Autor: Simone Schwarzer

  • Suchthilfe stellt Weichen für Einsatz Künstlicher Intelligenz

    Die Brandenburgische Landesstelle für Suchtfragen e. V. (BLS) hat am 28. Januar 2025 das Potsdamer Memorandum mit Leitlinien zu KI veröffentlicht. Das Projekt wurde gefördert durch das Bundesgesundheitsministerium.

    Wie passen eigentlich künstliche Intelligenz und Suchthilfe zusammen? Genau darum geht es in dem Potsdamer Memorandum der Brandenburgischen Landesstelle für Suchtfragen e. V. Sie hat jetzt die Überlegungen aus dem vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) geförderten Projekt „KI in der Suchthilfe“ veröffentlicht und legt damit erstmals umfassende Leitlinien für den verantwortungsvollen Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Suchthilfe vor. Das Memorandum wurde gemeinsam mit Akteurinnen und Akteuren aus Suchthilfe, Politik, Wissenschaft und Digital Health erarbeitet. Die Suchthilfe will damit angesichts der rasanten technischen Entwicklung und gleichzeitig wachsender finanzieller und personeller Herausforderungen zukunftsfähig bleiben.

    Grundlage für das Memorandum waren die Ergebnisse dreier Satellitenveranstaltungen sowie einer zweitägigen Zukunftswerkstatt in Potsdam mit 35 Vertreter:innen aus verschiedenen Bereichen. Diese kooperative Herangehensweise ermöglichte es, unterschiedliche Perspektiven zu integrieren und praxisnahe Leitlinien zu entwickeln. Dabei waren sich die Teilnehmenden einig: KI kann keine menschlichen Beratungskontakte ersetzen, ermöglicht jedoch niedrigschwellig erste Unterstützungsangebote. Große Chancen bietet KI beispielsweise im administrativen Bereich, bei der Überwindung von Sprachbarrieren im Beratungskontext oder auch als Chatbots, die insbesondere außerhalb der Sprechzeiten Beratungs- und damit Kontaktlücken schließen können. Dadurch können unter anderem sehr junge Menschen erreicht werden, die nicht in Beratungsstellen Hilfe suchen. Es werden Ziele, Nutzen, strukturelle Anforderungen und ethische Aspekte des KI-Einsatzes in der Suchthilfe betrachtet. Ab sofort sind die vollständigen Ergebnisse des Projekts „KI in der Suchthilfe“ und der Zukunftswerkstatt im „Potsdamer Memorandum zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Suchthilfe” frei abrufbar: https://www.blsev.de/fachbereiche/digitalisierung/ki-sucht/

    Burkhardt Blienert, Beauftragter der Bundesregierung zu Sucht- und Drogenfragen: „Eigentlich ist unser Leben fast undenkbar ohne künstliche Intelligenz: Unsere Kinder lösen die Matheaufgaben mit Chat-GPT, Algorithmen bestimmen unser Lese-, Kauf- und manchmal selbst das Reiseverhalten. Und KI ist auch an vielen Stellen sinnvoll und hilfreich. Selbst im medizinisch-diagnostischen Bereich oder als Lückenfüller auf der Suche nach schneller Hilfe in Lebenskrisen, also auch in der Suchthilfe. Da hat der Einsatz von KI enormes Potenzial, Beratungsangebote zu verbessern und suchterkrankte Menschen frühzeitig zu erreichen. Natürlich geht es immer nur um ein zusätzliches und vielleicht vorgelagertes Angebot. Denn die menschliche Komponente der Suchthilfe ist immer die wichtigste und kann von KI nur unterstützt oder ergänzt werden. Welche Ideen es gibt, wie weiter mit KI in der Suchthilfe und mehr, fasst das ‚Potsdamer Memorandum‘ erstmals als wertvolle Denkanstöße zusammen.“

    Andrea Hardeling, Geschäftsführerin der Brandenburgischen Landesstelle für Suchtfragen e. V.: „Wir wollen uns den Zukunftsthemen frühzeitig stellen, um so die Suchtberatungsstellen vor Ort zu unterstützen und Ratsuchenden fachlich fundierte Anwendungen zur Verfügung zu stellen, mit denen sie frühzeitig und auch außerhalb von Öffnungszeiten digitale Hilfe erhalten. Schon jetzt bietet das bundesweite Suchtberatungsportal alias DigiSucht unter www.suchtberatung.digital online Unterstützung, die mit den regionalen Beratungsangeboten vernetzt ist. Auch hier gibt es Pläne, KI-gestützte Anwendungen zu integrieren. Wichtig ist es daher, jetzt die Rahmenbedingungen für die Nutzung von KI zu gestalten und ethische Grenzen zu definieren.“

    Weiterführende Informationen: Themenseite www.blsev.de/ki-sucht

    Die Brandenburgische Landesstelle für Suchtfragen e.V. arbeitet als landesweite Fachstelle in den Themenbereichen Suchthilfe, Suchtprävention, Sucht-Selbsthilfe und Glücksspielsucht.

    Presseinformation der Brandenburgischen Landesstelle für Suchtfragen (BLS), 28.1.2025

  • Hypersexed and Overporned? Erfahrungen zwischen Lust & Leid

    Hirnkost Verlag, Berlin 2024, 300 Seiten, 32,00 €, ISBN 978-3-98857-027-7

    Sex-Selfies als Social-Media-Trend, frauenfeindliche Rap- und Partysongs zum Mitgrölen, Sexshops in Innenstädten mit Masturbationsgerätschaften in der Auslage, Sexting und DickPics-Versendung per Smartphone, digitale Darstellungen von sexualisierter Gewalt und Missbrauch von Kindern, Cybermobbing und -grooming, Herabwürdigung und sexuelle Ausbeutung per Dating-Apps und Unmengen von kinderleicht zugänglichen Pornoangeboten im Internet … Alles Anzeichen für eine bedenkliche Hypersexualisierung und Pornographisierung unserer Gesellschaft? Insbesondere für eine Überformung des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen mit sexindustriell vorgefertigten Skripts? Oder nicht auch Anlässe für die Auseinandersetzung mit Chancen und Grenzen sexuellen Eigensinns, vielleicht sogar in Teilen Impulse für emanzipatorische Sexualität und mehr sexuelle Vielfalt?

    Dieses Buch sucht Antworten. Im Schwerpunkt nicht aus wissenschaftlicher Außenperspektive, sondern aus der authentischen Innensicht von unmittelbar Beteiligten an derartigen Prozessen: von Leuten, die ihr Brot im Sexgeschäft verdienen, von Personen, die den Pornomarkt als Konsument:innen erleben, von Menschen, die Lust, aber auch Leid, dabei erfahren, und von solchen, die mit all dem klarzukommen scheinen und sich zu helfen wissen.

  • Warnmeldung: Mit Nitazen gestrecktes Heroin in Bremen

    Das NEWS-Projekt (National Early Warning System) informiert darüber, dass zuletzt in insgesamt sechs Heroinproben in Bremen u. a. Substanzen aus der Stoffgruppe der Nitazene nachgewiesen wurden. Bei diesen sechs Proben wurden zuvor im Drogenkonsumraum Bremen Schnelltests auf Nitazene durchgeführt, die allesamt positiv waren. Bei drei weiteren positiven Schnelltests ergab die labortechnische Analyse keinen Nachweis von Nitazenen.

    Es wird ein verzögerter Wirkungseintritt der Nitazen-Komponente berichtet. Bei den Konsumierenden setze nach Konsum primär die „normale“ Wirkung des Heroins ein. Dann komme es nach ca. 10 bis 15 Minuten, teilweise erst nach dem Verlassen des Drogenkonsumraums, zu einem massiven Wirkungseintritt, mutmaßlich durch die Nitazen-Beimischung. Es treten Atemstillstand, Krampfanfälle und negative Kreislaufeinwirkungen (Bewusstlosigkeit) ein. Ein Aufheben der massiven Wirkung ist in manchen Fällen erst nach wiederholter Anwendung von Naloxon-Nasenspray erzielt worden.

    Eine Pressemitteilung des Gesundheitsamts Bremen finden Sie HIER.

    Mitteilung des News-Projekts, 24.1.2025

  • Orientierung im fragmentierten System der Sozialleistungen

    Illustration: Uni Speyer

    In Zeiten steigender Lebenshaltungskosten und wachsender Kinderarmut stehen viele Familien, aber auch Einzelpersonen, vor enormen finanziellen Herausforderungen. Eine zusätzliche Hürde: Oftmals wissen sie nicht, welche Sozialleistungen ihnen zustehen oder wie sie diese beantragen können. Um diesen Informationsmangel zu beheben, hat der Lehrstuhl für Sozialrecht und Verwaltungswissenschaft an der Universität Speyer die benutzerfreundliche Online-Plattform Kooperationsgebote im Sozialrecht ins Leben gerufen. Eltern und andere Anspruchsberechtigte können so schnell und einfach herausfinden, welche Sozialleistungen ihnen aufgrund ihrer individuellen Lebenssituation zustehen könnten.

    Die Initiative ist das Ergebnis einer interdisziplinären Workshop-Reihe zu den Kooperations-Geboten im Sozialrecht. In der Workshop-Reihe und einer daraus resultierenden Teilstudie hat die Universität Speyer gemeinsam mit Kommunen, Verbänden, Vertreter:innen der Bundesländer und der Bundespolitik verschiedene Sozialleistungen untersucht, wie etwa Bürgergeld, Kindergeld, Wohngeld oder Elterngeld. Viele Menschen in Deutschland haben Anspruch auf diese Leistungen, scheitern jedoch häufig an der Beantragung, weil sie ihre Rechte nicht kennen und die Leistungsträger nicht ausreichend Orientierung im komplexen System des Sozialrechts bieten.

    „Ein zentrales Ergebnis der Workshop-Reihe war, dass die Versäulung der Verwaltung dazu führt, dass die Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen nicht ganzheitlich wahrgenommen und Problemlagen nicht adäquat bearbeitet werden“, so Professorin Dr. jur. habil. Constanze Janda, die die Veranstaltungsreihe organisierte und leitete. „Das Problem wird bundesweit mit zahlreichen einzelnen Projekten und Initiativen angegangen. Präventionsketten oder -netzwerke sind jedoch bisher nicht flächendeckend so verankert, dass familiäre Armut spürbar zurückgegangen und Bildungsbeteiligung gewachsen wäre.“

    Es sei zwar gesetzlich vorgesehen, dass die Träger kooperieren müssen, um so den Zugang zu Leistungen erleichtern, in der Praxis werde diese Notwendigkeit aber noch zu wenig beachtet und umgesetzt. Die Plattform soll hier Abhilfe schaffen. Sie nutzt persönliche Daten wie Familienstand, Einkommen und Anzahl der Kinder, um automatisch relevante Leistungen zu identifizieren und den Nutzer:innen ihre potenziellen Ansprüche aufzuzeigen. Dies erleichtert den Zugang zu wichtigen Informationen und unterstützt Familien und Einzelpersonen dabei, ihre Rechte wahrzunehmen.

    „Mit dieser Plattform wollen wir sicherstellen, dass alle Familien Zugang zu den Informationen haben, die sie benötigen, um ihre Ansprüche geltend zu machen. Wir glauben daran, dass Transparenz der Schlüssel ist, um soziale Gerechtigkeit zu fördern“, so Janda.

    Die Workshop-Reihe und der Aufbau der Plattform wurden gefördert von der Auridis Stiftung.

    Weitere Informationen finden Sie unter: http://www.kooperationsgebote-sozialrecht.de

    Pressestelle der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer, 21.1.2025

  • Europäischer Drogenbericht 2024

    Der Europäische Drogenbericht 2024 wurde im Juni letzten Jahres veröffentlicht (KONTUREN berichtete) und ist jetzt auch auf Deutsch und in weiteren 24 Sprachen verfügbar. Der Bericht ist auf der Website der European Union Drugs Agency (EUDA) zu finden, die Sprache kann in der Kopfzeile ausgewählt werden.

    Im „Europäischen Drogenbericht 2024: Trends und Entwicklungen“ wird die neueste Analyse der EMCDDA (Vorläuferinstitution der EUDA) zur Drogensituation in Europa vorgestellt. Der Bericht konzentriert sich auf den Konsum illegaler Drogen, damit verbundene Gesundheitsschäden und das Drogenangebot. Er enthält einen umfassenden Satz nationaler Daten zu diesen Themen sowie Informationen über spezielle Drogentherapien und die wichtigsten Maßnahmen zur Schadensminimierung.

    Pressestelle der European Union Drugs Agency (EUDA), 18.12.2024

  • Chemsex und seine Relevanz in der Drogen- und Suchtberatung

    Chemsex und seine Relevanz in der Drogen- und Suchtberatung

    Das Phänomen Chemsex wurde 2020 von Grümer und Iking (vgl. S. 6) als neue Herausforderung für die Suchthilfe beschrieben und früher als ein spezielles Thema der Communityberatungen behandelt. Inzwischen hat es auch eine Relevanz in der Drogen- und Suchtberatung erlangt. Der vorliegende Artikel widmet sich dem Überblick über das Phänomen Chemsex und beschreibt praxisorientierte Ansätze für die Beratung von Männern*, die Chemsex praktizieren und Beratungsstellen aufsuchen. Die Schreibweise Männer* bzw. die Verwendung der maskulinen Form mit Genderstern weist darauf hin, dass alle gemeint sind, die sich selbst als männlich positionieren, und nicht nur Cis-Männer.

    Überblick

    Herkunft und Bedeutung des Begriffs

    Der Begriff Chemsex ist eine aus dem Englischen entlehnte Wortneuschöpfung, welche sich aus den Worten „chemicals“ (engl. Substanzen) und „sex“ zusammensetzt. Die Kombination der beiden Begriffe führte zum Akronym Chemsex (vgl. Haslebacher et al. 2022, o. S.). Sander und Gamsavar (vgl. 2022, S. 5) beschreiben das Phänomen als eine spezifische kulturelle Praxis von Männern*, die Sex mit Männern* haben (MSM*), bei der häufiger in privaten Settings psychotrope Substanzen im sexuellen Kontext konsumiert werden. Erstmals wurde das Phänomen zu Beginn des Jahrtausends beschrieben. Nach David Stuart (2016) entstand der Begriff Chemsex auf Dating-Apps für homosexuelle Männer* und wurde vom Bereich der sexuellen Gesundheit übernommen.

    Obgleich die mediale Aufmerksamkeit dazu geführt haben mag, dass der Begriff in einer Weise verwendet wird, die den Konsum von Drogen in sexuellen Kontexten durch eine beliebige Gruppe an Menschen beschreibt, bezeichnet Chemsex tatsächlich die Verwendung von bestimmten Substanzen von Männern*, die Sex mit Männern* haben (MSM*), vor oder während des Geschlechtsverkehrs. Zu diesen Substanzen gehören unter anderem Crystal Meth, Mephedron, GHB/GBL und Ketamin (vgl. Stuart 2016, S. 295; Bourne et al. 2014a, S. 3 f.). Der Konsum der genannten Substanzen erfolgt in erster Linie oral, nasal oder durch Inhalation. Darüber hinaus wird auch ein intravenöser Konsum beobachtet, insbesondere von Methamphetamin (vgl. Deimel/Stöver 2015, S. 66). Der intravenöse Gebrauch von Substanzen wird durch den Begriff „Slamming“ beschrieben. Im deutschen Sprachgebrauch wird der Begriff mit „(zu)knallen“ assoziiert, da die Wirkung unmittelbar einsetzt (vgl. DAH 2014, o. S.). Allerdings wird der intravenöse Konsum lediglich von einer Minderheit der MSM* praktiziert (vgl. Deimel et al. 2017, S. 255).

    Motive des Konsums

    Die Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung (Clubdrug Studie von Graf et al. 2016) legen dar, welche Motive hinter dem Substanzkonsum im sexuellen Setting bei MSM* stehen können. Die Befragten berichten von der Erfahrung von Entgrenzung, einer Steigerung der sexuellen Leistungsfähigkeit sowie einem intensiveren sexuellen Erleben. Zudem wird von einem Abbau von Scham und Tabus  berichtet (vgl. Deimel et al. 2017, S. 255).

    Im Laufe der Zeit hat sich die Perspektive auf die Praktik gewandelt und es konnten weitere Merkmale bzw. Motive identifiziert werden. Im Rahmen der Chemsexkonferenz (2016) wurde dargelegt, dass Klienten* einen starken Wunsch nach Intimität, Beziehung und Nähe hegen oder dass die Praktik eine Art des Eskapismus darstellt, da MSM* mit verschiedenen Stressoren konfrontiert sind. Der Konsum von Substanzen diene dazu, Unsicherheiten in Bezug auf den eigenen Körper und die sexuelle Praxis zu reduzieren (Sander & Gamsavar 2022, S. 5). Des Weiteren bewegen sich überproportional viele Männer* mit HIV in diesem Kontext. Dies lässt darauf schließen, dass es hier keine Stigmatisierung von HIV-positiven Männern* gibt (ebd.). Das Phänomen Chemsex bzw. die „sexuelle Subkultur“ kann auch als kollektiver psychologischer Abwehrmechanismus gegen Selbstwertkonflikte, Scham, Angst oder Selbstzweifel betrachtet werden (Großer 2022, S. 9). In der Folge kann die These aufgestellt werden, dass Chemsex als Strategie genutzt wird, um sich zeitweise der gesellschaftlichen und subkulturellen Optimierung zu entziehen (vgl. Sander & Gamsavar 2022, S. 5).

    Gesundheitsrisiken

    Der Konsum von Substanzen im Kontext sexueller Aktivitäten wird mit einem erhöhten Risiko für HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen (STI) assoziiert. Diese Annahme basiert auf der Hypothese, dass die Wirkung von Substanzen dazu führen kann, dass MSM* nicht mehr ausreichend Safer-Sex- und Safer-Use-Strategien anwenden (vgl. Deimel et al. 2017, S. 253). Tatsächlich kann der Konsum im sexuellen Setting zu Infektionen führen. Doch solche monokausalen Erklärungsmuster sollten in der Beratung vermieden werden (vgl. Bochow et al. 2011, S. 131 f.). Neben anderen physischen Auffälligkeiten wie Herz-Kreislauf-Beschwerden, Schlafproblemen und Entzugserscheinungen beschreiben die MSM*, die in der Untersuchung von Deimel et al. (2017) befragt wurden, psychische Folgen wie „Panikattacken, Angstzustände und Psychosen“ (S. 256 f.).

    Globalisierung und Digitalisierung – Zugang zur schwulen Sexkultur

    Das Phänomen Chemsex manifestiert sich nicht ausschließlich in spezifischen geographischen Regionen, sondern muss aufgrund von Globalisierung und Digitalisierung international betrachtet werden (vgl. Großer 2022, S. 11). Aufgrund der globalen Mobilität, der Sexarbeit sowie des international verfügbaren Zugangs zur Pornoindustrie hat sich eine global agierende schwule Sexkultur entwickelt (vgl. ebd.). In dieser Kultur wurden Verhaltensregeln, Rituale und Substanzen etabliert, die gemeinschaftsbildende Erfahrungen und sexuelle Erlebnisse ermöglichen. Chemsex kann als Subkultur innerhalb der schwulen Sexkultur definiert werden, deren Verbreitung größtenteils über digitale Plattformen erfolgt (ebd.). Eine Besonderheit digitaler Kontaktseiten besteht darin, dass die Suche nach Sexpartnern nicht mehr örtlich oder zeitlich beschränkt ist. So werden Möglichkeiten geschaffen, dass MSM* in ländlichen Räumen mit schwacher Infrastruktur Zugang zur schwulen Sexkultur haben und Teil der schwulen Lebenswelt der Metropolen sein können (vgl. Großer 2022, S. 11). Es lässt sich jedoch ein Zusammenhang zwischen der Stadtgröße und dem Anteil von Usern* mit problematischem Substanzgebrauch feststellen (vgl. Sander, Gamsavar 2022, S. 5).

    Ein Thema für verschiedene Professionen

    Es ist insgesamt festzuhalten, dass Chemsex nicht ausschließlich als Subkultur innerhalb der schwulen Sexkultur zu werten ist, sondern auch als Praktik, die in verschiedenen Professionen thematisiert werden kann. So ist auch die Soziale Arbeit gefordert, wenn Männer* die negativen Konsequenzen ihres Substanzkonsums im sexuellen Kontext erleben und Unterstützung im System suchen. Daher sind nicht nur Projekte, die sich an der schwulen Lebenswelt orientieren, gefragt, sondern auch allgemeine Drogen- und Suchtberatungen, die sich der Dimensionen von Sexualität und Substanzkonsum bewusst sind (vgl. Deimel et al. 2017, S. 257 f.). Infolgedessen betrifft das Thema Chemsex verschiedene professionelle Handlungsfelder, darunter Drogenhilfe, sexuelle Gesundheit und psychosoziale Beratung. Die Nutzung digitaler Räume hat die Reichweite und Sichtbarkeit des Themas deutlich erhöht. Zudem beschränkt sich die Thematik nicht nur auf Großstädte, sondern stellt ein globales Phänomen dar.

    Praktische Ansätze für die Drogen- und Suchtberatung

    Die Beratung von Männern*, die zum Thema Chemsex Rat und Hilfe suchen, erfordert eine flexible und vernetzte Herangehensweise. Im Folgenden werden mögliche praktische Ansätze in der Beratung vorgestellt, die in Betracht gezogen werden sollten. Diese Ansätze wurden ausführlich im Rahmen einer Abschlussarbeit mit dem Titel „Rekonstruktion der professionellen Wissensbasis in der Drogen- und Suchtberatung zum Thema Chemsex – Substanzkonsum im sexuellen Setting bei Männern*, die Sex mit Männern* haben“ (Keßler 2023) beschrieben.

    Sensibilisierung, Wissensaufbau und Arbeitsbeziehung

    Von essenzieller Bedeutung ist, dass die Beratenden für das Thema sensibilisiert sind und eine Grundidee von der Lebenswelt der Klientel haben. Hierdurch können Missverständnisse und erneute Outingprozesse vermieden werden. Es ist für Beratende unerlässlich, die sozialen und individuellen Dimensionen von Chemsex zu verstehen, um erfolgreich handeln zu können. Fortbildungen müssen sowohl die Substanzkunde als auch die Dynamiken von Chemsex-Settings abdecken. Im Weiteren sollten Beratende mit den Begriffen vertraut sein, die in Chemsex-affinen Räumen verwendet werden, um möglichst gezielte Fragen stellen zu können und eine Offenheit dem Thema gegenüber zu signalisieren. Zum Beispiel werden Substanzen nicht immer unter ihren eigentlichen Namen genannt, sondern oft codiert. So wird Methamphetamin als „Tina“ bezeichnet, während GHB/GBL den Namen „Gina“ trägt. Zudem kann auf Dating-Apps durch Abkürzungen wie „PnP“ („Party and Play“) signalisiert werden, dass man für Chemsex offen ist.

    Von besonderer Relevanz ist die Auseinandersetzung mit Stigmata und Vorurteilen, denen die Klientel potenziell ausgesetzt ist. Die Entwicklung eines Verständnisses für die Lebenswelt der Männer* erleichtert den Klienten* den Zugang zur Beratung. Dies setzt außerdem voraus, dass ein Raum geschaffen wird, in dem sich die Klienten* verstanden und wertfrei angenommen fühlen.

    Dabei ist es nicht das Ziel, dass jede*r Beratende unzählige Fortbildungen zu dem Thema absolviert und zur Expert*in wird. Vielmehr geht es darum, eine wertschätzende Haltung zu entwickeln, die es ermöglicht, in einen Dialog zu treten. Der Aufbau einer respektvollen, vertrauensvollen und vorurteilsfreien Beziehung ist essenziell für eine effektive Beratung im Kontext von Chemsex. Viele Klienten* erleben aufgrund ihres Substanzkonsums im sexuellen Setting Scham, Schuldgefühle und Angst vor Stigmatisierung, was ihre Bereitschaft, offen über ihre Situation zu sprechen, beeinträchtigen kann. Beratende sollten eine Atmosphäre schaffen, die Offenheit, Sicherheit und Akzeptanz signalisiert. Eine affirmierende Haltung gegenüber den Lebensrealitäten von LGBTQI*-Personen umfasst nicht nur die Vermeidung von Vorurteilen, sondern auch ein aktives Verständnis und die Anerkennung der spezifischen Herausforderungen und Bedürfnisse, mit denen die Klientel konfrontiert sein kann. Dazu gehört das Wissen um die kulturellen und sozialen Aspekte der LGBTQI*-Community ebenso wie die Sensibilität für Themen wie Diskriminierung, Minderheitenstress und die Rolle von Substanzen in diesem Kontext. Das Ziel ist, eine Beratungsbeziehung zu etablieren, in der sich Klienten* angenommen fühlen und ihre Bedürfnisse, Ängste und Ambivalenzen frei äußern können.

    Thematisierung von Konsummustern und Sexualität

    In der Beratung ist es entscheidend, Substanzkonsum und Sexualität als eng miteinander verknüpfte Themen zu betrachten. Viele der User* erleben Herausforderungen, die aus dieser Dynamik entstehen, wie beispielsweise keine Lust mehr zu empfinden, wenn der Substanzgebrauch wegfällt. Eine klare, wertschätzende und wertfreie Ansprache ist unerlässlich, um Hemmungen und Schamgefühle zu verringern. Sensibilität gegenüber den Themen Sexualität und Konsum ist besonders wichtig, da diese von Stigmatisierung und Schuldgefühlen begleitet werden können. Beratende sollten darauf achten, dass die Gespräche Raum für Offenheit bieten, ohne den Eindruck von Beurteilung oder moralischer Ablehnung zu vermitteln. Durch eine behutsame Thematisierung können Klienten* nicht nur ihre Konsummuster besser verstehen, sondern auch mögliche Risiken und Folgen erkennen, was eine Grundlage für Veränderungsprozesse schaffen kann.

    Förderung von Safer-Use- und Safer-Sex-Strategien

    Ein zentraler Bestandteil der Beratung im Kontext von Chemsex ist die Förderung von Safer-Use- und Safer-Sex-Strategien. Praktische und alltagstaugliche Maßnahmen zur Risikoreduktion tragen dazu bei, gesundheitliche Schäden zu minimieren und die Klientel dabei zu unterstützen, ein bewussteres Verhalten zu entwickeln. Die Bereitstellung und Vermittlung von Informationen über die sichere Nutzung von Konsumutensilien ist, insbesondere bei Praktiken wie dem Slamming, von Bedeutung. Das umfasst die Weitergabe von Informationen über die Bedeutung steriler Spritzen und Nadeln, um Infektionen wie HIV oder Hepatitis C zu vermeiden, sowie Informationen zur sicheren Entsorgung von gebrauchten Utensilien, um das Risiko für andere Personen zu minimieren. Darüber hinaus sollten risikoärmere Konsumformen empfohlen werden wie z. B. nasaler Konsum statt intravenöser Applikation, und es sollten Anwendungsformen wie „up your bum“ (Drogenapplikation in den Anus) thematisiert werden.

    Die Mischung verschiedener Substanzen im Chemsex-Kontext kann erhebliche gesundheitliche Risiken bergen wie z. B. unerwartete Wechselwirkungen oder Überdosierungen. Beratende sollten auf riskante Kombinationen bestimmter Substanzen hinweisen und über Symptome von Überdosierungen und Erste-Hilfe-Maßnahmen informieren. Auch in diesem Zusammenhang wird deutlich, dass das Zusammendenken von Substanzgebrauch und Sex erforderlich ist, da die Förderung sexueller Gesundheit ein integraler Bestandteil der Beratung sein sollte. Beratende können mit den Klienten* ins Gespräch gehen und auf gängige Safer-Sex-Strategien wie die Nutzung von Kondomen etc. hinweisen. Im Weiteren können Informationen über die Anwendung der PrEP (Prä-Expositionsprophylaxe) oder PEP (Post-Expositionsprophylaxe) unterstützend sein. Neben der Beratung zu diesen präventiven Maßnahmen sollten Beratende wissen, in welchen Institutionen die Klienten* einfachen Zugang zu diesen Maßnahmen haben, wo zum Beispiel niederschwellige Check-ups in Anspruch genommen werden können, um frühzeitig Infektionen zu erkennen und behandeln lassen zu können.

    Interdisziplinäre Zusammenarbeit und Netzwerkbildung

    Hilfe und Beratung im Zusammenhang mit Chemsex erfordert eine interdisziplinäre Herangehensweise, um die vielfältigen Bedarfe der Klienten* zu adressieren. Beratende sollten enge Kontakte zu spezialisierten Einrichtungen wie HIV- und STI-Beratungsstellen, sexuellen Gesundheitsdiensten und LGBTQI*-Organisationen pflegen. Zentrale Aufgaben der Beratenden sind die gezielte Weiterleitung von Klienten*, die Unterstützung bei organisatorischen Hürden sowie die Koordination zwischen den beteiligten Stellen. Interdisziplinäre Fallbesprechungen können bei komplexen Situationen hilfreich sein, um gemeinsame Lösungsstrategien zu entwickeln. Die Zusammenarbeit in Netzwerken stärkt nicht nur die Betreuung der Klienten*, sondern fördert auch den Austausch und die Weiterbildung der Fachkräfte, wodurch die Versorgungsqualität nachhaltig verbessert wird. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Berliner Chemsex-Netzwerk, das sich aus verschiedenen Professionen zusammensetzt und in regelmäßigen Abständen zusammenkommt, um sich zu aktuellen Themen in Bezug auf Chemsex auszutauschen und zu kooperieren.

    Begleitung und Rückfallprävention

    Für Männer* mit komplexen Problemlagen im Zusammenhang mit Chemsex können langfristige Unterstützungsprozesse erforderlich sein. Wenn Klienten* sich z. B. für eine Veränderung der Konsummuster entschieden haben, kann eine Rückfallprävention darauf abzielen, dass sie Strategien zur Stressbewältigung und Selbstfürsorge vermittelt bekommen. Essenziell ist hierbei, individuelle Auslöser und Risikofaktoren für Rückfälle zu identifizieren und entsprechende Maßnahmen zu erarbeiten, die sich an der tatsächlichen Lebensrealität der User* orientieren. An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass Rückfallprävention nicht gleich Abstinenzerhaltung bedeutet.

    Mit Motivierender Gesprächsführung (Motivational Interviewing, MI) können Beratungsstellen  Veränderungsprozesse unterstützen. Die MI bietet Orientierung, um die Klientel in ihrem Veränderungsprozess zu begleiten und ihre Motivation zu stärken. Langfristige Begleitung bedeutet auch, den Männern* eine verlässliche Anlaufstelle zu bieten, zu der sie im Falle von Krisen oder Rückfällen jederzeit zurückkehren können.

    Fazit

    Die Themenbereiche rund um Chemsex erfordern in der allgemeinen Drogen- und Suchtberatung an bestimmten Punkten ein spezialisiertes Wissen, Empathie und eine gute Vernetzung. Als eine der ersten Anlaufstellen spielen Beratungsstellen eine entscheidende Rolle, indem sie der Klientel niedrigschwelligen Zugang und gezielte Unterstützung bieten. Die Förderung von Sensibilisierung der Beratenden, die Vermittlung spezifischer Strategien und die interdisziplinäre Zusammenarbeit sind essenziell, um die Beratungsqualität zu steigern und die Lebenssituation der Klientel nachhaltig zu verbessern. Die beschriebenen Maßnahmen sollten stets individuell auf die Lebensrealitäten und Bedürfnisse der Klienten* abgestimmt sein. Ein pragmatischer Ansatz, der nicht auf Abstinenz als alleiniges Ziel festgelegt ist, sondern die schrittweise Reduktion von Risiken in den Fokus rückt, schafft eine niedrigschwellige und akzeptierende Beratungsatmosphäre.  Klienten* sollten dabei unterstützt werden, eigenverantwortlich und informiert Entscheidungen zu treffen, um ihre physische und psychische Gesundheit zu schützen. Eine nicht pathologisierende Haltung ist dabei zentral, um Vertrauen und Offenheit zu fördern.

    Über das Beratungssetting hinaus sollte das Thema auch in einem breiteren Kontext berücksichtigt werden, also auch in Rehabilitationseinrichtungen, im Eingliederungsbereich, im Qualifizierten Entzug oder im Bereich der Weiterbildung Suchttherapie.

    Veranstaltungshinweis:
    Chemkon Berlin 2025
    Bundeskonferenz sexualisierter Substanzkonsum
    28.-29. März 2025
    Charité Campus Mitte, Berlin
    https://biss-chemsex.com/chemkon/

    Kontakt:

    Tizian Keßler
    tizian.kessler(at)vistaberlin.de

    Angaben zum Autor:

    Tizian Keßler (M.A. Praxisforschung in Sozialer Arbeit und Pädagogik / B.A. Soziale Arbeit) leitet eine Beratungsstelle der vista gGmbH in Berlin.

    Literatur:
    • Bochow, M., Lenuweit, S., Sekuler, T. & Schmidt, A. J. (2011). Schwule Männer und HIV/AIDS. Lebensstile, Sex, Schutz- und Risikoverhalten. Berlin: Deutsche AIDS-Hilfe e.V.
    • Bourne, A., Reid, D., Hickso, F., Torres Rueda, S. & Weatherburn, P. (2014). Die Chemsex Studie: Drogenkonsum in sexuellen Umfeldern unter schwulen und bisexuellen Männern in Lambeth, Southwark & Lewisham. Zusammenfassung der Studie in HIVreport Nr.3/2014. Abgerufen am 12.07.2022: http://www.hivreport.de/sites/default/files/documents/2014_03_hiv_report.pdf
    • DAH – Deutsche Aids Hilfe (2014). Slamming – Risiken senken beim Spritzen von Chems. Abgerufen am 19.12.2024: http://www.iwwit.de/wissenscenter/drogen/slamming
    • Deimel, D. & Stöver, H. (2015). Drogenkonsum und Gesundheitsverhalten in der homo- und bisexuellen Community. In akzept e.V., Deutsche Aids-Hilfe, Jes e.V., 2. Alternativer Drogen- und Suchtbericht (S. 66-70). Lengerich: Pabst Science Publishers
    • Deimel, D., Dichtl, A. & Graf, N. (2017). Methamphetaminkonsum von Männern, die Sex mit Männern haben, in sexuellen Settings. In H. Stöver, A. Dichtl & N. Graf, Crystal Meth (S. 253-260). Frankfurt am Main: Fachhochschulverlag
    • Graf, N., Dichtl, A., Hößelbarth, S., Deimel, D. & Stöver, H. (2016). Die Clubdrug Studie – Drogenkonsum und Gesundheitsverhalten von Männern, die Sex mit Männern haben. 10.13140/RG.2.1.4238.6167
    • Großer, J. (2022). Good To Know! Eine Einführung in das Phänomen Chemsex. In U. Gamsavar, & D. Sander, Handbuch zur Durchführung von quapsss-Gruppen für ChemSex praktizierende Männer* (S. 9-12). Berlin: Deutsche Aidshilfe e.V.
    • Grümer, K. & Iking, A. (2020). Neue Herausforderung für die Suchthilfe: MSM mit Chemsex-Konsummustern. SUCHT (66), S. 303-308
    • Haslebacher, A., Brodmann Maeder, M. & Blunier, S. (2022). Chemsex – mehr als Sex unter Drogen. www.medicalforum.dh. Abgerufen am 19.12.2024: https://doi.org/10.4414/smf.2022.09061
    • Keßler, T. (2023). Rekonstruktion der professionellen Wissensbasis in der Drogen- und Suchtberatung zum Thema Chemsex – Substanzkonsum im sexuellen Setting bei Männern*, die Sex mit Männern* haben. Berlin: Alice Salomon Hochschule
    • Sander, D. & Gamsavar, U. (2022). Einleitung. In U. Gamsavar & D. Sander, Handbuch zur Durchführung von quapss-Gruppen für ChemSex praktizierende Männer* (S. 5-7). Berlin: Deutsche Aidshilfe e.V.
    • Stuart, D. (2016). A chemsex cruisble: the context and the controversy. BMJ Sexual & Reprodutive Health, S. 295-296
  • Traumazentrierte Psychotherapie mit EMDR

    Ernst Reinhardt Verlag, München, 2., aktualisierte Auflage 2024, 223 Seiten, 29,90 €, ISBN 978-3-497-03274-7

    Wenn das Erlebnis zum Trauma wird: Beinahe täglich erfahren wir von kriegerischen Auseinandersetzungen in Krisengebieten der Welt, Flugzeugabstürzen, Zugunglücken oder Naturkatastrophen. Solche Ereignisse können bei den beteiligten Opfern schwere Traumatisierungen auslösen und die Menschen regelrecht aus der Bahn werfen. Die von Francine Shapiro entwickelte Traumatherapie-Methode „Eye Movement Desensitization and Reprocessing“ (EMDR) nimmt sich genau dieser Patient:innen an. Eingängig und anschaulich erläutert Eva Münker-Kramer in diesem Buch Entstehung, Hintergründe und therapeutische Abläufe von EMDR. Das Buch führt in den evidenzbasierten Therapieansatz der EMDR grundlegend ein und ist daher auch für Berufseinsteiger:innen geeignet.

  • Wie geht es Freundinnen, Freunden und Angehörigen suizidaler Menschen?

    10.300 Menschen beendeten im Jahr 2023 ihr Leben durch einen Suizid. Wesentlich mehr versuchten es oder dachten darüber nach. Wie geht es den Menschen, die ihnen nahestehen? Wie fühlen sich Familienangehörige und Freund:innen angesichts von Selbstmordgedanken oder -versuchen in ihrem nahen Umfeld und was könnte ihnen helfen, mit der Belastung umzugehen? Das untersucht Monique Pfennig am Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit der Ruhr-Universität Bochum.

    Betroffene sind eingeladen, an einer Online-Befragung teilzunehmen:
    https://www.soscisurvey.de/wohlbefinden_angehoeriger/

    Hilfsangebote entwickeln

    „Ich möchte durch die Studie dazu beitragen, Maßnahmen und Ressourcen zu entwickeln, die auf die speziellen Bedürfnisse von Angehörigen suizidaler Menschen zugeschnitten sind“, betont Monique Pfennig. Teilnehmende der Studie werden online zu psychischen Belastungen wie etwa depressiven Symptomen und Ängsten sowie suizidalem Erleben und Verhalten befragt. Darüber hinaus werden Informationen zu bereits erhaltener Unterstützung erhoben. Es wird gefragt, wie die Teilnehmenden diese Angebote bewerten und welche Wünsche nach weiterer Unterstützung bestehen. Die Teilnahme an der Befragung dauert 15 bis 30 Minuten und ist anonym.

    Website des Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit der Ruhr-Universität Bochum: https://fbz-bochum.de/

    Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum, 16.1.2025

  • Frühkindlicher Stress und Angst

    Frühkindlicher Stress kann sich langfristig auf die psychische Gesundheit auswirken und das Risiko für die Entwicklung von Angststörungen und posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) erhöhen. Frauen sind häufiger von PTBS betroffen, daher ist es wichtig, zu verstehen, wie das biologische Geschlecht die Reaktionen auf Traumata beeinflusst. Eine kürzlich veröffentlichte Studie hat mit Hilfe des maschinellen Lernens auffällige Unterschiede in der Art und Weise aufgedeckt, wie männliche und weibliche Mäuse auf Stress reagieren. Sowohl im Verhalten als auch im Gehirnstoffwechsel sowie in der Regulierung der Stresshormone unterscheiden sich die Geschlechter.

    Verstärkte Angstreaktionen

    Stress in der Kindheit wie Vernachlässigung oder Misshandlung sind bekannte Risikofaktoren für die Entwicklung psychischer Störungen im späteren Leben. Forscher:innen des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie (MPI) in München unter der Leitung von Joeri Bordes und Mathias Schmidt untersuchten mit Hilfe eines Mausmodells, wie sich frühkindlicher Stress auf die Angstreaktion und das Gedächtnis bei Männchen und Weibchen auswirkt. Sie fanden heraus, dass solcher Stress zu verstärkten Angstreaktionen führt, die sich bei Männchen und Weibchen unterscheiden: Männliche Tiere zeigten passive Strategien zur Angstbewältigung („Einfrieren“), während weibliche Tiere aktive Strategien zeigten (Ausweichen oder fluchtartiges Verhalten). Stress in einer frühen Lebensphase wirkte sich bei Männchen und Weibchen zu unterschiedlichen Zeitpunkten aus, Weibchen reagierten unmittelbar, Männchen zeigten länger anhaltende Reaktionen. Weibliche Mäuse wiesen unmittelbar nach einer frühen Stressbelastung einen erhöhten Stresshormonspiegel (Corticosteron) auf, bei männlichen Tieren war das nicht der Fall.

    Stoffwechselprozesse im Gehirn

    Die Forscher:innen untersuchten auch die Stoffwechselprozesse in Gehirnregionen, die mit Angst und Stress in Verbindung gebracht werden, darunter die Amygdala und der Hippocampus. Sie entdeckten geschlechtsspezifische und stressabhängige Veränderungen im Hirnstoffwechsel: Frühkindlicher Stress löste geschlechtsspezifische Veränderungen in wesentlichen Stoffwechselkanälen aus, also in Prozessen, die für die Energieproduktion, die DNA-Reparatur und die Kommunikation zwischen den Nervenzellen wichtig sind. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass früher Stress die Art und Weise, wie das Gehirn Energie und Signale verarbeitet, umprogrammiert, was die Anfälligkeit für psychische Störungen im späteren Leben erhöhen könnte.

    Auswirkungen auf die psychische Gesundheit

    „Unsere Ergebnisse unterstreichen, wie wichtig es ist, geschlechtsspezifische Unterschiede in den neurobiologischen Prozessen, die Trauma bedingten Verhaltensweisen zugrunde liegen, zu berücksichtigen“, sagt Joeri Bordes, Hauptautor der in „Communications Biology“ veröffentlichten Studie. „Dieses Wissen könnte den Weg ebnen für die Entwicklung geschlechtsspezifischer Therapien für Menschen, die in ihrer Kindheit Stress erlebt haben.“

    Diese Forschung liefert entscheidende Informationen über die komplexe Beziehung zwischen frühkindlichem Stress, Geschlecht und Angst. Dadurch hoffen die Wissenschaftler:innen, wirksamere Behandlungen für Trauma bedingte Störungen entwickeln zu können. Mögliche Therapien, die auf bestimmte Stoffwechselwege abzielen, könnten auf die unterschiedlichen Bedürfnisse von Männern und Frauen zugeschnitten werden. „Durch das Verständnis, wie unterschiedlich sich Stress bei Männern und Frauen auf das Gehirn auswirkt, können wir psychische Störungen langfristig individueller und besser behandeln“, hofft MPI-Forschungsgruppenleiter Mathias Schmidt.

    Originalpublikation:
    Communications Biology, December 2024
    https://doi.org/10.1038/s42003-024-07396-8

    Pressestelle des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie, 14.1.2025