Autor: Simone Schwarzer

  • Verbandsauswertung des buss

    DruckDer Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss) hat seine aktuelle Verbandsauswertung veröffentlicht. Es liegen die Auswertungen der Basisdaten des Entlassungsjahrgangs 2015 und die Katamnesedaten des Entlassungsjahrgangs 2014 vor. Ab diesem Jahr stellt der buss auch Katamnesedaten für Tageskliniken zur Verfügung. Eine Zusammenfassung der Verbandsauswertung und die ausführlichen Dokumente (kommentierte Tabellen) stehen als PDF zum Download auf der Internetseite www.suchthilfe.de > Informationen > Statistik bereit. Die wichtigsten Ergebnisse folgen hier in Kurzform.

    Basisdaten 2015

    r_cover-zusammenfassung-verbandsauswertung-2016Die Auswertung der Basisdaten des Entlassungsjahrgangs 2015 umfasst insgesamt 19.097 Fälle aus 112 Einrichtungen.

    Alter und Geschlecht

    Das durchschnittliche Alter liegt in Einrichtungen, die Alkohol- und Medikamentenabhängige behandeln, und in Tageskliniken mit 44,3 bzw. 45,2 Jahren am höchsten. Nach wie vor bilden Drogenabhängige die jüngste Gruppe mit durchschnittlich 30,1 Jahren. Das durchschnittliche Alter der Rehabilitanden in Adaptionseinrichtungen liegt bei 37,1 Jahren. Der Anteil der Frauen liegt in Suchthilfeeinrichtungen bei knapp einem Viertel. In Tageskliniken sind mit 30 Prozent die meisten Frauen vertreten.

    Berufliche und soziale Integration

    Große Unterschiede bestehen je nach Einrichtungsart in Bezug auf die berufliche und soziale Integration der Rehabilitanden. In stationären Einrichtungen (Fachklinik), die Alkohol- und Medikamentenabhängige behandeln, ist etwa die Hälfte der Rehabilitanden alleinstehend, die Arbeitslosenquote liegt bei 43,9 Prozent. In Drogeneinrichtungen beträgt der Anteil an Alleinstehenden 61,5 Prozent, die Arbeitslosenquote 57,4 Prozent. Rehabilitanden in Adaptionseinrichtungen weisen die problematischsten Daten auf: 79,7 Prozent sind arbeitslos und 70,4 Prozent sind alleinstehend.

    Behandlungsdauer

    Die planmäßige Behandlungsdauer ergibt sich aus den jeweiligen Bewilligungen und Standardtherapiedauern der Leistungsträger sowie den individuellen Therapieverläufen. Die Behandlungsdauer bei planmäßiger Beendigung liegt in Alkoholeinrichtungen bei durchschnittlich 92,5 Tagen (= 13 Wochen). Die planmäßige Behandlung dauert in Drogeneinrichtungen am längsten mit 135,2 Tagen (= 19 Wochen). Die Haltequote für den Entlassungsjahrgang 2015 liegt in Einrichtungen, die Alkohol- und Medikamentenabhängige behandeln, sowie in Tageskliniken bei über 82 Prozent. Die Haltequote in Adaptionseinrichtungen beträgt 78,2 Prozent. In Drogeneinrichtungen beendet etwas mehr als die Hälfte der Rehabilitanden die Behandlung planmäßig.

    Katamnesedaten 2014

    Rückläuferquote

    Für den Bereich Drogen stammen die Katamnesedaten aus neun Einrichtungen, es wurden nur Einrichtungen mit mindestens zehn Prozent Rücklaufquote berücksichtigt. Die mittlere Rückläuferquote liegt bei 21,4 Prozent. Für den Bereich Alkohol stammen die Katamnesedaten aus 37 Einrichtungen (mindestens 25 Prozent Rücklaufquote). Die mittlere Rückläuferquote beträgt 37,9 Prozent. Über die letzten drei Jahre ist die Rücklaufquote aus Einrichtungen für Alkohol und Medikamentenabhängige leicht gesunken, in Drogeneinrichtungen ist ein leichter Anstieg zu verzeichnen.

    Vergleich der Daten der Katamnese-Antworter mit den Basisdaten

    Für den Entlassungsjahrgang 2014 wurden (getrennt nach Alkohol und Drogen) die Daten der Katamnese-Antworter mit den Basisdaten verglichen.

    • Alter: Das durchschnittliche Alter bei Betreuungsbeginn betrug in Alkohol- und Medikamenteneinrichtungen 44,6 Jahre, die Antworter sind mit durchschnittlich 48,4 Jahren etwas älter. In Drogeneinrichtungen ist das Durchschnittsalter mit knapp 29 Jahren zu Behandlungsbeginn und bei den Antwortern nahezu identisch.
    • Haltequote: Aus allen Einrichtungen antworten häufiger die ehemaligen Rehabilitanden, die planmäßig entlassen wurden. Besonders auffällig ist der Unterschied in Drogeneinrichtungen, die Haltequote der Antworter liegt bei 74,7 Prozent, in der Gesamtstichprobe bei 54,2 Prozent. In Alkohol- und Medikamenteneinrichtungen liegt der Unterschied bei 9,1 Prozent.
    • Berufliche und soziale Integration: Alleinstehende und Erwerbstätige antworten eher als ehemalige Rehabilitanden, die in einer Beziehung leben oder arbeitslos sind. In Drogeneinrichtungen antworten 73,2 Prozent Alleinstehende, in der Gesamtstichprobe liegt der Anteil bei 62,1 Prozent. In Alkohol- und Medikamenteneinrichtungen ist der Anteil Alleinstehender in der Gesamtstichprobe 46,2 Prozent, bei den Antwortern 49,4 Prozent. Die Gesamtstichprobe aus Alkohol- und Medikamenteneinrichtungen weist einen Anteil von 41,5 Prozent Arbeitslosen aus, der Anteil beträgt unter den Antwortern 34,6 Prozent. In Drogeneinrichtungen ist etwa die Hälfte der Gesamtstichprobe und der Antworter arbeitslos.

    Katamnestische Erfolgsquote

    Die katamnestische Erfolgsquote errechnet sich aus den Patient/innen, die in der Katamnese „abstinent“ und „abstinent nach Rückfall“ angeben. Die Berechnungsform DGSS 1 umfasst alle planmäßig entlassenen Antworter (positive Sichtweise = Überschätzung der tatsächlichen Quote), die Berechnungsform DGSS 4 umfasst alle entlassenen Rehabilitanden und wertet die Nicht-Antworter als „definiert rückfällig“ (negative Sichtweise = Unterschätzung der tatsächlichen Quote).

    In Alkoholeinrichtungen sind beide katamnestischen Erfolgsquoten über die letzten fünf Jahre relativ stabil: DGSS1 = etwas über 80 Prozent, DGSS4 = rund 40 Prozent. Die Werte in Drogeneinrichtungen schwanken im selben Zeitraum: DGSS1 = zwischen 61 Prozent und 52 Prozent, DGSS4 = zwischen neun Prozent und 25 Prozent. Dieser Effekt kann im Wesentlichen durch die Veränderungen der Stichprobe und die unterschiedliche Zahl der teilnehmenden Einrichtungen erklärt werden. Bei den relativ kleinen Fallzahlen machen sich individuelle Einflussfaktoren in den Kliniken deutlich bemerkbar.

    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss), 27.10.2016

  • Suizidprävention

    Können Suchmaschinen Leben retten? LMU-Forscher entwickeln einen Ansatz, wie Google und andere Suchprogramme Hilfsangebote bei Suizidgefahr zielgerichteter als bisher einblenden könnten.

    Durch ihre Anfragen bei Suchmaschinen verraten Internetnutzer nicht nur ihre Interessen und Vorlieben, sondern häufig auch ihren gesundheitlichen Zustand. Suchmaschinen wie die von Google folgen daher bereits Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation und blenden Hilfsangebote ein, etwa zur Telefonseelsorge, sobald nach bestimmten Begriffen gesucht wird, die auf eine suizidale Absicht schließen lassen. „Das Internet spielt eine zunehmende Rolle bei der Suizidprävention“, sagt Dr. Florian Arendt vom Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung (IfKW) der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Mehrere Studien legen nahe, dass sich Selbstmorde verhindern lassen, wenn Betroffene auf entsprechende Hilfsangebote hingewiesen werden. Gemeinsam mit Dr. Sebastian Scherr vom IfKW hat Arendt untersucht, wie Suchmaschinen ihre Algorithmen verbessern könnten, um möglichst viele Betroffene zu erreichen. Ihre Pilotstudie ist aktuell in der Fachzeitschrift Health Communication veröffentlicht.

    Momentan werden entsprechende Hilfsangebote nur in etwa 25 Prozent der Anfragen, die auf einen potenziellen Suizid hinweisen, angezeigt, wie die beiden Forscher am Beispiel von Google in einer früheren Studie herausfanden. „Damit vergeben Suchmaschinen die Chance, einer großen Anzahl gefährdeter Personen zu helfen“, sagt Sebastian Scherr. Die LMU-Kommunikationswissenschaftler schlagen nun einen Ansatz vor, der stärker berücksichtigt, in welchem Zusammenhang bestimmte Suchbegriffe eingegeben werden.

    Suizide häufen sich an bestimmten Tagen im Jahr, etwa an spezifischen Wochentagen sowie zu bestimmten Feiertagen. Am Beispiel des Suchbegriffs „Vergiftung“ haben Arendt und Scherr den zeitlichen Verlauf von Google-Suchanfragen analysiert und nachvollzogen, an welchen Tagen und zu welchen Zeitpunkten dieses Wort besonders oft eingegeben wurde. Ihre Auswertung zeigt, dass die Suchanfragen genau an jenen Tagen zunehmen, an denen es auch deutlich mehr tatsächliches suizidales Verhalten gibt. „Zumindest an solchen Tagen wäre es daher in einem ersten Schritt notwendig, Hilfsangebote vermehrt anzuzeigen“, sagt Scherr. In ihrer Studie schlagen die LMU-Forscher vor, den Algorithmus von Suchmaschinen laufend auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse anzupassen, um Risikofaktoren stärker zu berücksichtigen. Die beiden LMU-Forscher sind der Ansicht, dass Google und andere Suchmaschinen mit einer gezielten Anpassung ihres Algorithmus einen stärkeren Beitrag zur Suizidprävention liefern können. „Die Betreiber von Suchmaschinen haben hier eine gesellschaftliche Verantwortung“, so Arendt.

    Publikation:
    Arendt, Florian & Scherr, Sebastian (2016): Optimizing online suicide prevention: A search engine-based tailored approach. In: Health Communication 2016
    http://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/10410236.2016.1224451

    Pressestelle der Ludwig-Maximilians-Universität München, 24.10.2016

  • Bewegung als Ressource in der Traumabehandlung

    Klett-Cotta, Stuttgart 2016, 264 Seiten, 27,95 €, ISBN 978-3-608-89180-5, auch als E-Book erhältlich

    9783608891805Die „Integrative Bewegte Traumatherapie“ (IBT) begreift Körper und Bewegung als Ressource zur Verarbeitung und Integration komplexer Traumatisierungen. Im Praxisteil werden alle Tools anschaulich in Fallbeispielen beschrieben.

    Traumaüberlebende verlieren durch die Gewalterfahrung ihre innere Orientierung. Zersplitterte Erinnerungsfragmente sowie psychische und körperliche Symptome sind neben chronischen Beziehungsschwierigkeiten typische Spätfolgen. Der von der Autorin und Traumatherapeutin entwickelte Ansatz der „Integrativen Bewegten Traumatherapie“ antwortet als „schonendes Traumatherapieverfahren“ mit einer ganzheitlichen Herangehensweise auf das Chaos der traumatischen Erfahrung. Bewusste Bewegung hilft dabei, die Signale des Körpers zu entschlüsseln sowie Orientierung und Ressourcenorientierung im eigenen Körper und in der Gegenwart wiederherzustellen. Über Fallgeschichten aus der Praxis werden die Interventionen der IBT in den verschiedenen Phasen des traumatherapeutischen Prozesses anschaulich vermittelt.

    Die IBT ist in alle Traumatherapien integrierbar und einfach umsetzbar ohne spezielle körperorientierte Ausbildung.

  • Wer körperlich fit ist, arbeitet effektiver

    Den leidigen Bericht schreiben, den nervigen Kunden freundlich bedienen und dem Katzenvideo im Internet widerstehen: Um in der Arbeitswelt bestehen zu können, ist Selbstkontrolle unerlässlich. Zu hohe Kontrollanforderungen an die eigene Person zehren aber an den Kräften und können zu Burnout führen. Forscher des Leibniz-Instituts für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (IfADo) haben untersucht, welche Rolle körperliche Fitness dabei spielt. Das Ergebnis: Wer regelmäßig Sport macht, kann besser mit Stress bei der Arbeit umgehen.

    In vielen Berufen ist Selbstkontrolle das A und O für eine erfolgreiche Karriere. Besonders deutlich wird das im Dienstleistungssektor. Verkäufer, Ärzte, Rechtsanwälte, Bankangestellte – sie alle müssen ihre individuellen Emotionen regulieren, um den Bedürfnissen des Kunden gerecht zu werden, um lange Zeit konzentriert zu arbeiten oder Ablenkungen zu widerstehen. Zu hohe Selbstkontrollanforderungen belasten mit der Zeit die Psyche. Als Folge fühlen sich viele Arbeitnehmer ausgepowert, erschöpft und krank.

    IfADo-Wissenschaftler konnten jetzt zusammen mit der International School of Management Dortmund und dem Dortmunder Dienstleister Prevent.on nachweisen, dass körperliche Fitness als eine Art Puffer zwischen Selbstkontrollanforderungen und psychischer Belastung fungieren kann. Das Team um die IfADo-Psychologen Klaus-Helmut Schmidt und Wladislaw Rivkin hat Daten von mehr als 800 Probanden analysiert, die sich freiwillig zu einem medizinischen Check-up angemeldet hatten. Alle Teilnehmer arbeiten im Finanzsektor.

    Als Messwert für die körperliche Fitness ermittelten die Forscher die maximale Aufnahmefähigkeit von Sauerstoff im Blut während einer sportlichen Tätigkeit, eine gängige Methode zur Beurteilung der körperlichen Leistungsfähigkeit. Anschließend wurden die Probanden zu psychischen Belastungen bei der Arbeit befragt. Die erhobenen Daten wurden verglichen. Dabei zeigte sich, dass Menschen, die körperlich fit sind, weniger Probleme haben, ihre Emotionen und ihr Verhalten bei der Arbeit entsprechend den Berufsanforderungen zu regulieren, als Menschen, die selten Sport machen.

    „Wer fit ist, kann psychischen Belastungen und Erkrankungen durch zu viel Stress während der Arbeit vorbeugen“, sagt Rivkin. „Gerade in Berufen, die täglich ein hohes Maß an Selbstkontrolle erfordern, könnten Sportangebote präventiv eingesetzt werden, um Überbelastung zu vermeiden.“ Denn um effektiv und konzentriert zu arbeiten, braucht der Körper ausreichend Energie in Form von Glukose, die nur begrenzt zur Verfügung steht. Ist der Körper aber durch regelmäßigen Sport in einer guten Verfassung, wird Zucker effizienter in die Zellen transportiert.

    Zur Publikation:
    Schmidt, Klaus-Helmut; Beck, Rüdiger; Rivkin, Wladislaw; Diestel, Stefan (2016) Self-Control Demands at Work and Psychological Strain: The Moderating Role of Physical Fitness. International Journal of Stress Management, Vol. 23, No.3, 255-275. Doi: 10.1073/str0000012

    Das IfADo – Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund erforscht die Potenziale und Risiken moderner Arbeit auf lebens- und verhaltenswissenschaftlicher Grundlage. Aus den Ergebnissen werden Prinzipien der leistungs- und gesundheitsförderlichen Gestaltung der Arbeitswelt abgeleitet. Weitere Informationen: www.ifado.de

    Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund, 18.10.2016

  • Kooperation, Kommunikation, Schnittstellenmanagement

    Kooperation, Kommunikation, Schnittstellenmanagement

    Ausgangssituation

    Stefan Bürkle
    Stefan Bürkle

    Kooperation, Kommunikation und Schnittstellenmanagement zwischen den beteiligten Einrichtungen bilden im Prozess der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker ganz wesentliche Grundlagen der Leistungserbringung und sind ein Garant für die Qualität der Behandlungsangebote für abhängigkeitskranke Menschen. Kein Indikationsbereich in der medizinischen Rehabilitation weist so viele unterschiedliche Behandlungsformen auf wie die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker. Das bietet die Möglichkeit, für die Klient/innen möglichst bedarfsgerechte und passgenaue Behandlungsangebote vorzuhalten. Die damit verbundene Differenzierung und Komplexität in den Behandlungsangeboten und -modulen bedarf jedoch der intensiven und aufwändigen Zusammenarbeit zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen. Da nach dem personenzentrierten Ansatz prinzipiell die Rehabilitand/innen im Mittelpunkt zu sehen sind, beinhaltet die Optimierung von Kooperations- und Kommunikationsprozessen immer auch die Frage, wann und in welcher Form die Rehabilitand/innen in die Abstimmungsgespräche (besser) einzubeziehen sind.

    Die Palette an ambulanten, ganztägig ambulanten, stationären und kombinierten Leistungsformen ist in den vergangenen Jahren insbesondere im Bereich der ambulanten Weiterbehandlung ausgebaut worden. Mit der Differenzierung im Behandlungsangebot der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker sind zwangsläufig auch die Anforderungen an Kooperationsleistungen und Absprachen gestiegen. Einen Meilenstein stellte die Einführung der Kombinationsbehandlung dar. Durch die damit verbundene Netzwerkorientierung wurden Aktivitäten an den Schnittstellen und damit auch der Kommunikationsprozess zwischen ambulanter und stationärer Suchthilfe befördert.

    In ihrer „Arbeitshilfe für die Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen“ geht die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) grundsätzlich auf die Gestaltung der Schnittstellen und Übergänge zwischen den einzelnen Behandlungsangeboten in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker ein. Dabei weist sie auf die erforderlichen flexiblen Übergänge zwischen den Leistungen hin und hebt die Bedeutung eines Fallmanagements hervor, das die möglichst nahtlosen Übergänge begleitet (BAR 2006, S. 51 ff.). Längst ist es zu einem Standard im Qualitätsmanagement geworden, dass die Suchthilfeeinrichtungen die Beziehungen zu Rehabilitand/innen, Angehörigen und Bezugspersonen, zu Behandler/innen, Leistungsträgern und der Suchtselbsthilfe im Rahmen des Rehabilitationsprozesses durch Informationsvermittlung, Abstimmungen und Schnittstellenmanagement bewusst gestalten (vgl. hierzu BAR 2009, S. 14). Es stellt sich jedoch die Frage, ob dies in ausreichendem Maße geschieht bzw. wie verbindlich die Zusammenarbeit in der Praxis tatsächlich gehandhabt wird.

    Die intensive und verbindlich organisierte Kooperation und damit auch die Kommunikation und das Schnittstellenmanagement zwischen der ambulanten Suchthilfe (Beratungsstelle) und der stationären Suchthilfe (Fachklinik) sind heute aus mehreren Gründen so bedeutsam:

    • Die praktische Umsetzung kombinierter Behandlungsformen wie auch der neuen ambulanten Weiterbehandlungsformen und der BORA-Empfehlungen (Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker) in der Behandlung Abhängigkeitskranker kann nur auf der Basis einer intensiven Kooperation der Beteiligten erfolgreich gelingen. Die Vielschichtigkeit des gesamten Behandlungsangebots wie auch die Komplexität der genannten neuen Leistungsformen selbst zwingen alle Beteiligten zu mehr Transparenz und Verbindlichkeit in der gegenseitigen Information und Kommunikation.
    • Um den Zugang in die medizinische Rehabilitation nahtloser und ggf. auch frühzeitiger zu gestalten, ist eine gute Kooperation entscheidend. Sie kann auch dazu beitragen, die Nichtantrittsquote zu senken und die Qualität der Vermittlung zu verbessern, z. B. durch Erreichen einer stärkeren Compliance und Behandlungsmotivation. Darüber hinaus nutzen den Klient/innen bedarfsorientierte und passgenaue Behandlungsangebote nur dann bzw. kann das Ziel einer optimierten Versorgung nur dann erreicht werden, wenn die Leistungsformen sinnvoll kombiniert und auch individuell eingesetzt werden. Auch dies setzt eine gute Kommunikation und eine gelebte Kooperation zwischen den Beteiligten voraus.
    • Nicht zuletzt sind eine gute Kooperation, eine intensive Kommunikation und ein gelingendes Schnittstellenmanagement zwischen den beteiligten Einrichtungen in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker auch eine Investition in die Zukunft des teilhabeorientierten Systems der Suchthilfe. Die Anträge für Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation sind seit einigen Jahren rückläufig. Sicherlich geht diese Entwicklung auf unterschiedliche Ursachen zurück. Belastbare Begründungen liegen derzeit nur bedingt vor. Fakt ist aber, dass die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker trotz ihrer nachgewiesenen Wirksamkeit und auch entgegen der prognostizierten demografischen Entwicklung rückläufig ist. Fakt ist auch, dass es für suchtkranke Menschen durchaus Alternativen zur (scheinbar hochschwelligen) Reha-Behandlung gibt, wie medikamenten- und substitutionsgestützte Behandlungsformen, Behandlungsangebote im Bereich der Sozialpsychiatrie, Betreuungsangebote in der Eingliederungshilfe und auch Therapieangebote über niedergelassene Therapeut/innen. Möglich sind auch Spontanremissionen. Eine standardisierte und verbindliche Kooperation sowie eine transparente Kommunikation zwischen den an einer Rehabilitationsmaßnahme beteiligten Einrichtungen wirken vertrauensbildend auf die Klient/innen und auf externe Kooperationspartner. Das kann die Bereitschaft der betroffenen Abhängigkeitskranken erhöhen, eine Therapiemaßnahme zu beantragen und sie auch tatsächlich anzutreten.

    Neue Behandlungsformen und BORA

    2015 wurden für die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker die so genannten neuen Behandlungsformen „Wechsel in eine ambulante Rehabilitationsform“ (ohne Verkürzung der stationären Phase) und „Wechsel in die ambulante Entlassform“ (Verkürzung der stationären Phase) von den Leistungsträgern verabschiedet. Diese können seither als neue Leistungsformen beantragt werden. Ebenfalls 2015 ist das von der DRV und GKV verabschiedete Rahmenkonzept zur Kombinationsbehandlung in Kraft getreten, das nach einer stationären oder ganztägig ambulanten Behandlung die Fortsetzung der Behandlung im ambulanten Setting vorsieht. 2014 wurden die BORA-Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker von einer gemeinsamen Expertengruppe aus Vertreter/innen der Leistungsträger und der Verbände entwickelt.

    Neu an den ambulanten Weiterbehandlungsformen ist insbesondere, dass sie aus dem stationären Setting, also aus der bereits laufenden Rehabilitationsmaßnahme heraus beantragt werden müssen. Speziell sind auch die formalen Rahmenbedingungen und Indikationskriterien, die bei der Beantragung berücksichtigt werden müssen. Vereinfacht ausgedrückt gleichen sie einem Produkt‚ ‚das noch beim Kunden reifen muss‘. Damit ist gemeint, dass das Verständnis dieser neuen Leistungsformen und Instrumente wie auch das ihrer Stellung innerhalb der gesamten Angebotslandschaft auf der Ebene der Leistungserbringer wachsen und entwickelt werden muss. Damit verbunden ist auch die passende Beratung und Vermittlung unserer Klientel im Sinne einer Kundenorientierung und als Serviceleistung.

    Das wird auch in der Zielsetzung deutlich, die die DRV mit der Weiterentwicklung der Leistungsformen verbindet: Durch die Erweiterung der Angebotslandschaft soll die Behandlung flexibler und individueller sowie bedarfsgerechter ausgestattet sein. Die Differenzierung in den Behandlungsformen soll zur weiteren Abgrenzung und Profilierung der einzelnen Angebote beitragen. Letztlich strebt die DRV damit auch ein einheitliches Vorgehen aller Rentenversicherungsträger in ihren Behandlungsangeboten an, um die Übersichtlichkeit im Leistungsangebot für die Betroffenen zu gewährleisten.

    Für die Anwendung in der Praxis sind die neuen Behandlungsformen und BORA jedoch keine Selbstläufer. Um sie erfolgreich umzusetzen – d. h., um die Instrumente für die Klienten/innen bedarfsorientiert anzuwenden, die Wiedereingliederung in Arbeit zu verbessern und von den Vorteilen für ambulante und stationäre Einrichtungen zu profitieren –, braucht es eine Verbesserung der Kooperation zwischen den beteiligten ambulanten und stationären Einrichtungen. Dabei wird es weniger wichtig sein, neue Formen zu erfinden, als bewährte Formen der Kooperation zu modifizieren und verbindlich zu gestalten.

    Kooperation, Kommunikation, Schnittstellenmanagement

    Was bedeutet nun ‚gute‘ Kooperation und Kommunikation oder funktionierendes Schnittstellenmanagement im Gesamtrehabilitationsprozess? Um sich dem anzunähern, soll kurz skizziert werden, was mit Schnittstelle bzw. Schnittstellenmanagement gemeint ist (wobei hier immer auch das Entlassmanagement mitzudenken ist als eine spezielle Form des Schnittstellenmanagements).

    Der Begriff „Schnittstelle“ oder „Interface“ entstammt ursprünglich der Naturwissenschaft und bezeichnet vereinfacht einen „Berührungspunkt zwischen zwei verschiedenen Sachverhalten oder Objekten“ (Gabler Wirtschaftslexikon online). Für unsere Zusammenhänge treffender ist eine Definition aus dem Bereich des Gesundheitswesens, speziell der Integrierten Versorgung. Nach Greiling und Dudek (2009, S. 68) meint eine Schnittstelle „eine Übergangs- bzw. Verbindungsstelle zwischen im Prozess verbundenen organisatorischen Einheiten, Abteilungen bzw. Mitarbeitern, die unterschiedlichen Aufgaben-, Kompetenz- oder Verantwortungsbereichen unterliegen und durch die Wertschöpfungskette verbunden sind. Die Schnittstelle überträgt Informationen, Materialien und/oder Dienstleistungen.“ Bedeutsam scheint in diesem Zusammenhang der Begriff der Wertschöpfungskette, der deutlich macht, dass ‚das Ganze‘ über die Teilleistung einzelner Bereiche hinausgeht und erst durch das sinnvolle Zusammenwirken der Beteiligten entsteht. Im Gesamtrehabilitationsprozess besteht die Wertschöpfungskette daraus, die erforderlichen Informationen, Materialien und/oder Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen und zu teilen, damit für die Klient/innen bedarfsorientierte und passgenaue Behandlungsformen möglich und die angestrebten Behandlungsziele, bis hin zur Förderung der Integration in Arbeit, erreicht werden.

    Als wesentliche Grundlage einer gelungenen Kooperation und Kommunikation, im Sinne der eben beschriebenen Wertschöpfungskette, nannte Dr. Elke Sylvester, medizinische Leiterin der Fachklinik Nettetal, bei einer Veranstaltung der Caritas Suchthilfe (CaSu) zum Thema „Neue Behandlungsformen“ im April 2016 die „vertrauensvolle Zusammenarbeit“. Dazu gehört, dass sich die Mitarbeiter/innen der Fachklinik und der Beratungsstelle gegenseitig als fachlich kompetent wahrnehmen und akzeptieren. Dies setzt voraus, dass man sich persönlich kennt und über die spezifische Arbeitssituation des anderen Bescheid weiß. Häufige und wiederkehrende Probleme in der Zusammenarbeit zwischen Fachkliniken und Beratungsstellen tauchen nach Dr. Sylvester dann auf, „wenn sich die beteiligten Institutionen nicht gut genug kennen und somit keine Idee von der jeweils anderen Arbeitsweise haben“. Vielleicht scheint es vermessen anzunehmen, man könne mit allen Kooperationspartnern eine derart personalisierte Beziehung pflegen. Dennoch stellt dies für eine regelmäßige und dauerhafte Zusammenarbeit eine Grundvoraussetzung dar. Sehr hilfreich im Bereich regelmäßiger Kooperationen wie auch im Rahmen von Verbünden ist es z. B., gegenseitig Hospitationen durchzuführen. Dies erweitert den Blickwinkel auf die Arbeitsweise der beteiligten Partner und hilft, Vorurteile und Barrieren abzubauen.

    In der Anwendung der neuen Leistungsformen bedeutet „Wissen“ aber nicht nur Kenntnisse der beteiligten Partner übereinander, sondern insbesondere auch Wissen darüber, dass es diese neuen Instrumente gibt und wie sie angewendet werden können. Eine Übersicht haben die Suchtverbände zusammengestellt.

    Vorschläge aus der Praxis für eine bessere Zusammenarbeit

    Gerade die Fachkliniken werden in der Umsetzung der ambulanten Weiterbehandlungsformen vor neue Herausforderungen gestellt, da die Fortsetzung der  ambulanten Behandlung aus dem stationären Setting heraus beantragt werden muss und sich die Frage stellt, warum die Behandlung nicht im stationären Setting verbleiben kann. Insofern kann der Schritt, eine ambulante Weiterbehandlung zu beantragen, von Mitarbeiter/innen stationärer Einrichtungen auch als eine Verletzung des fachlichen Selbstverständnisses empfunden werden. Es können auch Befürchtungen bestehen, dass ein Antrag auf ambulante Weiterbehandlung als Eingeständnis der Begrenzung eigener therapeutischer Möglichkeiten verstanden wird oder gar zu einer schlechteren Position der Klinik im Ranking der Häuser führen kann. Abhilfe schaffen hier wieder eine von gegenseitigem Vertrauen geprägte Haltung und das Wissen darum, dass die kooperierende Einrichtung über die passende fachliche Kompetenz verfügt, um die Behandlung zum Wohle der betroffenen Klientin bzw. des betroffenen Klienten weiterzuführen.

    Zusammenfassend aus unterschiedlichen Fachveranstaltungen der Caritas Suchthilfe e. V. (CaSu), u. a. dem oben erwähnten Fachtag zum Thema „Neue Behandlungsformen“, können einige ergänzende Vorschläge zur Verbesserung und Intensivierung der Kooperation benannt werden.

    • Die gegenseitige Informationsvermittlung steht an erster Stelle. Diese beginnt bei einem aussagekräftigen Internetauftritt der stationären Einrichtung, der unterschiedliche Informationen für die Klientel, Angehörige wie auch Berater/innen, möglichst klar strukturiert, bereithält. Hierbei können auch Chat-Foren für Interessierte sehr hilfreich sein. Ergänzend zu den bereits genannten gegenseitigen Hospitationen zum Kennenlernen der jeweils anderen Aufgabengebiete können auch regelmäßige Informationsgruppen bis hin zu gemeinsamen regionalen Fachtagen sinnvoll sein. Solche Treffen ermöglichen es, Praxiserfahrungen auszutauschen, sie unterstützen den gemeinsamen Wissenstransfer und können dazu genutzt werden, auf Neuerungen im Behandlungsangebot einer Einrichtung hinzuweisen. Gemeinsame Teamsitzungen der beteiligten Mitarbeiter/innen in einem Behandlungsverbund ergänzen bzw. vertiefen den Austausch und gegenseitigen Wissensstand.
    • Darüber hinaus bieten manche stationäre Einrichtungen regelmäßig offene Informationsveranstaltungen oder Fachtagungen an. Dabei können sich Betroffene, Interessierte und Angehörige über die therapeutischen Leistungen und ihre Voraussetzungen informieren. Wichtig ist, dass diese Termine auch unter den ambulanten Kooperationspartnern bekannt sind und sie ihrerseits hierauf verweisen können.
    • Gerade im Bereich der kombinierten Behandlungsformen empfiehlt sich die Optimierung der Abläufe im Rehabilitationsprozess. Neben den im Rahmenkonzept Kombinationsbehandlung benannten Kooperations- und Koordinationsformen, wie z. B. Übergabekonferenzen, Berichterstattung, Fallbesprechungen, Qualitätszirkel etc., bieten sich weitergehende Maßnahmen wie der Einsatz eines Fallmanagers bzw. Therapielotsen oder der Einsatz von Checklisten zum Ablaufcontrolling an. Letztere sollten von den ambulanten und stationären Kooperationspartnern gemeinsam entwickelt und abgestimmt werden. Aus ihnen sollte ersichtlich werden, an welchen Schnittpunkten welche Informationen von wem an wen erforderlich werden.
    • Im Rehabilitationsprozess werden regelmäßige Abstimmungsgespräche zwischen den Rehabilitand/innen und den Bezugstherapeut/innen ambulant und stationär erforderlich. Erfahrungen aus der Praxis machen zusätzlich deutlich, dass die Übergangsgespräche im Kontext ambulant und stationär mit klaren Aufträgen und Maßnahmen versehen sein müssen.

    Kombinierte Behandlungsformen und ambulante Weiterbehandlungsformen machen deutlich, dass die Belebung der Schnittstellen zwischen den stationären und ambulanten Akteuren im Gesamtrehabilitationsprozess weit über die Optimierung von Terminen und Abläufen hinausgeht. Es werden inhaltlich-therapeutische Abstimmungen erforderlich, die das bereits erwähnte gegenseitige fachliche Vertrauen voraussetzen und den Charakter von fachlichen Konsultationen haben.

    Kooperationen für die Umsetzung von BORA

    Die erwerbsbezogene Orientierung ist im Rahmen der stationären Behandlung bereits länger bekannt und therapeutischer Alltag. Die Umsetzung von BORA stellt für ambulante Einrichtungen deshalb die größere Herausforderung dar. Erst wenige Beratungsstellen haben ein anerkanntes Konzept für arbeitsbezogene Interventionen in der ambulanten Rehabilitation und Nachsorge.

    Für die erfolgreiche Umsetzung von BORA hat die Zusammenarbeit zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen eine hohe Relevanz. Der Kooperation und Vernetzung ist im BORA-Konzept ein eigenes Kapitel gewidmet. Neben Kooperationen mit einer Vielzahl von externen Akteuren, auf die im Bemühen um die berufliche (Re-)Integration abhängigkeitskranker Menschen eingegangen wird, wird dort auch auf die möglichst frühzeitige Kooperation zwischen Fachkliniken und Suchtberatungsstellen sowie zwischen Kliniken und der Suchtselbsthilfe hingewiesen (BORA 2014, S. 22 ff.).

    Im Kontext von BORA können sich unterschiedliche erwerbsbezogene Bereiche für die Kooperation ambulanter und stationärer Einrichtungen anbieten wie z. B. die berufsbezogene Diagnostik, die Berufs- und Sozialberatung oder das Arbeitsplatztraining. Für ambulante Einrichtungen stellt sich in der Umsetzung von BORA ohnehin die Frage, welche erwerbsbezogenen Instrumente und Angebote sie selbst vorhalten können und müssen und an welcher Stelle sie mit wem zusammenarbeiten könnten bzw. sollten. Für den Einsatz erwerbsbezogener Instrumente bietet es sich an, mit entsprechenden Akteuren im beruflichen Feld vor Ort zu kooperieren, z. B. Jobcenter, Arbeitgeber, Reha-Fachberater etc. Es empfiehlt sich aber auch, zu überprüfen, inwieweit die ambulanten Einrichtungen hierbei mit den Suchtfachkliniken in ihrer Region, ihres Verbundsystems oder mit kooperierenden Fachkliniken zusammenarbeiten könnten.

    Die Umsetzung von BORA im Rahmen kombinierter Behandlungsangebote und die damit verbundene Therapieplanung und Therapiesteuerung stellen besondere Anforderungen an die Qualität der Kooperation zwischen den beteiligten Einrichtungen. Um die unterschiedlichen therapeutischen und erwerbsbezogenen Leistungen der Kooperationspartner im Rahmen des Rehabilitationsprozesses sinnvoll miteinander zu verzahnen, empfiehlt sich der Einsatz der bereits erwähnten Checklisten zur Ablauforganisation.

    Zusammenfassung und Fazit

    Im Therapieprozess gilt kooperatives und vernetztes Arbeiten zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen grundsätzlich als Standard. Durch die zunehmende Komplexität im Behandlungsangebot und das damit verbundene Ziel einer optimierten Versorgung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker ist es erforderlich, die Kooperation verbindlicher, die Kommunikation regelmäßiger und transparenter und das Schnittstellenmanagement effektiver zu gestalten. Um die Begegnungen und die Zusammenarbeit der Mitarbeiter/innen in den ambulanten und stationären Einrichtungen auf Augenhöhe und somit zielführend zu gestalten, spielt eine von gegenseitigem Vertrauen geprägte Haltung eine wichtige Rolle. Die nicht immer einfachen Prozesse der Kooperation und Kommunikation bedürfen der regelmäßigen Pflege und müssen von den Beteiligten mit Leben gefüllt werden. Dies lohnt sich: im Sinne der effektiven Weiterentwicklung des Behandlungsangebots, als grundsätzliche Investition in die Zukunft des teilhabeorientierten Systems der Suchthilfe, für die Mitarbeiter/innen selbst im Hinblick auf Arbeitsklima und Arbeitszufriedenheit und ganz besonders im Sinne einer bedarfsorientierten und passgenauen Versorgung unserer Klient/innen.

    Kontakt:

    Stefan Bürkle
    Caritas Suchthilfe e.V. (CaSu)
    Karlstraße 40
    79104 Freiburg
    Tel. 0761/200 303
    casu@caritas.de
    www.caritas-suchthilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Stefan Bürkle ist Geschäftsführer der Caritas e. V. (CaSu), Freiburg.

    Literatur:
  • Ein Gespenst geht um in Deutschland …

    Ein Gespenst geht um in Deutschland …

    Ausgangslage

    Dr. Theo Wessel
    Prof. Dr. Andreas Koch
    Prof. Dr. Andreas Koch

    Die Zahl der Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung ist seit vielen Jahren unverändert, die volkswirtschaftlichen Kosten und die gesellschaftlichen Folgen sind enorm, und der Behandlungsbedarf ist weiterhin hoch. Dennoch häufen sich seit rund fünf Jahren die Meldungen über Schließungen, Bettenreduzierungen und Zusammenlegungen bei Suchtreha-Einrichtungen. In den Jahren 2013 bis 2016 hat beispielsweise der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss) 15 Mitgliedseinrichtungen mit rund 700 Behandlungsplätzen (= zehn Prozent) verloren. Das ist ein größerer Verlust als 1997 in der so genannten Rehakrise im Zusammenhang mit dem Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG). Der Gesamtverband für Suchthilfe (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland ist ebenfalls durch Klinikschließungen (etwa 200 Behandlungsplätze) in den letzten drei Jahren betroffen. Eine ähnlich dramatische Situation hat es in dem knapp 60-jährigen Bestehen des GVS noch nicht gegeben. Es ist wohl nicht übertrieben, in diesem Zusammenhang von einem ‚Kliniksterben’ in der Suchtrehabilitation zu sprechen.

    Rote Zahlen in Suchthilfe-Einrichtungen (bundesweit)

    Eine Mitgliederumfrage des buss aus dem Jahr 2015 zum Betriebsergebnis des Vorjahres zeigt für den Bereich medizinische Reha, dass knapp 60 Prozent der Einrichtungen nicht kostendeckend arbeiten konnten (siehe Abbildung 1, zur Mitgliederumfrage siehe auch den Artikel auf KONTUREN online). Es wurde explizit nur das Betriebsergebnis für die Reha abgefragt, da die meisten Träger auch noch über andere Einrichtungen und Leistungsangebote verfügen.

    Abbildung 1
    Abbildung 1

    Kliniksterben in Bayern und Nordrhein-Westfalen

    Auffällig ist, dass sich das Kliniksterben auf zwei Regionen zu konzentrieren scheint:

    • Stand Mai 2016: In Bayern gibt es 39 Suchtreha-Einrichtungen mit knapp 1.500 Behandlungsplätzen (stationäre und ganztägig-ambulante Reha). Seit 2010 wurden neun Einrichtungen mit zusammen rund 260 Plätzen geschlossen, was einem Verlust von 14 Prozent entspricht. Außerdem wurden fünf Einrichtungen durch andere Träger übernommen und konnten so vor der Schließung bewahrt werden.
    • Stand Juni 2016: In NRW gibt es 46 Suchtreha-Einrichtungen mit rund 2.500 Behandlungsplätzen (stationäre und ganztägig-ambulante Reha). Seit 2010 wurden neun Einrichtungen mit rund 450 Plätzen geschlossen, was einem Verlust von über 20 Prozent entspricht. Ende 2016 werden zwei weitere kleine Fachkliniken mit zusammen 40 Plätzen geschlossen.

    Aktuelles Beispiel: Klinikschließungen am Niederrhein

    Das Diakoniewerk Duisburg stellt nach 35 Jahren die stationäre Rehabilitation für Drogenabhängige in den Fachkliniken Scheifeshütte und Peterhof zum 31. Dezember 2016 ein. Der Peterhof war von Beginn an eine gemischtgeschlechtliche Einrichtung mit 22 Plätzen und ist heute eine reine Männereinrichtung, dagegen wurde die Scheifeshütte mit 18 Plätzen als Reha-Einrichtung ausschließlich für Frauen konzipiert. Der federführende Kostenträger für beide Kliniken ist die Deutsche Rentenversicherung Rheinland, die für alle Kostenträger im Rahmen der Rheinischen Arbeitsgemeinschaft (RAG) die Entgelte verhandelt und mit dem Träger der Einrichtung die Behandlungskonzepte vereinbart. Die Grundlagen für die Behandlungskonzepte sind Vorgaben der Leistungsträger, die bestimmten medizinischen Kriterien genügen müssen und aus denen die Forderungen an die Personal-, Konzept- und Strukturqualität der Kliniken abgeleitet werden. Den Qualitätsanforderungen an die Träger der Einrichtungen wurde durch die verbindliche Einführung von Qualitätsmanagementsystemen Rechnung getragen, sodass beide Kliniken zu den ersten Einrichtungen gehörten, die vor rund 15 Jahren ein internes Qualitätsmanagement (QM) eingeführt haben und zertifiziert worden sind.

    Das Diakoniewerk Duisburg hat als Träger der Einrichtungen dafür gesorgt, dass die Kliniken immer wettbewerbsfähig waren und in der Fachöffentlichkeit wie auch durch die Partner in den Sozialräumen eine hohe Akzeptanz erfahren haben. Beide Kliniken haben im Laufe der Jahre ihre Konzeptionen weiterentwickelt, um den besonderen Lebenslagen der Patientinnen und Patienten gerecht zu werden. Somit wurden zusätzliche Therapieangebote konzeptioniert und umgesetzt:

    • Behandlung von Substituierten
    • Behandlung von Müttern mit Kindern
    • Angebote für Paare (Paartherapie)
    • ganztägige ambulante Therapie und Kombinationsbehandlung

    Die Arbeit mit den Zielgruppen ist dadurch gekennzeichnet, dass Rehabilitanden mit einer Drogenabhängigkeit vor dem Hintergrund ihrer Suchterkrankung Ambivalenzen und Unberechenbarkeiten mitbringen, die dazu führen können, dass es selten zu einer 100-prozentigen Belegung kommt. Schwierige Aufnahmeplanungen durch Nichtantritte bei genehmigten Rehabilitationen, Rückfälle und Abbrüche während der Therapie oder auch disziplinarische Entlassungen führen dazu, dass das Belegungsrisiko ausschließlich bei den Trägern liegt. Ist eine Klinik nicht entsprechend ausgelastet, kann sie nicht ökonomisch arbeiten. Eine Absicherung durch die Kostenträger gibt es in diesem Zusammenhang nicht. So konnten beide Einrichtungen in den letzten 35 Jahren nur durch Quersubventionen des Diakoniewerkes Duisburg (aus anderen Leistungsbereichen) überleben. Diese Quersubventionierung war in der Vergangenheit immer eine bewusste Entscheidung. Der Einrichtungsträger mit seiner Geschäftsführung hat dieses Risiko auf sich genommen, weil solche Auslastungsrisiken für die Einrichtungen letztendlich mit dem Wesen von Suchterkrankungen einhergehen.

    Unter anderem durch die in den letzten Jahren immer weiter steigenden Anforderungen der Leistungsträger sind vor allem kleine Einrichtungen (vorwiegend im Drogenbereich) unter Druck geraten, und langbewährte Konzepte wurden in Frage gestellt. Das etablierte und wirksame Grundprinzip der ‚therapeutischen Gemeinschaft’ in kleineren Einrichtungen soll offensichtlich ersetzt werden durch eine funktionelle Krankenhausbehandlung. Damit verbundene unverhältnismäßige Anforderungen an Personal und technische Ausstattung und nicht nachvollziehbare Qualitätsforderungen, die die Kosten in die Höhe treiben, ohne dass die Pflegesätze entsprechend angepasst wurden, haben viele kleine Einrichtungen an den Rand ihrer Existenzfähigkeit gebracht. Inzwischen haben im ganzen Bundesgebiet kleine Einrichtungen den Betrieb eingestellt, auch wenn sie gut ausgelastet waren, weil die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben immer weiter auseinander gegangen ist. Eine ihrer therapeutischen Bedeutung entsprechende Wertschätzung hat die schwierige Arbeit in den kleinen Einrichtungen nie erfahren, obwohl Überzeugung und praktische Evidenz dafür sprechen, dass Rehabilitanden mit einer Drogenabhängigkeit am besten vom familienähnlichen Setting einer kleinen und überschaubaren Rehabilitationseinrichtung profitieren können.

    Das Diakoniewerk Duisburg hat von 1999 an bis zum Jahr 2015 jährliche Verluste der beiden Kliniken in Höhe von in der Summe fast zwei Millionen Euro ausgeglichen. Die durchschnittliche Belegung in diesen Jahren lag für beide Einrichtungen bei knapp 93 Prozent. Um eine schwarze Null zu erreichen, hätten die beiden Einrichtungen inzwischen eine Belegung von mehr als 100 Prozent gebraucht. Durch die zunehmend schwierige Entwicklung der letzten drei Jahre kann nur durch den Schließungsbeschluss für beide Einrichtungen die Gefahr einer finanziellen Schieflage des gesamten Einrichtungsträgers abgewendet werden. Quersubventionen können nicht mehr geleistet werden, und eine andere Politik der Leistungsträger ist nicht zu erwarten. Damit entsteht in dieser Region und für diese spezifischen Zielgruppen (inbesondere drogenabhängige Frauen mit massiven zusätzlichen psychischen, sozialen und beruflichen Problemen) eine Versorungslücke, die kaum geschlossen werden kann.

    Ursachenanalyse

    Das aktuelle Kliniksterben ist, wie das oben stehenden Beispiel zeigt, ein schleichender Prozess, der sicherlich vielfältige Ursachen hat. Grundsätzlich haben zwei Faktoren einen wesentlichen Einfluss auf den wirtschaftlichen Betrieb einer Einrichtung: die Auslastung bzw. Belegung und die Vergütung bzw. der Tagessatz. Seit etwa drei Jahren sind die Antragszahlen für die medizinische Rehabilitation rückläufig, wobei es erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Regionen und Leistungsträgern gibt: Der Antragsrückgang scheint im Norden und Osten Deutschlands stärker als im Süden und Westen zu sein. Im Indikationsbereich Drogen verschiebt sich die Leistungsträgerschaft von den Regionalträgern der Deutschen Rentenversicherung (DRV) zur DRV Bund sowie von der DRV insgesamt zur Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Aber unabhängig von der Belegungssituation besteht schon seit Jahren ein gravierendes strukturelles Problem: Die Einrichtungen sind unterfinanziert, die Tagessätze decken nicht die Kosten. Kleine Einrichtungen sind von diesem Problem verstärkt betoffen, weil bestimmte Basiskosten (Nachtdienst, Qualitätsmanagement, Küche, höherer Therapeutenschlüsses bei Drogenpatienten etc.) unabhängig von der Größe anfallen und diese Kosten somit auf weniger Verrechnungstage umgelegt werden können. Kleine Einrichtungen müssten also proportional höhere Vergütungssätze haben, was im Allgemeinen aber nicht der Fall ist.

    Leistungsrechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen

    Der Gesetzgeber hat für die medizinische Rehabilitation im SGB V, SGB VI und SGB IX leistungsrechtliche Rahmenbedingungen vorgegeben, die Leistungsträger und Leistungserbringer binden. Es handelt sich um ein stark reglementiertes Versorgungssystem, in dem Marktmechanismen nicht so funktionieren wie beispielsweise in der stationären Akutversorgung (‚Nachfrage-Oligopol‘ auf Seiten der Leistungsträger der medizinischen Reha). Einrichtungen in der Suchtrehabilitation haben kaum unternehmerischen Handlungsspielraum, da die Leistungsträger (Renten- und Krankenversicherung) gemäß gesetzlichem Auftrag fast alle strukturellen und personellen Rahmenbedingungen vorgeben. In den vergangenen Jahren wurden diese Anforderungen an die Leistungserbringer kontinuierlich erhöht, während die Vergütungsentwicklung kaum für den Inflationsausgleich reichte und schon gar nicht für die zusätzlich erforderlichen Investitionen. In der medizinischen Rehabilitation (also auch in der Suchtreha) besteht eine monistische Finanzierung über tagesgleiche Vergütungssätze, die alle Kosten abdecken müssen. Die Preise werden aber im Wesentlichen von der Nachfrageseite (Leistungsträger) festgesetzt unter Berücksichtigung so genannter bundesweiter ‚Marktpreisbandbreiten‘.

    Gutachten der aktiva zur Kostenstruktur und Vergütung

    Ein Gutachten der aktiva – Beratung im Gesundheitswesen GmbH für das Jahr 2011 (aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?) weist nach, dass in den Hauptindikationen der medizinischen Reha die Kosten die realen Vergütungen (zwischen 110 und 118 Euro in den genannten Indikationen) bei Weitem übersteigen und eine strukturelle Unterfinanzierung von zehn bis 20 Prozent existiert (siehe Abbildung 2).

    Abbildung 2: Übersicht Kostenstrukturen. Quelle: aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?, S. 29.
    Abbildung 2: Übersicht Kostenstrukturen. Quelle: aktiva 2012, Was kostet die Rehabilitationsleistung?, S. 29.

    Für die Suchtrehabilitation hat die aktiva Ende 2015 eine ergänzende Kalkulation vorgelegt, die sich ebenfalls auf Kostenstrukturen aus 2011 bezieht (aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation). Hierbei handelt es sich nur um die Kalkulation der strukturbedingen Kosten in der Suchtrehabilitation (siehe Tabelle 1). Die leistungsorientierten Werte dürften – analog der anderen Beispielindikationen – noch höher liegen.

    Tabelle 1: Leistungsgerechte Vergütungssätze für die Suchtrehabilitation 2011 (Ergänzung zum Gutachten 2012). Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.
    Tabelle 1: Leistungsgerechte Vergütungssätze für die Suchtrehabilitation 2011 (Ergänzung zum Gutachten 2012). Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.

    Die Kalkulationen zeigen bereits für das Jahr 2011, dass sich die eigentlich erforderlichen Vergütungssatzhöhen deutlich über so genannten Marktpreisen bewegen. Aufgrund der Kostensteigerungen in den Jahren 2012 bis 2015 sind die Anforderungen an leistungsgerechte Vergütungssatzhöhen weiter gestiegen. Die Übersicht in Tabelle 2 simuliert den Anstieg der Vergütungssätze anhand der tatsächlichen Kostensteigerungen in der Rehabilitation im Bereich der Strukturanforderungen.

    Tabelle 2: Simulation von Vergütungssatzveränderungen auf Basis der durchschnittlichen Kosten-steigerungen 2012 bis 2015. Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situ-ation, S. 19.
    Tabelle 2: Simulation von Vergütungssatzveränderungen auf Basis der durchschnittlichen Kostensteigerungen 2012 bis 2015. Quelle: aktiva 2015, Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation, S. 19.

    Kostenstrukturen und Vergütungen in den Einrichtungen

    Es kann anhand von Kalkulationen aus über 40 Mitgliedseinrichtungen des buss (sowohl Drogen- als auch Alkoholeinrichtungen) aus dem Jahr 2014 nachgewiesen werden, dass die tatsächlichen Kosten (bezogen auf einen Behandlungstag bei Erfüllung aller Struktur- und Personalanforderungen) etwa 131 Euro betragen. Dabei sind die Kapitalkosten auf Vollkostenbasis berechnet worden, d. h. mit ortsüblichen Mieten bzw. Pachtzahlungen oder Abschreibungen bzw. Rückstellungen, die einen langfristigen Erhalt der Gebäudestruktur ermöglichen. Weiter unten wird noch dargestellt, warum das für viele Einrichtungen nicht selbstverständlich ist. Die die entsprechenden Kostenstrukturen sind in Tabelle 3 als Mittelwerte dargstellt.

    Tabelle 3: Kostenstrukturen in der Suchtreha – Umfrage im buss 2014
    Tabelle 3: Kostenstrukturen in der Suchtreha – Umfrage im buss 2014

    Die Analyse der Vergütungssätze für 2014 in den Mitgliedseinrichtungen des buss zeigt folgendes Bild:

    • Der Mittelwert über alle Regionen und Leistungsträger liegt in Fachkliniken für Alkohol bei 114 Euro (Spektrum zwischen 95 und 129 Euro) und in Fachkliniken für Drogen bei 111 Euro (Spektrum zwischen 90 und 127 Euro). Das ist auffällig, da Drogeneinrichtungen aufgrund der höheren Personalanforderungen (kleinere Therapiegruppen) eigentlich auch höhere Vergütungssätze haben müssten. Zudem sind Drogeneinrichtungen i.d.R. kleiner als Alkoholeinrichtungen und können daher bestimmte Kostenblöcke, die von der Größe unabhängig sind (Bereitschaftsdienste, Qualitätsmanagement, Verwaltung, Versorgung etc.) auf weniger Behandlungstage verteilen.
    • Deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegen die Vergütungen, die von der DRV Bund und der DRV Braunschweig-Hannover gezahlt werden. Der Mittelwert beträgt für die federgeführten Einrichtungen 120 Euro (Spektrum zwischen 112 und 129 Euro).
    • Deutlich unter dem Bundesdurchschnitt liegen hingegen die Vergütungen für Einrichtungen, deren Federführer ein Regionalträger in Bayern oder Nordrhein-Westfalen ist. Der Mittelwert beträgt hier 107 Euro (Spektrum zwischen 90 und 119 Euro). Während in Bayern vor allem die Vergütungen der DRV Bayern Süd relativ niedrig ausfallen, was vermutlich mit ‚historischen’ Entwicklungen zu erklären ist, sind in NRW die Ursachen eher in den besonderen Rahmenbedingungen auf Seiten der Leistungsträger (siehe nächster Abschnitt) zu suchen.

    Die Arbeitsgemeinschaften der Leistungsträger in NRW

    In NRW existieren besondere Rahmenbedingungen für das Verhältnis von Leistungsträgern und Leistungserbringern in der Suchtreha, weil die Träger von DRV und GKV in der Rheinischen bzw. Westfälischen Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (RAG/WAG) zusammengeschlossen sind. Die Vorteile dieser Konstruktion bestehen darin, dass die Leistungszusagen für Rehamaßnahmen ‚aus einer Hand’ kommen sowie die konzeptionellen und finanziellen Absprachen nur mit einer Stelle getroffen werden müssen (die Geschäftsführung der Arbeitsgemeinschaften liegt in beiden Fällen bei der jeweiligen DRV). Der wesentliche Nachteil besteht aber darin, dass die GKV als deutlich kleinerer Partner in der AG über viele Jahre die Vergütungsentwicklung ‚ausgebremst’ hat und i.d.R. nur bereit war, Steigerungen in Höhe der Veränderungsrate (= Entwickung der Grundlohnsumme, d. h. der Summe der beitragspflichtigen Löhne und Gehälter der Mitglieder der Sozialversicherung) zu bewilligen. Vergütungen für klinikspezifische Entwicklungen sind somit für die Geschäftsführungen von RAG/WAG deutlich schwieriger zu verhandeln. Insbesondere in den Jahren, als die Veränderungsrate deutlich unter einem Prozent lag (2004 bis 2008), ist eine Lücke zur Vergütungsentwicklung im Bundesdurchschnitt entstanden, weil andere Regional- und Bundesträger der DRV in dieser Zeit Vergütungssteigerungen bewilligt haben, die eher den tatsächlichen Kostenentwicklungen entsprachen (zwei bis drei Prozent). Die durchschnittliche Vergütung der Mitgliedseinrichtungen des buss liegt mittlerweile bei der DRV Bund im gesamten Bundesgebiet und bei den übrigen Regionalträgern der DRV (außer in Bayern) bei deutlich über 120 Euro und somit mehr als zehn Prozent über dem Durchschnitt in NRW (110 Euro). Zukünftig könnte aber auch ein Vorteil in der gemeinsamen Trägerschaft von DRV und GKV innerhalb der RAG/WAG liegen: Im Bereich des SGB V (GKV) existieren bereits seit einigen Jahren Landesschiedsstellen für Vergütungsfragen, und damit wäre es grundsätzlich möglich, den von den Krankenkassen als Teil der AG bewilligten Vergütungssatz durch diese Schiedsstelle überprüfen zu lassen. Interessant ist dabei die Frage, welche Konsequenzen ein solches Vorgehen auch für die DRV als anderen Partner in der AG hat.

    Wie überleben die Einrichtungen?

    Wenn diese strukturelle Unterfinanzierung schon seit vielen Jahren besteht, dann stellt sich natürlich die Frage, warum das Kliniksterben nicht schon früher und viel umfassender eingesetzt hat. Welcher Betreiber ist denn unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten bereit, ein defizitäres Geschäftsmodell aufrechtzuerhalten? Die meisten Träger von Suchteinrichtungen sind sich aber ihrer Verantwortung für die Versorgungsstrukturen bewusst und suchen nach verschiedenen Möglichkeiten, die Schließung von Fachkliniken zu vermeiden und hinauszuzögern. Folgende Maßnahmen kommen zum Tragen:

    • Quersubventionierung der Reha durch Eigenmittel (beispielsweise aus anderen Leistungsbereichen, in denen kostendeckende Vergütungen gezahlt werden) oder Spenden bei Neu- und Umbaumaßnahmen. Das konkrete Beispiel eines diakonischen Einrichtungsträgers mit einer 35-jährigem Tradition im Bereich der Drogenrehabilitation ist oben ausgeführt.
    • Bestandsverzehr bei Gebäuden und Infrastruktur, d. h. keine hinreichende Berücksichtigung von Abschreibungen und Rückstellungen in den Vergütungen. Dadurch ist ein erheblicher Investitionsstau entstanden, der insbesondere bei von den Leistungsträgern geforderten Um- und Neubaumaßnahmen zu erheblichen Finanzierungsproblemen führt. Häufig wird auch bei einer Trennung von Gebäudeeigentum und Klinikbetrieb eine nicht ortsübliche Miete gezahlt, sondern nur die Miete verrechnet, die im Vergütungssatz der Klinik abgebildet werden kann. Letztlich führt aber auch dieses Modell zu einem Bestandsverzehr zu Lasten des Gebäudeeigentümers.
    • Zusätzliche Belastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (u. a. Mehrarbeit, Überstunden, psychischer Druck) und/oder Absenkung der Gehaltsstrukturen (u. a. Verlassen von Tarifsystemen, Outsourcing, Streichung des Weihnachtsgeldes). Beides wird zunehmend zu einem Problem bei der Mitarbeitergewinnung im Wettbewerb mit anderen Organisationen auf dem Arbeitsmarkt für Gesundheitsberufe. Die verstärkte Belastung des Personals wird auch durch zunehmende (insbesondere langfristige) krankheitsbedingte Ausfälle deutlich.

    Marktbereinigung?

    Häufig hört man in Gesprächen mit Entscheidungsträgern aus Politik und Verwaltung, die mit der sehr komplexen Funktionsweise des deutschen Suchthilfesystems nicht vertraut sind, dass es sich doch um eine ‚ganz normale Marktbereinigung‘ handeln würde. Dem muss allerdings entgegengehalten werden, dass es sich bei der medizinischen Reha im Allgemeinen und der Suchtreha im Besonderen nicht um einen Bereich handelt, in dem Marktmechanismen zum Tragen kommen. Zudem muss man wissen, dass nur wenige Suchtkranke überhaupt Zugang zum Hilfesystem und noch weniger Menschen den Weg in die Entwöhnung finden. Dort, wo keine professionellen Strukturen mehr vorhanden sind, kümmert sich auch niemand mehr um die Sensibilisierung für und die Aufklärung über Suchterkrankungen. Mit dem Verlust von Fachkliniken (vor allem kleinen Einrichtungen mit einem familiären Therapiesetting) fehlen auch den übrigen Einrichtungen, insbesondere den Beratungsstellen und Fachambulanzen, wichtige Kooperationspartner. Es droht somit der Verlust von über viele Jahre und Jahrzehnte mühsam aufgebauten Versorgungsstrukturen und Hilfeangeboten für Suchtkranke.

    Lösungsansätze

    Auf Landesebene

    In einigen Bundesländern (Niedersachsen und Baden-Württemberg sowie im Bereich der DRV Mitteldeutschland) finden derzeit intensive Gespräche mit den jeweiligen regionalen DRV-Trägern statt, die u. a. zu einer gemeinsamen Feststellung der Unterfinanzierung der Kliniken und der intensiven Diskussionen von Lösungsmöglichkeiten geführt haben. Bei einer entsprechenden Initiative in weiteren Regionen – insbesondere in Bayern und NRW – könnten folgende Aspekte zur kurzfristigen Verbesserung der Situation der Einrichtungen diskutiert werden:

    • Nutzung der Handlungsspielräume bei der Festlegung von Struktur- und Personalanforderungen (das so genannte 100-Betten-Anforderungsprofil lässt bei den einzelnen Funktionsgruppen Abweichungen innerhalb eines Korridors von 20 Prozent zu), sozialverträgliche und sukzessive Anpassungen bei größeren Abweichungen, Berücksichtigung von konzeptionellen Besonderheiten einzelner Kliniken, Bestandsschutz für erfahrene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ohne aktuelle Formalqualifikation.
    • Explizite Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten in den Einrichtungen bei Vergütungsverhandlungen auf der Basis von Vollkosten (auch Investitions- und Kapitalkosten sowie marktübliche Gehälter insbesondere für ärztliches Personal).
    • Abstimmung zwischen den Leistungsträgern und den Leistungserbringern über ‚Grundsätze der Preisbildung‘ – beispielsweise Festlegung von Kalkulationsgrundlagen für bestimmte Leistungselemente wie Kosten im Bereich Infrastruktur, Kapitaldienst oder Personal (unter Berücksichtigung des Erfüllungsgrades der gestellten Anforderungen) – in diesem Zusammenhang auch transparenter Umgang mit Kennzahlen u. a. aus dem Qualitätssicherungsprogramm der DRV (Erfüllung der Strukturanforderungen, Rehabilitanden-Zufriedenheit, Laufzeit der E-Berichte, KTL-Statistik etc.).

    Ein entsprechender Dialog zwischen den Trägern der DRV in Bayern und den Suchtverbänden, der im Herbst 2013 vom bayerischen Sozialministerium initiiert wurde, ist im Frühjahr 2014 leider ergebnislos abgebrochen worden. In Bayern wurde nun aber aufgrund eines Beschlusses des Landtages ein ‚Runder Tisch’ zur Zukunft der Suchtfachkliniken eingerichtet, der am 1. Juni 2016 erstmalig zusammenkam und in den kommenden Wochen verbindliche und konstruktive Lösungen für die existenzielle Krise der Suchtfachkliniken erarbeiten soll.

    Vor allem das Beispiel der DRV Braunschweig-Hannover zeigt, dass die Bereitschaft zu einem konstruktiven Dialog zu deutlich mehr Transparenz im Leistungsgeschehen und insgesamt sehr positiven Entwicklungen geführt hat. Seit 2015 finden regelmäßige strukturierte Gespräche mit Vertretern der Leistungserbringer statt. Nicht nur das relativ hohe Vergütungsniveau in Niedersachsen, sondern auch zahlreiche andere Abstimmungen (beispielsweise bei der Umsetzung von BORA oder der Durchführung von Visitationen) zeigen, dass beide Seiten und nicht zuletzt auch die Rehabilitanden von diesem Dialog profitieren.

    Auf Bundesebene

    Es wäre dringend erforderlich, dass eine Initiative zur Verbesserung der leistungsrechtlichen Rahmenbedingungen und damit auch der Finanzierungssituation der Leistungserbringer in der medizinischen Reha auf Bundesebene gestartet wird. Folgende Aspekte sind dabei relevant:

    • Verpflichtung der Rehabilitationsträger, die Inhalte der Verträge sowie Rahmenverträge mit den Arbeitsgemeinschaften der Rehabilitationsdienste und -einrichtungen zu vereinbaren (§ 21 SGB IX). Dies umfasst auch Grundsätze zur Vereinbarung von Vergütungen. Das Vergütungssystem muss neben den Betriebskosten auch die Investitionskosten der Leistungserbringer sowie Anpassungen der Mitarbeitervergütungen entsprechend den jeweils vereinbarten tarifvertraglichen Vergütungen berücksichtigen.
    • Einrichtung von Schiedsstellen im SGB VI bzw. SGB IX analog zur Regelung § 111b SGB V (Landesschiedsstellen für Reha im Bereich der GKV). Zur Begründung und rechtlichen Konstruktion liegt eine ausführliche Darstellung im Kurzgutachten von Dr. Sebastian Weber vom 07.10.2013 vor.
    • Gemeinsame Festlegung (Leistungsträger und Leistungserbringer) von Standards für Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung im SGB VI oder SGB IX analog zur Regelung in § 137d SGB V (QS-Reha Verfahren der GKV). Hier werden die Rahmenbedingungen für die Qualitätssicherung in einem gemeinsamen Ausschuss von Leistungsträgern und Leistungserbringern gemeinsam geregelt.

    Die aktuelle Überarbeitung des SGB IX (neue §§ 36 bis 38) im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) würde die Möglichkeit bieten, die entsprechenden Regelungen anzupassen. Leider enthält der vorliegende Gesetzentwurf, der im Bundeskabinett verabschiedet wurde und nun in der parlamentarischen Abstimmung ist, dazu nur wenige und unzureichende Ansätze.

    Literatur bei den Verfassern

    Kontakt:

    Prof. Dr. Andreas Koch
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss)
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    Tel. 0561/77 93 51
    andreas.koch@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Dr. Theo Wessel
    Gesamtverband für Suchthilfe e. V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland
    Invalidenstraße 29
    10115 Berlin
    Tel. 030/83 001-501
    wessel@sucht.org
    www.sucht.org

    Angaben zu den Autoren:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss) in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.
    Dr. Theo Wessel ist Geschäftsführer des Gesamtverbandes für Suchthilfe e. V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland.

  • Ungleichheit

    Springer-Verlag, Wiesbaden 2016, 140 Seiten, 19,99 €, ISBN 978-3-658-10505-1, auch als E-Book erhältlich

    9783658105051„Gleich? Wir sind ungleich! Allein darin gleichen wir uns!“
    „Welche Regeln gelten hier noch?“, fragte Isabel und nippte an ihrer Tasse.
    „Nun“, sagte der Kater, „keine – außer dem Gesetz des Marktes.“

    Ungleichheit ist eines der großen Themen unserer Zeit. Doch was steckt hinter der riesigen Kluft zwischen Arm und Reich? Dieses Buch entführt den Leser in eine phantastische Erzählung, die auf ebenso heitere wie leicht verständliche Weise in die Untiefen der Marktwirtschaft einführt. Der Leser wird mit den großen Fragen der Effizienz, der Gerechtigkeit und des eigenen Glücks konfrontiert. Am Ende erhält er eine überraschende Antwort auf die zentrale Frage nach der ökonomischen Ungleichheit – vielleicht ohne es zu bemerken.

  • Einkommensverteilung in Deutschland

    neu_wsi_report_2016Die Einkommensverteilung in Deutschland wird undurchlässiger. Arme Menschen bleiben häufiger dauerhaft arm, während sehr reiche sich zunehmend sicher sein können, ihre Einkommensvorteile auf Dauer zu behalten. So schafft es die Hälfte der Armen nicht, innerhalb von fünf Jahren aus der Armut herauszukommen – deutlich mehr als noch in den 1990er Jahren. Für Angehörige der unteren Mittelschicht ist im Zeitvergleich das Risiko des finanziellen Abstiegs gewachsen, während bereits Wohlhabende tendenziell größere Aufstiegschancen haben. Parallel dazu hat die Ungleichheit bei der Einkommensverteilung in Deutschland einen neuen Höchstwert erreicht. Zu diesen Ergebnissen kommt der neue Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.

    „Arm bleibt arm und reich bleibt reich – das gilt aktuell noch deutlich stärker als vor 20 Jahren. Gleichzeitig sind die Abstände zwischen hohen und niedrigen Einkommen spürbar gewachsen. Bei der Einkommensungleichheit, gemessen nach dem so genannten Gini-Koeffizienten, haben wir sogar den bisherigen Höchststand aus dem Jahr 2005 wieder überschritten“, erklärt Prof. Dr. Anke Hassel, die wissenschaftliche Direktorin des WSI. Diese Gemengelage gefährde den sozialen Zusammenhalt in Deutschland und sie verletze das Prinzip der Chancengleichheit. „Viele dieser Entwicklungen vollziehen sich nicht in spektakulären Sprüngen, sondern langsam, aber recht kontinuierlich und selbst bei guter wirtschaftlicher Lage. Das macht sie besonders gefährlich, weil politischer Handlungsdruck lange übersehen werden kann. Dabei ist es höchste Zeit gegenzusteuern“, so Hassel.

    Für den Bericht hat WSI-Verteilungsexpertin Dr. Dorothee Spannagel die relevanten Quellen analysiert, unter anderem umfangreiche Daten aus dem sozio-oekonomischen Panel (SOEP), einer jährlichen Wiederholungsbefragung in mehr als 10.000 Haushalten. Die zentralen Befunde:

    Rückgang der Einkommensmobilität, insbesondere im Osten
    Wie stark sich die Einkommensverteilung verfestigt hat, zeigen verschiedene Indikatoren. Über den Pearson´schen Korrelationskoeffizienten lässt sich ablesen, wie stabil die Einkommenspositionen in aufeinanderfolgenden Jahren sind. Der Koeffizient kann maximal einen Wert von 1 annehmen, je höher er ist, desto weniger ändert sich an der Einkommensverteilung. In Westdeutschland lag der Pearson-Wert nach Spannagels Berechnungen 1991/1992 noch bei 0,78. 2012/2013, so die neuesten verfügbaren Daten, betrug er 0,82 und lag damit nah am bisherigen Höchststand in den Jahren 2008/2009. Noch weitaus drastischer fiel die Entwicklung in Ostdeutschland aus. Nach der Vereinigung brachten die steigenden Löhne, die Ausweitung der sozialen Leistungen und die Übertragung des westdeutschen Rentensystems zunächst für viele einen Aufstieg und damit hohe Einkommensmobilität. Diese Entwicklung kam aber bereits Mitte der 1990er Jahre zum Stillstand. 1991/1992 wies der Pearson-Koeffizient noch einen Wert von 0,65 auf, stieg dann mit einigen kurzfristigen Ausschlägen bis 2012/2013 auf ebenfalls 0,82 an.

    Die verfeinerte Analyse über eine so genannte Mobilitätsmatrix zeigt, in welchen sozialen Gruppen weitgehender Stillstand bei den Einkommenspositionen herrscht, wo es Bewegung gibt – und ob die Bewegung eher nach oben oder nach unten geht. Dazu ordnet Spannagel die Menschen in Deutschland sechs Einkommensgruppen zu, je nachdem, wie sich ihr verfügbares Netto-Haushaltseinkommen zum mittleren (Median-)Einkommen verhält. Dabei werden Effekte durch unterschiedliche Haushaltsgrößen berücksichtigt, so dass direkte Vergleichbarkeit besteht. 2013 lag das Medianeinkommen eines Ein-Personen-Haushalts bei 19.597 Euro netto im Jahr. Als arm definiert die WSI-Expertin gemäß verbreiteter wissenschaftlicher Konvention Personen, die weniger als 60 Prozent dieses Medianeinkommens haben. Das entspricht einem Jahreseinkommen unter 11.758 Euro. Darüber grenzt Spannagel nach dem verfügbaren Pro-Kopf-Einkommen die folgenden Gruppen ab:

    • Untere Mitte: 60 bis 100 Prozent, 11.758 bis unter 19.597 Euro
    • Obere Mitte: 100 bis 150 Prozent, 19.597 bis 29.396 Euro
    • Wohlhabende: 150 bis 200 Prozent, 29.396 bis 39.194 Euro
    • Reiche: 200 bis 300 Prozent, 39.194 bis 58.791 Euro
    • Sehr Reiche: über 58.791 Euro

    Deutlich weniger Aufstiege aus der Armut
    Um aussagekräftige Trends herauszuarbeiten, vergleicht der Verteilungsbericht die soziale Mobilität in den Fünf-Jahres-Zeiträumen 1991 bis 1995 und 2009 bis 2013, dem derzeit aktuellsten Jahr, für das SOEP-Daten vorliegen. Vor allem am oberen und unteren Ende der Einkommenshierarchie zeigen sich deutliche Verfestigungen: Zwischen 1991 und 1995 schafften es noch rund 58 Prozent der Armen, in eine höhere Einkommensgruppe aufzusteigen. Knapp 20 Jahre später gelang das innerhalb von fünf Jahren nur noch 50 Prozent (siehe Grafik 2 und 3 in der pdf-Version). Allein der Anteil der Aufstiege in die untere Mittelschicht sank um gut zehn Prozentpunkte, ein Rückgang, der sich durch etwas häufigere Aufstiege in die Gruppe der Wohlhabenden bei weitem nicht ausgleichen lässt.

    „Die Verfestigung der Armut ist besonders problematisch. Denn aus der Forschung wissen wir: Je länger eine Armutssituation andauert, desto stärker schlägt sie auf den Alltag durch. Insbesondere für Kinder wirkt sich lange Armut nachhaltig negativ aus“, sagt Forscherin Spannagel. Auch für Angehörige der unteren Mittelschicht sind die Aufstiegschancen gesunken, während ihr Risiko, in Armut abzurutschen, etwas gewachsen ist – und zwar ungeachtet der guten Konjunktur, der Reallohnzuwächse und der Rekordbeschäftigung. „Die Situation dieser beiden Gruppen macht deutlich, dass in unserem Land wesentliche Teile der Bevölkerung damit konfrontiert sind, dauerhaft abgehängt zu werden“, so Spannagel.

    Dagegen bleiben immer mehr Reiche dauerhaft reich. Zwischen 1991 und 1995 konnten sich rund 50 Prozent der sehr Reichen in der obersten Einkommensklasse halten. Von 2009 bis 2013 stieg der Anteil derer, die sich behaupten konnten, auf fast 60 Prozent. Auch mehr reiche und wohlhabende Personen sowie Angehörige der oberen Mittelschicht blieben im Zeitverlauf in ihrer Einkommensklasse. Und bei den übrigen stieg der Anteil der Aufsteiger etwas, während das Risiko abzusteigen, zurückging.

    Im internationalen Vergleich zeigt sich: Die soziale Mobilität, insbesondere zwischen Kinder- und Elterngeneration, ist fast nirgendwo so niedrig wie in Deutschland. Das heißt: In kaum einem anderen Land hängen die Chancen so stark von der Herkunft ab wie hierzulande. „Das ist vor allem mit der sehr hohen Bildungsungleichheit zu erklären“, schreibt Spannagel. Bildung sei in Deutschland „stark vom sozialen Hintergrund des Elternhauses abhängig – und damit die soziale Position, die die Kindergeneration später einnimmt“. Auch das Schulsystem funktioniere wie eine große Sortiermaschine, die Kindern ihren späteren Platz in der Gesellschaft zuweist. Allerdings: Anders als noch in den Anfangsjahren der Bundesrepublik können auch gutsituierte Eltern nicht mehr davon ausgehen, dass es ihre Kinder einmal besser haben werden. Das Risiko, gegenüber den Eltern sozial abzusteigen, ist in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gestiegen.

    Die Politik müsse gegensteuern, indem sie die Chancengleichheit fördert, sagt WSI-Direktorin Anke Hassel. Neben weiteren Reformen im Bildungssystem, etwa einer gezielten frühkindlichen Förderung von Kindern aus sozial benachteiligten Familien, seien Verbesserungen am Arbeitsmarkt zentral. Schließlich erweisen sich Arbeitslosigkeit oder geringfügige, instabile Beschäftigungen als Hauptgründe für einen finanziellen Abstieg. Deshalb gelte es Personen, die eher von Arbeitslosigkeit bedroht sind – darunter Geringqualifizierte oder Migranten –, durch Qualifikations-, Bildungs- und Beratungsangebote zu unterstützen. „Das Ziel muss sein, solche Personen in dauerhaft sichere, sozialversicherungspflichtige (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit zu bringen“, so das WSI.

    Einkommensungleichheit: Neuer Höchststand
    Über die Schwerpunktanalyse zur Einkommensmobilität hinaus schreibt der neue WSI-Bericht zahlreiche Daten zur Verteilung im digitalen WSI-Verteilungsmonitor fort. Eine zentrale Größe ist der Gini-Koeffizient, bei dem ein steigender Wert eine größere, ein sinkender eine geringere Ungleichheit anzeigt. Im Jahr 2013, für das nun erstmals Daten auf SOEP-Basis vorliegen, stieg der Gini-Wert der verfügbaren Haushaltseinkommen, also nach staatlicher Umverteilung, auf 0,293. Damit hat die Ungleichheit bei der Einkommensverteilung in Deutschland den bisherigen Höchststand aus dem Jahr 2005 (0,288) überschritten. Zum Vergleich: Anfang der 1990er Jahre betrug der Wert noch 0,248. Das bedeutet eine Erhöhung um gut 15 Prozent in gut zwei Jahrzehnten. Weitere aktualisierte Daten und Erläuterungen, u. a. zu Lohnquote oder Medianeinkommen im WSI-Verteilungsmonitor, finden Sie hier: http://www.boeckler.de/wsi_67151.htm.

    Zum Bericht:
    Dorothee Spannagel: Soziale Mobilität nimmt weiter ab. WSI-Verteilungsbericht 2016, WSI-Report Nr. 31, Oktober 2016. http://www.boeckler.de/pdf/p_wsi_report_31_2016.pdf

    Pressestelle der Hans-Böckler-Stiftung, 10.10.2016

  • GKV-Schiedsstelle in NRW

    Weil sich eine Rehaklinik der Dr. Becker Klinikgruppe nicht mit den Krankenkassen in Nordrhein-Westfalen über die Vergütung einigen konnte, kündigte sie die bestehenden Vereinbarungen nach § 111 Abs. 5 SGB V und rief die Landesschiedsstelle an. Die Fortentwicklung der Vergütungspauschalen dürfe sich nicht allein an der Veränderungsrate orientieren, so die Klinikvertreter. Vielmehr gebe die aktuelle Rechtsprechung vor, dass auch die Kosten einer Klinik mit zu berücksichtigen seien. Eine entsprechende Vorgehensweise hatte der 6. Senat des Bundessozialgerichts zur Ermittlung von Vergütungen für Leistungen von sozialpsychiatrischen Zentren entwickelt. Dabei sollen die Vergütungen den Grundsatz der Beitragsstabilität berücksichtigen, aber auch angemessen und leistungsgerecht sein. Die Schiedsstelle folgte der Forderung der Klinik und erklärte, das Vorgehen sei auf Vergütungen für Reha-Einrichtungen übertragbar.

    Die Klinik hatte für die Kardiologie eine Erhöhung des Vergütungssatzes ab April 2015 und nochmals ab Januar 2016 beantragt. Ebenfalls beantragt wurde eine Erhöhung für die Psychosomatik. Für die Kardiologie folgte die Schiedsstelle dem Antrag ab April 2015, für die Psychosomatik sprach sie der Klinik ebenfalls eine Anhebung zu. Zum Januar 2016 kam die Schiedsstelle zwar nicht den Forderungen der Klinik nach, stimmte aber einer Erhöhung, basierend auf dem aktiva-Gutachten 2015, zu. Beide Vergütungssätze liegen deutlich über den Angeboten der Krankenkassen. Bei ihrer Entscheidung hatte die Schiedsstelle nicht nur die Selbstkosten der Klinik berücksichtigt, sondern unter anderem auch die Personalkosten und einen Unternehmerlohn in Höhe der Veränderungsrate anerkannt. Weiter stellte die Schiedsstelle fest: Bei einer kostenorientierten Preisfindung müssen die ermittelten Preise mit denen anderer Anbieter vergleichbar sein.

    Schiedsstellen stehen inzwischen in allen Bundesländern zur Verfügung. Das Manko: Bisher waren die Spruchpraxis uneinheitlich und Entscheidungen wegen fehlender Transparenz schlecht nachvollziehbar. Das könnte sich nun ändern. Denn erstmals wurde die Schiedsstellenentscheidung auch öffentlich publiziert. Erschienen ist sie in der Fachzeitschrift „Kranken- und Pflegeversicherung – Rechtspraxis im Gesundheitswesen“ in der August-Ausgabe 2016. Die DEGEMED begrüßt die aktuelle Entwicklung. Sie ist ein wichtiger Schritt hin zu mehr Transparenz und Leistungsgerechtigkeit bei Vergütungsvereinbarungen in der medizinischen Rehabilitation.

    Quelle: DEGEMED news Nr. 57, Oktober 2016, S. 5

    Mehr zum Thema lesen Sie im Interview mit Dr. Ursula Becker, geschäftsführende Gesellschafterin der Dr. Becker Klinikgruppe. Das Interview ist den DEGEMED news (Nr. 57, Oktober 2016, S. 4-5) entnommen. Link zum Interview