und nutzerfreundliche Markierungen zum einfachen Auffinden von wesentlichen Informationen, Best-Practice-Beispielen und Anforderungen an Politik und Praxis. Außerdem erschließt er ein breites Angebot an Online-Informationen einschließlich Links zu empirischen Befunden und Tools.

    Evidenzgestützte Maßnahmen

    Im Leitfaden wird darauf hingewiesen, dass auf Evidenz gestützte Maßnahmen in Europa offenbar zunehmend an Bedeutung gewinnen und angesichts der derzeitigen finanziellen Rahmenbedingungen mehr denn je darauf geachtet wird, die knappen Ressourcen effizient einzusetzen. Der Leitfaden verweist auf das Best-Practice-Portal der EMCDDA, in dem zahlreiche Quellen enthalten sind, darunter das „Xchange“-Verzeichnis evidenzgestützter Programme sowie Standards zur Verbesserung der Maßnahmenqualität (Spotlight, S. 164).

    Arbeit vor Ort

    Drogenprobleme und gesundheitliche sowie soziale Probleme bestehen häufig gleichzeitig oder bedingen sich gegenseitig. Aus diesem Grund hebt der Leitfaden hervor, wie wichtig es für Betreuungseinrichtungen für Drogenkonsumierende ist, Beziehungen auch zu anderen Bereichen (wie sexuelle und psychische Gesundheitsvorsorge oder Wohnungsdienstleistungen) zu unterhalten, um ihre Wirksamkeit und Effizienz zu erhöhen (Spotlight, S. 31, S. 72). Einige Gruppen haben einen besonderen Bedarf an integrierten Dienstleistungen, beispielsweise ältere Opioidkonsumierende mit gesundheitlichen Problemen oder Konsumierenden mit psychischen Problemen. Der Leitfaden enthält Beispiele für eine Reihe von kooperativen Ansätzen in Europa.

    Neue Technologien

    Das Internet, Apps für soziale Netzwerke, neue Zahlungstechniken und Verschlüsselungssoftware verändern die Art und Weise, wie Drogen beschafft und vertrieben werden können. Diese neuen Gegebenheiten wirken sich nicht nur auf die Drogenmärkte und Konsummuster aus, sondern bieten auch neue Möglichkeiten für gesundheits- und sozialpolitische Maßnahmen in diesem Bereich. Ein Schwerpunkt liegt hierbei auf Initiativen im Bereich der elektronischen Gesundheitsdienste, die mithilfe digitaler Technologien Beratungsleistungen zur Schadensminimierung und Schulungen für Fachkräfte im Bereich der Drogenbehandlung anbieten und im Rahmen ihres Engagements gefährdete Jugendliche erreichen können, die zögern, sich an eine offizielle Drogenberatungsstelle zu wenden (Spotlight, S. 119).

    Drogenbedingte Schädigungen vermindern

    Der Leitfaden würdigt die bisher erzielten Fortschritte in Bezug auf die Prävention und Verminderung drogenbedingter Schädigungen (wie die Ausweitung der Angebote zur opioidgestützten Substitutionsbehandlung), weist jedoch gleichzeitig auch auf Bereiche hin, in denen noch weitere Möglichkeiten zur Verbesserung bestehen. Die Kosten für die Behandlung von Hepatitis-C-Infektionen machen einen erheblichen Teil der drogenbezogenen Gesundheitskosten in Europa aus (www.emcdda.europa.eu/publications/insights/hepatitis-c-among-drug-users-in-europe_en; www.emcdda.europa.eu/publications/pods/hepatitis-c-treatment_en). In dem Bericht werden die Vorteile einer besseren Koordination der Arbeit von Drogenstellen und speziellen Abteilungen für Lebererkrankungen hervorgehoben, um auf diese Weise ein angemessenes flächendeckendes Behandlungsangebot zu gewährleisten (Spotlight, S. 62).

    Die Risikofaktoren in Verbindung mit einer tödlich verlaufenden Überdosierung sind mittlerweile hinreichend bekannt, und es wurden einige bemerkenswerte Fortschritte bei den lebensrettenden Interventionen erzielt wie beispielsweise die Verabreichung von Naloxon zur Therapie einer Überdosierung mit Opioiden. Die steigende Zahl der europaweit auftretenden Todesfälle infolge einer Überdosierung lässt jedoch darauf schließen, dass solche und weitere Maßnahmen zur Verringerung der Anzahl opioidbedingter Todesfälle weiter ausgebaut werden müssen.

    Flexible Lösungen

    Die Drogenproblematik in der heutigen Zeit kann sich schnell verändern und bestehende Strategien und Maßnahmenmodelle über den Haufen werfen. Neue Herausforderungen ergeben sich u. a. durch die rasche Verbreitung neuer psychoaktiver Substanzen wie beispielsweise hochpotente Opioide (z. B. Fentanyl; Spotlight, S. 52) und synthetische Cannabinoide (Spotlight, S. 81). Infolge der neuen Substanzen, die den Drogenmarkt überschwemmen, müssen auch die toxikologischen und forensischen Kapazitäten vor Ort ausgebaut werden.

    Angesichts der soziodemografischen und wirtschaftlichen Veränderungen untersucht der Leitfaden die potenzielle Anfälligkeit von Menschen mit Migrationshintergrund und Asylsuchenden für Drogenprobleme und den Bedarf an Diensten, die die gesellschaftliche Vielfalt anerkennen und Vertrauen schaffen.

    Die jüngsten Änderungen, die in Teilen Amerikas am Regulierungsrahmen für Cannabis vorgenommen wurden, werden in Europa von politischen Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit mit Interesse verfolgt (Spotlight, S. 40). Darüber hinaus wächst in beiden Regionen das Interesse, das therapeutische Potenzial von auf Cannabis basierenden Arzneimitteln weiter zu untersuchen. Von Entwicklungen im Bereich der cannabisbezogenen Politik können Anstöße für Maßnahmen zur Prävention, Behandlung und Verminderung drogenbedingter Schädigungen ausgehen, und Innovationen außerhalb Europas können wertvolle Erkenntnisse liefern.

    Die EU-Drogenstrategie (2013 bis 2020) zielt darauf ab, die Nachfrage nach und das Angebot von Drogen, Drogenabhängigkeit sowie drogenbedingte gesundheitliche und soziale Schäden zu verringern. Der Leitfaden unterstützt die Strategie im Bereich der Nachfragereduzierung und der Verringerung der gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen des Drogenkonsums.

    Alexis Goosdeel, Direktor der EMCDDA: „Wir glauben, dass die EMCDDA am besten zur Förderung der Gesundheit und der Sicherheit der europäischen Bürger beitragen kann, indem wir die herrschende Drogenproblematik analysieren und mögliche Maßnahmen sowie praktische Hilfsmittel zur Unterstützung politischer Entscheidungen und der praktischen Arbeit kritisch unter die Lupe nehmen. Dieser Leitfaden ist der erste und bisher ambitionierteste Versuch, Informationen zu den verfügbaren gesundheitsbezogenen und sozialpolitischen Maßnahmen zur Bewältigung der Drogenproblematik in Europa in einer leicht zugänglichen Quelle zusammenzustellen. Indem er sowohl Wissenslücken und Schwächen in der Praxis als auch Verbesserungs- und Entwicklungsmöglichkeiten hervorhebt, bildet dieser Leitfaden in diesem Bereich das Grundgerüst für ein erneuertes Arbeitsprogramm für die kommenden Jahre.“

    Pressestelle der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA), 24.10.2017

  • Suchtrehabilitation ist mehr als Psychotherapie

    Suchtrehabilitation ist mehr als Psychotherapie

    Frank Schulte-Derne
    Rita Hansjürgens
    Ulrike Dickenhorst
    Conrad Tönsing

     

    Einleitung

    Eine Suchtrehabilitation bietet abhängigkeitskranken Menschen die Möglichkeit zum Ausstieg aus der Abhängigkeit und verbessert damit die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe. Ein interdisziplinäres Rehabilitationsteam aus den Bereichen Soziale Arbeit, Medizin und Psychologie schafft dafür die Voraussetzung, dabei wird es durch weitere Berufsgruppen unterstützt. Die Nutzung evidenzbasierter Erkenntnisse kann die Qualität der therapeutischen Leistungen verbessern. Die AWMF-Leitlinien als systematisch entwickelte Entscheidungshilfen tragen hierzu bei, sie sollten aber in der Entwicklung und der Anwendung multiprofessionell gedacht werden. Dieser interdisziplinäre Ansatz der Suchtrehabilitation trägt den verschiedenen Dimensionen des bio-psycho-sozialen Gesundheits- bzw. Krankheitsfolgenmodells der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Rechnung, wie sie in der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) konzipiert wurden. Erkrankungen und ihre Folgen werden in der ICF als Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen sozialen, somatischen und psychischen Faktoren verstanden (DRV Bund 2013).

    Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe (DG-SAS) vertritt die am stärksten in der Suchthilfe und Suchtrehabilitation vertretene Berufsgruppe (Braun et al. 2015a, 2015b). Zugleich lässt sich feststellen, dass Soziale Arbeit bezogen auf ihre Zuständigkeit und Bedeutung in der Suchtrehabilitation zunehmend von einer maßgeblichen Kraft auf eine vernachlässigbare Größe reduziert zu werden scheint (Sommerfeld 2016a). Dieser Beitrag macht daher auf ausgewählte Stärken der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe und auf die Unterschiede zwischen Sucht- und Psychotherapie aufmerksam. Am Ende wird deutlich, dass Soziale Arbeit im Kontext der Suchtrehabilitation aufgrund ihrer Zuständigkeit und Expertise als mitgestaltend und nicht als fremdbestimmt wahrgenommen werden sollte. Das betrifft die Wahrnehmung aller am Prozess beteiligten Akteure – auch die der in der Sozialen Arbeit Tätigen selbst.

    Die Bedeutung der sozialen Dimension in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Die Orientierung an dem bio-psycho-sozialen Modell der ICF ist in der Suchtrehabilitation handlungsleitend. Gesundheit bzw. Krankheit werden als Ergebnis eines Zusammenspiels oder gegenseitiger Beeinflussung körperlicher, psychischer und sozialer Faktoren gesehen. „Die Soziale Arbeit erhebt in diesem Sinn den Anspruch auf die Zuständigkeit der spezialisierten Behandlung der sozialen Dimension psychischer Erkrankungen im Hinblick auf die Integration und Lebensführung der davon betroffenen Menschen im Kontext einer interprofessionell gedachten ‚integrierten Versorgung‘.“ (Sommerfeld 2016b, S. 11)

    Zuständigkeit der Sozialen Arbeit in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Die Zuständigkeit der Sozialen Arbeit liegt „vornehmlich in der Unterstützung einer gelingenden (Re-)Integration von Klient/innen in verschiedene soziale Handlungssysteme (Familie, privates Sozialsystem, Schule, Arbeitswelt, Hilfesysteme, Schattenwelten). […] Diese Überlegungen werden damit begründet, dass Klient/innen der Sozialen Arbeit aufgrund ihres Anders-seins (in diesem Fall ihrer Suchterkrankung mit all ihren biopsychosozialen Implikationen) Schwierigkeiten dabei haben, sich in ihrer sozialen Lebenswelt zurechtzufinden, und deshalb vom Ausschluss aus diesen Handlungssystemen bedroht sind. Integration in dieser Perspektive bezieht die biopsychischen Aspekte eines suchtkranken Menschen, die in dynamischer Wechselwirkung stehen mit seiner sozialen Integration, dabei systematisch mit ein, weil sonst eine Realisierung von gesellschaftlicher Teilhabe nicht gelingt.“ (Hansjürgens 2016) Die Unterstützung einer gelingenden (Re-)Integration wird z. B. realisiert in der sog. Angehörigenarbeit, also dem Einbezug sozialer Nahsysteme, zu denen nicht nur Familie, sondern auch Freunde gehören könn(t)en.

    Der Arbeitsschwerpunkt in der Suchttherapie liegt in dem Aufbau einer tragfähigen Arbeitsbeziehung sowie in der Entwicklung einer Krankheitseinsicht und Veränderungsmotivation, mit dem Ziel, zukünftig abstinent leben zu können. Alle Faktoren, die zur Abstinenzstabilität beitragen, werden in der Therapieplanung prospektiv festgelegt und in einer multimodalen Behandlung durchgeführt. Der Suchttherapeut/Bezugstherapeut ist für die Koordination und z. T. für die Durchführung verantwortlich. Der Transfer der Rehabilitationserkenntnisse in die Lebenssituation wird kontinuierlich begleitet. Die reguläre Beendigung der Behandlung mit sich anschließender ambulanter Nachsorge schafft die größten Erfolgsaussichten für zukünftige Teilhabe.

    Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Integration in die Arbeitswelt, in dem Maß, wie es aus der Perspektive des Klienten und seinen Möglichkeiten angemessen erscheint. Dazu gehören nicht nur Gespräche und ‚Trockenübungen‘, sondern auch die aktive Begleitung in die konkreten Handlungssysteme hinein und der unterstützende Einbezug wichtiger Interaktionspartner aus diesen Systemen, also z. B. auch von Vorgesetzten oder Arbeitskolleg/innen.

    Der ganzheitliche sozialarbeiterische Blick in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Die oben beschriebene Zuständigkeit erfordert einen Blick auf die Bedingungen des Systems, zu dem eine Person (wieder) Zugang erhalten möchte, einen Zugang, der ihr aufgrund ihrer Suchterkrankung versperrt war. Daneben ist ein Blick auf die realistischen Möglichkeiten und Ressourcen der Person erforderlich. Hier muss eine individuelle Passung hergestellt werden. Dies bedeutet nicht nur, die Möglichkeiten einer Person zur Integration zu verbessern, z. B. durch psychotherapeutische Interventionen, sondern auch, die Möglichkeiten und die Flexibilität eines konkreten Systems (z. B. Familie und Arbeitsplatz) zur Integration einer Person zu verbessern und beide Ansätze in Übereinstimmung zu bringen. Dies erweitert die biopsychische Perspektive auf ein Individuum um den Versuch der konkreten Modellierung der sozialen Dimension eines Klienten. Dies geschieht mit dem Ziel, die Nachhaltigkeit suchttherapeutischer Maßnahmen zu sichern.

    Die Erweiterung der Perspektive um die soziale Dimension durch die Soziale Arbeit als dafür zuständige Expertin wird selbstverständlich. „Damit entspricht der sozialarbeiterische Ansatz, der auch als Unterstützung zur Realisierung von gesellschaftlicher Teilhabe beschrieben werden kann, in vollem Umfang jenem teilhabeorientierten Ansatz, den die DHS in ihrer Analyse der Versorgungssituation von Suchthilfe in Deutschland als Grundvoraussetzung für Zukunftsorientierung für die Ausrichtung der Arbeit mit Suchtkranken fordert.“ (Hansjürgens 2016) „Vor diesem Hintergrund muss bemängelt werden, dass Psychotherapie laut Alltagsverständnis die komplexen Fälle bearbeitet und Soziale Arbeit die leichten. Die Realität der Sozialen Arbeit beweist dabei das Gegenteil.“ (Gahleitner, Pauls 2012). Denn schließlich bildet die Soziale Arbeit eben für jene Fälle aus, die nicht einfach routiniert zu erledigen sind oder häufig chronifizierte Verläufe aufzeigen. Leider ist diese ganzheitliche Sichtweise, die die soziale Dimension nicht nur im Blick hat, sondern auch bearbeitet, aktuell von Kostenträgern nicht mit ausreichenden Ressourcen ausgestattet. Eine von suchttherapeutischen Prozessen abgekoppelte sog. Sozialberatung reicht für die Erfüllung dieser aus Sicht der DG-SAS zentralen Aufgabe von Suchtrehabilitation nicht aus.

    Vom (Fall-)Verstehen zur Behandlungsplanung in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Um im oben genannten Sinn agieren zu können, führen Sozial- und Suchttherapeuten diagnostische Informationen zur Biografie und Lebenswelt sowie klassifikatorisches, störungsspezifisches Wissens entlang der Koordinaten „Umwelt und Person“ bzw. „Probleme und Ressourcen“ zusammen und leiten daraus die konkrete Therapieplanung und Interventionsmöglichkeiten ab (Gahleitner et al. 2014). Sie behandeln die Betroffenen als Bezugstherapeuten in Einzel-, Gruppen- und Angehörigengesprächen sowie in weiteren Indikationsgruppen (DRV Bund 2015). In Angehörigen-, Paar- und Kinder-/Elternseminaren werden Angehörige auch psychoedukativ unterstützt, um die eigenen Resilienzfaktoren zu fördern und stabilere Interaktionen zu erproben.

    Ausgehend von der Suchtgenese und familiengeschichtlichen Ereignissen, z. B. generative Häufung von Suchterkrankung, wird die Rückfallprävention durchgeführt. Besonders die Hochrisikosituationen werden individuell erfasst und alternative Bewältigungsstrategien erprobt. Zum integrativ-diagnostischen (Fall-)Verstehen trägt dabei maßgeblich die Perspektive „Person-in-ihrer-Umwelt“ bei. Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass Hilfebedürftigkeit häufig einhergeht mit schwach ausgeprägter sozialer Einbindung (Richter-Mackenstein 2017, 93 ff.). So fließen die Ergebnisse von zum Beispiel Netzwerkanalysen als Rehabilitationsziele und -teilziele in den Rehabilitationsplan ein. Die Perspektive „Person-in-ihrer-Umwelt“ ist hier von entscheidender Bedeutung, da der Rehabilitationsplan partizipativ mit den Klient/innen entwickelt wird, was ebenfalls zur Nachhaltigkeit der rehabilitativen Maßnahmen beiträgt.

    Unterschiede im interprofessionellen Handeln in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie

    Unter der hier aufgeworfenen Perspektive setzt sich ein interprofessionelles Rehabilitationsteam sinnvollerweise aus den Berufsgruppen Soziale Arbeit, Medizin und Psychologie zusammen. Die Mitarbeiter/innen sind dabei im Sinne des Rehabilitanden verpflichtet, hinsichtlich der Diagnostik, der Anamnese, der Behandlungsplanung sowie der Dokumentation und der Berichterstattung intensiv und austauschorientiert zusammenzuarbeiten. Dies geschieht in der Regel durch Fall- und Teambesprechungen und externe Supervision (DRV Bund 2015).

    Das Aufgabenspektrum der Sozialen Arbeit und der Psychologie wird von der DRV weitestgehend gleich definiert, wenn die Suchterkrankung im Mittelpunkt der Rehabilitation steht. Unterschiede gibt es hinsichtlich der psychologischen Diagnostik und der komorbiden Störungen, wenn sie als Ursache der Suchterkrankung erkannt werden. Diese Aufgabenbereiche sind den Psycholog/innen vorbehalten.

    Den Sozialarbeiter/innen sind die Hilfen im sozialen Umfeld (z. B. Kontakte mit Arbeitgebern, Hilfestellung bei der Vermittlung eines Arbeitsplatzes/bei der Reintegration in das berufliche Umfeld, sozialrechtliche Beratung), Existenzsicherung, die Begleitung juristischer Verfahren und die Kooperation mit in der Nachsorge eingebundenen Sozialen Diensten sowie mit Selbsthilfegruppen als zusätzliche Leistungen zugeordnet. Dieser Leistungsunterschied weist schon auf die Stärke und Zuständigkeit von Fachkräften der Sozialen Arbeit in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie hin. Bekanntermaßen trägt das soziale Umfeld maßgeblich zur Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Erkrankungen bzw. von Sucht bei, und dies heißt im Umkehrschluss, dass das Soziale (Umfeld) ein enormes therapeutisches Potenzial hat, das ohne die Soziale Arbeit weitgehend unerschlossen bliebe (Sommerfeld 2016a). Die Modellierung sozialer Lebensbedingungen liegt häufig nicht im primären Zuständigkeitsbereich von Psychotherapie. Sind die sozialen Lebensbedingungen sehr ungünstig ausgeprägt, wird Psychotherapie alleine den Zustand der Rehabilitand/innen nachhaltig kaum verbessern können (Grawe 2004).

    Fazit: Suchtrehabilitation ist mehr als Suchttherapie. Und Suchttherapie ist mehr als Psychotherapie

    Die Soziale Arbeit ist im Rahmen der Suchtbehandlung für die Modellierung der sozialen Dimension der Erkrankung zugunsten der Integration und einer abstinenten Lebensführung zuständig. Dabei liegt die Zuständigkeit der Sozialen Arbeit in einer gelingenden (Re-)Integration von Klient/innen in verschiedene soziale Handlungssysteme. Hierzu werden neben der sozialen Dimension auch die biopsychischen Aspekte eines suchtkranken Menschen mit einbezogen. Dieser ganzheitliche Blick ist für die Soziale Arbeit selbstverständlich, das Psychotherapeutengesetz hingegen klammert die soziale Dimension für seine Berufsgruppe aus. Soziale Arbeit befasst sich entgegen dem Alltagsverständnis nicht mit den ‚leichten‘, sondern i. d. R. mit den komplexen Fällen, für die es weniger Routinelösungen gibt, da es um die Realisierung von Teilhabe geht. Die Perspektive „Person-in-ihrer-Umwelt“ zu betrachten und zu beteiligen, ist eine unabdingbare Stärke der Sozialen Arbeit in der Suchtrehabilitation/Suchttherapie.

    Die Hilfen im sozialen Umfeld der Betroffenen sind dem Leistungsspektrum der Sozialen Arbeit zugeordnet. Gerade diese Hilfen haben enormes therapeutisches Potenzial, und ohne dieses Leistungsangebot kann eine Realisierung von gesellschaftlicher Teilhabe nicht gelingen. Die Lebensbedingungen und das Soziale (Umfeld) sind bei den Betroffenen in der Regel ungünstig ausgeprägt. Vor diesem Hintergrund kann Soziale Arbeit den Zustand der Rehabilitand/innen nachhaltig verbessern.

    Angaben zu den Autoren:

    Frank Schulte-Derne
    Dipl.-Sozialpädagoge
    Sachbereichsleitung LWL-Koordinationsstelle Sucht
    Vorsitzender der DG-SAS
    Frank.Schulte-Derne@lwl.org

    Rita Hansjürgens
    M. A., Dipl.-Sozialarbeiterin
    Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Paderborn
    Stellv. Vorsitzende der DG-SAS

    Ulrike Dickenhorst
    Dipl.-Sozialpädagogin, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin (KVT)
    Therapeutische Leiterin der Bernhard-Salzmann-Klinik
    Stellv. Vorsitzende der DG-SAS

    Conrad Tönsing
    Dipl.-Soz. Päd. Soz.Arb., KJPsychotherapeut, Supervisor
    Geschäftsführer, Caritas – Reha und Teilhabe GmbH, Geschäftsbereichsleitung Suchtprävention und Rehabilitation, Caritasverband für die Diözese Osnabrück e.V.

    Literatur:
    • Braun, Barbara; Brand, Hanna; Künzel, Jutta (2015a): Deutsche Suchthilfestatistik 2014. Tabellenband für stationäre Rehabilitationseinrichtungen. München.
    • Braun, Barbara; Brand, Hanna; Künzel, Jutta (2015b): Deutsche Suchthilfestatistik 2014. Tabellenband für ambulante Beratungs- und Behandlungsstellen, Fachambulanzen und Institutsambulanzen. München.
    • Deutsche Rentenversicherung Bund (2013): Vereinbarungen im Suchtbereich. www.deutsche-rentenversicherung.de
    • Deutsche Rentenversicherung Bund (2014): Klassifikation Therapeutischer Leistungen in der medizinischen Rehabilitation Ausgabe 2015. www.deutsche-rentenversicherung.de
    • Gahleitner, Silke Birgitta; Pauls, Helmut (2012): Soziale Arbeit und Psychotherapie – zum Verhältnis sozialer und psychotherapeutischer Unterstützung und Hilfen. In: Thole (Hrsg.): Grundriss Sozialer Arbeit. Ein einführendes Handbuch. 4. Auflage.
    • Gahleitner, Silke Birgitta; Hintenberger, Gerhard; Kreiner, Barbara; Jobst, Angelika (2014): Biopsychosoziale Diagnostik: Wie geht denn das konkret? Plädoyer für ein „integratives diagnostisches Verstehen“ In: Resonanzen E-Journal http://www.resonanzen-journal.org/index.php/resonanzen/article/view/ 336 (Abrufdatum 03.05.2017)
    • Grawe, Klaus (2004): Neuropsychotherapie.Göttingen.
    • Hansjürgens, Rita (2016): In: DG-SAS Kompetenzprofil der Sozialen Arbeit in der Suchthilfe.
    • Richter-Mackenstein, Joseph (2017): Netzwerkanalyse mit easyNWK. Erste empirische und metrische Erkenntnisse einer Diagnostik sozialer Hilfebedürftigkeit. In: Soziale Arbeit (3).
    • Sommerfeld, Peter (2016a): Sucht – ein medizinisches oder ein soziales Problem? In: Suchtmagazin (6)
    • Sommerfeld, Peter (2016b): „Soziale Arbeit und Sucht: Von einer massgeblichen Kraft zu einer vernachlässigbaren Grösse – und wieder zurück?“ Zur Bedeutung von Wissen in der interprofessionellen Kooperation und Konkurrenz. Vortrag beim 4. Bundeskongress der DG-SAS in Münster http://www.dgsas.de/downloads/Sommerfeld.pdf

    Titelfoto©Wolfgang Weidig

  • Forderungen für eine wirksame Ambulante Suchthilfe

    Ambulante Suchthilfe ist wichtig und wirksam. Sie umfasst ein breites Spektrum von Angeboten, das jährlich über einer halben Million Betroffenen zugutekommt. Gleichzeitig befindet sich die ambulante Suchthilfe in einer desolaten Finanzierungssituation, die weit von der gesetzlich geforderten Nahtlosigkeit und Einheitlichkeit entfernt ist und sich oft nur aus jährlich widerrufbaren Zuschüssen speist. Aus Sorge um das ambulante Versorgungssystem für abhängigkeitskranke Menschen hat der Vorstand des Fachverbandes Drogen- und Suchthilfe e.V. Forderungen für eine wirksame ambulante Suchthilfe verabschiedet.

    Da nicht alle regionalen Besonderheiten berücksichtigt werden können, sind die Forderungen verallgemeinert und können bei Bedarf im lokalen Kontext präzisiert werden. Alle können jedoch – guten Willen bei Politik und Verwaltung vorausgesetzt – umgesetzt werden.

    Die Broschüre steht zum Download bereit unter https://fdr-online.info/fdr-wissen/

    Quelle: Website des fdr, 26.10.2017

  • Adipositas bei Kindern und Jugendlichen

    Hält der derzeitige Trend an, so werden ab 2022 weltweit mehr fettleibige als untergewichtige Kinder und Jugendliche leben. Das ermittelte ein internationales Konsortium unter der Leitung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des Imperial College London. In Deutschland waren Wissenschaftler aus dem Deutschen Krebsforschungszentrum an der Studie beteiligt.

    Die in der Zeitschrift Lancet veröffentlichte Arbeit ist die größte jemals publizierte epidemiologische Studie: Mehr als 1.000 Wissenschaftler erfassten den Body Mass Index* und dessen Veränderungen von über 130 Millionen Menschen weltweit zwischen 1975 und 2016. Innerhalb dieses Zeitraums stieg die Rate fettleibiger Kinder von unter einem Prozent (ca. elf Millionen Kinder) auf annähernd sechs Prozent bei Mädchen (50 Millionen) sowie fast acht Prozent bei Jungen (74 Millionen). Die Anzahl fettleibiger 5- bis 19-Jähriger verzehnfachte sich von 1975 bis 2016 (von 11 auf 124 Millionen). Weitere 213 Millionen Kinder sind übergewichtig, erreichen jedoch noch nicht die Grenze zur Fettleibigkeit.

    „In Ländern mit höheren Durchschnittseinkommen stagniert dieser Trend seit einigen Jahren – bei einer inakzeptabel hohen Rate an stark übergewichtigen Kindern“, sagt Hermann Brenner vom Deutschen Krebsforschungszentrum, der an der aktuellen Studie beteiligt ist. „In den Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen steigt die Rate dagegen leider immer noch an.“

    Die Autoren rechnen hoch, dass bei anhaltendem Anstieg des Übergewichts 2022 die Rate adipöser Kinder und Jugendlicher die der Altersgenossen mit moderatem und schwerem Untergewicht überschreiten wird. Nichtsdestotrotz bleibt die extrem hohe Anzahl untergewichtiger Kinder und Jugendlicher (2016: 75 Millionen Mädchen; 117 Millionen Jungen weltweit) ein erhebliches Gesundheitsproblem – vor allem in den ärmsten Teilen der Welt.

    Kinder und Heranwachsende haben sich in vielen Teilen der Welt sehr schnell von der untergewichtigsten zur übergewichtigsten Bevölkerungsgruppe entwickelt – so etwa in Ostasien oder Lateinamerika. Die Autoren gehen davon aus, dass dies vor allem mit dem Konsum von Lebensmitteln mit hoher Energiedichte zusammenhängt, etwa stark verarbeitete Kohlenhydrate. Der DKFZ-Epidemiologe Rudolf Kaaks, ebenfalls Ko-Autor der Studie, sagt: „Ein extrem hoher BMI in der Kindheit führt vielfach zu lebenslangen gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Daher ist die hohe Rate an Adipositas und Übergewicht heute eine globale Gesundheitsbedrohung, die sich in den kommenden Jahren noch weiter zu verschlimmern droht, wenn wir nicht drastisch dagegen steuern.“

    Regionale Unterschiede:

    • Die Steigerung der Adipositas-Rate in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen, insbesondere in Asien, hat sich seit 1975 beschleunigt. In Ländern mit hohem Einkommen sinkt sie dagegen oder hat ein Plateau erreicht.
    • Die größte Steigerung innerhalb des gesamten Untersuchungszeitraums ermittelten die Wissenschaftler für Ostasien sowie für die englischsprachigen Länder mit hohem Einkommen (USA, Kanada, Australien; Neuseeland, Irland, UK) sowie für den mittleren Osten und Nordafrika.
    • 2016 verzeichneten Polynesien und Mikronesien weltweit die höchste Rate an adipösen Kindern und Jugendlichen (25,4 Prozent der Mädchen und 22,4 Prozent der Jungen).
    • In Europa sind Mädchen in Malta (11,3 Prozent) und Jungen in Griechenland (16,7 Prozent) am stärksten von Adipositas betroffen, Jungen und Mädchen in Moldawien dagegen am wenigsten (3,2 Prozent und fünf Prozent).
    • Während des gesamten Untersuchungszeitraums wurde in Indien die höchste Rate an untergewichtigen Kindern und Jugendlichen dokumentiert (1975: 24,4 Prozent der Mädchen und 39,3 Prozent der Jungen; 2016: 22,7 Prozent und 30,7 Prozent). 2016 waren 97 Millionen indische Kinder und Jugendliche untergewichtig.

    Um diese Entwicklungen abzufangen, hat die WHO den Aktionsplan „Ending Childhood Obesity (ECHO) Implementation Plan“ veröffentlicht: Die Länder sollen sich besonders bemühen, den Konsum von billigen, hochverarbeiteten, energiedichten Nahrungsmitteln einzuschränken. Parallel dazu sollen Kinder zu mehr körperlicher Aktivität in ihrer Freizeit angehalten werden.

    * Body-Mass-Index, BMI: Körpergewicht [kg] dividiert durch Körpergröße [m] im Quadrat. Bei Erwachsenen sprechen Wissenschaftler ab einem BMI von 30 von Adipositas (Fettleibigkeit), bei Kindern ist dieser Grenzwert altersabhängig.

    Publikation:
    James Bentham et al.: “Worldwide trends in body-mass index, underweight, overweight, and obesity from 1975 to 2016: a pooled analysis of 2416 population-based measurement studies in 128·9 million children, adolescents, and adults” by NCD Risk Factor Collaboration (NCD-RisC). The Lancet 2017, DOI: http://dx.doi.org/10.1016/S0140-6736(17)32129-3

    Pressestelle des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), 11.10.2017

  • Die Rache der Placebos

    transcript Verlag, Bielefeld 2017, 263 Seiten, € 29,99, ISBN 978-3-8376-3992-6, auch als E-Book erhältlich

    Das Placebo – konzipiert, um die Wirksamkeit des Arzneimittels objektiv zu überprüfen –, entfaltet selbst unterschiedliche Eigenschaften und erzeugt vielfältige Effekte. Anhand von Vertreter/innen der Philosophie wie Fleck, Rheinberger, Foucault, Baudrillard, Latour und Haraway zeigt Ulrike Neumaier, dass sich – stellt man das Placebo in den Mittelpunkt einer Untersuchung – nicht nur in der Medizin Begriffe wie „Krankheit“ und „Körper“ verändern. Vielmehr wird sichtbar, wie Wissenschaft, Technik und Gesellschaft sich vernetzen, wie sich dadurch der Begriff von „Wissenschaft“ wandelt und warum vom Zeitalter der Technowissenschaften gesprochen werden kann.

  • Bindung und emotionale Gewalt

    Klett-Cotta, Stuttgart 2017, 309 Seiten, € 40,00, ISBN 978-3-608-96154-6, auch als E-Book erhältlich

    Die Beiträge aus Forschung, Klinik und Prävention zeigen einerseits die Ressourcen für Wachstum durch sichere Bindungserfahrungen auf, andererseits verdeutlichen sie die traumatischen Auswirkungen von emotionaler Gewalt in unterschiedlichen Situationen und Lebensaltern und diskutieren Möglichkeiten der Prävention und Hilfe.

    Sichere Bindungserfahrungen sind geprägt von Feinfühligkeit, Respekt, Anerkennung, Unterstützung und Wertschätzung sowie von Hilfe in Notsituationen. Wenn Menschen eine solche sichere Bindung erfahren, wachsen sie in ihrer Persönlichkeit zu gesunden Menschen heran, die den Anforderungen des Lebens normalerweise gut gewachsen sind.

    Dagegen ist es immer noch wenig bekannt, wie stark Erscheinungsformen von emotionaler Gewalt – etwa in Eltern-Kind-Beziehungen, Familien, Partnerschaften und am Arbeitsplatz – die körperliche, psychische und soziale Entwicklung eines Menschen, besonders im Kindesalter, zu traumatischen Folgen führen können. Ablehnung bis zur emotionalen Vernachlässigung, Zurückweisung, Kränkung, beharrliches Schweigen, Demütigungen und Hass können solche emotionalen Gewalterfahrungen sein, die von Menschen ähnlich intensiv und schmerzlich erlebt werden wie körperliche und sexuelle Gewalt.

  • Bindung und Migration

    Klett-Cotta, Stuttgart 2016, 2. Auflage, 309 Seiten, € 39,95, ISBN 978-3-608-96098-3, auch als E-Book erhältlich

    Menschen mit Migrationshintergrund gleich welchen Alters haben ein erhöhtes Risiko für Abhängigkeitserkrankungen, posttraumatische Belastungsstörungen, psychosomatische Leiden und andere psychische Störungen. Die Autorinnen und Autoren des Bandes erklären,

    • welche Rolle die Bindungspersonen spielen,
    • welche Faktoren schützen und
    • wie neue Beziehungen aufgebaut werden.

    Viele Kinder aus Migrantenfamilien wachsen in einem kulturellen und emotionalen Spannungsfeld auf. In den neuen Gesellschaften und Kulturen erleben sie Stress, Anpassungsdruck, Entbehrungen und manchmal aggressive Anfeindungen. Dadurch wird ihr Bindungssystem erschüttert, und das Gefühl von Urvertrauen in Schutz durch liebevolle Menschen kann verloren gehen. Diese Erfahrungen können potentiell traumatisch verarbeitet werden und zu tiefgreifenden Bindungsunsicherheiten führen mit einem Gefühl von extremer Angst. International renommierte Fachleute und Forscher berichten aus ihren Erfahrungen und Studien und zeigen Wege für neue Entwicklungen auf. Die Besonderheiten der Arbeit mit Migrant/innen werden erklärt und Ansätze für die Behandlung von Kindern und Erwachsenen dargestellt.