Autor: Simone Schwarzer

  • Erster Kontakt mit Glücksspielen oftmals bereits im Jugendalter

    elternratgeber-gsAktuelle Studien von SUCHT.HAMBURG und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zeigen, dass der erste Kontakt mit Glücksspielen häufig bereits im Kindes- und Jugendalter stattfindet. So haben laut der aktuellen SCHULBUS-Studie von SUCHT.HAMBURG sechs von zehn Hamburger Jugendlichen schon einmal um Geld gespielt. Dabei ist Minderjährigen der Zugang zu Glücksspielen gesetzlich verboten. Mit neuen Informationsmaterialien will SUCHT.HAMBURG auf die Risiken hinweisen und insbesondere Eltern informieren.

    Anlässlich der Ergebnisse der aktuellen Studien macht auch die Hamburger Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks auf die besondere Gefährdung von Jugendlichen durch Glücksspiele aufmerksam: „Vor allem bei Jungen ist eine verstärkte Neigung zu Glücksspielen zu beobachten“, so die Gesundheitssenatorin. „Erwachsene, insbesondere Eltern, haben die Verantwortung dafür, Kinder und Jugendliche über die Risiken von Glücksspielen aufzuklären. Wenn bereits im Jugendalter um Geld gespielt wird, ist das Risiko groß, sich im Spielen zu verlieren und später eine Abhängigkeit zu entwickeln. Gerade im Internet locken vermeintliche Gratisspiele zum schnellen und unbedachten Mitmachen, das kostenpflichtige Angebot ist dann nur einen Klick entfernt.“

    Den Eltern kommt in der Aufklärung eine Schlüsselrolle zu. Christiane Lieb, Geschäftsführerin von SUCHT.HAMBURG und verantwortlich für die Kampagne „Automatisch Verloren!“: „Eltern sollten sich für die Spiele ihrer Kinder interessieren und ihnen erklären, was Glücksspiele sind und welche Risiken mit ihnen verbunden sind. Wichtig ist natürlich auch die Vorbildwirkung der Eltern. Wenn sie selbst viel spielen, zum Beispiel am PC oder mit dem Handy, wird es umso schwerer, den Kindern einen verantwortungsvollen Umgang mit Spielen zu vermitteln.“

    Der kurze Ratgeber „Was Eltern über Glücksspiele wissen sollten“ informiert Eltern über das Thema und gibt Tipps für einen verantwortungsvollen Umgang mit Glücksspielen. Der Ratgeber kann auf der Website (www.automatisch-verloren.de) heruntergeladen oder unter www.sucht-hamburg.de bestellt werden. Auch das Internetangebot der Kampagne wurde um das Thema „Jugendliche und Glücksspiele“ erweitert.

    „Automatisch Verloren!“ ist eine gemeinsame Kampagne von SUCHT.HAMBURG und der Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz (BGV).

    Sucht.Hamburg, 26. September 2016

  • „Sucht muss wahrgenommen werden“

    Marlene Mortler, Drogenbeauftragte der Bundesregierung
    Marlene Mortler, Drogenbeauftragte der Bundesregierung

    Die Reha leistet viel, sie bringt Menschen zurück ins soziale und berufliche Leben. Auf dieses Potential will jährlich der Deutsche Reha-Tag mit Aktionen rund um die Rehabilitation aufmerksam machen. Dieses Jahr fand am 13. September in der Fachklinik Haus Immanuel in Hutschdorf, einer Klinik für alkohol- und medikamentenabhängige Frauen, die Auftaktveranstaltung zum Reha-Tag statt. Das Besondere an der Fachklinik Haus Immanuel ist, dass die Rehabilitandinnen ihre Kinder mitbringen können, die dort in einem klinikinternen Kindergarten betreut werden.

    Schirmherrin des diesjährigen Reha-Tages ist die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler, die in ihrer Begrüßungsrede bei der Auftaktveranstaltung die wichtige Funktion der Reha innerhalb des Suchthilfesystems hervorhob. Die Suchtreha bietet eine ganzheitliche Behandlung mit qualifiziertem Personal. Angesichts sinkender Antragszahlen ist es wichtig, wieder mehr Menschen auf diese Chance aufmerksam zu machen. Auch Klinikleiter Gotthard Lehner betonte, dass Sucht wahrgenommen werden muss, sowohl das Leiden der betroffenen Menschen als auch das Angebot der Sucht-Reha.

    Während der Tagung herrschte eine entspannte und konstruktive Atmosphäre
    Während der Tagung herrschte eine entspannte und konstruktive Atmosphäre.

    Über die Bedeutung der Suchtreha aus Sicht der Leistungsträger referierte Melanie Blaha-Prell von der Deutschen Rentenversicherung Nordbayern. Sie stellte Zahlen zur Antragsstellung (Suchtreha und Reha insgesamt; DRV Nordbayern und DRV insgesamt) vor und erklärte, unter welchen Voraussetzungen die DRV Kostenträger einer Rehabilitation ist. Christof Lawall, Geschäftsführer der DEGEMED, beschäftigte sich in seinem Vortrag mit den Folgen der Migration für das Gesundheitssystem und insbesondere die Rehabilitation. Momentan tragen die Kommunen die Kosten für die Gesundheitsversorgung der Asylbewerber, ein Anspruch auf Reha-Leistungen besteht nicht. Dr. Volker Weissinger, Geschäftsführer des Fachverbands Sucht e. V. (FVS), gab einen Überblick über Zugangswege in die Suchtreha. Er stellte drei Bereiche dar, denen aktuell das größte Potential zugesprochen wird, noch mehr Betroffene zu erreichen: niedergelassene Ärzte, Entgiftung/Entzug sowie Case Management. Dr. Wibke Voigt, Chefärztin der Fachklinik Kamillushaus in Essen und Vorsitzende des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss), referierte über den Zusammenhang von Trauma und Sucht. Suchtkranke sind, wie mittlerweile zahlreiche Studien belegen, deutlich häufiger als die Allgemeinbevölkerung durch Gewalterfahrungen, sexuelle Gewalterfahrungen oder Vernachlässigung traumatisiert. Wenn frühe Bindungserfahrungen jedoch gelingen, ist dies das beste Rüstzeug gegen eine Suchterkrankung. Georg Wiegand, langjähriger Mitarbeiter der  Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover, berichtete über die Entwicklung der BORA-Empfehlungen (berufliche Orientierung in der Rehabilitation Abhängigkeitskranker) und betonte die Wiederherstellung der Erwerbstätigkeit als Ziel der Reha.

    v.l.n.r.: Christof Lawall, Dr. Wibke Voigt, Prof. Dr. Andreas Koch, Dr. Volker Weissinger, Georg Wiegand
    v.l.n.r.: Christof Lawall, Dr. Wibke Voigt, Prof. Dr. Andreas Koch, Dr. Volker Weissinger, Georg Wiegand

    Als weiterer Programmpunkt fand am Nachmittag eine Podiumsdiskussion der Experten statt. Moderiert wurde sie – ebenso wie die gesamte Veranstaltung – von Prof. Dr. Andreas Koch, Geschäftsführer des buss. Erläutert wurden Möglichkeiten für bessere Behandlungsverläufe und Zugangswege. Gut funktionieren durchgängige Behandlungsketten innerhalb großer Träger. Über den Konsiliardienst können auch Patienten aus der somatischen Behandlung erreicht werden, bei denen ein Suchtproblem vorliegt. Ein zentrales Thema der Diskussion waren mögliche Gründe für den Antragsrückgang. Hier könnte es z. B. helfen, die Jobcenter zu sensibilisieren, um Betroffene zu identifizieren und anzusprechen. Wichtig sind dabei eine gute Vernetzung mit dem Suchthilfesystem und die entsprechenden personellen Ressourcen. Weiterhin dringend geboten ist die Entstigmatisierung der Suchtkrankheit – z. B. durch eine Kampagne –, damit sich Suchtpatienten nicht in den Psychiatrien ‚verstecken‘, sondern qualifizierte Suchtbehandlungen in Anspruch nehmen. Fragen aus dem Publikum betrafen u. a. die therapeutische Betreuung der Kinder von Suchtkranken, die bisher nur als „Begleitkinder“ mitgenommen werden können. Hierzu bedarf es einer besseren Zusammenarbeit an den Schnittstellen der Sozialsysteme.

    Das Schlusswort der Tagung hielt Dr. Joachim Drechsel, Vorstandsvorsitzender der DGD-Stiftung. (Der Deutsche Gemeinschafts-Diakonieverband, DGD, ist Träger der Fachklinik Haus Immanuel.) Dr. Drechsel appellierte an die Anwesenden, weiterhin „Botschafter des Wahrnehmens“ zu bleiben: des Wahrnehmens hilfebedürftiger Menschen und entwicklungsbedürftiger Rahmenbedingungen. Für ihre weitere Arbeit wünschte er allen Beteiligten gutes Gelingen und Gottes Segen.

    Für musikalische Unterhaltung sorgte sehr passend – mal nachdenklich, mal aufgekratzt, mal mit dem im Alltag überlebenswichtigen Humor – der Liedermacher Klaus-André Eickhoff.

    Einen Filmbeitrag über die Veranstaltung finden Sie hier.

    Simone Schwarzer/Redaktion KONTUREN, 22.09.2016

  • Kampf gegen Crystal trägt Früchte

    Am 21. September 2016 tritt eine Verordnung der EU-Kommission in Kraft, mit der Handel und Besitz des Crystalausgangsstoffs Chlorephedrin erheblich eingeschränkt werden. Wer keine Erlaubnis zum Umgang mit dem Stoff besitzt, muss mit einer Beschlagnahme rechnen. Justizminister Sebastian Gemkow: „Mit dieser Regelung sind wir auch auf europäischer Ebene im Kampf gegen Crystal einen wesentlichen Schritt vorangekommen. Mein besonderer Dank gilt den Kollegen aus Tschechien und Bayern, die das Anliegen mit uns gemeinsam verfochten haben. Durch die Listung von Chlorephedrin als Drogenausgangsstoff werden die Behörden endlich in die Lage versetzt, effektiv gegen den Missbrauch der Substanz zur Drogenherstellung vorzugehen.“

    Mit der Aufnahme in die europäische Grundstoffüberwachung tritt für den jeweiligen Stoff ein umfassendes Überwachungsregime in Kraft. Jeder, der Chlorephedrin besitzt, in den Verkehr bringt, ein- oder ausführt usw., benötigt dafür eine Erlaubnis der zuständigen Überwachungsbehörde. In Deutschland ist dies das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM – Bundesopiumstelle).

    Im November 2014 wurde das Anliegen u. a. auf Betreiben Tschechiens und mit Unterstützung Deutschlands auf EU-Ebene erörtert. Der Bayerische Staatsminister der Justiz, Prof. Dr. Winfried Bausback, erklärte im Februar 2015 im Rahmen einer länderübergreifenden Besprechung zur internationalen Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Einfuhrschmuggels von Crystal, sich den sächsischen Bemühungen um eine Aufnahme von Chlorephedrin in die Grundstoffverordnung anzuschließen und diese unterstützen zu wollen. Anfang Oktober 2015 nahmen der Justizminister der Tschechischen Republik, Dr. Robert Pelikán, und Staatsminister Gemkow an einer weiteren länderübergreifenden Arbeitsbesprechung zur Verfolgung der Crystal-Kriminalität teil. Die Aufnahme von Chlorephedrin in die Grundstoffverordnungen wurde erneut thematisiert. Auf Einladung von Staatsminister Gemkow fand am 20. Oktober 2015 in Brüssel eine Diskussionsveranstaltung zum Thema „Designerdrogen auf dem Vormarsch in Europa“ statt, in deren Rahmen auch die Chlorephedrin-Problematik erörtert wurde.

    Im November 2015 befasste sich die EU-Expertengruppe für Drogenausgangsstoffe mit dem Vorschlag der EU-Kommission, Chlorephedrin als Kategorie 1-Stoff in den Anhängen zu den EU-Grundstoffverordnungen 273/2004 und 111/2005 zu listen. Am 29. Juni 2016 hat die EU-Kommission die Delegierte Verordnung zur Aufnahme von Chlorephedrin und Chlorpseudoephedrin als Kategorie 1- Stoffe in die Grundstoffüberwachung erlassen. Das Europäische Parlament und der Rat hatten zwei Monate Zeit, etwaige Einwendungen zu erheben. Die Delegierte Verordnung hat das Europäische Parlament und den Rat ohne Einwendungen passiert und wurde im Amtsblatt der Europäischen Union am 1. September 2016 veröffentlicht. Sie tritt 20 Tage nach Veröffentlichung in Kraft.

    Pressestelle des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz, 20.09.2016

  • Einführung ins Titelthema

    Einführung ins Titelthema

    Seit einigen Jahren sind deutliche Veränderungen für die Arbeit in der Suchtrehabilitation zu beobachten: Neue Konsumgewohnheiten der Klientel machen die Weiterentwicklung von Behandlungskonzepten erforderlich. Die Antragszahlen gehen – mit deutlichen regionalen Unterschieden – zurück und führen zu gemeinsamen Überlegungen von Leistungsträgern und Leistungserbringern, wie der Zugang in die Reha erleichtert werden kann oder neue Zugangswege erschlossen werden können. Zusätzlich wird die Finanzierungssituation der Einrichtungen immer schwieriger. Die Notwendigkeit, Kooperationen zu schließen – insbesondere mit der ambulanten Suchthilfe –, nimmt zu, denn die Betreuungs- und Behandlungsverläufe werden komplexer und die Segmentierung der unterschiedlichen sozialrechtlichen Leistungsbereiche in der Suchthilfe bleibt weiterhin bestehen. Diese Faktoren haben erhebliche Auswirkungen auf die Weiterentwicklung der Reha-Einrichtungen. Mit dem aktuellen Titelthema wollen wir einige dieser Entwicklungen näher beleuchten. Aufgrund der vielen unterschiedlichen Aspekte erscheint das Titelthema in drei Teilen.

    Der erste Teil befasst sich mit den konzeptionellen Herausforderungen, die durch die veränderten Konsumgewohnheiten von Suchtkranken (zunehmender Mischkonsum), die Verschiebung bei den zuständigen Leistungsträgern (steigender GKV-Anteil) und auch durch die verstärkte berufliche Orientierung in der Suchttherapie (Umsetzung der BORA-Empfehlungen) entstanden sind. Zwei neu eröffnete Fachkliniken aus Norddeutschland haben darauf mit innovativen Konzepten reagiert. In zwei Artikeln schildern sie ihre ersten praktischen Erfahrungen mit stoffübergreifenden Bedarfsgruppen.

    Im zweiten Teil des Titelthemas geht es um veränderte Rahmenbedingungen der Suchtrehabilitation aus Sicht der Leistungsträger. Barbara Müller-Simon und Thomas Bütefisch erläutern die neue statistische Darstellung der Maßnahmen in der Suchtrehabiliation und den Rückgang der Anträge. Dr. Joachim Köhler berichtet über die Ergebnisse eines Forschungsprojektes zu komorbiden Suchterkrankungen in der somatischen und psychosomatischen Reha. Klaus Gerkens stellt die Überlegungen einer gemeinsamen Arbeitsgruppe zur bundesweiten Etablierung eines ‚Nahtlosverfahrens’ für den Übergang aus dem Qualifizierten Entzug in die Entwöhnung dar.

    Der dritte und letzte Teil des Titelthemas greift zwei wichtige Entwicklungen aus der Perspektive der Einrichtungen auf. Stefan Bürkle setzt sich mit der Kooperation zwischen  ambulanter und stationärer Suchthilfe auseinander. Dr. Theo Wessel und Prof. Andreas Koch erläutern anhand von aktuellen Zahlen und konkreten Beispielen die teilweise dramatische Finanzierungssituation für viele Einrichtungen.

  • RehaCentrum Alt-Osterholz

    RehaCentrum Alt-Osterholz

    Thomas Hempel, Sarah Pachulicz
    Thomas Hempel, Sarah Pachulicz

    Am 20.08.2014 eröffnete therapiehilfe e. v. das RehaCentrum Alt-Osterholz, eine Klinik für die medizinische Rehabilitation von Suchtkranken mit 80 stationären und 20 ganztägig ambulanten Behandlungsplätzen in Bremen. Im RehaCentrum Alt-Osterholz werden Rehabilitandinnen und Rehabilitanden* mit Abhängigkeitserkrankungen von legalen und illegalen Substanzen behandelt. Konzeptionell neu ist, dass die Allokation der Behandlungszeiten und -bedarfe nicht mehr ausschließlich über die konsumierten Suchtstoffe erfolgt, sondern über die Auswirkungen der Suchterkrankung auf alle Lebensbereiche der betroffenen Person. In die Beurteilung der Auswirkungen fließen sowohl die häufig bestehenden komorbiden psychiatrischen und/oder somatischen Erkrankungen als auch Teilhabestörungen auf allen Ebenen der ICF unter Berücksichtigung der hemmenden und fördernden Kontextfaktoren mit ein.

    Eine Substanz – viele Lebenswelten

    Auslösend für diesen konzeptionellen Ansatz waren die empirischen Beobachtungen, dass sich die Konsummuster in den vergangenen Jahrzehnten entsprechend der gesellschaftlichen Entwicklungen veränderten. Der klassische ‚Alkoholabhängige‘, ‚Medikamentenabhängige‘ oder drogenabhängige ‚Junkie‘ wurde immer seltener in den Suchtberatungsstellen, den Entgiftungskliniken und Rehabilitationseinrichtungen angetroffen. Es kamen immer mehr Menschen, die bei genauer anamnestischer Erhebung angaben, dass sie von mehreren Substanzen abhängig waren, und deren Lebenswelten sich deutlich unterschieden, d. h. nicht mehr einheitlich durch die konsumierten Substanzen bestimmt wurden. Somit erschien die Annahme, dass sich allein über die konsumierten psychotropen Substanzen die Lebenswelt, der Schädigungsgrad sowie die Einschränkungen in der Teilhabefähigkeit der betroffenen Patienten und damit die Behandlungsziele und -bedarfe definieren ließen, nicht mehr haltbar. Lange war schon bekannt, dass z. B. der ‚typische Alkoholiker‘ in der Praxis nicht vorhanden war. Alkoholabhängigkeit war immer schon ein sehr heterogenes und multifaktoriell bedingtes Erkrankungsbild. Jeder Praktiker kennt z. B. den sozial gut integrierten Alkoholabhängigen mit einer durchgängigen Berufsbiographie und einer eher späten Entwicklung der Abhängigkeit. Ebenso kennt er den sozial desintegrierten, langfristig arbeitslosen oder sogar wohnungslosen Alkoholiker mit einem meist frühen Beginn der Abhängigkeit und hoher Komorbidität, der vom Beeinträchtigungsbild her dem ‚Junkie‘ deutlich näher ist als die erstgenannte Ausbildung der Alkoholabhängigkeit. Schon an diesem Beispiel ist ersichtlich, dass eine mehrdimensionale ICF-basierte Diagnostik und eine Einteilung der Rehabilitanden in Bedarfsgruppen erforderlich sind.

    Aufhebung der Parallelsysteme

    Ein weiterer Grund für ein suchtmittelübergreifendes Konzept ist eine verbesserte Versorgung von Suchtkranken im gesamten Suchthilfesystem, nicht nur im stationären Bereich. In Deutschland haben sich historisch zwei Parallelsysteme entwickelt (legal: Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit; illegal: Drogenabhängigkeit), die sich oft auf allen Ebenen (Betreuer, Berater, Behandler, Leistungsträger und Leistungserbringer) deutlich voneinander abgrenzen. Die Folge davon ist, dass der Zugang zu den Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsangeboten über den konsumierten Suchtstoff bzw. die konsumierten Suchtstoffe erfolgt und in vielen Fällen die Nutzung von Angeboten aus dem anderen Versorgungsbereich, die indiziert und sinnvoll wäre, nicht möglich ist. Eine Einteilung nach Teilhabestörungen in bestimmte (Hilfe-)Bedarfsgruppen könnte zu einer passgenaueren Versorgung im gesamten Suchthilfesystem führen.

    Standort und Architektur

    Im RehaCentrum werden dementsprechend suchtmittelübergreifend (einschließlich der Reha-Behandlung unter Substitution) Entwöhnungsbehandlungen durchgeführt. Seitens des Federführers, der DRV Oldenburg-Bremen, wurde dieser konzeptionelle Ansatz erstmalig anerkannt und aktiv gefördert. Die DRV Bund trägt den konzeptionellen Ansatz im Rahmen des Federführungsprinzips mit. Flankiert wird die bedarfsgruppenbasierte Behandlungssteuerung durch eine wohnortnahe, hoch vernetzte, auf die Verbesserung der beruflichen und gesellschaftlichen Teilhabefähigkeit ausgerichtete Behandlungsorganisation. Besonders wichtig hierfür war die Wahl des Standortes der Klinik. Diese liegt mitten in einem lebendigen multikulturellen Stadtteil von Bremen in der unmittelbaren Nähe zu den beiden psychiatrischen Kliniken des Landes Bremen. Weiterhin wurde das Bedarfsgruppenkonzept architektonisch umgesetzt. So sind drei miteinander verbundene moderne Baukörper, in denen ausschließlich Einzelzimmer vorgehalten werden, entstanden. In jedem Baukörper ist eine Bedarfsgruppe untergebracht. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, dass die Rehabilitanden Sicherheit und Orientierung dadurch bekommen, dass sie gemeinsam mit ihrer Bezugsgruppe (mehrere Bezugsgruppen bilden eine Bedarfsgruppe) auf einem Flur wohnen. Aus demselben Grund befindet sich auch das Büro des Gruppentherapeuten auf dem jeweiligen Flur.

    So stellen sich die Bedarfsgruppen aktuell dar:

    Bedarfsgruppe I:

    • weitgehend erhaltene soziale und berufliche Integration
    • psychische Grundproblematik auf integriertem bis mäßig integriertem Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • keine bzw. eher geringes Ausmaß an psychiatrischer/somatischer Komorbidität
    • relativ später Beginn der Abhängigkeitserkrankung und/oder eine Monoabhängigkeit

    Bedarfsgruppe II:

    • beginnende oder bereits manifeste Einschränkungen im sozialen und beruflichen Bereich
    • Arbeitslosigkeit
    • mäßig bis gering integriertes psychisches Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • komorbide psychische Störungen (Ängste, Depressionen, psychosomatische Problematik, Persönlichkeitsstörungen)
    • somatische Sucht-Folgeerkrankungen

    Bedarfsgruppe III:

    • langjährige und/oder massive soziale und berufliche Desintegration
    • langjährige Abhängigkeitserkrankung und/oder Polytoxikomanie
    • eher gering integriertes psychisches Strukturniveau (OPD-Achse IV)
    • multiple psychische/psychiatrische Begleitstörungen
    • junge Altersstruktur, erhebliche Reifungsdefizite und soziale Verwahrlosung

    Zuordnung zu den Bedarfsgruppen

    Eine vorläufige Zuteilung in die Bedarfsgruppen erfolgt schon vor Aufnahme auf Grundlage einer eingehenden Vorlaufdiagnostik. In einigen Bremer Suchtberatungsstellen des therapiehilfe e. v. wird zusätzlich der „Bremer Screening Bogen“ eingesetzt, der zurzeit evaluiert und weiterentwickelt wird. Für die Vorlaufdiagnostik, die der ärztliche Dienst durchführt, werden die medizinischen Vorbefunde, der Sozialbericht und das ärztliche Kurzgutachten zur Beantragung einer medizinischen Rehabilitation genutzt. Gegebenenfalls werden Vorgespräche durchgeführt (diese sind obligatorisch bei Rehabilitanden, die unter Substitution ihre Reha-Behandlung beginnen möchten).

    Nach Ankunft in der Klinik durchlaufen die Rehabilitanden eine Eingangsdiagnostik und eine ausführliche Anamneseerhebung der relevanten Lebensbereiche. Wenn dies abgeschlossen ist (nach spätestens zwei Wochen), wird im Rahmen der ersten Fallbesprechung die Bedarfsgruppenzuordnung überprüft und, wenn erforderlich, eine Korrektur durchgeführt. Anhand der verbindlichen Zuordnung werden dann in Abstimmung mit den Rehabilitanden die Behandlungsziele und die Behandlungsplanung festgelegt. Wichtig hierbei ist, dass alle Rehabilitanden, unabhängig von der Einteilung in die Bedarfsgruppen, das Grundprogramm entsprechend der Vorgaben der ETM´s (Evidenzbasierte Therapiemodule, vorgegeben in den „Reha-Therapiestandards Alkoholabhängigkeit“ der DRV) erhalten. Die Zuordnung zu den indikativen und teilhabebezogenen Behandlungen erfolgt auf Basis der Bedarfsgruppenzuordnung und der Ergebnisse der Diagnostik.

    Die bisher bewilligte Behandlungsdauer wird mit der verbindlich ermittelten Bedarfsgruppe abgeglichen, und bei Abweichungen gibt die Klinik eine Empfehlung an den Leistungsträger ab (Bedarfsgruppe I: 8 bis 12 Wochen; Bedarfsgruppe II: 14 bis 16 Wochen; Bedarfsgruppe III: 19 bis max. 26 Wochen). Perspektivisch ist eine flächendeckende Anwendung des „Bremer Screening Bogens“ geplant, so dass langfristig bereits bei der Beantragung der Kostenübernahme die Bedarfsgruppe bekannt ist. Derzeit folgt der federführende Leistungsträger in seinen Bewilligungen den Empfehlungen der Klinik. Für die Zukunft ist geplant, hieraus einen formalisierten Vorgang zu machen. Ergänzend zur der Einteilung in Bedarfsgruppen erfolgt analog die Zuteilung in die BORA-Gruppen. Hier zeigte sich rasch, dass dies vollkommen problemlos möglich ist (Bedarfsgruppe I: BORA-Gruppen 1, 2 und 5; Bedarfsgruppe II: BORA-Gruppen 2, 3, 4 und 5; Bedarfsgruppe III: BORA-Gruppen 4 und 5).

    Erfahrungen aus zwei Jahren Praxis

    Nach nunmehr fast zwei Jahren Erfahrung mit der Umsetzung dieses Konzeptes lässt sich feststellen, dass die Rehabilitanden damit sehr gut zurechtkommen. Die Zuordnung in die Bedarfsgruppen ist in über 95 Prozent der Fälle stimmig. In den restlichen fünf Prozent konnte dies immer komplikationslos mit Zustimmung der Rehabilitanden und des Leistungsträgers korrigiert werden. Wie erwartet entwickeln sich unabhängig von den konsumierten Suchtstoffen in den Bedarfsgruppen Lebenswelten, in denen sich die Rehabilitanden mit ihren Themen wiederfinden. Hier einige Beispiele:

    In der Bedarfsgruppe I fragen die Rehabilitanden primär die psychotherapeutischen Angebote nach. Im Vordergrund stehen Themen wie Achtsamkeit, Umgang mit Stress, Verbesserung der Freizeitaktivitäten sowie Befähigung zur Abgrenzung gegenüber Ansprüchen an die eigene Person durch andere (Life Balance). Häufig besteht eine hohe Motivation, sich mit psychotherapeutischen Themen intensiv auseinanderzusetzen. Diese ist in der Bedarfsgruppe I deutlich stärker ausgeprägt als in Bedarfsgruppe III. In der Bedarfsgruppe III steht dagegen der Umgang mit Regeln im Fokus der therapeutischen Arbeit sowie die Auswirkungen der oft vorhandenen komorbiden psychiatrischen Erkrankungen.

    Die Befürchtung, dass es zu starken Abgrenzungen zwischen den Bedarfsgruppen kommen könnte, z. B. im Sinne einer Hierarchisierung, ist nicht eingetreten. Natürlich treten manchmal Konflikte auf, aber diese spielen sich hauptsächlich innerhalb der Bezugsgruppen ab (mehrere Bezugsgruppen bilden eine Bedarfsgruppe) oder auch zwischen den Bezugsgruppen („Gruppe A hat den Waschhausschlüssel nicht rechtzeitig an Gruppe B gegeben“). Diese Konflikte sind fast immer unabhängig von der Bedarfsgruppe.

    Aus den Gruppentherapien berichten die Therapeutinnen und Therapeuten, dass in der Bezugsgruppe ein sehr fokussiertes und auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnittenes Arbeiten möglich ist. Interessant sind die Berichte aus den indikativen Angeboten (die teilweise störungsspezifisch und bedarfsgruppenübergreifend sind): Die unterschiedlichen Fähigkeiten und Umgangsweisen der Rehabilitanden treffen hier aufeinander. Bei der „Rückfallvorbeugung“ führt dies oft zu sehr fruchtbaren Diskussionen, und die Unterschiedlichkeit wird als Bereicherung angesehen. Im „Sozialen Kompetenztraining“ wurde sehr schnell deutlich, dass hier eine Trennung der Teilnehmer je nach Bedarfsgruppe notwendig ist, da die Spanne an individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu weit ist. Grundsätzlich aber gilt, dass die intrinsische Motivation ein besserer Indikator dafür ist, ob jemand in einer Indikationsgruppe zurechtkommt, als die Zugehörigkeit zu einer Bedarfsgruppe.

    Das Konzept der stoffübergreifenden Bedarfsgruppen wird durch die erzielten Haltequoten bestätigt. Diese haben sich in allen drei Bedarfsgruppen stetig bis auf derzeit über 72 Prozent, mit weiter steigender Tendenz, erhöht. Die regelmäßige klinikinterne Auswertung zeigt, dass sich die Unterschiede zwischen den Bedarfsgruppen zunehmend verringern, d. h., auch in der Bedarfsgruppe III steigen die Haltequoten und die regulär abgeschlossenen Entwöhnungsbehandlungen deutlich. Dies ist besonders bemerkenswert, da in dieser Bedarfsgruppe Rehabilitanden behandelt werden, die nach der traditionellen Zuweisungsform eher in Drogenentwöhnungseinrichtungen behandelt würden, in denen Haltquoten von 40 bis 45 Prozent als sehr gut gelten.

    Zufriedenheit der Rehabilitanden

    Auf der Basis der zweimal jährlich im gesamten Träger therapiehilfe e. v. durchgeführten Rehabilitandenbefragung (diese wurde bisher dreimal im RehaCentrum durchgeführt) lässt sich feststellen, dass sich die Zufriedenheit der Rehabilitanden im Vergleich zu anderen Rehabilitationskliniken des Trägers nicht verschlechtert hat bzw. sogar höher ist. Negative Rückmeldungen zum Bedarfsgruppenkonzept waren nicht zu finden. Als positiv und hilfreich wurden der flexible und auf die individuellen Behandlungsbedarfe abgestimmte Behandlungsprozess sowie das teilhabe- und wohnortnahe Behandlungssetting wahrgenommen. Kritik gab es, wenn aus Gründen der Belegungssteuerung Rehabilitanden aus unterschiedlichen Bedarfsgruppen vorrübergehend in einer Gruppe zusammengefasst werden mussten. Hier wurde dann, unabhängig vom konsumierten Suchtstoff, darüber geklagt, dass man sich mit seinen Themen nicht wiederfindet.

    Ein limitierender Faktor für eine solche Behandlungssteuerung ist sicherlich die personelle Ausstattung und die Bettenzahl einer Klinik. Die im RehaCentrum vorhandenen 80 Betten stellen nach den vorliegenden Erfahrungen die Mindestgröße dar, mit der ein solch komplexes System adäquat umgesetzt werden kann. Bei weniger Rehabilitanden kann die benötigte Anzahl von Bezugs- und Indikationsgruppen personell nicht mehr abgebildet werden.

    Evaluation und Weiterentwicklung

    Katamnestische Daten liegen aktuell noch nicht vor. Das Bedarfsgruppenkonzept und der Einsatz des „Bremer Screening Bogens“ werden im Rahmen eines Forschungsprojekts in Kooperation mit der Jacobs University Bremen und der Deutschen Rentenversicherung Oldenburg-Bremen evaluiert. Erster Schritt des Forschungsprojektes ist es, den Screeningbogen so weiterzuentwickeln, dass er sowohl anwenderfreundlich für die beantragenden Stellen ist als auch relevante Informationen über die Suchtgeschichte und das Ausmaß der Teilhabe- und komorbiden Störungen enthält. Damit soll er zum einen eine Entscheidungshilfe für Zuweiser darstellen, ob eine ambulante, ganztägig ambulante oder stationäre Behandlung für den Klienten sinnvoll ist. Zum anderen soll er bei angezeigter stationärer Behandlung eine erste Zuordnung in eine Bedarfsgruppe und eine erste Definition von teilhabeorientierten Therapiezielen ermöglichen. Der Projektantrag wartet derzeit auf Bewilligung, weitere Projekte zur Evaluation der Behandlung in den Bedarfsgruppen sind in Planung.

    Insgesamt lässt sich sagen, dass die Erfahrungen mit dem Bedarfsgruppensystem fast durchweg positiv sind und dieses Konzept eine den individuellen Bedürfnissen der Rehabilitanden angepasste Behandlungsplanung ermöglicht.

    *Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Kontakt:

    Sarah Pachulicz
    Therapeutische Leitung
    RehaCentrum Alt-Osterholz
    Osterholzer Landstraße 49a
    28325 Bremen
    sarah-pachulicz@therapiehilfe.de
    http://www.therapiehilfe.de/rl/index.php/osterholz.html

    Angaben zu den Autoren:

    Sarah Pachulicz, M.A., Psychologische Psychotherapeutin, Arbeits- und Organisationspsychologin, Therapeutische Leiterin des RehaCentrums Alt-Osterholz, Bremen
    Thomas Hempel, Ärztlicher Leiter Therapiehilfeverbund, Ärztlicher Leiter RehaCentrum Alt-Osterholz, stellvertretender geschäftsführender Vorstand therapiehilfe e. v., Hamburg und Bremen

  • Fachklinik Hase-Ems

    Fachklinik Hase-Ems

    Claudia Westermann
    Claudia Westermann
    Conrad Tönsing
    Conrad Tönsing

    Mit der Eröffnung der Fachklinik Hase-Ems in Haselünne im April 2015 konnte eine neue und sehr modern ausgestattete Fachklinik zur medizinischen Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen ans Netz gehen. Mit insgesamt 69 Behandlungsplätzen hält sie ganz unterschiedliche Behandlungssettings vor. Dazu gehören die klassische vollstationäre Entwöhnungsbehandlung, die Kombi-Behandlung, die ganztägig ambulante Rehabilitation und die integrierte Adaption. Die aus den Fachkliniken Holte-Lastrup und Emsland hervorgegangene moderne Fachklinik Hase-Ems behandelt verschiedene Abhängigkeitserkrankungen bei erwachsenen Männern und Frauen.

    Das mit der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover abgestimmte neue und am aktuellen Forschungsstand orientierte Konzept ermöglicht die Rehabilitation von Menschen mit Alkoholabhängigkeit, Medikamentenabhängigkeit, pathologischem Glücksspiel und der Abhängigkeit von illegalen Drogen. Durch die verbesserte regionale Vernetzung mit den akutmedizinischen ambulanten und stationären Einrichtungen vor Ort ist auch eine Behandlung psychiatrisch erkrankter Patientinnen und Patienten* möglich geworden. Zudem wird die medizinische Rehabilitation von substituierten und opiatabhängigen Patientinnen und Patienten angeboten.

    Funktionale Problemlage bestimmt den Behandlungsansatz

    Die aktuellen Erkenntnisse der Suchtforschung und der zunehmende polyvalente Konsum haben dazu geführt, dass bei der Neuausrichtung der Fachklinik Hase-Ems ein Konzept entwickelt wurde, das dem veränderten Konsumverhalten ebenso Rechnung trägt wie den daraus resultierenden Beeinträchtigungen auf unterschiedlichen Ebenen. Der Behandlungsansatz hängt nicht streng von der ICD-Diagnose, sondern von der mit der Erkrankung einhergehenden funktionalen Problemlage (ICF) ab. Diese ergibt sich aus Beeinträchtigung zum Beispiel in den Bereichen Mobilität, Kommunikation, Selbstversorgung im häuslichen Umfeld, Interaktion mit anderen Menschen und vor allem auch im Erwerbsleben. Unter Berücksichtigung der individuellen biographischen, sozialen, kulturellen und materialen Lebensbedingungen stellt die Teilhabe (Partizipation) in diesen Bereichen die zentrale Zielkomponente für die Rehabilitation dar (SGB IX).

    Überschneidungen der unterschiedlichen Konsumgruppen

    Da es nach Erfahrungen aus der klinischen Praxis keine homogene Personengruppe mit generalisierten Problembereichen und einheitlichen Zielen mehr gibt, ist die Rehabilitation in der Fachklinik Hase-Ems zwar an spezifischen Themen von Abhängigkeitserkrankungen orientiert, richtet sich aber individuell nach der Situation des Einzelnen. Zwischen den unterschiedlichen Konsumgruppen finden sich vielfache Überschneidungen im Verhalten, in der Entwicklung weiterer Krankheitsbilder (komorbide Störungen) oder auch in der Vergleichbarkeit der sozialen Situation. Diese Erkenntnisse werden in der Fachklinik Hase-Ems in einem suchtstoffübergreifenden Konzept konkret umgesetzt: In den Bezugsgruppen finden sich Patienten mit unterschiedlichen Abhängigkeitserkrankungen. Bei der Zuordnung der neu aufgenommenen Patienten zu ihrer Bezugs- bzw. Wohngruppe wird jedoch darauf geachtet, dass sich jeder Rehabilitand  im Kontext „seiner“ Gruppe aufgehoben fühlt. Jeder soll die Erfahrung machen, dass es Mitpatienten gibt, die ähnliche Erfahrungshintergründe aufweisen und mit denen eine Identifikation möglich ist. Dies kann über die Art der Abhängigkeitserkrankung, über medizinische Problemlagen, die soziale Situation, das Alter oder auch berufliche Erfahrungen geschehen.

    Erfahrungsraum suchtstoffübergreifende Bezugsgruppe

    Die suchtstoffübergreifende Bezugsgruppe findet als thematisch offen geführte Gruppe zweimal in der Woche statt, zusätzlich gibt es jeden Tag eine Morgenrunde zur Klärung aktueller Fragen und Anliegen. Gleichheit und Unterschiedlichkeit der Teilnehmer bilden eine gute Basis für die Auseinandersetzung mit persönlichen Themen und individuellen Anliegen: Die Rehabilitanden können ihre persönliche Entwicklung an den Erfahrungswelten der Mitpatienten abgleichen und ihre Sicht auf sich selbst und die Welt neu definieren. Um diesen Erfahrungsraum zu schaffen, hat der Bezugstherapeut eine wichtige integrierende Funktion. Unterstützt wird dies dadurch, dass sein Büro im Wohnbereich der Gruppe liegt.

    Das suchtstoffübergreifende Konzept wird gestützt durch das biopsychosoziale Modell, dessen Bedeutung für die Rehabilitation heutzutage nahezu unbestritten ist (Schliehe 2006). Darüber hinaus ist die Verwendung der beiden Konstrukte Leistung und Leistungsfähigkeit für die medizinische teilhabeorientierte Rehabilitation von besonderer Bedeutung. Besteht zwischen den realen Umweltanforderungen und der aktuellen Leistungsfähigkeit eine Diskrepanz, müssen in der Reha Maßnahmen ergriffen werden, um diese Diskrepanz abzubauen. Neben den jeweiligen Umweltbedingungen und der Funktionsfähigkeit sind auch noch die weiteren Lebensumstände und personenbezogenen Faktoren zu berücksichtigen.

    Weitere wesentliche Handlungselemente

    In der Phase des Aufnahmeverfahrens wird ein medizinischer Befund des Abhängigkeitssyndroms erhoben. Ein multiprofessionelles Team bewertet die psychische Verfassung und die berufliche Leistungsfähigkeit des Rehabilitanden. Hinzu kommen die Motivationsklärung zur Abstinenz und die Festlegung der Behandlungsziele gemeinsam mit dem Patienten/der Patientin.

    Die individuell ausgerichtete Rehabilitation setzt eine klinikinterne Prozesssteuerung voraus, die alle therapeutischen Maßnahmen miteinander vernetzt und immer wieder auf das übergeordnete Ziel der Wiederherstellung des Erwerbsbezugs ausrichtet. Berücksichtigt werden Fragestellungen zum körperlichen und psychischem Wohlbefinden oder der sozialen Integrationsfähigkeit. Neben Gruppensitzungen erfolgen regelmäßige einzeltherapeutische Sitzungen, deren Frequenz sich am individuellen Bedarf orientiert. Zum therapeutischen Angebot gehören außerdem verschiedenste psychoedukative und indikative Gruppen, u.a. finden die speziellen Anforderungen und Fragestellungen zu den Abhängigkeitsformen „Glücksspielsucht“ und „Illegale Drogen“ Berücksichtigung in zwei indikativen Gruppen.

    Der Zusammenarbeit zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen kommt eine wichtige Funktion zu. Die vorbehandelnden ambulanten Stellen liefern maßgebliche Informationen für die Behandlungsplanung. Die nachbehandelnden ambulanten Stellen unterstützen den Rehabilitanden dabei, seine erreichten Ziele zu festigen, fortzusetzen und auszubauen.

    Die EDV-gestützte Patientendokumentation (patfak Plan) ermöglicht eine gesteuerte Einsichtnahme mit Zugriffsrechten, die selbstverständlich den Datenschutzbestimmungen entsprechen. Dieses Vorgehen gewährleistet einen hohen Informationsstand aller am Prozess Beteiligten. Der Austausch und das Controlling über den Behandlungsfortschritt im multiprofessionellen Team sorgen für eine hohe Ergebnisqualität.

    Erfahrungen aus dem ersten Jahr

    Die Fachklinik Hase-Ems verfügt jetzt über ein Jahr Erfahrung mit dem suchtstoffübergreifenden Konzept. Von den Rehabilitanden und Mitarbeitern wird es als durchweg positiv und bereichernd erlebt. Die Patienten erkennen Ähnlichkeiten in der Dynamik, die zwischen der Abhängigkeitserkrankung und ihren Auswirkungen im Alltagsleben entsteht. Unterschiede werden benannt und als Lernfeld für den Einzelnen wahrgenommen. So dient die Bezugsgruppe als Ort der Auseinandersetzung mit persönlichen Themen, und die Patienten fühlen sich angesprochen, sich gegenseitig zu unterstützen. Das Setting der Gruppe motiviert jeden Einzelnen, seine Stärken und Ressourcen für das Gelingen der Arbeitsfähigkeit einzubringen. Zusätzlich werden von Patienten zeitweise selbst organisierte Freizeitaktivitäten durchgeführt. Der Bezugstherapeut unterstützt die Integration der Patienten und begleitet die individuelle Rehabilitation durch gezielte Aufgaben und die Zuordnung zu speziellen indikativen Angeboten. Das Regelwerk ist so wenig restriktiv wie möglich, bietet einerseits Struktur und Sicherheit für den Einzelnen, ruft aber auch zur Verantwortung für einen gelungenen Rehabilitationsprozess auf.

    Die Erfahrung hat gezeigt, dass Rehabilitanden mit sozialen Schwierigkeiten und/oder komorbiden Störungen besondere Unterstützung benötigen. Zur Sicherstellung der Rehabilitationsfähigkeit gibt es Einzelfalllösungen, z. B. Unterstützung zur Einhaltung der Zeiten und zur Umsetzung des Tagesablaufes. Dabei haben sich die Strukturen der Fachklinik Hase-Ems und die Ausrichtung auf die individuelle Situation des Einzelnen als hilfreich erwiesen und tragen zu einem positiven Verlauf und zum Gelingen der Rehabilitation bei.

    Literatur bei den Verfassern

    *Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.

    Kontakt:

    Conrad Tönsing
    Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V.
    Knappsbrink 58
    49080 Osnabrück
    Tel. 0541/34 978-140
    CToensing@caritas-os.de
    www.caritas-os.de

    Angaben zu den Autoren:

    Conrad Tönsing, Sozialtherapeut/Psychotherapeut (KJP) und Leiter des Geschäftsbereichs Suchtprävention und Rehabilitation beim Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V.
    Claudia Westermann, Sozialtherapeutin, Supervisorin (M.A.) und Leiterin der Fachklinik Hase-Ems

  • Es gibt ein Leben nach der Therapie

    Klett-Cotta, Stuttgart 2016, 176 Seiten, 16,95 €, ISBN 978-3-608-86055-9, auch als E-Book erhältlich

    9783608860559Häufig wird eine Psychotherapie mit dem guten Gefühl abgeschlossen, einen wichtigen Schritt weitergekommen zu sein, sich selbst besser zu verstehen, angemessener zu reagieren. Im therapielosen Alltag folgt dann die Probe aufs Exempel: Wie stabil bin ich wirklich, wenn neue Krisen auftreten? Überwunden geglaubte Gefühle kehren in schwierigen Situationen oft wieder. Dieses Buch hilft dabei, eine Therapie gut abzuschließen, die Erfolge langfristig zur Alltagsbewältigung zu nutzen und weiterzuführen sowie Rückfälle zu vermeiden. Besonders wichtig ist das nach einem geschützten Aufenthalt in einer stationären Einrichtung. Viele praktische Übungen zur selbständigen Resilienzstärkung, konkrete Anregungen und Tipps, wie Therapieeinsichten verfügbar bleiben, bieten Unterstützung in der schwierigen Nach-Therapiezeit.

  • Alkoholbelastete Familien in Deutschland

    cover-abschlussbericht_rDas Robert-Koch-Institut hat im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums aktuelle Kennziffern zu Familien erhoben, in denen mindestens ein Elternteil in riskantem Maße Alkohol konsumiert. Der Bericht beinhaltet soziodemographische Merkmale der Gruppe der riskant Alkohol konsumierenden und regelmäßig rauschtrinkenden Väter und Mütter. Die Ergebnisse auf Grundlage der bevölkerungsweiten Studie „Gesundheit in Deutschland aktuell“ (GEDA) von 2012 zeigen, dass 22 Prozent der Elternteile, die mit mindestens einem eigenen minderjährigen Kind im Haushalt leben, einen riskanten Alkoholkonsum aufweisen. In Bezug auf das regelmäßige Rauschtrinken ist von 14 Prozent der Elternteile auszugehen. Dies entspricht etwa 3,8 Millionen Elternteilen mit riskantem Alkoholkonsum bzw. 2,4 Millionen Elternteilen mit regelmäßigem Rauschtrinken. Unter Berücksichtigung der durchschnittlichen Kinderzahl dieser Elternteile ist davon auszugehen, dass in Deutschland bis zu 6,6 Millionen Kinder bei einem Elternteil mit riskantem Alkoholkonsum respektive 4,2 Millionen Kinder bei einem Elternteil mit regelmäßigem Rauschtrinken leben, wobei bei der Interpretation dieser Zahl methodische Einschränkungen zu berücksichtigen sind.

    Ein direkter Vergleich der Zahlen aus GEDA 2012 mit anderen Studien ist aufgrund unterschiedlicher Definitionen der elterlichen Alkoholbelastung nicht möglich. Beispielsweise kommt eine Hochrechnung auf Basis einer Studie aus den 1990er Jahren zu dem Schluss, dass in Deutschland etwa 2,65 Millionen Kinder mit mindestens einem alkoholmissbrauchenden oder -abhängigen Elternteil leben (KLEIN 2005). In GEDA 2012 wurden dagegen aus methodischen Gründen Eltern mit riskantem Alkoholkonsum bzw. regelmäßigem Rauschtrinken erfasst und somit eine deutlich höhere Anzahl an betroffenen Kindern ermittelt als bei Studien, die auf elterlichen Missbrauch oder Abhängigkeit fokussieren.

    Anhand der Ergebnisse aus GEDA 2012 wird deutlich, dass es sich bei der Mehrheit der im riskanten Maß Alkohol konsumierenden und regelmäßig rauschtrinkenden Elternteile um Väter handelt. Außerdem ist ein riskanter Alkoholkonsum bzw. regelmäßiges Rauschtrinken der Eltern vor allem in der mittleren und hohen sozialen Statusgruppe sowie ein riskanter Alkoholkonsum insbesondere bei älteren Eltern (ab 40 Jahren) verbreitet. Darüber hinaus weisen Eltern, die ausschließlich mit älteren Kindern im Haushalt leben, tendenziell einen höheren Anteil an Risikokonsumenten auf als Eltern, die mit jüngeren Kindern zusammenleben. Die vorliegenden Ergebnisse ermöglichen es, die Gruppe der im riskanten Maß Alkohol konsumierenden und regelmäßig rauschtrinkenden Väter und Mütter detailliert zu beschreiben und somit Zielgruppen für Präventionsmaßnahmen zu bestimmen. Zudem weisen die gewonnenen Erkenntnisse auf Zugangswege hin, über die die identifizierten Zielgruppen gut erreicht werden können.

    Das Bundesgesundheitsministerium wird gemeinsam mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) weitere Schritte prüfen, damit die o. g. Zielgruppe besser über Präventionsmaßnahmen erreicht werden kann. Um konkretere Zahlen zu Kindern bis 18 Jahren im Haushalt von Eltern mit substanzbezogenen Abhängigkeiten zu erhalten, wurde mit den Verantwortlichen des Epidemiologischen Suchtsurveys (ESA) vereinbart, dass entsprechende Fragen bei der nächsten ESA-Befragung 2018 aufgenommen werden sollen.

    Download der Studie
    Download des Kurzberichtes

    NACOA Deutschland – Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien e. V., 29.08.2016