Autor: Simone Schwarzer

  • Problematischer Substanzkonsum und Vaterschaft

    Männer, die illegale Drogen konsumieren, werden als Elternteil und Erziehungsverantwortliche sowohl in Forschung und Fachliteratur als auch in der Praxis weitgehend ignoriert. Um diese Lücke zu schließen, haben die Landeskoordinierungsstelle Frauen und Sucht NRW, BELLA DONNA, und das Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS) eine Studie zum Thema „Problematischer Substanzkonsum und Vaterschaft“ durchgeführt und nun den Abschlussbericht vorgelegt. Die Studie steht auf der Homepage von BELLA DONNA und auf der Homepage des BMG zum Download bereit. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse wird im Folgenden aus dem Abschlussbericht zitiert:

    Das vorliegende Projekt zeigt eindrücklich die Ausblendung des Themas Vaterschaft in Drogenforschung und Hilfepraxis auf: Erziehung und Elternschaft werden weitgehend als Themen definiert, die ausschließlich für Frauen Relevanz zu haben scheinen – dies schlägt sich entsprechend deutlich in dem Fokus von Forschungsarbeiten und Hilfemaßnahmen nieder. Damit mangelt es nicht nur an Erkenntnissen, wie sich problematische Drogenkonsummuster auf Vaterschaft, Vaterrolle und Erziehungsverhalten sowie die Entwicklung von Kindern bzw. Töchtern und Söhnen auswirken, sondern es fehlen auch Erfahrungen dazu, welche Barrieren für betroffene Männer hinsichtlich der Übernahme der Vaterrolle bestehen und wie sie darin gestärkt werden können, welche Kompetenzen und Defizite sie mitbringen, wie sie in Erziehung einbezogen werden können und welche Rolle die Thematisierung von Vaterschaft im Hilfe- und Behandlungsprozess spielen kann. Damit fehlt auch die Grundlage für die Konzipierung von Hilfsangeboten für drogenkonsumierende Väter, die auf Verbesserungen von Erziehungsverhalten und -kompetenzen sowie damit zusammenhängende Aspekte abzielen. Darüber hinaus ist zu vermuten, dass gerade dieses Ausblenden der Vaterschaft von Männern mit einer Drogenproblematik und der entsprechende Mangel an evidenzbasierten Erkenntnissen zu einer weiteren Verstärkung des negativen Stereotyps von Drogenkonsumenten/-abhängigen als abwesende, verantwortungslose Väter und als Gefahr für das Wohl ihrer Kinder führt und damit eine Sichtweise begünstigt wird, die – im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung – den Ausschluss von Vätern aus dem Leben ihrer Kinder und aus familienbezogenen Hilfeprozessen festigt.

    Mit der vorliegenden Studie wurden diese Defizite aufgegriffen. Erstmals für Deutschland wurde die Perspektive von Mitarbeitenden des Hilfesystems, vor allem aber die Subjektperspektive von betroffenen Vätern mittels eines qualitativen Forschungsdesigns erfasst. Die Narrative der interviewten Väter eröffnen dabei eine differenzierte Sicht auf das Forschungsthema. Durchaus im Einklang mit internationalen Forschungsbefunden zeigen die Interviews einerseits auf, dass drogenabhängige Väter differenzierte Auffassungen darüber haben, was eine gute Vaterschaft ausmacht. Ihre Bilder eines guten Vaters speisen sich jedoch nicht selten aus der Abgrenzung gegenüber dem eigenen Vater und eigenen Kindheitserfahrungen – bei vielen lässt sich das Fehlen einer positiven Vaterfigur feststellen. Andererseits besteht oftmals eine deutliche Diskrepanz zwischen den Intentionen der Befragten, ein guter Vater zu sein, und ihrer Fähigkeit, den eigenen Anforderungen und Vaterbildern gerecht zu werden. Der Drogenkonsum erweist sich dabei für die Mehrheit als die größte Hürde, ihre eigenen Vorstellungen von Vaterschaft zu erfüllen. So decken sich die Berichte der Befragten darüber, welche Auswirkungen ihr Substanzkonsum auf das Erfüllen der Vaterrolle hat bzw. hatte, oftmals mit ihren Beschreibungen eines schlechten Vaters.

    Während insbesondere negative Auswirkungen des Drogenkonsums auf die Ausübung der Vaterrolle und das väterliche Engagement beschrieben werden, liefern die erhobenen Daten durchaus Hinweise dazu, dass die Befragten oftmals eine hohe Motivation aufweisen, ihre Vaterrolle besser auszufüllen. In diesem Sinne bietet Vaterschaft durchaus die Chance, als „Wendepunkt“ im Leben von drogenabhängigen Männern zu fungieren. Dies nicht nur hinsichtlich einer Reduzierung/Beendigung des Substanzkonsums, sondern auch hinsichtlich einer weiterführenden psychosozialen Stabilisierung.

    Angesichts dieser Befunde lässt sich schlussfolgern, dass drogenabhängige Männer, die Väter sind, von Angeboten und Programmen im Hilfesystem profitieren könnten, die nicht nur ihre Drogenproblematik, sondern vor allem auch ihr Vatersein und die damit zusammenhängenden Belastungen, Defizite aber auch Kompetenzen adressieren. Damit könnte auch dem in den Interviews häufig formulierten Wunsch an die Drogenhilfe nach einer Thematisierung von Vaterschaft gerecht werden. Mit der Unterstützung ihrer Bemühungen als Väter könnte eine verantwortungsvollere Vaterschaft gefördert werden, die letztlich sowohl für die betroffenen Männer als auch für ihre Kinder gewinnbringend sein könnte. Um die Entwicklung von Angeboten, deren Implementierung ebenso wie die Evaluation ihrer Wirksamkeit voranzubringen, bedarf es der klaren Anerkennung der Vaterrolle von drogenabhängigen Männern und eines entsprechenden Transfers in zukünftige Forschungsbemühungen und Behandlungsansätze.

    Quelle: Christiane Bernard, Martina Tödte, Sven Buth, Hermann Schlömer, Jens Kalke: Problematischer Substanzkonsum und Vaterschaft. Abschlussbericht, Essen und Hamburg 2016, S. 5 f.

  • Suchtmedizinischer Liaisondienst in somatischen Krankenhausabteilungen

    Suchtmedizinischer Liaisondienst in somatischen Krankenhausabteilungen

    Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai

    Nur 16 Prozent der Menschen mit einem riskanten oder abhängigen Konsum von Alkohol holen sich Hilfe im Versorgungssystem. Dabei gehen fast alle von ihnen mindestens einmal im Jahr zum Arzt oder ins Krankenhaus. Wie können diese Menschen erreicht werden, damit sie besser von Hilfeangeboten für die Suchtproblematik profitieren können? An der Hartmut-Spittler-Fachklinik am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum in Berlin-Schöneberg wurde untersucht, welche Auswirkungen die Einführung eines Suchtkonsils zeigt. Bei einem Suchtkonsil handelt es sich um eine spezifische Suchtberatung durch einen erfahrenen Suchttherapeuten, die von der Krankenhausstation (Ärzte, Pflegepersonal) gezielt angefordert wird. Nach zweieinhalb Jahren wurden die Ergebnisse dieser Beratung (z. B. Vermittlung in die Entzugsbehandlung) ausgewertet.

    Handlungsbedarf bei Früherkennung und Frühintervention

    Im Jahr 2015 formulierte die Bundesrepublik Deutschland „Alkoholkonsum reduzieren“ als Nationales Gesundheitsziel (http://gesundheitsziele.de/). Darin wird die Bedeutung von Früherkennung und Frühintervention betont:

    „Trotz hoher gesellschaftlicher Folgekosten des problematischen Alkoholkonsums und alkoholbezogener Erkrankungen ist in Deutschland eine Unterversorgung insbesondere in den Bereichen der Früherkennung und Frühintervention bekannt und belegt. Andererseits wurde in Studien die Wirksamkeit von Frühinterventionen insbesondere in Hausarztpraxen (Kaner et al., 2007) und unter bestimmten Voraussetzungen auch im Allgemeinkrankenhaus nachgewiesen (McQueen, Howe, Allan, Mains, & Hardy, 2011). Durch Frühinterventionen beispielweise über die ärztliche Praxis oder im Krankenhaus kann eine breite Gruppe von Personen mit problematischem Alkoholkonsum erreicht werden. So weisen 80 Prozent der Alkoholabhängigen jährlich mindestens einen Kontakt zur hausärztlichen oder einer vergleichbaren Praxis auf; 24,5 Prozent mindestens einen Krankenhausaufenthalt und insgesamt 92,7 Prozent irgendeinen Kontakt zu einem niedergelassenen Arzt bzw. einer niedergelassenen Ärztin oder Krankenhaus (Rumpf, Hapke, Bischof, & John, 2000). Von riskant Alkohol Konsumierenden finden sich 75 Prozent beim Hausarzt/Hausärztin ein, 70 Prozent hatten beim Zahnarzt/Zahnärztin, 58 Prozent beim Facharzt/Fachärztin und 15 Prozent im Krankenhaus Berührungspunkte zum Gesundheitswesen; lediglich sieben Prozent der Alkohol-Risikokonsumenten nimmt in zwölf Monaten keinerlei medizinische Angebote in Anspruch (Bischof, John, Meyer, Hapke, & Rumpf, 2003). Dies unterstreicht die Bedeutung der primärärztlichen Versorgung im Bereich der Früherkennung und Frühintervention. Zudem sollte die Qualifikation und Kompetenz bezüglich der Früherkennung auch durch die verschiedenen Berufsgruppen im Sozial- und Bildungswesen gewährleistet sein.“ (Nationales Gesundheitsziel „Alkoholkonsum reduzieren“, 2015, S. 11, http://gesundheitsziele.de/)

    Auch in der gültigen S3-Leitlinie „Alkoholbezogene Störungen: Screening, Diagnose und Behandlung“ finden sich entsprechende Empfehlungen: „Generell ist Screening auf riskanten Alkoholkonsum oder schädlichen Konsum von Alkohol und Alkoholabhängigkeit in Settings sinnvoll, in denen proaktiv auf Patienten zugegangen wird. Das betrifft häufig Frühinterventionsmaßnahmen in Settings der medizinischen Grundversorgung.“ (Langfassung vom 28.02.2016, S. 15)

    Die DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V.) geht in „Psyche im Fokus“ (1/2016, S. 2–3) ebenfalls auf die Früherkennung und Frühintervention bei Suchterkrankungen ein und gibt ein richtungsweisendes Statement ab: „Doch auch das Gesundheitswesen ist noch nicht ausreichend für Abhängigkeitserkrankungen sensibilisiert. Vor allem in der primärmedizinischen Versorgung ist der Grad an Awareness verbesserungsfähig, gleichzeitig ist auch zu wenig Zeit für Diagnostik und Behandlungsplan vorgesehen.“

    Pilotprojekt: Einführung eines Suchtkonsils

    Im deutschen Krankenhausalltag findet ein systematisches Alkohol-Screening auf somatischen Stationen in vielen Fällen nicht statt. Der psychiatrische Konsiliardienst (Begleitdiagnostik durch einen angeforderten Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie) kann aufgrund der begrenzten Ressourcen nur einen geringen Teil der zu erwartenden Fälle erfassen. Wie viele Patienten durch die Einrichtung eines zusätzlichen Suchtkonsils erreicht werden können, wurde an zwei Standorten der Vivantes-Kliniken in Berlin Tempelhof-Schöneberg im Rahmen eines Pilotprojektes untersucht.

    Im Bezirk leben etwa 330.000 Menschen, die Prävalenz für Alkoholabhängigkeit liegt bei rund 7.840 und für den schädlichen Konsum von Alkohol bei rund 12.420. Nach der Studie von Rumpf, Hapke, Bischof & John (2000) sind bis zu 5.000 Fälle an Folgeerkrankungen von Alkoholkonsum pro Jahr an den beiden Vivantes-Standorten auf den verschiedenen Stationen zu erwarten. Dabei handelt es sich nur um eine grobe Schätzung, da die Zahlen eines dritten Krankenhauses im Bezirk von einem anderen Träger nicht berücksichtigt werden konnten.

    Zusätzlich zum psychiatrischen Konsiliardienst der Abteilungen für Allgemeinpsychiatrie in den beiden Krankenhäusern wurde von 11/2013 an ein Suchtkonsil der Hartmut-Spittler-Fachklinik für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit angeboten, das entweder vom Oberarzt der Klinik oder einem approbierten Diplom-Psychologen durchgeführt wurde. Das Suchtkonsil wurde in der Klinikkonferenz beschlossen und auf den somatischen Stationen im Rahmen von Besprechungen oder Abteilungsfortbildungen bekannt gemacht. Die Reaktionen auf den Dienst waren in dieser Phase sehr vielfältig. Sie reichten von Zustimmung („höchste Zeit bei den vielen Fällen, die wir sehen“) bis hin zu Ablehnung („spielt bei uns keine Rolle“). Das Konsil musste von den Stationen standardisiert über die elektronische Patientendokumentation ausgelöst werden wie jede andere fachärztliche Untersuchung auch. Die durchgeführten Gespräche waren sehr differenziert. Es gab erste Informationsgespräche, bei denen das Motivational Interviewing nach Miller und Rollnick zum Einsatz gebracht wurde, und es gab Gespräche zur gezielten Vorbereitung weiterführender suchtmedizinischer Maßnahmen (Kontakt zur Beratungsstelle, Verlegung zur Entzugsbehandlung und Antragstellung für eine Entwöhnungstherapie).

    Von 11/2013 bis 5/2016 wurden insgesamt 185 Konsile angefordert. Von diesen 185 Fällen erschienen in der Folge 24 Fälle (13 Prozent) zu einem Vorgespräch in der Entwöhnungsklinik, in den meisten Fällen nach einer vorangegangenen Entzugsbehandlung in der psychiatrischen Nachbarabteilung. In insgesamt 17 Fällen (neun Prozent) konnte die Aufnahme zur Entwöhnungsbehandlung realisiert werden. Nicht systematisch erfasst wurde die Akzeptanz für die Gespräche, gerade auch bei den angesprochenen Patienten, die zunächst keine Hilfe annahmen. Ein Interview mit den durchführenden Ärzten und Psychologen erbrachte die Einschätzung einer recht hohen Akzeptanz für die Gespräche. Dies würde die Ergebnisse der Studie von Freyer et al. (2006) in Greifswald bestätigen. Dort reagierten rund 66 Prozent der angesprochenen Patienten mit einer Alkoholproblematik auf somatischen Stationen positiv auf die Intervention mit Beratung.

    Das Stigma der Sucht

    Neben der Ausstattung und den Ressourcen der Klinik ist auch das Phänomen „Stigma der Sucht“ zum großen Teil dafür verantwortlich, dass so wenig Patienten mit alkoholbezogenen Störungen in den somatischen Abteilungen eines Krankenhauses erreicht werden. Studien wie die von Schomerus, Matschinger & Angermeyer (2006 und 2013 ) belegen eine Ablehnung von Abhängigkeitserkrankungen in unserer Gesellschaft und eine nach wie vor vorhandene Einschätzung, dass Sucht selbst verschuldet ist (siehe Abbildungen 1 und 2).

    Abb. 1: Anhand von Fallbeispielen, ohne Kenntnis der Diagnose, beurteilten Studienteilnehmer, ob die jeweiligen Betroffenen an einer psychischen Krankheit im medizinischen Sinne leiden. Das Krankheitsbild Alkoholismus wurde deutlich seltener als Krankheit angesehen als z. B. Depression oder Schizophrenie. Quelle: Schomerus, G., Matschinger, H., Angermeyer, M.C., 2013. Continuum beliefs and stigmatizing attitudes towards persons with schizophrenia, depression and alcohol dependence. Psychiatry Res 209, 665-669.
    Abb. 2: Per Telefoninterview wurde gefragt, bei welchen Krankheiten bei der Versorgung von Patienten am ehesten Geld eingespart werden könnte. Zur Auswahl gestellt wurden neun Krankheiten, drei Antworten waren möglich. Quelle: Schomerus, G., Matschinger, H., Angermeyer, M.C., 2006. Preferences of the public regarding cutbacks in expenditure for patient care: Are there indications of discrimination against those with mental disorders? Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 41, 369-377.

    Dies führt dazu, dass Betroffene lange Zeit versuchen, die Erkrankung zu verbergen aus Furcht vor der negativen Bewertung des Umfeldes. Wird eine Suchterkrankung bekannt, fühlt sich aber auch häufig das Umfeld unwohl und schaut reflexhaft, mit einer Art von falschem Taktgefühl, weg. Auch auf somatischen Stationen oder auf Rettungsstellen ist dieses Phänomen zu beobachten: Ein Patient wird mit einer akuten Pankreatitis (Bauchspeicheldrüsenentzündung) in das Krankenhaus gebracht. Recht rasch wird anhand des klinischen Befundes und der Laborkonstellation deutlich, dass die Krankheit durch übermäßigen Konsum von Alkohol entstanden ist (alkoholtoxische Genese). Bei Konfrontation mit den Befunden reagiert der Patient bagatellisierend und beschämt, lehnt auch per Mimik und Gestik Gespräche darüber ab. An dieser Stelle wirken Zeitnot und das (falsche) Taktgefühl des Arztes unheilvoll zusammen. Der Arzt spürt die Not seines Patienten und den Wunsch, nicht weiter beschämt oder auch ‚belästigt‘ zu werden, und respektiert ihn. Selbst wenn ihm bewusst wird, dass dieser Zustand überwunden werden sollte, spielt der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle. Dem Arzt ist klar, dass ein Gespräch über den Alkoholkonsum nicht ‚zwischen Tür und Angel‘ geführt werden sollte, also zeitlichen und empathischen Aufwand bedeutet. Häufig sind die personellen Ressourcen so knapp, dass diese Gespräche dann gar nicht stattfinden. Die Hoffnung des Patienten, dass der Konsum „noch nicht so schlimm ist“, wird damit indirekt bestätigt.

    Das Stigma der Sucht wirkt aber auch auf eine andere Weise. Die Extremformen des Konsums von Substanzen, die Abhängigkeit erzeugen, werden gesellschaftlich recht breit abgelehnt. Konsum, der ohne die extremen Anzeichen von Missbrauch und Abhängigkeit auftritt, wird dagegen sehr lange toleriert, obwohl er bereits mit Schäden behaftet sein kann. Es ist eine heikle Frage, ab wann und wie Betroffene auf ihren Konsum angesprochen werden sollten.

    Für das medizinische Personal kann der risikoreiche Alkoholkonsum eines Patienten auch noch ein ganz anderes Problem aufwerfen, nämlich die Frage nach dem eigenen Konsum. Dieser wird möglicherweise konflikthaft erlebt und wirft Unsicherheiten auf. Diese Gefühlslage kann sich mit der Situation des Patienten zu einer unausgesprochenen Übereinkunft darüber vermengen, nicht über das Thema zu sprechen. Entsprechende Zusammenhänge thematisiert die Psychotherapeutin Agnes Ebi in ihrem Buch „Der ungeliebte Suchtpatient“ (1998). Neben vielen anderen Aspekten der Schwierigkeiten in der therapeutischen Arbeit mit Abhängigkeitserkrankten beschreibt sie dabei auch die unbewusste Furcht vor der Nähe zum Süchtigen.

    Sucht als Krankheit in der öffentlichen Wahrnehmung verankern

    Welche Konsequenzen lassen sich aus all dem ableiten? Ein gesellschaftliches Umdenken hinsichtlich der Stigmatisierung der Sucht wird einen langen Zeitraum erfordern. Erwähnt sei an dieser Stelle der bekannte historische Umstand, dass die Definition der Alkoholabhängigkeit durch die WHO von 1952 in der Bundesrepublik Deutschland erst 16 Jahre später, 1968, zu einer sozialrechtlichen Anerkennung des Alkoholismus als Krankheit führte. Vor 1945 wurde ein Teil der Alkoholabhängigen umgebracht oder der Zwangssterilisierung zugeführt. Dies scheint im transgenerativen Prozess noch nicht vollständig verarbeitet zu sein, und ein Teil der Menschen sieht eine Abhängigkeitserkrankung immer noch als einen selbstverschuldeten Zustand an.

    Die wiederholte Auseinandersetzung mit dem Krankheitsbegriff in den öffentlichen Räumen unserer Gesellschaft wird notwendig sein, um die Akzeptanz für die Erkrankung auf einen Stand zu bringen, der z. B. mit dem beim Diabetes mellitus vergleichbar ist. Schulen, Betriebe, Vereine, Institutionen, aber auch die Medien, sind Kommunikationsorte, an denen entsprechende Prozesse in Gang gebracht werden müssen. Anfangen können diese Prozesse jedoch im Krankenhaus, das mit gutem Beispiel vorangeht und systematisch daran arbeitet, den Umgang mit Abhängigkeitserkrankungen ‚salonfähig‘ zu machen. Ein routineartig durchgeführtes Suchtkonsil stellt das wichtigste Signal in diesem Zusammenhang dar. Die Widerstände gegen die Einführung dieses Konsils sind zunächst groß, weil ein direkter betriebswirtschaftlicher Nutzen für das Krankenhaus zunächst nicht berechnet werden kann. Das DRG-System liefert je nach Lesart (Controlling-Haltung) Anreize, einen Abhängigkeitserkrankten mit mehreren Folgeerkrankungen als eine Art ‚Cash-Cow‘ zu betrachten, die erlösorientiert ausgeschlachtet wird. Eine ganzheitliche Betrachtung des Menschen und eine Motivierung zur Entzugsbehandlung stellen möglicherweise ein unternehmerisches Risiko dar. Die Endrechnung wird der Gesellschaft an anderer Stelle präsentiert und belastet Kommunen und Rentenversicherungen.

    Beim Deutschen Suchtkongress im September 2016 in Berlin referierte PD Dr. Georg Schomerus über das Stigma der Sucht und gab einen Überblick über den Forschungsstand. Dabei scheute er nicht die Frage, ob ein Stigma positive Folgen habe, zum Beispiel durch eine Form der Abschreckung. Die Ergebnisse sind bislang eindeutig: Das Stigma führt vielmehr zu einer Aufrechterhaltung von Heimlichkeit und Wegschauen. Im September 2016 fand eine Klausurtagung mit verschiedenen Experten in Greifswald statt, die sich mit dem Thema „Stigma der Sucht“ beschäftigten. Auftraggeber war das Bundesministerium für Gesundheit. Als Ergebnis dieses Expertentreffens liegt nun das Memorandum „Das Stigma von Suchterkrankungen verstehen und überwinden“ vor, das den Versuch unternimmt, das Phänomen der Stigmatisierung von Menschen mit Suchtkrankheiten zu erklären und Wege für einen stigmafreien Umgang mit Suchtkrankheiten aufzuzeigen. Für den klinischen Bereich ist zu hoffen, dass das Suchtkonsil zum Standard in deutschen Krankenhäusern wird.

    Literatur beim Verfasser

    Kontakt:

    Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai
    Hartmut-Spittler-Fachklinik am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum
    Rubensstraße 125
    12157 Berlin
    Tel. 030/13 020-86 00
    Darius.ChahmoradiTabatabai@vivantes.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai, MBA, ist Chefarzt der Hartmut-Spittler-Fachklinik für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum in Berlin-Schöneberg.

  • 4. Alternativer Drogen- und Suchtbericht 2017

    Pabst Science Publishers, Lengerich 2017, 140 Seiten, € 15,00, ISBN 978-3-95853-318-9, weitere Informationen und kostenloser Download unter http://alternativer-drogenbericht.de/

    Die vierte Ausgabe des Alternativen Drogen- und Suchtberichts diskutiert auch in diesem Jahr den Reformstau in vielen Bereichen von Drogenhilfe, -prävention und -recht, sowohl im Hinblick auf legale als auch auf illegale Drogen. Die deutsche Drogenpolitik bleibt auch im laufenden Jahr eine ausgesprochen widersprüchliche Angelegenheit: Sie wird parteipolitisch eng (über die Drogenbeauftragte der Bundesregierung) geführt, sie ist selektiv in ihrer Schwerpunktwahl, evidenzbasierte Vorschläge von (inter-)nationalen Expert/innen werden nur zu einem geringen Teil umgesetzt (z. B. effektive Alkohol- und Tabakprävention), und sie diskutiert die Folgen der Repression gegenüber Drogenkonsument/innen nicht und tut so, als würde Deutschland ohne sie nicht mehr bestehen können. Schwerpunktthemen der 4. Ausgabe des Alternativen Drogen- und Suchtberichts sind:

    • Menschenrechte – international und national
    • Strafverfolgung und Haft – Ersatzfreiheitstrafe, Gesundheitsversorgung
    • Repression … und kein Ende?
    • Tabak- und Alkoholpolitik – der Wirtschaft überlassen?
    • Realitätsnahe Prävention – Scheitern an Verboten?
  • Europäischer Drogenbericht 2017

    Die steigende Zahl der Todesfälle durch Überdosierung, die anhaltende Verfügbarkeit neuer psychoaktiver Substanzen und die zunehmenden Gesundheitsgefahren durch hochpotente synthetische Opioide zählen zu den Themen des „Europäischen Drogenberichts 2017. Trends und Entwicklungen“, den die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) in am 6. Juni in Brüssel vorgelegt hat. In ihrem jährlichen Überblick befasst sich die Agentur zudem mit den Anzeichen für eine steigende Verfügbarkeit von Kokain, den Entwicklungen im Bereich der Cannabispolitik und dem Substanzkonsum unter Schülern. Da die Drogenproblematik in Europa zunehmend von internationalen Entwicklungen beeinflusst wird, wurde die Analyse in einen globalen Kontext eingebettet. Die im Bericht vorgelegten Daten beziehen sich auf das Jahr 2015 bzw. das jeweils letzte Jahr, für das Daten verfügbar sind.

    Der Europäische Drogenbericht wird erstmals durch 30 Länderdrogenberichte mit Übersichten über die nationale Drogenproblematik (EU-28, Türkei und Norwegen) ergänzt. Diese von der EMCDDA in Zusammenarbeit mit den nationalen Reitox-Knotenpunkten erstellten Berichte beinhalten zahlreiche Grafiken und behandeln folgende Themen: Drogenkonsum und Probleme im Bereich der öffentlichen Gesundheit, Drogenpolitik und Gegenmaßnahmen sowie Drogenangebot. Jeder dieser Berichte enthält insbesondere eine Übersichtstabelle, in der die nationale Drogenproblematik in Zahlen zusammenfassend dargestellt wird und ein „EU-Dashboard“, das die Länderdaten in einen europäischen Kontext einbettet.

    Zahl der Todesfälle durch Überdosierung steigt das dritte Jahr in Folge

    Im Europäischen Drogenbericht 2017 (EDR) wird auf den besorgniserregenden Anstieg der Zahl der Todesfälle durch Überdosierung in Europa hingewiesen, der sich mittlerweile das dritte Jahr in Folge fortsetzt. In Europa (28 EU-Mitgliedstaaten, Türkei und Norwegen kam es im Jahr 2015 zu insgesamt 8.441 Todesfällen durch Überdosierung, die zumeist mit Heroin und anderen Opioiden in Verbindung stehen. Dies entspricht einem Anstieg um sechs Prozent gegenüber der im Jahr 2014 in diesen 30 Ländern ermittelten Zahl von schätzungsweise 7.950 Todesfällen. Die zunehmende Entwicklung betraf nahezu alle Altersgruppen. Ein Anstieg der Zahl der Todesfälle durch Überdosierung wurde im Jahr 2015 aus Deutschland, Litauen, den Niederlanden, Schweden, dem Vereinigten Königreich und der Türkei gemeldet. Zu den am stärksten gefährdeten Personengruppen zählen die 1,3 Millionen problematischen Opioidkonsumenten in Europa.

    In den toxikologischen Berichten werden regelmäßig auch Opioide genannt, die in der Substitutionsbehandlung eingesetzt werden – in erster Linie Methadon und Buprenorphin. Die jüngsten Daten belegen, dass in Dänemark, Irland, Frankreich und Kroatien mehr Todesfälle im Zusammenhang mit Methadon erfasst wurden als mit Heroin. Dies macht deutlich, dass in der klinischen Praxis Verfahren benötigt werden, die sicherstellen, dass Substitutions-Medikamente nicht abgezweigt werden.

    Zu den in Europa ergriffenen Maßnahmen zur Prävention von Überdosierungen zählen unter anderem überwachte Drogenkonsumräume und die Ausgabe von Naloxon (einem Arzneimittel, das im Falle einer Überdosierung die Wirkung des Opioids umkehrt) an Opioidkonsumenten sowie deren Freunde und Familienangehörige. Überwachte Drogenkonsumräume gibt es mittlerweile in sechs EU-Ländern (DK, DE, ES, FR, LU, NL) und Norwegen (insgesamt 78 Einrichtungen in diesen sieben Ländern). Programme zur Ausgabe von Naloxon werden gegenwärtig in neun EU-Ländern (DK, DE, EE, IE, ES, FR, IT, LT, UK) und Norwegen durchgeführt.

    Neue Drogen gelangen langsamer auf den Markt, die Verfügbarkeit bleibt jedoch insgesamt hoch

    Neue psychoaktive Substanzen (NPS/‚neue Drogen‘) stellen in Europa nach wie vor eine beachtliche Herausforderung für die öffentliche Gesundheit dar. Sie werden vom internationalen Drogenkontrollsystem nicht erfasst und schließen ein breites Spektrum synthetischer Substanzen ein, darunter Cannabinoide, Cathinone, Opioide und Benzodiazepine.

    Im Jahr 2016 wurden 66 neue psychoaktive Substanzen erstmals über das EU-Frühwarnsystem gemeldet – das entspricht einer Rate von mehr als einer Substanz pro Woche. Zwar weist diese Zahl darauf hin, dass sich das Tempo, mit dem neue Substanzen auf den Markt gebracht werden, verlangsamt – im Jahr 2015 wurden 98 Substanzen entdeckt –, jedoch ist die Gesamtzahl der derzeit verfügbaren Substanzen noch immer hoch. Ende 2016 überwachte die EMCDDA mehr als 620 neue psychoaktive Substanzen (gegenüber etwa 350 im Jahr 2013).

    Die Tatsache, dass neue Substanzen in Europa nun in größeren Abständen entdeckt werden, ist möglicherweise auf eine ganze Reihe von Faktoren zurückzuführen. So wurden in einigen Mitgliedstaaten mithilfe neuer Rechtsvorschriften (z. B. pauschale Verbote, Kontrolle generischer und analoger Substanzen) restriktivere rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen, angesichts derer es für die Hersteller unter Umständen weniger reizvoll ist, sich auf ein ‚Katz-und-Maus-Spiel‘ mit den Regulierungsbehörden einzulassen und immer neue Substanzen zu entwickeln, um der Kontrolle stets einen Schritt voraus zu sein. Auch die Strafverfolgungs- und Kontrollmaßnahmen, die in China gegen die Labors eingeleitet wurden, in denen neue Substanzen hergestellt werden, könnten zu dieser Verlangsamung beigetragen haben.

    Im Jahr 2015 wurden über das EU-Frühwarnsystem fast 80.000 Sicherstellungen von neuen psychoaktiven Substanzen gemeldet. Synthetische Cannabinoide und synthetische Cathinone machten im Jahr 2015 gemeinsam mehr als 60 Prozent aller Sicherstellungen neuer Substanzen aus (mehr als 47.000). Im Juli 2016 wurde MDMB-CHMICA als erstes synthetisches Cannabinoid von der EMCDDA einer Risikobewertung unterzogen, nachdem über das EU-Frühwarnsystem schädliche Wirkungen (darunter etwa 30 Todesfälle) im Zusammenhang mit seinem Konsum gemeldet worden waren. Dies führte dazu, dass die Substanz im Februar 2017 europaweit Kontrollmaßnahmen unterworfen wurde.

    Gemeinsam mit dem Europäischen Drogenbericht 2017 wurde eine neue Analyse zum Thema hochriskanter Drogenkonsum und neue psychoaktive Drogen („High-risk drug use and new psychoactive substances“) vorgelegt, deren Schwerpunkt auf dem problematischen Konsum neuer psychoaktiver Substanzen in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen liegt.

    Neue synthetische Opioide – hochpotent und eine zunehmende Gesundheitsgefahr

    In Europa ebenso wie in Nordamerika stellen hochpotente synthetische Opioide, welche die Wirkungen von Heroin und Morphin imitieren, eine wachsende Gesundheitsgefahr dar. Sie haben zwar nur einen geringen Marktanteil, jedoch gibt es immer mehr Berichte über das Aufkommen dieser Substanzen und die von ihnen verursachten Schäden, darunter auch über nicht tödliche Vergiftungen und Todesfälle. Zwischen 2009 und 2016 wurden in Europa 25 neue synthetische Opioide entdeckt (darunter 18 Fentanyle).

    Da für die Herstellung von vielen tausend Einzeldosen nur sehr geringe Mengen erforderlich sind, können neue synthetische Opioide problemlos versteckt und transportiert werden. Infolgedessen stellen diese Substanzen für die Drogenkontrollbehörden ein Problem und zugleich für die organisierte Kriminalität eine potenziell attraktive Ware dar. Sie liegen in unterschiedlichen Formen vor – zumeist als Pulver, Tabletten oder Kapseln –, wobei einige mittlerweile auch in flüssiger Form verfügbar sind und als Nasensprays verkauft werden.

    Fentanyle werden besonders aufmerksam beobachtet. Diese Substanzen sind außergewöhnlich potent – in vielen Fällen potenter als Heroin – und machten mehr als 60 Prozent der 600 Sicherstellungen neuer synthetischer Opioide aus, die 2015 gemeldet wurden. Alleine 2016 wurden acht neue Fentanyle erstmals über das EU-Frühwarnsystem gemeldet. Diese Substanzen sind mit einer erheblichen Vergiftungsgefahr verbunden und zwar nicht nur für die Konsumenten, sondern auch für all jene, bei denen es zu einer unbeabsichtigten Exposition (z. B. durch Hautkontakt oder Einatmen) kommen könnte, wie etwa die Mitarbeiter von Postdiensten, Zollbehörden und Rettungsdiensten.

    Anfang 2017 nahm die EMCDDA Risikobewertungen von zwei Fentanylen (Acryloylfentanyl und Furanylfentanyl) vor, nachdem mehr als 50 Todesfälle im Zusammenhang mit diesen Substanzen gemeldet worden waren. Für beide Substanzen wird gegenwärtig die Einführung von Kontrollmaßnahmen auf europäischer Ebene erwogen. Im Jahr 2016 gab die EMCDDA im Zusammenhang mit diesen und anderen neuen Fentanylen fünf Gesundheitswarnungen an ihr europaweites Netzwerk aus.

    Hinweise auf eine steigende Verfügbarkeit von Kokain

    Die in Europa am häufigsten konsumierten illegalen Stimulanzien sind Kokain, MDMA (in Tablettenform mitunter als ‚Ecstasy‘ bezeichnet) und Amphetamine (Amphetamin und Methamphetamin). Der Konsum von Kokain ist in den süd- und westeuropäischen Ländern höher – bedingt durch Einfuhrhäfen und Schmuggelrouten –, während in Nord- und Osteuropa der Konsum von Amphetaminen stärker verbreitet ist. Mit dem Aufkommen neuer Stimulanzien (z. B. Phenethylamine und Cathinone) ist der Markt für Stimulanzien in den letzten Jahren immer komplexer geworden.

    Die Daten aus Abwasseranalysen, von Sicherstellungen, Preisen und Reinheit lassen darauf schließen, dass die Verfügbarkeit von Kokain in Teilen Europas einmal mehr im Steigen begriffen ist. Sowohl die Zahl der Sicherstellungen als auch die sichergestellte Menge sind zwischen 2014 und 2015 gestiegen. Im Jahr 2015 wurden in der EU etwa 87.000 Sicherstellungen von Kokain gemeldet (gegenüber 76.000 im Jahr davor), bei denen 69,4 Tonnen dieser Droge beschlagnahmt wurden (gegenüber 51,5 Tonnen im Jahr davor). Analysen der kommunalen Abwässer auf Kokainrückstände (Studie auf städtischer Ebene) haben gezeigt, dass in den meisten der 13 Städte, aus denen Daten für den Zeitraum zwischen 2011 und 2016 verfügbar sind, längerfristig eine stabile oder steigende Tendenz zu beobachten ist. Von den 33 Städten, aus denen Daten für 2015 und 2016 vorliegen, meldeten 22 einen Anstieg und vier einen Rückgang der Kokainrückstände, während sieben eine gleichbleibende Tendenz verzeichneten.

    Etwa 17,5 Millionen erwachsene Europäer (zwischen 15 und 64 Jahren) haben mindestens einmal in ihrem Leben Kokain probiert. Darunter sind etwa 2,3 Millionen junge Erwachsene (zwischen 15 und 34 Jahren), die diese Droge in den zurückliegenden zwölf Monaten konsumiert haben. Den nationalen Erhebungen zufolge ist der Kokainkonsum seit 2014 im Wesentlichen stabil geblieben.

    Welche Auswirkungen haben die globalen Entwicklungen in der Cannabispolitik auf Europa?

    Die jüngsten Änderungen, die in Teilen Amerikas am Regulierungsrahmen für Cannabis vorgenommen wurden, wurden in Europa von politischen Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit mit Interesse verfolgt. Dem Bericht zufolge können „die relativen Kosten und Vorteile der verschiedenen Ansätze der Cannabispolitik […] erst beurteilt werden, wenn diesbezüglich tragfähige Evaluierungen vorliegen“. In den 28 EU-Mitgliedstaaten werden gegenwärtig im Hinblick auf die Regulierung und den Konsum von Cannabis die unterschiedlichsten Ansätze verfolgt. Die Bandbreite reicht dabei von restriktiven Modellen bis hin zur Tolerierung bestimmter Formen des Eigengebrauchs. Bislang hat sich jedoch in Europa (EU-28, Norwegen und Türkei) noch keine nationale Regierung für eine umfassende legale Regulierung des Marktes für den Freizeitkonsum von Cannabis ausgesprochen.

    Abgesehen von möglichen weiterreichenden Auswirkungen auf die Drogenpolitik stellt die Existenz kommerziell regulierter Cannabismärkte in einigen nichteuropäischen Ländern eine Triebkraft für Innovationen und Produktentwicklungen dar (z. B. bei Verdampfern, E-Liquids und essbaren Produkten), die sich letztlich auf die Konsummuster in Europa auswirken könnten. Angesichts dessen ist es dem Bericht zufolge umso wichtiger, diese Konsummuster zu beobachten und die möglichen gesundheitlichen Folgen etwaiger künftiger Veränderungen zu bewerten.

    Etwa 87,7 Millionen erwachsene Europäer (zwischen 15 und 64 Jahren) haben mindestens einmal in ihrem Leben Cannabis probiert. Darunter sind schätzungsweise 17,1 Millionen junge Europäer (zwischen 15 und 34 Jahren), die in den letzten zwölf Monaten Cannabis konsumiert haben. Etwa ein Prozent der europäischen Erwachsenen konsumiert täglich oder fast täglich Cannabis (d. h. sie haben die Droge an mindestens 20 Tagen des letzten Monats konsumiert). Die Ergebnisse der jüngsten Erhebungen zeigen, dass sich der Cannabiskonsum der letzten zwölf Monate in den einzelnen Ländern weiterhin unterschiedlich entwickelt hat. Cannabis wird nach wie vor mit Gesundheitsproblemen in Verbindung gebracht und ist in Europa (EU-28, Türkei und Norwegen) mittlerweile die Ursache für den Großteil (45 Prozent) der erstmaligen Behandlungsaufnahmen. Insgesamt ist die gemeldete Zahl der Personen, die erstmals wegen cannabisbedingter Probleme eine Behandlung aufnahmen, von 43.000 im Jahr 2006 auf 76.000 im Jahr 2015 gestiegen.

    Download Europäischer Drogenbericht 2017
    Download Länderbericht Deutschland 2017
    Reitox Jahresbericht für Deutschland 2016

    Pressestelle der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA), 06.06.2017

  • Cannabis kehrt Alterungsprozesse im Gehirn um

    Mit zunehmendem Alter nimmt die Gedächtnisleistung ab. Cannabis kann diese Alterungsprozesse im Gehirn umkehren. Das zeigen Wissenschaftler der Universität Bonn mit ihren Kollegen der Hebrew University (Israel) an Mäusen. Alte Tiere konnten durch eine längere niedrig dosierte Behandlung mit einem Cannabis-Wirkstoff in den Zustand von zwei Monate jungen Mäusen zurückversetzt werden. Dies eröffnet zum Beispiel für die Behandlung von Demenzerkrankungen neue Optionen. Die Ergebnisse werden nun im Fachjournal „Nature Medicine“ vorgestellt.

    Wie jedes andere Organ altert auch unser Gehirn. In der Folge nimmt mit zunehmendem Alter auch die kognitive Leistungsfähigkeit ab. Dies bemerkt man beispielsweise dadurch, dass es schwerer wird, Neues zu erlernen oder mehreren Dingen gleichzeitig Aufmerksamkeit zu widmen. Dieser Prozess ist normal, kann aber auch Demenzerkrankungen befördern. Schon lange suchen Forscher nach Möglichkeiten, diesen Prozess zu verlangsamen oder gar umzukehren.

    Das ist Wissenschaftlern der Universität Bonn und der Hebrew Universität Jerusalem (Israel) bei Mäusen nun gelungen. Diese Tiere haben in der Natur nur eine relativ kurze Lebenszeit und zeigen bereits im Alter von zwölf Monaten starke kognitive Defizite. Die Forscher verabreichten Mäusen im Alter von zwei, zwölf oder 18 Monaten über einen Zeitraum von vier Wochen eine geringe Menge an THC, dem aktiven Inhaltsstoff der Hanfpflanze (Cannabis).

    Danach testeten sie das Lernvermögen und die Gedächtnisleistungen der Tiere – darunter zum Beispiel das Orientierungsvermögen und das Wiedererkennen von Artgenossen. Mäuse, die nur ein Placebo verabreicht bekamen, zeigten natürliche altersabhängige Lern- und Gedächtnisverluste. Die kognitiven Funktionen der mit Cannabis behandelten Tiere waren hingegen genauso gut wie die von zwei Monate alten Kontrolltieren. „Die Behandlung kehrte den Leistungsverlust der alten Tiere wieder komplett um“, berichtete Prof. Dr. Andreas Zimmer vom Institut für Molekulare Psychiatrie der Universität Bonn, Mitglied des Exzellenzclusters ImmunoSensation.

    Dieser Behandlungserfolg ist das Ergebnis jahrelanger akribischer Forschung. Zunächst haben die Wissenschaftler herausgefunden, dass das Gehirn viel schneller altert, wenn Mäuse keinen funktionsfähigen Rezeptor für THC besitzen. Bei diesen so genannten Cannabinoid 1 (CB1) Rezeptoren handelt es sich um Proteine, an die Substanzen andocken und dadurch eine Signalkette auslösen. CB1 ist auch der Grund für die berauschende Wirkung von THC in Cannabis-Produkten wie Haschisch oder Marihuana, die sich an den Rezeptor anlagern. THC ahmt die Wirkung von körpereigenen Cannabinoiden nach, die wichtige Funktionen im Gehirn erfüllen. „Mit steigendem Alter verringert sich die Menge der im Gehirn natürlich gebildeten Cannabinoide“, sagt Prof. Zimmer. „Wenn die Aktivität des Cannabinoidsystems abnimmt, dann finden wir ein rasches Altern des Gehirns.“

    Um herauszufinden, was die THC-Behandlung alter Mäuse genau bewirkt, untersuchten die Forscher das Gehirngewebe und die Genaktivität der behandelten Mäuse. Die Befunde waren überraschend: Die molekulare Signatur entsprach nicht mehr der von alten Tieren, sondern war vielmehr jungen Tieren sehr ähnlich. Auch die Zahl der Verknüpfungen der Nervenzellen im Gehirn nahm wieder zu, was eine wichtige Voraussetzung für das Lernvermögen ist. „Es sah so aus, als hätte die THC-Behandlung die molekulare Uhr wieder zurückgesetzt“, sagt Zimmer.

    Die Dosierung des verabreichten THC war so niedrig gewählt, dass eine Rauschwirkung bei den Mäusen ausgeschlossen war. Cannabisprodukte sind bereits als Medikamente zugelassen, zum Beispiel für die Schmerzbekämpfung. Die Forscher wollen im nächsten Schritt in einer klinischen Studie untersuchen, ob THC auch beim Menschen Alterungsprozesse des Gehirns umkehren und die kognitive Leistungsfähigkeit wieder steigern kann.

    Die nordrhein-westfälische Wissenschaftsministerin Svenja Schulze zeigte sich von der Studie begeistert: „Die Förderung erkenntnisgeleiteter Forschung ist unersetzlich, denn sie ist der Nährboden für alle Fragen in der Anwendung. Von der Maus zum Menschen ist es zwar ein weiter Weg, doch stimmt mich die Aussicht darauf, dass THC etwa zur Behandlung von Demenz eingesetzt werden könnte, außerordentlich positiv.“

    Publikation: A chronic low dose of delta9-tetrahydrocannabinol (THC) restores cognitive function in old mice, Nature Medicine, DOI: 10.1038/nm.4311

    Pressestelle der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 08.05.2017

  • Neuroenhancement

    transcript Verlag, Bielefeld 2016, 177 Seiten, € 32,99, ISBN 978-3-8376-3122-7, auch als E-Book erhältlich

    Viele versprechen sich von den Neurowissenschaften eine Verbesserung der geistigen Eigenschaften gesunder Menschen – das so genannte ‚Neuroenhancement‘. Dieser Band gibt einen umfassenden Überblick über den Diskussionsstand in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen. Die Autorinnen und Autoren beschreiben nicht nur ein breites Spektrum unterschiedlicher Verfahren, sondern zeigen zudem, wie groß die Bandbreite an Zielen ist, die mit ‚Neuroenhancement‘ verknüpft werden: Geht es darum, geistig leistungsfähiger, moralischer oder kreativer zu werden? Oder wird letztlich nur der Druck auf das Individuum erhöht, besser, klüger und vielseitiger zu werden?

  • Hoher Alkoholkonsum auch im Alter verbreitet

    Ein problematischer Umgang mit Alkohol ist in Deutschland auch im höheren Erwachsenenalter verbreitet. Schätzungen gehen davon aus, dass 15 Prozent der über 60-Jährigen riskant Alkohol trinken und damit ihre Gesundheit auf vielfache Weise gefährden. Insgesamt rund 14.000 Menschen im Alter ab 60 Jahren mussten im Jahr 2015 aufgrund einer akuten Alkoholvergiftung im Krankenhaus behandelt werden. Vor dem Hintergrund dieser Zahlen hat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) im Internetportal der Alkoholpräventionskampagne http://www.kenn-dein-limit.de die neue Rubrik „Für Ältere“ erstellt, in der sich Interessierte über einen verantwortungsvollen Umgang mit Alkohol im Alter informieren können.

    „Vielen älteren Menschen ist nicht bewusst, dass Alkohol bei ihnen stärker wirkt als im jüngeren Erwachsenenalter. Grund dafür ist unter anderem, dass bei Älteren der Alkohol in der Leber langsamer abgebaut wird und sich auch der Flüssigkeitshaushalt im Alter verändert“, betont Dr. Heidrun Thaiss, Leiterin der BZgA. „Darüber hinaus ist es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass bei einer Medikamenteneinnahme besondere Vorsicht im Umgang mit Alkohol geboten ist. Hier gilt daher: Im Zweifelsfall das Gespräch mit dem behandelnden Arzt beziehungsweise der Ärztin suchen.“

    Die neue Rubrik http://www.kenn-dein-limit.de/alkohol/im-alter informiert über die Risiken des Alkoholkonsums, die im Alter steigen. Neben einem erhöhten Risiko für Erkrankungen der Leber nimmt bei riskantem Alkoholkonsum auch das Krebsrisiko zu, insbesondere für Mund-, Rachen- und Speiseröhrenkrebs. Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzrhythmusstörungen und Bluthochdruck können ebenfalls die Folgen sein. Daher werden Menschen ab 65 Jahren niedrigere Werte für einen risikoarmen Alkoholkonsum empfohlen: Pro Tag maximal zehn Gramm Reinalkohol, also ein kleines Glas Wein (0,1 Liter) oder ein kleines Glas Bier (0,25 Liter) sind erlaubt, bei mindestens zwei Tagen Alkoholabstinenz in der Woche – so lautet die Empfehlung des National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism (NIAAA).

    Ein riskanter Umgang mit Alkohol kann beispielsweise durch veränderte Lebensbedingungen im höheren Alter bedingt sein. Gerade der Eintritt ins Rentenalter stellt für manche Menschen eine schwierige Zeit dar, Phasen mit depressiven Verstimmungen können häufiger werden – all das kann zu einem missbräuchlichen Alkoholkonsum und letztlich zur Sucht führen. Welches die Warnzeichen dafür sind und wie ältere Menschen dieser Entwicklung vorbeugen können, auch darüber informiert http://www.kenn-dein-limit.de/alkohol/im-alter.

    Pressestelle der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 28.04.2017

  • Weniger Angst

    Wissenschaftler der Universität Basel konnten zeigen, dass LSD die Aktivität einer Hirnregion reduziert, die für die Verarbeitung von negativen Emotionen wie Angst von zentraler Bedeutung ist. Die Resultate könnten für die Behandlung von psychischen Erkrankungen wie Depression oder Angststörungen von Bedeutung sein. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift „Translational Psychiatry“ veröffentlicht.

    Die Wirkungen von Halluzinogenen auf die Psyche sind vielfältig, unter anderem verändern sie Wahrnehmung, Zeiterleben, Denken und emotionales Erleben. Nach der Entdeckung des Lysergsäurediethylamid (LSD) durch den Basler Chemiker Albert Hofmann in den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war das Interesse an dieser Substanz insbesondere in der Psychiatrie groß. Man erhoffte sich beispielsweise Einblicke in die Entstehung von Halluzinationen und führte Studien zur Wirksamkeit bei Erkrankungen wie Depression oder Alkoholabhängigkeit durch. In den 60er Jahren wurde LSD weltweit für illegal erklärt und die medizinische Forschung kam zum Erliegen.

    Seit einigen Jahren ist das Interesse an der Erforschung von Halluzinogenen für medizinische Zwecke allerdings wieder erwacht. Psychoaktive Substanzen wie LSD könnten vor allem in der Kombination mit Psychotherapien eine Alternative zu herkömmlichen Medikamenten bieten. Heute ist bekannt, dass Halluzinogene an einen Rezeptor des Neurotransmitters Serotonin binden. Wie die Bewusstseinsveränderungen die Aktivität und Konnektivität des Gehirns beeinflusse, ist bisher allerdings nicht geklärt.

    Forschende der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) und der Abteilung für Pharmakologie und Toxikologie des Universitätsspitals Basel (USB) haben nun in einer aktuellen Studie die akute Wirkung von LSD auf das Gehirn untersucht. Hierzu wurde die Gehirnaktivität von zwanzig gesunden Personen nach Einnahme von 100 Mikrogramm LSD mittels funktioneller Kernspintomographie (fMRI) gemessen. Den Probanden wurden während des MRI Bilder von Gesichtern gezeigt, die verschiedene Gefühlslagen wie Wut, Freude oder Angst darstellten.

    Prof. Stefan Borgwardt und sein Team konnten zeigen, dass die Darstellung von Angst unter LSD zu einer deutlich niedrigeren Aktivität der Amygdala führt – eine Hirnregion, von der man annimmt, dass sie zentral für die Verarbeitung von Emotionen ist. Diese Beobachtung könnte einen Teil der Veränderungen im emotionalen Erleben erklären, die nach der Einnahme von Halluzinogenen auftreten.

    In einem zweiten Schritt haben die Forscher zusammen mit klinischen Pharmakologen des Universitätsspitals Basel untersucht, ob das durch LSD veränderte subjektive Erleben in Zusammenhang mit der Amgydala steht. Dies scheint der Fall zu sein: Je niedriger die LSD-induzierte Amygdala-Aktivität einer Person war, desto höher war der subjektive Drogeneffekt dieser Person.

    „Diese ‚entängstigende‘ Wirkung könnte einen wichtiger Faktor für positive therapeutische Effekte darstellen», erklärt Dr. Felix Müller, Erstautor der Studie. Die Basler Wissenschaftler gehen davon aus, dass Halluzinogene noch zahlreiche weitere Veränderungen der Hirnaktivitäten hervorrufen. Weitere Studien sollten diese besonders im Hinblick auf ihr therapeutisches Potenzial untersuchen.

    Originalbeitrag: Felix Mueller, Claudia Lenz, Patrick Dolder, Samuel Harder, Yasmin Schmid, Undine Lang, Matthias Liechti, Stefan Borgwardt: Acute effects of lysergic acid diethylamide (LSD) on amygdala activity during processing of fearful stimuli in healthy subjects. Translational Psychiatry (2017), doi: 10.1038/tp.2017.54

    Pressestelle der Universität Basel, 04.04.2017