Autor: Simone Schwarzer

  • Emotionsfokussierte Methoden

    Weinheim: Beltz 2015, 199 S., mit E-Book inside und Arbeitsmaterial, ISBN 978-3-621-28256-7, EUR 26,95, auch als E-Book erhältlich

    9783621282567Emotionsfokussierte Methoden sind ein wichtiges Instrument in der Verhaltenstherapie. Sie werden eingesetzt, um bei Patienten die dysfunktionale Regulation von Emotionen aufzulösen und ihnen dabei zu helfen, mit problematischen Gefühlen wie Angst, Scham, Schuld, Traurigkeit und Einsamkeit konstruktiv umzugehen. Claas-Hinrich Lammers erklärt die einzelnen Methoden und ihre Anwendungsfelder und gibt Anregungen für Interventionen, die an kritischen Punkten der emotionalen Fehlregulation des Patienten ansetzen.

    Zum vorgestellten Repertoire gehören nicht nur Techniken, die ausschließlich emotionsfokussiert sind, sondern der Autor zeigt auch, wie man beispielsweise Stuhldialoge emotionsfokussiert einsetzen kann. Er geht auf die Grundlagen der Techniken ein, zeigt Indikation und Kontraindikation auf und erklärt, was bei der Vorbereitung auf die Behandlung zu beachten ist. Einsteiger finden aufgrund der didaktisch einladenden Aufbereitung schnell einen Zugang. Aber auch geübte Praktiker können – z. B. durch die zusätzlich online angebotenen Lehrvideos – ihr Wissen leicht auffrischen und ihr therapeutisches Spektrum erweitern. Prüfungsfragen ermöglichen die Überprüfung des eigenen Wissens, die Antworten sind online zu finden.

  • Neues Psych-Entgeltsystem

    Cover PsychVVG_Gemeinsame_Stellungnahme_FINALInkonsistente Formulierungen, widersprüchliche Bestimmungen und lückenhafte Regelungen gefährden die Ziele des PsychVVG. In einer gemeinsamen Stellungnahme identifizieren die wissenschaftlichen Fachgesellschaften und Verbände aus den Bereichen Psychiatrie, Psychosomatik sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie gravierende Probleme in dem vom Bundesgesundheitsministerium vorgelegten Gesetzesentwurf. Sie fordern deshalb umfassende Änderungen und Erweiterungen.

    Die wissenschaftlichen Fachgesellschaften und Verbände üben nicht nur Kritik am Referentenentwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Versorgung und Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen (PsychVVG). In der gemeinsamen Stellungnahme begrüßen sie die Grundausrichtung des neuen Vergütungs- und Versorgungssystems und sehen einen Teil ihrer Forderungen erfüllt. „Doch in der Ausgestaltung bleibt das PsychVVG in seiner jetzigen Form insgesamt hinter unseren Erwartungen zurück. Wir haben eine Reihe von Problembereichen festgestellt, bei welchen das Bundesgesundheitsministerium zwingend nachbessern muss, damit das Gesetz zu keiner Verschlechterung der Versorgungslage führt“, stellt der zukünftige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN), Prof. Arno Deister aus Itzehoe, fest.

    Die Stellungnahme geht im Detail auf sechs zentrale Aspekte ein. Zum Beispiel kritisieren die Fachgesellschaften und Verbände, dass der Gesetzesentwurf die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit psychischen Erkrankungen noch nicht ausreichend berücksichtigt. Erheblichen Bedarf für Nachbesserungen machen sie auch in Bezug auf die Trennung von Budget- und Preissystem und die Sicherstellung der Finanzierung der erforderlichen Personalressourcen aus. „Wichtig ist zudem, dass der Gesetzgeber die Definition und Umsetzung stationsäquivalenter Leistungen besser regelt. Die Möglichkeit, dass Krankenhäuser zukünftig stationsäquivalente Leistungen außerhalb der Stationen erbringen können, ist zwar begrüßenswert. Doch die Regelungen dazu sind noch nicht klar genug und müssen dringend konkretisiert werden. Neben diesen grundsätzlichen Problemen sind im Gesetzesentwurf aus Sicht der DGPPN viele weitere Änderungen notwendig. Wir haben dem Bundesgesundheitsministerium deshalb eine ergänzende Stellungnahme übergeben, in der wir die einzelnen Gesetzesartikel im Detail kommentieren“, so DGPPN-Präsidentin Dr. Iris Hauth aus Berlin. Die Fachgesellschaft will den Gesetzesprozess weiter kritisch begleiten.

    Gemeinsame Stellungnahme der wissenschaftlichen Fachgesellschaften und Verbände
    Ergänzende Stellungnahme der DGPPN

    Pressestelle der DGPPN, 15.06.2016

  • Angehörige von Suchtkranken

    Das Forschungsprojekt „Belastungen und Perspektiven Angehöriger Suchtkranker“ (BEPAS) am Zentrum für Integrative Psychiatrie (ZIP) in Lübeck untersucht die Belastungssituation von Angehörigen Suchtkranker. Negative Auswirkungen von Suchterkrankungen auf die Gesundheit von Angehörigen wurden in verschiedenen Studien konsistent belegt. Dennoch ist der Forschungsstand zu Belastungen, Ressourcen und Versorgungsbedarfen in Deutschland unzureichend. Das Projekt BEPAS soll diese Forschungslücken schließen und dazu beitragen, die Versorgungssituation Angehöriger langfristig zu verbessern.

    Für dieses Projekt suchen die Forscher noch Teilnehmer/innen, die in ihrem persönlichen Umfeld einen suchtkranken Angehörigen (Alkohol, Medikamente, Drogen oder Glücksspiel) haben und bereit sind, im Rahmen der Studie von ihren Erfahrungen zu berichten. Teilnahmevoraussetzung ist, dass die Suchtproblematik auch noch innerhalb der letzten zwölf Monate bestand und nicht schon länger zurückliegt. Sollte in den vergangenen zwölf Monaten ein Rückfall bei ansonsten bereits länger zurückliegender Abstinenz stattgefunden haben, so ist eine Teilnahme ebenfalls möglich und hilfreich.

    Die Vorgehensweise besteht aus einem vertiefenden Interview, in dem die Forscher mit den Angehörigen über ihre Belastungen und Bedarfe sprechen. Das Interview dauert maximal zwei Stunden und bietet Raum, von den persönlichen Erfahrungen zu berichten. Die Gespräche finden nach Wunsch bei den Interviewpartnern zu Hause oder an der Universität zu Lübeck statt. Bei weiter entfernten Wohnorten können die Interviews in nahe gelegenen Kooperationseinrichtungen stattfinden. Alle Interviews werden zwecks Auswertung mit einem Tonband aufgenommen. Im Anschluss an das Gespräch werden die Teilnehmer/innen gebeten, einen Fragebogen auszufüllen, der sich ergänzend mit dem Thema befasst.

    Die Teilnahme an der Studie ist selbstverständlich freiwillig und kann jederzeit ohne Nennung von Gründen beendet werden. Außerdem werden die Daten anonymisiert, d. h., die Teilnehmer/innen können nicht mehr anhand der Daten identifiziert werden. Es werden dabei alle gesetzlichen Bestimmungen zum Datenschutz berücksichtigt. Wer Interesse oder Fragen bezüglich einer Studienteilnahme hat, ist herzlich eingeladen, sich an das Forscherteam zu wenden. Ein Informationsblatt finden Sie hier.

    Dr. Gallus Bischof
    Tel. 0451/50 04 860
    gallus.bischof@uksh.de

    Dipl.-Psych. Johannes Berndt
    Tel. 0451/50 05 139
    johannes.berndt@uksh.de

    Redaktion KONTUREN online, 09.06.2016

  • Aktuelle psychiatrische Diagnostik

    Stuttgart: Thieme Verlag 2015, 168 S., ISBN 978-3-13-200521-1, EUR 49,99, auch als E-Book erhältlich

    9783132005211_cover_mDieser Leitfaden bietet Hilfestellungen für die Anwendung von IDC und DSM durch praktische Tipps und wichtige Hintergrundinformationen: Er informiert über Vor- und Nachteile der Diagnosesysteme ICD 10 und DSM 5, zeigt einen Überblick über verschiedene Krankheitsmodelle in der Psychiatrie und erklärt entwicklungsgeschichtliche Aspekte, aktuelle Ansätze und Zukunftsperspektiven. Außerdem stellt er konkrete, praxisnahe Fallbeispiele vor, beschreibt verschiedene Hilfsinstrumente (z. B. standardisierte Interviews), beinhaltet zahlreiche Tabellen und Abbildungen und hilft bei der Anwendung diagnostischer Algorithmen.

  • Sucht und Teilhabe

    Cover_neuWelche Angebote zur Unterstützung Suchtkranker im Hinblick auf ihre Teilhabe am Arbeitsleben und am gesellschaftlichen Leben macht die Suchthilfe in Niedersachsen? Um diese Frage zu beantworten, beauftragte die Niedersächsische Landesstelle für Suchtfragen (NLS) Prof. Dr. Knut Tielking von der Hochschule Emden-Leer mit der Erstellung einer Expertise, die nun veröffentlicht wurde. Sie trägt den Untertitel „Eine Zusammenschau von und Empfehlungen zu teilhabefördernden Aktivitäten mit dem Schwerpunkt ‚Sucht und Arbeit‘ sowie Eingliederungshilfen in Niedersachsen“. Ausgangspunkt der Untersuchung ist der Anspruch der UN-Behindertenrechtskonvention und das damit verbundene Teilhabekonzept.

    Die Expertise zeigt auf, dass es bereits sehr vielfältige Angebote und Aktivitäten zur Teilhabeförderung Suchtkranker in Niedersachsen gibt, dass aber auch noch deutliche Defizite bestehen. Dies betrifft z. B. Beschäftigungsmöglichkeiten für Suchtkranke und die Kooperation beteiligter Leistungsträger an den Schnittstellen der sozialen Hilfesysteme. Der Abschlussteil mündet in Hinweisen und Empfehlungen, wie die Teilhabesituation von Suchtkranken durch die Weiterentwicklung von Angeboten und Strukturen noch verbessert werden könnte. Die Vorschläge richten sich an die Einrichtungen, Träger und Verbände der Sucht- und Suchtselbsthilfe sowie an deren Kooperationspartner in den Kommunen und im Land Niedersachsen.

    Die Veröffentlichung der Expertise verfolgt den Zweck, den beteiligten Akteuren und politisch Verantwortlichen Anregungen zu geben, sich mit der Teilhabe suchtkranker Menschen am Arbeitsleben und am gesellschaftlichen Leben zu befassen und realisierbare Ideen zu deren weiterer Verbesserung zu entwickeln. Die Expertise kann auf der Website der NLS heruntergeladen oder als gedrucktes Exemplar bestellt werden.

    Niedersächsische Landesstelle für Suchtfragen, 17.05.2016

  • Gesetzesentwurf PsychVVG

    Das Bundesministerium für Gesundheit hat den Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Versorgung und Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen vorgelegt. Es folgt damit Forderungen der wissenschaftlichen Fachgesellschaften und Verbände aus den Bereichen Psychiatrie, Psychosomatik sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie. Der Gesetzesentwurf ist ein wichtiger Schritt zu einem zukunftsfähigen Entgeltsystem, das die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit psychischen Erkrankungen berücksichtigt. Es ist jedoch noch eine Vielzahl von grundsätzlichen Fragen offen. Diese müssen zwingend und umgehend geklärt werden, damit das angestrebte Ziel auch tatsächlich erreicht werden kann.

    Menschen mit psychischen Erkrankungen benötigen ein Hilfe- und Versorgungssystem, das die besonderen Bedingungen ihrer Erkrankung und ihrer Lebenssituation adäquat berücksichtigt. Das bisher in der Entwicklung befindliche Preissystem (PEPP-System) setzt die falschen gesundheitspolitischen und ökonomischen Anreize und hat sich als nicht geeignet erwiesen. Die wissenschaftlichen Fachgesellschaften und Verbände aus den Fächern der Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie haben im Herbst vergangenen Jahres gemeinsam ein grundlegendes Umdenken in der Finanzierung von Krankenhausleistungen gefordert und ein konkretes Konzept für ein zukünftiges Entgeltsystem vorgelegt.

    Der jetzige Entwurf eines „Gesetzes zur Weiterentwicklung der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen“ (PsychVVG) nimmt die wesentlichen Forderungen prinzipiell auf. Auf der Basis dieses Gesetzesentwurfs kann zukünftig der jeweilige regionale Versorgungsbedarf besser in die Budgetfindung der Krankenhäuser einfließen. Eine besondere Bedeutung kommt der erforderlichen Personalausstattung zu: Der Gesetzesentwurf sieht die Entwicklung verbindlicher Mindestvorgaben dazu vor. Die für Menschen mit psychischen Erkrankungen besonders bedeutsame Möglichkeit zur sektorenübergreifenden Behandlung wird zukünftig durch die Möglichkeit einer psychiatrischen Behandlung im häuslichen Umfeld deutlich gestärkt. Durch die „Krankenhausbehandlung ohne Bett“ kann in individuellen Fällen die stationäre Behandlung ersetzt oder abgelöst werden.

    Diese als positiv zu bewertenden Ansätze können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in diesem Gesetzesentwurf wesentliche Punkte unzureichend geregelt sind. Die gerade in der sprechenden Medizin entscheidende Personalbesetzung muss zwingend in voller Höhe und auch zukunftssicher sowie dynamisch-adaptiv durch die Krankenkassen finanziert werden. Dazu sind sicherlich deutlich mehr Finanzmittel erforderlich, als das BMG derzeit hierfür veranschlagt. Die Regelungen zur Abrechnung müssen bürokratiearm so ausgestaltet werden, dass sie in erster Linie an der Versorgungsnotwendigkeit ausgerichtet sind und den Krankenhäusern die Möglichkeit zu einer verlässlichen Planung geben. Die Fortführung einer Kalkulation auf der Basis des bisherigen PEPP-Systems (das sich als nicht zielführend erwiesen hat) und der geplante Krankenhausvergleich werden zu einem noch höheren Dokumentationsaufwand führen.

    Nur wenn diese Fragen geklärt sind, kann durch dieses Gesetz das gemeinsame Ziel einer zukunftsfähigen Weiterentwicklung der Versorgung und Vergütung psychiatrischer und psychosomatischer Leistungen erreicht werden.

    Gemeinsame Pressemitteilung der wissenschaftlichen Fachgesellschaften und Verbände aus den Bereichen Psychiatrie, Psychosomatik und Kinder-und Jugendpsychiatrie, 25. Mai 2016

    Die unterzeichnenden Fachgesellschaften und Verbände:
    Arbeitskreis der Chefärztinnen und Chefärzte psychiatrischer und psychotherapeutischer Kliniken an Allgemeinkrankenhäusern in Deutschland (ACKPA)
    Arbeitskreis der Krankenhausleitungen Psychiatrischer Kliniken Deutschlands (AKP)
    Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (BAG)
    Bundesarbeitsgemeinschaft leitender Mitarbeiter/innen des Pflege- und Erziehungsdienstes kinder- und jugendpsychiatrischer Kliniken und Abteilungen (BAG PED)
    Bundesarbeitsgemeinschaft der Träger Psychiatrischer Krankenhäuser (BAG Psychiatrie)
    Bundesdirektorenkonferenz – Verband leitender Ärztinnen und Ärzte der Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie (BDK)
    Bundesfachvereinigung Leitender Krankenpflegepersonen der Psychiatrie (BFLK)
    Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker (BApK)
    Deutsche Arbeitsgemeinschaft der Tageskliniken (DATPPP)
    Deutsche Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege (DFPP)
    Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen (DGBS)
    Deutsche Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie (DGGPP)
    Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP)
    Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN)
    Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM)
    Deutsche Gesellschaft für seelische Gesundheit bei Menschen mit geistiger Behinderung (DGSGB)
    Deutscher Verband der Ergotherapeuten e. V. (DVE)
    Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Psychotherapie (LIPPs)
    Verband der Krankenhausdirektoren Deutschlands, Fachgruppe Psychiatrie (VKD)

  • Was fehlt, wenn alles da ist?

    Zürich: Orell Füssli Verlag, 3. Auflage 2015, 189 S., ISBN 978-3-280-05592-2, EUR 19,90, CHF 19,90

    Haeni_Kovce_WasFehlt_RZ.inddEin provokativer Essay der Initiatoren der Schweizer Volksabstimmung, welche am 5. Juni 2016 stattfindet. Das bedingungslose Grundeinkommen stellt die Frage nach der Selbstbestimmung des Menschen radikal: Was würdest du arbeiten, wenn für dein Grundeinkommen gesorgt wäre? Was traust du dir zu und was den anderen? Die Schweiz ist das erste Land, welches über die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens abstimmt. Die Grenze zwischen Befürwortern und Gegnern verläuft quer durch die bekannten Lager: Kapitalisten und Sozialisten, Liberale und Konservative, Unternehmer und Gewerkschafter begeistern sich für den Vorschlag – und bekämpfen ihn. Er schafft neue Allianzen und lässt alte auseinanderbrechen. Der Grund dafür: Das bedingungslose Grundeinkommen stellt die richtigen Fragen. Daniel Häni und Philip Kovce formulieren sie und liefern damit das Werkzeug für den begrifflichen Mauerfall.

  • Europäischer Drogenbericht 2016

    EDR_2016_CoverAm 31. Mai 2016 stellte die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) in Lissabon den „Europäischen Drogenbericht 2016: Trends und Entwicklungen“ vor. Ein Schwerpunkt ist die Bedrohung durch Drogenmärkte im Internet und das kontinuierliche Auftreten Neuer Psychoaktiver Substanzen. Die EMCDDA äußert sich zudem besorgt über die Zunahme der Todesfälle durch Überdosierung in einigen Ländern. Der zuständige Europäische Kommissar für Migration, Inneres und Bürgerschaft Dimitris Avramopoulos: „Neue psychoaktive Substanzen, Stimulanzien, Heroin und andere Opioide werden weiterhin in starkem Maße nachgefragt und angeboten, was erhebliche Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit hat.“ Der Europäische Drogenbericht 2016 sei daher „für europäische Entscheidungsträger ein hilfreiches Instrument für die Gestaltung von politischen Strategien und Maßnahmen zur Drogenbekämpfung.“

    Die Anzahl, Art und Verfügbarkeit Neuer Psychoaktiver Stoffe haben auf dem europäischen Markt weiter zugenommen. Derzeit werden über 560 neue psychoaktive Substanzen von der EMCDDA beobachtet. 2015 wurden 98 Substanzen erstmals gemeldet (gegenüber 101 im Jahr 2014). Synthetische Cannabinoide und synthetische Cathinone stehen ganz oben auf der Liste der gemeldeten neuen Substanzen (24 bzw. 26). Zusammen machten diese beiden Gruppen im Jahr 2014 fast 80 Prozent der 50.000 Sicherstellungen von neuen psychoaktiven Substanzen bzw. über 60 Prozent der beschlagnahmten Menge von vier Tonnen aus. Im Bericht wird dazu Folgendes festgestellt: „Junge Konsumenten fungieren womöglich unwissentlich als menschliche Versuchskaninchen für Substanzen, deren potenzielle Gesundheitsrisiken weitgehend unbekannt sind.“

    Deutschland hat zügig gehandelt. Das Bundesministerium für Gesundheit hat bereits im vergangenen Jahr einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Verbreitung Neuer Psychoaktiver Stoffe erarbeitet. Der Entwurf des Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetzes (NpSG) wurde am 4. Mai 2016 vom Bundeskabinett verabschiedet. Am 2. Juni 2016 wird der Gesetzesentwurf im Deutschen Bundestag in Erster Lesung beraten. Sofern das Parlament zustimmt, kann das NpSG bis zum Jahresende 2016  in Kraft treten.

    Marlene Mortler: „Jede Droge ist gefährlich. Das gilt gerade auch für die vielen aus ausländischen Drogenküchen auf den deutschen Markt gespülten so genannten Legal Highs. Sie gaukeln als ‚Kräutermischungen‘ oder ‚Badesalze‘ eine vermeintliche Harmlosigkeit vor, die sie allerdings nicht haben. Im Gegenteil. Im vergangenen Jahr sind allein in Deutschland 39 Menschen nach dem Konsum von Neuen Psychoaktiven Stoffen ums Leben gekommen. Dem Spiel mit dem Tod machen wir mit dem Gesetz ein Ende. Es ist uns gelungen, die juristisch hochkomplexe Materie in Hochgeschwindigkeit in Gesetzesform zu bringen. Mit dem Verbot ganzer Stoffgruppen schützen wir wirksam die Gesundheit.“

    Synthetische Cannabinoide, die als ‚legaler‘ Ersatz für Cannabis verkauft werden, können hochgiftig sein. Der Europäische Bericht informiert ausführlich über entsprechende Vorkommnisse und Todesfälle. So gab die EMCDDA im Februar 2016 eine Warnung bezüglich des synthetischen Cannabinoids MDMB-CHMICA heraus, das in Europa seit 2014 mit 13 Todesfällen und 23 nicht tödlichen Vergiftungen in Verbindung gebracht wurde. Das synthetische Cathinon alpha-PVP wurde seit 2011 mit fast 200 akuten Vergiftungen und mehr als 100 Todesfällen in Verbindung gebracht.

    Pressestelle der Bundesdrogenbeauftragten, 31.05.2016

    Geschätzter Drogenkonsum in der Europäischen Union

    Den geschätzten Drogenkonsum in der Europäischen Union zeigt auf einen Blick folgende Grafik aus dem aktuellen Bericht:

    Grafik entnommen aus: Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (2016), Europäischer Drogenbericht 2016: Trends und Entwicklungen, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg, S. 15
    Grafik entnommen aus: Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (2016), Europäischer Drogenbericht 2016: Trends und Entwicklungen, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg, S. 15
  • Always on?!

    Always on?!

    Dr. Klaus Wölfling
    Dr. Klaus Wölfling
    Dr. Kai W. Müller
    Dr. Kai W. Müller
    Prof. Manfred Beutel
    Prof. Dr. Manfred E. Beutel
    Jun.-Prof. Dr. Leonard Reinecke. Foto: Richard Lemke

     

     

     

     

    Die zunehmende Verbreitung des Internets und insbesondere die hohe Nutzungsrate bei Jugendlichen (JIM-Studie, 2015) hat in den letzten Jahren zu einem intensiven gesellschaftlichen sowie wissenschaftlichen Diskurs geführt. Im Zentrum steht die Frage nach den Folgen der Digitalisierung. Da sich die Nutzung ‚neuer‘ Medien in annähernd allen Gesellschaftsschichten mit einer beispiellosen Geschwindigkeit vollzieht, fehlen weitestgehend Vergleichsmöglichkeiten in Bezug auf die positiven wie auch negativen Auswirkungen auf gesellschaftlicher und individueller Ebene. Aktuelle Statistiken weisen aus, dass das Internet unter Kindern und Jugendlichen einen besonders hohen Stellenwert einnimmt und internetbasierte Aktivitäten wie etwa Chats und weitere Kommunikationsplattformen, aber auch Online-Computerspiele und Unterhaltungsportale einen integralen Bestandteil im Leben und Aufwachsen dieser Generation darstellen (JIM-Studie, 2015). Diese Generation wird auch als „Digital Natives“ (deutsch: Digitale Eingeborene) bezeichnet.

    Mehr noch als in erwachsenen Bevölkerungsschichten ist hier ein Spannungsfeld zu beobachten, in welchem einerseits Befürwortung der Internetnutzung, andererseits Bedenken hinsichtlich möglicher nachteiliger Effekte auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen aufeinandertreffen. Während theoretisch zu erwarten ist, dass beide Positionen in gewissem Maße zutreffen, muss aus empirischer Sicht festgehalten werden, dass derzeit lediglich eine dünne und damit insgesamt wenig belastbare Datengrundlage existiert, welche die mittel- und langfristigen Folgen der Digitalisierung unseres Lebens abbilden könnte. So bleiben wichtige Fragen vorerst ungeklärt, wie etwa die Auswirkung der Digitalisierung auf die Entwicklung der sozioemotionalen Kompetenz oder die Fähigkeit, internetbasierte Fertigkeiten auf andere Lebensbereiche übertragen zu können. Eine besondere Rolle nimmt die Frage ein, welche Auswirkungen eine intensive bis exzessive Mediennutzung auf die psychische Gesundheit hat.

    „Nur eine Phase?“ – und weitere offene Fragen

    Ein viel diskutierter und eindeutiger Nachteil, den die Digitalisierung gebracht hat, ist das Auftreten eines neuen Störungsbildes. Die im Jahr 2013 erfolgte Aufnahme der „Internet Gaming Disorder“ in das Klassifikationssystem für psychische Störungen (DSM-5) als Forschungsdiagnose zeugt davon, dass mit der Verbreitung des Internets auch vorher unbekannte gesundheitsrelevante Auswirkungen der Mediennutzung festzustellen sind (APA, 2013). Aktuelle querschnittliche Erhebungen konnten zeigen, dass ein nicht zu vernachlässigender Anteil der deutschen Allgemeinbevölkerung und gerade auch der Jugendlichen computerspiel- oder internetsüchtiges Verhalten aufweist und hierüber teils dramatische Einschränkungen der psychischen Gesundheit hinnehmen muss. Jedoch stellt sich die Frage nach der zeitlichen Stabilität suchtartiger Internetnutzung: Handelt es sich bei dem Verhalten eher um ein fokussiertes Interesse und damit nur um eine ‚Phase‘? Oder ist das Medienverhalten tatsächlich eine Sucht und bedarf externer, professionaler Hilfe? Außerdem stellt sich die Frage nach den Entstehungsbedingungen einer exzessiven Nutzung: Welche Risikofaktoren begünstigen einen suchtartigen Medienkonsum und welche Faktoren wirken – vielleicht trotz einer intensiven Nutzung – schützend?

    Während seit etwa zehn Jahren eine Zunahme von Querschnittstudien – teilweise auch in Form von repräsentativen Erhebungen – zu verzeichnen ist und somit die oben stehenden Fragen zum Teil schon in den Fokus wissenschaftlichen Interesses gerückt sind, stellen Längsschnitterhebungen noch immer eine Seltenheit dar. Dies ist ungünstig, da Querschnitterhebungen zwar wichtige Erkenntnisse zum Thema erlauben, konkrete Aussagen über die kausalen Zusammenhänge bestimmter Merkmale jedoch nur über längsschnittliche Forschungsmethoden getroffen werden können.

    Viele Jugendliche durchlaufen Phasen mit gesteigertem Interesse an bestimmten Themen. Hierbei handelt es sich um ein aus entwicklungspsychologischer Sicht ganz normales Phänomen, welches für die Autonomieentwicklung in dieser Phase sogar notwendig ist. Diese Phasen können spontan enden oder von neuen Phasen abgelöst werden. Auch von risikoreichem Verhalten wie etwa dem Rauschmittelkonsum ist bekannt, dass sich Konsummuster aus dem Jugendalter keineswegs zwangsläufig im Erwachsenenalter fortsetzen müssen, sondern ebenfalls einer spontanen Remission unterliegen können (Moffitt, 1993). Analog könnte es sich mit dem problematischen bzw. suchtartigen Mediengebrauch verhalten, d. h. es könnte sich hierbei lediglich um eine temporäre Erscheinung in der Entwicklung handeln.

    Viele Studien zur Internetsucht beschränken sich auf eine einmalige Erhebung des Phänomens, also auf eine Abbildung der Situation im Hier und Jetzt. Um den Verlauf bzw. die zeitliche Stabilität abzubilden, sind solche Studiendesigns demnach ungeeignet. Lediglich Längsschnitterhebungen, die ein und dasselbe Phänomen bei denselben Personen zu mehreren unterschiedlichen Zeitpunkten erfassen, können Aufschluss über wichtige Zusammenhänge und tiefere Einblicke in die Thematik geben. Solche Studien werden aufgrund des damit verbundenen enormen Aufwands jedoch zum einen selten durchgeführt, und zum anderen sind sie häufig methodisch nicht einwandfrei. So stellt sich etwa immer wieder das Problem, dass die untersuchte Kohorte nicht über den zeitlichen Verlauf gehalten werden kann, was bisweilen in Stichprobenreduktionen auf zum Teil deutlich unter 50 Prozent resultiert. Aus diesen Gründen ist die Forschungsliteratur zur zeitlichen Stabilität suchtartiger Internet- und Computerspielnutzung, aber auch zu anderen Langzeiteffekten der Mediennutzung durch Jugendliche deutlich unterrepräsentiert. Der bisherige Stand der Forschung soll nachstehend kurz zusammengefasst werden.

    Befunde bisheriger Längsschnittstudien

    Forscher untersuchten im Jahr 2014 rund 3.000 Schüler in Taiwan im Alter zwischen 15 und 17 Jahren über einen Zeitraum von zwölf Monaten bezüglich der Stabilität internetsüchtigen Verhaltens (Chang, Chiu, Lee, Chen & Miao, 2014). Es wurde festgestellt, dass rund 66 Prozent der anfänglich als internetsüchtig diagnostizierten Jugendlichen auch noch bei der (abschließenden) zweiten Messung die diagnostischen Kriterien für eine Internetsucht erfüllten. Positiv hervorzuheben ist die methodische Stärke der Studie: So wurde auf einen gut etablierten Fragebogen zurückgegriffen (CIAS, Chen Internet Addiction Scale; Chen, Weng & Su, 2003) und eine hohe Haltequote der Studienteilnehmer erzielt: 77 Prozent der Schüler nahmen zu beiden Messzeitpunkten teil. Eine weitere Untersuchung aus dem asiatischen Raum fand über einen Zeitraum von drei Jahren statt (Yu & Shek, 2013). Von den 3.300 jugendlichen Befragten nahmen noch 80 Prozent zum letzten Zeitpunkt an der Befragung teil. Der Anteil der Jugendlichen mit Internetsucht erwies sich hier als annähernd stabil: Während zum ersten Zeitpunkt 26 Prozent die Kriterien einer Internetsucht erfüllten, belief sich der Anteil zum Zeitpunkt der letzten Befragung noch auf 23 Prozent.

    Speziell zur Computerspielsucht führten Gentile und Kollegen (2011) eine Studie an 3.000 Jugendlichen aus Asien durch. Ihre Ergebnisse deuten ebenfalls auf eine hohe Stabilität des Problemverhaltens hin. 84 Prozent der zu Beginn als suchtartige Spieler eingeschätzten Jugendlichen zeigten auch noch nach zwei Jahren das gleiche Problemverhalten. Methodisch zu bemängeln ist jedoch die Verwendung eines bislang nicht anerkannten Fragebogens zur Klassifikation der Computerspielsucht.

    Interessanterweise kommen Längsschnittstudien mit europäischen Teilnehmern zu abweichenden Ergebnissen und legen eher den Schluss einer mittleren bis schwachen zeitlichen Stabilität des suchtartigen Verhaltens nahe. Lemmens, Valkenburg und Peter (2011) berichten für eine kleine Stichprobe von 851 Jugendlichen über einen Zeitraum von sechs Monaten geringe Stabilitäten der Diagnose Computerspielsucht. Sie zeigten jedoch gleichzeitig auf, dass eine suchtartige Computerspielnutzung eine zumindest exzessive (also zeitlich ausufernde) Computerspielnutzung sechs Monate später voraussagte. Das Problemverhalten remittierte also nicht vollständig.

    Eine erste Untersuchung basierend auf einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe in Deutschland nahmen Scharkow, Festl und Quandt (2014) an 4.500 regelmäßigen Computerspielern vor. Hier zeigte ein Prozent der Befragten über den gesamten Zeitraum von zwei Jahren ein problematisches Computerspielverhalten, wohingegen es bei drei Prozent zu einer Veränderung hin zu einem unauffälligen Computerspielverhalten kam. Obgleich dieser Studie eine wichtige Pionierrolle für den deutschen Sprachraum zukommt, lassen sich doch methodische Unzulänglichkeiten finden. Diese betreffen insbesondere die geringe Haltequote der Stichprobe (lediglich 902 der initial 4.500 Teilnehmer konnten zwei Jahre später nachbefragt werden).

    In den oben berichteten Untersuchungsergebnissen wird eine erhebliche Heterogenität deutlich. Daraus lässt sich ein Bedarf an methodisch hochwertigen Studien mit mehreren Messzeitpunkten, ausreichender und kohortenspezifischer Teilnehmerzahl zu allen Messzeitpunkten und zuverlässigen Instrumenten zur Messung der Internetsucht ableiten.

    Schutz- und Risikofaktoren

    Insbesondere erscheint es relevant, in solchen langfristig angelegten Untersuchungen Faktoren ausfindig zu machen, die zu einer Stabilität der Problematik beitragen können oder diese gar bedingen. Erkenntnisse über schützende Faktoren, die zu einer Verbesserung der suchtartigen Mediennutzung beitragen, sind vor allem für die Ableitung präventiver Strategien, aber auch für Interventionsprogramme wichtig. Gerade in dieser Hinsicht mangelt es derzeit noch an aussagekräftigen Forschungsbefunden. Ob sich eine verstärkte Mediennutzung nachteilig auf bestimmte Gruppen von Adoleszenten, die beispielsweise eine spezifische Vulnerabilität mitbringen, auswirkt und welche Einflüsse hierzu beitragen, muss von daher eine wesentliche Aufgabenstellung der modernen Forschung sein. Einen theoretischen Ausgangspunkt für die Formulierung zielgerichteter Hypothesen bietet die inzwischen reichhaltige Literatur aus Querschnittserhebungen.

    Wenngleich die Anzahl jener Studien, die sich gezielt mit der Frage nach Schutz- und Risikofaktoren befassen, noch überschaubar ist, deuten einzelne Befunde doch darauf hin, dass das Auftreten einer Internetsucht unter bestimmten Voraussetzungen wahrscheinlicher ist. Ähnlich wie bei anderen psychischen Erkrankungen und Abhängigkeitsphänomenen legt die Forschung einen Zusammenhang zwischen bestimmten Persönlichkeitsdimensionen und Internetsucht nahe. Demnach ist in erhöhtem Neurotizismus, niedriger Gewissenhaftigkeit oder verminderter Extraversion zumindest ein Korrelat internetsüchtigen Verhaltens zu sehen und möglicherweise sogar ein kausaler Faktor, der die Krankheitsentstehung direkt beeinflusst (vgl. z. B. Müller et al., 2014; Kuss et al., 2014; Braun et al., 2015; für eine Übersicht vgl. Müller, 2013). Hiervon ausgehend kann angenommen werden, dass möglicherweise das Gefühl von einer bedrohlichen Welt voller potenzieller Stressoren zu einer stärkeren Hinwendung zum Internet führt. In dieser als sicher und berechenbar erlebten Online-Welt kann der Jugendliche Belastungen entfliehen und erlebt eine erhöhte Selbstwirksamkeit (Müller, 2013). Im Umkehrschluss ist gleichzeitig anzunehmen, dass es bestimmte Umstände gibt, die eine Remission des exzessiven oder gar suchtartigen Nutzungsverhaltens begünstigen – und eben dieser Punkt ist es, über den es zum aktuellen Zeitpunkt noch so gut wie keine Erkenntnisse gibt. Wissen über diese Thematik würde entscheidende Vorteile mit sich bringen. Im Sinne der positiven Psychologie wäre es etwa möglich, ressourcenfördernd bzw. -aktivierend zu arbeiten und bestehende Präventionskonzepte um entsprechende Module zu ergänzen.

    Einen Versuch, Schutz- und Risikofaktoren bei der Entwicklung von unauffälligem, problematischem und suchtartigem Internetverhalten zu eruieren, nahm die Forschergruppe um Dreier im Jahr 2012 vor. In ihrer international angelegten qualitativen Studie wurden Tiefeninterviews mit Jugendlichen durchgeführt, welche ein intensives bis exzessives Internetnutzungsverhalten aufwiesen. Die Forscher stellten in dieser spezifischen Stichprobe adaptive sowie maladaptive Strategien im Umgang mit dem Internet fest: Zu den identifizierten adaptiven Strategien zählten Kompetenzen wie etwa die Priorisierung von Offline-Aktivitäten als gezielter Ausgleich zum Online-Verhalten sowie angewandtes Verhaltensmonitoring, um die Onlinenutzungszeiten nicht entgleiten zu lassen. Demgegenüber ließen sich maladaptive Strategien identifizieren wie das gezielte Umgehen elterlicher Kontrolle und die Bagatellisierung des exzessiven Verhaltens.

    Verschiedene Nutzertypen

    Anhand der Befragung von Dreier et. al (2012) konnten vier unterschiedliche Nutzertypen ausgemacht werden: „Stuck online“, „Juggling it all“, „Coming full cycle“ und „Killing boredom“. Jugendliche des Typs Stuck online zeigten einen exzessiven Internetkonsum, vernachlässigten wichtige Alltagsaktivitäten (Schule, Freunde, Pflichten) und schafften es nicht aus eigener Kraft, den Internetkonsum zu reduzieren. Die exzessive Nutzung zeigte bei diesen Jugendlichen bereits negative Konsequenzen wie beispielsweise Schlafstörungen. Als Risikofaktoren für diesen Typ wurden defizitäre soziale Fertigkeiten genannt, die teilweise auf erlebte Enttäuschungen in sozialen Interaktionen, aber auch auf Mobbingerlebnisse zurückgeführt werden können. Der Typ Juggling it all zeigt eine Balance zwischen Online- und Offline-Aktivitäten. In beiden ‚Welten‘ zeigen sich Jugendliche dieses Typs sehr präsent, was – negativ betrachtet – zu einem vollen Zeitplan und Stress führen kann. Als protektiven Faktor wiesen diese Jugendliche ein hohes Maß an sozialer Kompetenz auf, die sich darin äußerte, dass die Jugendlichen einen qualitativen Unterschied zwischen Offline- und Online-Kommunikation machen. Gleichzeitig nehmen die Online-Aktivitäten Bezug zur Offline-Welt (z. B. Jugendlicher mit vielen Freunden, der viel Aktivität auf sozialen Netzwerken aufweist). Jugendliche des Typs Coming full cycle zeigten ein exzessives Nutzungsverhalten, konnten jedoch durch Selbstregulierungsprozesse eine progressive und adaptive Veränderung in ihrem Verhalten erzielen. Bei diesen Jugendlichen handelte es sich lediglich um eine ‚Phase‘ exzessiver Nutzung, die sich ohne externe Hilfe wieder legte. Der Typ Killing boredom empfindet die Offline-Welt als langweilig, und ihm fehlt es an alternativen Aktivitäten, die ihn interessieren. Die Internetnutzung ist ein Zeitfüller und eine automatisierte Reaktion auf Langeweile. Dieser Typ zeigt wenig Eigeninitiative in der aktiven Exploration von Verhaltensalternativen und hat begrenzte soziale Fähigkeiten.

    Zusammenfassend scheint die Befundlage zu Risiko- und protektiven Faktoren hinsichtlich der Entwicklung einer Internetsucht überschaubar. Insbesondere an ganzheitlichen und langfristigen Betrachtungen fehlt es bislang. Die Durchführung weiterer methodisch einwandfreier Längsschnittstudien ist in diesem recht neuen Themengebiet bedeutsam, um Präventionskonzepte und Strategien der Frühintervention an die Bedürfnisse der Jugendlichen anpassen zu können.

    Die intensive Nutzung internetbasierter Anwendungen durch Jugendliche zeigt, dass in vielerlei Hinsicht von einem Wandel im Freizeit- und Kommunikationsverhalten auszugehen ist, der auf keinen Fall automatisch mit einem Krankheitswert gleichzusetzen ist. Im Gegenteil existieren empirische Befunde, die der Nutzung moderner Medien mancherlei positive Effekte bescheinigen (z. B. Greitemeyer, 2011). Bei allen nachteiligen Konsequenzen, die eine manifeste Internetsucht nach sich zieht, sollte also nicht außer Acht gelassen werden, dass internetsüchtiges Verhalten mit einer Prävalenz zwischen zwei und vier Prozent in Europa deutlich seltener ist als die problematische Internetnutzung.

    Die Studie „Always on – Mediennutzungsverhalten im Verlauf“

    Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe aus Vertreter/innen der Fachdisziplinen Psychologie, Kommunikationswissenschaft, Medizin und Medienpädagogik hat sich zum Ziel gesetzt, die oben genannten offenen Punkte näher zu beleuchten. In der vom Forschungsschwerpunkt Medienkonvergenz der Johannes Gutenberg-Universität finanzierten Studie „Always on – Mediennutzungsverhalten im Verlauf“ wird eine repräsentative Stichprobe von 2.500 Jugendlichen im Alter zwischen zwölf und 15 Jahren aus Rheinland-Pfalz schriftlich befragt. Das innovative Moment der Erhebung stellt die Begleitung der Jugendlichen über zwei Jahre hinweg dar. Es wird angestrebt, die Teilnehmer zu insgesamt drei Messzeitpunkten (2015, 2016 und 2017) zu denselben Themen zu befragen und somit Aussagen über individuelle Verläufe in der Mediennutzung treffen zu können. Ebenso soll es möglich werden, Rückschlüsse auf die Kausalität der gefundenen Zusammenhänge zu ziehen. Bei der inhaltlichen Konzeption der Befragung wurde Wert darauf gelegt, dass die Fragestellungen nicht explorativ, sondern theoriegeleitet sind und eine entwicklungspsychologische Perspektive eingenommen wird. Zentrale Inhalte des Projekts betreffen:

    • Art und Umfang des Mediennutzungsverhaltens
    • Subjektive und objektive Beeinflussbarkeit durch Medieninhalte
    • Häufigkeit und Effekte von „Digital Stress“
    • Veränderung von Peer-Kontakten durch die Nutzung sozialer Netzwerke
    • Effekte auf die Persönlichkeitsentwicklung durch unterschiedlich intensive Mediennutzung
    • Prävalenz, Inzidenz (= Häufigkeit der Neuerkrankungen), Stabilität und Remission von Internetsucht
    • Belastung durch psychosoziale Symptome in unterschiedlichen Nutzergruppen

    In der Erhebung kommen ausschließlich gut etablierte Erhebungsinstrumente zum Einsatz, welche vor dem Hintergrund eines ganzheitlichen Ansatzes zusammengestellt wurden. Hierüber sollen die Effekte der Mediennutzung möglichst breit erfasst werden, sodass sich Raum für die Identifikation sowohl von positiven als auch negativen Effekten bietet. Die Studie ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf insgesamt 24 Monate angelegt, jedoch wird angestrebt, die rekrutierte Kohorte über den genannten Zeitraum hinaus beizubehalten und im Idealfall auch den Übergang von der Adoleszenz in das junge Erwachsenenalter abbilden zu können.

    Kontakt:

    Dr. Kai W. Müller
    Grüsser-Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht
    Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
    Unversitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
    Untere Zahlbacher Straße 8
    55131 Mainz
    muellka@uni-mainz.de / kai.mueller@unimedizin-mainz.de

    Angaben zu den Autoren:

    Die Dipl.-Psychologen Dr. Klaus Wölfling, Dr. Kai W. Müller und Prof. Dr. Manfred E. Beutel forschen und arbeiten an der Grüsser-Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht, Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Dr. Leonard Reinecke ist Juniorprofessor am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

    Literatur:
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    • Dreier, M., Tzavela, E., Wölfling, K., Mavromati, F., F., Duven, E., Karakitsou, Ch., Macarie, G., Veldhuis, L., Wójcik , S., Halapi, E., Sigursteinsdottir, H., Oliaga, A., Tsitsika, A. (2012). The development of adaptive and maladaptive patterns of Internet use among European adolescents at risk for internet addictive behaviours: A Grounded theory inquiry. National and Kapodistrian University of Athens (N.K.U.A.), Athens: EU NET ADB. Vefügbar unter: www.eunetadb.eu [20.11.2015].
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