Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2015, 326 S., ISBN 978-3-593-50484-1, EUR 34,90
Gehören Bildung, Macht und Elite untrennbar zusammen? Der Band vereint Beiträge, die diese Verbindung kritisch in den Blick nehmen. Anknüpfend an die Forschungstradition des Eliteforschers Michael Hartmann steht die Frage nach der Bedeutung der sozialen Herkunft im Mittelpunkt: Welchen Einfluss hat sie auf die Erfolgschancen für höhere Bildung, welche auf den Zugang zu gesellschaftlichen Spitzenpositionen? Welche Rolle spielt der Wirtschaftssektor dabei im gesellschaftlichen Machtgefüge? Die Einzelstudien zeigen, dass zwischen sozialer Herkunft und gesellschaftlicher Macht eine enge Verbindung besteht und soziale Ungleichheiten sich über diese Machtverhältnisse reproduzieren. Mit einem Vorwort von Günter Wallraff.
Weinheim: Beltz 2015, 2. überarb. Auflage, 225 S., ISBN 978-3-621-28224-6, EUR 44,95
Gitta Jacob und Arnoud Arntz zeigen, welche Modi es gibt und wie Therapeuten ihren Patienten das Moduskonzept vermitteln. Klar strukturiert und mit anschaulichen Fallbeispielen wird die Modusarbeit bei verschiedenen Störungsbildern vorgestellt, und es werden die schematherapeutischen Interventionen wie z. B. Stuhldialoge oder Imaginationen erklärt. Fallbeispiele unterschiedlicher Patiententypen veranschaulichen das therapeutische Vorgehen. Jedes Kapitel wird durch FAQs ergänzt. Die 2. Auflage vertieft das Thema der Unterwerfung, behandelt neu auch das Thema „Trotz“ bei kindlichen Modi und greift neue Wirksamkeitsnachweise zur Schematherapie auf.
Aus dem Inhalt: Moduskonzept, Überwinden von Bewältigungsmodi, Umgang mit verletzbaren, wütenden und impulsiven Kindmodi, Interventionen bei dysfunktionalen Elternmodi, Stärkung des gesunden Erwachsenenmodus.
Im zweiten Quartal 2015 wurde für 531.250 Kinder Betreuungsgeld bezogen. In den meisten Fällen dient das Betreuungsgeld der Überbrückung, bis ein Betreuungsplatz gefunden ist: An die 60 Prozent der Leistungsbezieher gaben in der Befragung an, sich parallel um einen Platz für ihr Kleinkind beworben zu haben. Auf der anderen Seite sind 40 Prozent der Eltern in Deutschland grundsätzlich der Überzeugung, Kinder in den ersten Lebensjahren sollten allein in der Familie groß werden. Das Betreuungsgeld ist für diese Entscheidung nicht ausschlaggebend.
Der Datenreport, der Anfang 2015 vom Bundesfamilienministerium in Auftrag gegeben wurde, zeigt: In den Regionen, in denen die öffentlich geförderte Kindertagesbetreuung stark ausgebaut ist, gibt es verhältnismäßig wenige Familien, die Betreuungsgeld beziehen. Bei den Ein- und Zweijährigen lässt sich kein dämpfender Effekt des Betreuungsgeldes auf die Nutzung der Kindertagesbetreuungsangebote feststellen. Ein auffallender Unterschied ergibt sich beim Vergleich von Ost- und Westdeutschland: Die Bezugsdauer des Betreuungsgeldes ist in Ostdeutschland häufig kürzer, weil Eltern frühzeitiger einen Platz in einer Kita oder in der Tagespflege bekommen.
Ergänzend zu den Daten der amtlichen Statistik gibt die Analyse der KiföG-Länderstudien (KiföG = Kinderförderungsgesetz) näheren Aufschluss über die Nutzergruppen des Betreuungsgeldes:
Die Kinderbetreuung ist in diesen Familien weniger partnerschaftlich aufgeteilt.
Großeltern und/oder weitere Personen sind in die Betreuung des Kindes eingebunden.
Die Mütter in den Familien haben eher einen geringeren Bildungsabschluss.
Sie waren vor der Geburt des Kindes gar nicht oder nur geringfügig erwerbstätig.
Die Familien sind häufiger der Überzeugung, dass Kinder erst mit zwei oder drei Jahren in eine Kita gehen sollten.
In den Familien wird neben Deutsch häufig noch eine andere Sprache gesprochen.
Im Westen beziehen die Familien neben dem Betreuungsgeld oft noch weitere Transferleistungen (SGB II, Sozialgeld).
Das Betreuungsgeld dient häufig der Überbrückung, bis ein Platz in einer Tageseinrichtung gefunden ist. 27,5 Prozent der befragten Betreuungsgeldbezieher gaben an, sie wünschten sich eine Betreuung in der Kita oder durch eine Tagesmutter für ihr Kind. 28 Prozent hätten einen Halbtagsplatz genutzt, wenn es einen gäbe, und 13 Prozent würden sogar ein Ganztagsangebot in Anspruch nehmen. Nur sehr wenige (5,7%) der Bezieher sagen, sie hätten ihr Kind in eine Einrichtung oder in Tagespflege gegeben, wenn es das Betreuungsgeld nicht gäbe.
Für sehr viele Eltern in Deutschland ist das Betreuungsgeld kein ausschlaggebender Anreiz dafür, ihre Kleinkinder zu Hause selbst zu betreuen. 40 Prozent sind unabhängig von finanziellen Leistungen überzeugte „Familienerziehende“, die ihr Kind in den ersten Lebensjahren lieber selbst betreuen wollen. Für sie ist das Betreuungsgeld ein Zeichen der Wertschätzung, das sie gern annehmen.
Nach Ansicht von Prof. Dr. Thomas Rauschenbach, Direktor des Deutschen Jugendinstituts (DJI), wird damit ein Befund bestätigt, der bereits in der zum Teil sehr ideologisch und emotional geführten Debatte um das Betreuungsgeld deutlich wurde: „Es ist nicht zu übersehen, dass es in Deutschland verschiedene Ansichten über die Betreuung und Erziehung von Kleinkindern gibt. Wir müssen akzeptieren, dass doch ein relativ großer Teil der Eltern seine Kinder in den ersten Lebensmonaten selbst betreuen möchte. Dennoch sollten wir weiter dafür werben, dass vor allem Kinder mit Migrationshintergrund im Sinne einer verbesserten sprachlichen Förderung und notwendigen kulturellen Integration die bestmöglichen Angebote öffentlich geförderter Betreuung erhalten.“ Insofern sei es beruhigend festzustellen, dass ab dem dritten Lebensjahr flächendeckend fast alle Kinder eine Einrichtung besuchen.
Das Betreuungsgeld war 2013 zeitgleich mit dem Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für Kleinkinder unter drei Jahren eingeführt worden. Vorgesehen war, Eltern 150 Euro monatlich zu zahlen, wenn sie ihr Kind zu Hause erziehen, statt es in einer Kita oder bei einer öffentlich geförderten Tagespflegeperson betreuen zu lassen. Doch das Bundesverfassungsgericht hat die Regelung im Juli 2015 für nichtig erklärt. Der Grund: Die Länder seien zuständig. Für bis dahin bewilligte Bescheide gilt Bestandschutz. Als einziges Bundesland will Bayern die Leistung weiter zahlen und legte im Dezember einen entsprechenden Gesetzesentwurf vor, über den Anfang 2016 abgestimmt wird.
Als Datengrundlage der Studie wurden die amtlichen Daten zum Betreuungsgeld sowie die Ergebnisse der KiföG-Länderstudien verwendet. Die amtlichen Daten zum Betreuungsgeld werden regelmäßig durch das Statistische Bundesamt veröffentlicht und wurden von der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik des Forschungsverbundes Deutsches Jugendinstitut/Technische Universität Dortmund ausgewertet. Die zusätzlichen empirischen Daten zum Betreuungsgeld wurden vom DJI im Rahmen der KiföG-Länderstudien 2013, 2014 sowie 2015 erhoben, in denen Eltern von unter dreijährigen Kindern mit dem Ziel befragt wurden, differenzierte Informationen auf Länderebene zur Inanspruchnahme der U3-Betreuung in Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege, zur aktuellen Betreuungssituation sowie zu den elterlichen Betreuungsbedarfen zu erhalten.
Pressestelle des Deutschen Jugendinstituts, 11.01.2016
Nikotin ist nicht harmlos, sondern toxisch und ein ernstzunehmendes Gesundheitsrisiko – auch wenn es ohne die Giftstoffe des Tabakrauchs, beispielsweise über E-Zigaretten, aufgenommen wird. Trotzdem werden nikotinhaltige elektronische Inhalationsprodukte Rauchern als Genussmittel und harmlose Alternative zur Zigarette und Jugendlichen als Lifestyle-Accessoire angepriesen. Zwei neue Veröffentlichungen aus dem Deutschen Krebsforschungszentrum bieten umfangreiche Fakten zu Nikotin und E-Zigaretten.
Eine neue Veröffentlichung der Stabsstelle Krebsprävention des Deutschen Krebsforschungszentrums macht deutlich, dass Nikotin nicht nur körperlich und psychisch abhängig macht, sondern auch im Verdacht steht, Atherosklerose, Typ-2-Diabetes und Krebs zu fördern. Zahlreiche Forschungsarbeiten weisen darauf hin, dass Nikotin Krebs auslöst, zu dessen Voranschreiten beiträgt und die Erfolge von Chemo- und Strahlentherapie vermindert. Nikotin kann den Verlauf der Schwangerschaft und die Gesundheit des Ungeborenen langfristig und schwerwiegend beeinträchtigen. Nikotin im Mutterleib trägt vermutlich zum Plötzlichen Kindstod bei und stört die spätere Gehirn- und Lungenentwicklung.
„Nikotin ist keineswegs die harmlose Substanz, als die sie die Hersteller von E-Zigaretten gerne darstellen“, sagt Dr. Verena Viarisio, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stabsstelle Krebsprävention des Deutschen Krebsforschungszentrums und Autorin des Factsheets zum Gesundheitsrisiko Nikotin. „Nikotin macht abhängig, ist toxisch und schadet der Gesundheit auf vielfältige Weise. Insbesondere Jugendliche und Schwangere sollten weder rauchen noch E-Zigaretten verwenden.“
Eine weitere Publikation zu den Gesundheitsgefahren von E-Zigaretten und E-Shishas gibt das Deutsche Krebsforschungszentrum in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit heraus. Die Autoren haben zahlreiche Studien ausgewertet, aus denen hervorgeht, dass die Gesundheitsgefahren des E-Zigarettenkonsums sich aus drei Faktoren ergeben. Dazu gehören neben dem Chemikaliengemisch aus Trägersubstanzen, Aromen und Nikotin das individuelle Nutzerverhalten und die Gerätetechnik. So steigt zum Beispiel die Konzentration krebserzeugender und möglicherweise krebserzeugender Substanzen wie Formaldehyd und Acetaldehyd im E-Zigaretten-Aerosol mit der Temperatur des Verdampfers. Die wiederum wird von der Batteriespannung des Gerätes und dem Verhalten des Nutzers bestimmt.
„E-Zigaretten und E-Shishas gehören nicht in Kinderhände“, fordert PD Dr. Wolfgang Schober, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bayerischen Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit und Hauptautor der Übersichtsarbeit „E-Zigaretten und E-Shishas: Welche Faktoren gefährden die Gesundheit?“. „Deshalb begrüßen wir auch den Vorstoß der Bundesfamilienministerin, E-Zigaretten und E-Shishas für Kinder und Jugendliche zu verbieten. Zum Schutz erwachsener Konsumenten sollten unbedingt technische Mindeststandards eingeführt werden.“
Die Publikationen „Gesundheitsrisiko Nikotin“ und „E-Zigaretten und E-Shishas: Welche Faktoren gefährden die Gesundheit?“ sind als pdf-Dateien unter http://www.tabakkontrolle.de abrufbar.
Pressestelle des Deutschen Krebsforschungszentrums, 02.12.2015
Die Zahl junger ‚Komasäufer‘ geht weiter zurück. Laut aktueller Krankenhausstatistik der DAK-Gesundheit gingen die Behandlungsfälle in den vergangenen drei Jahren um 22 Prozent zurück. 2015 wurden bei der Krankenkasse knapp 1.200 Fälle von Alkoholvergiftung bei zehn- bis 19-Jährigen abgerechnet. Um diese positive Entwicklung zu unterstützen, setzen die Drogenbeauftragte der Bundesregierung und die DAK-Gesundheit die gemeinsame Kampagne „bunt statt blau“ gegen das Rauschtrinken fort. Der Plakatwettbewerb für Schüler zwischen zwölf und 17 Jahren findet zum siebten Mal statt. Bundesweit können 11.000 Schulen teilnehmen.
Hintergrund: Kassenübergreifend kamen in den vergangenen Jahren bis zu 26.000 Kinder und Jugendliche nach Alkoholmissbrauch ins Krankenhaus. Seit 2013 gehen die Zahlen langsam zurück. „Es landen immer noch zu viele Jungen und Mädchen betrunken in einer Klinik“, erklärt Herbert Rebscher, Vorstandschef der DAK-Gesundheit. „Wir sehen jetzt, dass Alkoholprävention wirkt. Bei ‚bunt statt blau‘ zeigen junge Künstler/-innen kreativ die Gefahren beim Komasaufen auf. Das kommt offenbar an.“ Seit 2010 haben mehr als 72.500 Teilnehmer/-innen Plakate zum Thema eingereicht. Zahlreiche Landesregierungen, Suchtexperten und Künstler unterstützen die mehrfach ausgezeichnete Aktion. „Alkoholkonsum ist tief in unserer Gesellschaft verwurzelt. Das macht es so schwierig, auf die unzweifelhaft bestehenden immensen Gefahren aufmerksam zu machen“, sagt die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler. „Aber unsere Präventionsanstrengungen zeigen Wirkung. Es ist richtig, bereits Kinder für die Risiken des Alkoholkonsums zu sensibilisieren. Die erfolgreiche DAK-Kampagne ‚bunt statt blau‘ ist hierbei ein wichtiger Baustein. Deshalb übernehme ich auch 2016 die Schirmherrschaft aus voller Überzeugung.“
Nach einer Studie des Kieler Instituts für Therapie- und Gesundheitsforschung (IFT-Nord) beteiligen sich Jungen und Mädchen nach dem Wettbewerb „bunt statt blau“ deutlich seltener am Rauschtrinken als Schüler/-innen ohne Teilnahme. Jede/-r fünfte der jugendlichen Teilnehmer/-innen erklärte ferner, nach dem Wettbewerb anders über die Wirkung von Alkohol zu denken als früher. Gemeinsam mit der Drogenbeauftragten sitzt die Band „Luxuslärm“ erneut in der Bundesjury, die nach dem Einsendeschluss am 31. März aus 16 Landesgewinnern den Bundessieger „bunt statt blau“ 2016 wählt. Die Band kündigt für ihr neues Studioalbum „Fallen und Fliegen“, das im Frühjahr erscheint, ein eigenes Lied zum Alkoholmissbrauch von Jugendlichen an: „Es wird den Song ‚Federleicht‘ geben, zu dem uns die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Komasaufen inspiriert hat.“
„bunt statt blau“ ist in den vergangenen Jahren als erfolgreiche Präventions- und Kommunikationskampagne mehrfach ausgezeichnet worden. Unter anderem erhielt die Aktion den renommierten „Internationalen Deutschen PR-Preis 2014“. In diesem Jahr können die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erstmals ein Making-Of-Video über die Idee und die Entstehung des Plakates drehen. Der fertige Film von maximal drei Minuten kann direkt bei YouTube hochgeladen werden. Weitere Informationen zum Wettbewerb 2016 gibt es in allen Servicezentren der DAK-Gesundheit oder im Internet unter www.dak.de/buntstattblau. Die Kampagne ist eingebunden in die „Aktion Glasklar“, die seit zwölf Jahren Schüler, Lehrkräfte und Eltern über das Thema Alkohol aufklärt.
DAK-Gesundheit und Bundesdrogenbeauftragte, 01.02.2016
Laufen und andere Sportarten verursachen bei manchen Menschen ein subjektives Hochgefühl, das im Volksmund als „Läuferhoch“ bezeichnet wird. Dieser euphorische Zustand geht mit einer verminderten Ängstlichkeit, einer Toleranz gegenüber Schmerzen und einer allgemeinen Beruhigung einher. Bisher wurde angenommen, dass körpereigene Opioide (Endorphine) für das Läuferhoch verantwortlich sind.
Wissenschaftler und Ärzte der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) um Professor Peter Gass (Arbeitsgruppe Psychiatrische Tiermodelle) und Dr. Johannes Fuß haben nun im Tiermodell herausgefunden, dass vermutlich körpereigene Cannabinoide das Läuferhoch hervorrufen. Sie etablierten ein Mausmodell, bei dem die Tiere freiwillig und ohne anderweitige Belohnung in einem Laufrad in fünf Stunden etwa sechs bis sieben Kilometer zurücklegten. Dadurch kam es zu einem starken Anstieg von körpereigenen Cannabinoiden im Blut der Tiere. Gleichzeitig waren die ‚Renner‘ im Vergleich zu Tieren, die nicht rennen durften, weniger ängstlich. Dies konnte mithilfe einer sogenannten Hell-Dunkel-Box nachgewiesen werden, einer Versuchsarena mit einem offenen, hell beleuchteten Areal und einer dunklen, höhlenartigen Kammer. Je ängstlicher die Maus, desto mehr Zeit verbringt sie in der dunklen Kammer und umso seltener besucht sie das helle Areal. Laufradrenner besuchten das helle Areal öfter und verbrachten mehr Zeit dort als Nichtrenner. Außerdem hatten sie eine erhöhte Schmerzschwelle. Wenn man sie auf eine Wärmeplatte setzte, dauerte es länger, bis sie eine Reaktion zeigten, woraufhin sie heruntergenommen wurden.
Um zu beweisen, dass die typischen Symptome des Läuferhochs ursächlich durch den erhöhten Spiegel von körpereigenen Cannabinoiden hervorgerufen wurden, behandelten Gass und Fuß die Tiere vor dem Laufen mit Medikamenten, die die Rezeptoren von Cannabinoiden im Gehirn blockieren. Tatsächlich blieb dann die erwartete Abnahme der Ängstlichkeit und Zunahme der Schmerzschwelle aus, obwohl die Tiere zuvor die gleiche Strecke wie sonst gerannt waren. Blockierten die Forscher dagegen den Haupttyp des Opioid-Rezeptors, entwickelte sich nach wie vor ein Läuferhoch.
Als weiteren Beweis für ihre Theorie untersuchten die Forscher molekulargenetisch veränderte Mäuse, denen der Haupttyp des Cannabinoid-Rezeptors, der sogenannte CB1-Rezeptor, im Gehirn fehlt. Auch diese Tiere waren nicht in der Lage, ein Läuferhoch zu entwickeln. Ob das Läuferhoch auch beim Menschen von körpereigenen Cannabinoiden abhängt, müssen künftige Experimente mit Ausdauerläufern zeigen.
Publikation:
Fuss, J., Steinle, J., Bindila, L., Auer, M. K., Kirchherr, H., Lutz, B. & Gass, P. (2015). A runner’s high depends on cannbinoid receptors in mice. PNAS, 112(42), 13105-13108
Pressemitteilung des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit, 06.10.2015
Das deutsche Suchtbehandlungssystem ist das mutmaßlich weltweit am besten ausgebaute, und die Abstinenzquoten gelten als durchaus befriedigend. Was kann eine Psychotherapiemethode wie die Schematherapie da noch zu einer Verbesserung beitragen? Die Frage ist durchaus berechtigt, denn es gibt mehrere Untersuchungen von Samuel Ball aus den USA, in denen eine von ihm entwickelte Kombination aus suchtspezifischen Behandlungselementen und einem Schematherapieansatz (Ball 1998) zu keinen besseren, und in der letzten Studie (Ball et al. 2011) bei einer allerdings recht schwierigen Klientel sogar zu schlechteren Ergebnissen führte als eine suchtspezifische Behandlung allein. Vielleicht sind diese Ergebnisse ein Grund, warum bisher kaum jemand in der deutschen ‚Suchtbehandlungsszene‘ diesen Ansatz aufgegriffen hat.
Die bisherigen Forschungsergebnisse sind zwiespältig
Kurz zusammengefasst haben die Studien von Ball auf das deutsche Suchtbehandlungssystem übertragen aber nur eine begrenzte Aussagekraft, denn es wurde vergleichsweise kurz (sechs bis 14 Sitzungen über max. ein halbes Jahr), mit einer recht belasteten Klientel (z. B. teilweise wohnsitzlose Drogenabhängige oder zwangseingewiesene Patienten mit einem Anteil von ca. 50 Prozent paranoider oder antisozialer Persönlichkeitsstörung) und vor allem mit einem älteren Schemaansatz gearbeitet. Dagegen wurde in den erfolgreichen Studien der Forschergruppe um Arnoud Arntz in den Niederlanden der neuere Modusansatz angewendet. Damit konnten nämlich sowohl bei Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (Giessen-Bloo et al. 2006) als auch mit verschiedenen anderen Persönlichkeitsstörungen (Bamelis et al. 2014) sehr gute Ergebnisse erzielt werden. Allerdings bei einer zweijährigen Behandlung, wenn auch in der letztgenannten Studie mit nur 50 Sitzungen (40 wöchentliche Sitzungen im ersten und monatliche Sitzungen im zweiten Jahr). In den Niederlanden wurde gerade eine Studie mit ca. 150 forensischen Patienten (die fast alle schwere Persönlichkeitsstörungen hatten) abgeschlossen, und die ersten Ergebnisse sind auch hier positiv (Bernstein et al. 2012), allerdings wurde über mehrere Jahre behandelt. Die endgültigen Ergebnisse werden für diesen Sommer erwartet. Bei ausreichend langer Behandlung sind also auch diese schwierigen Patienten zu erreichen.
Diese Mischung aus unterschiedlich ermutigenden Ergebnissen gilt es genauer zu betrachten, um das Potenzial der Schematherapie für die Suchtbehandlung differenziert einzuschätzen. Dazu sollen nun die wichtigsten Elemente einer Schematherapie kurz umrissen werden.
Die Bedeutung der Basisemotionen
Das Modell der Schematherapie orientiert sich stark an dem Modell der Bindungsforschung (Bowlby 1976). Demzufolge haben Kinder Grundbedürfnisse, die im Kern das Bedürfnis nach wohlwollenden Bindungen einerseits und den Aufbau von Selbstbehauptungsfähigkeit und Kontrolle andererseits umfassen. Bei Frustrationen dieser Bedürfnisse in den frühen Beziehungserfahrungen werden als Signal sog. Basisemotionen (Ekman 1993) aktiviert. Das sind zunächst einmal Angst, Trauer, Ekel und Wut. Sie zeigen an, dass dem Kind emotional etwas fehlt. Vielen Lesern werden diese Basisemotionen aus dem Film „Alles steht Kopf“ vertraut sein, bei dessen Entstehung Paul Ekman beratend mitwirkte. Etwas vereinfacht kann man sagen, dass Frustration des Bindungsbedürfnisses primär Angst oder Trauer auslöst und die Bedrohung der Selbstbehauptung Ekel (was sich im Seelischen eher als ‚Genervt-Sein‘ zeigt) bzw. Wut. Eine Bindungsfrustration kann aber sekundär auch Ärger auslösen, was häufig bei Narzissten zu beobachten ist. Hinter der sekundären Wut steckt dann eine primäre Trauer oder Angst, die aber nicht wahrgenommen wird (Greenberg et al. 2003). Dann gibt es noch die Basisemotionen „Überraschung“, die aber emotional neutral ist, und „Freude“, die auftritt, wenn alle Bedürfnisse ausreichend befriedigt sind. In dem oben genannten Film kann man jedoch sehen, dass die Freude gegenüber den anderen Basisemotionen eine eher aktive bzw. organisierende Rolle einnimmt.
Das Schematherapiemodell
Starke bzw. häufige Frustrationen der Grundbedürfnisse in der Kindheit und Jugend führen dem Schematherapiemodell zufolge dazu, dass in der neuronalen Matrix des Gehirns sog. Schemata angelegt werden. Werden diese im Erwachsenenalter in ähnlicher Weise aktiviert (z. B. durch Beschämung, Zurücksetzung und Verlassen-Werden), kommen die Patienten in einen komplexen Aktivierungszustand (einen sog. Modus), der dem damaligen Erleben entspricht. Sie fühlen dann einerseits emotional wieder wie als Kind (sog. Kindmodus), andererseits werden auch Bewertungen und Lernerfahrungen von damals aktiviert, die als innere Instanz eine heute angemessene Bewertung verzerren (sog. innere Bewerter, oft auch innere Elternmodi genannt – siehe Abbildung 1). Die aktuelle Situation versuchen die Patienten dann durch die Strategien zu bewältigen, die sie in diesen Situationen in der Kindheit erlernt haben (sog. Bewältigungsmodi). Sie betrachten die Welt in Schemaaktivierungssituationen sozusagen aus Kinderaugen und setzen automatisch die alten Lösungen ein. Die innere Beweglichkeit ist deutlich eingeschränkt, und die Patienten haben keinen Zugriff auf die Möglichkeiten bzw. Ressourcen, die sie inzwischen als Erwachsene entwickelt bzw. erworben haben. Dadurch wirkt das Bewältigungs- oder Problemlöseverhalten maladaptiv oder sogar ‚kindisch‘. Sie sitzen mit einem ‚Tunnelblick‘ bzw. ‚Scheuklappen‘ in einer Lebensfalle fest (Young et al. 2005).
Ziel der Therapie ist, die Schemata und die typischen Auslösesituationen (oft zwischenmenschliche Konfliktsituationen) kennenzulernen, die aktuellen Modusaktivierungen auf die mutmaßlichen biographischen Entstehungssituationen zu beziehen, sich emotional zu distanzieren und eine wohlwollende, neue Perspektive des sog. gesunden Erwachsenenmodus einzunehmen. Aus dieser Haltung heraus soll anstatt der automatischen, maladaptiven Bewältigung eine funktionale Lösung gefunden und umgesetzt werden. Die Therapeuten übernehmen dabei eine Rolle, die der von Eltern oder einem Trainer ähnelt.
Abb. 1: Modusmodell
Suchtverhalten im Schematherapiemodell
In der Regel wird die Einnahme psychotroper Substanzen oder das Ausführen selbstberuhigender bzw. selbststimulierender Aktivitäten als „Modus des distanzierten Selbstberuhigers“ eingeordnet. Das trifft in der Regel auch zu, denn das Verhalten dient dazu, eine unangenehme innere Spannung, die aus einer Grundbedürfnisfrustration entsteht, aktiv oder passiv abzubauen. In einer Schematherapie wird man aber immer gemeinsam die Auslösesituation im Einzelfall analysieren, um die Funktion des Suchtverhaltens vor dem Hintergrund der emotionalen Aktivierungen (Kindmodi) und der aktivierten Bewertungen (Elternmodi) individuell zu verstehen. Dabei sind folgende Grundtypen beispielhaft beobachtbar (siehe Abbildung 1):
Ein Arzt nimmt Aufputschmittel, um einen Nachtdienst durchzustehen und seine Aufgaben zu schaffen. Dann erhält das Suchtmittel einen Aufopferungs– bzw. Unterordnungsmodus aufrecht.
Eine Prostituierte nimmt Heroin, um passiv ihr Elend nicht mehr zu spüren. Das wäre ein sog. distanzierter Selbstschutzmodus.
Ein arbeitsloser junger Mann spielt mehrere Stunden am Tag Online-Spiele, um sich aktiv abzulenken. Dann hätte das Spielen die Funktion eines distanzierten Selbstberuhigers. Auch z. B. Entspannungstrinken, exzessives Einkaufen, Cannabiskonsum oder Selbstverletzungen können in dieser Weise eingesetzt werden.
Menschen setzen Psychostimulanzien ein, um ihr Selbstwertgefühl, ihre Erlebensintensität oder ihre sexuelle Leistungsfähigkeit zu steigern. Das wäre ein Selbststimulierer.
Manche Menschen gehen aus Frustration in einen anklagend-vorwurfsvollen Selbsterhöhungsmodus und rechtfertigen damit ihr Suchtverhalten. Sie fühlen sich als Opfer, und die anderen sind schuld. Dann unterstützen die Suchtmittel einen überkompensierenden Selbsterhöhungsmodus.
Das übergeordnete Therapieziel
Die wesentliche Erweiterung des therapeutischen Blickwinkels besteht darin, von den vordergründigen Bewältigungsmodi zu den hintergründigen emotionalen Kindmodi und aktivierten Bewertern (innere Elternmodi) zu kommen. Man kann von einem Schritt von der ‚vorderen‘, symptomatischen Ebene zu einer persönlichkeitsbedingten, motivationalen Ebene sprechen. Diese Einteilung in zwei Ebenen erweitert das klassische Modusmodell von Young. Die störungsspezifischen Interventionen setzen an der Symptom- bzw. unmittelbaren Verhaltensebene an, die schematherapiespezifischen Interventionen haben das Ziel, die Bewerter zu identifizieren und zu ‚entmachten‘ und das emotionale Erleben des Kindmodus mit Selbstmitgefühl zu betrachten und die Grundbedürfnisse so gut wie möglich zu befriedigen. Das ist die Aufgabe des gesunden Erwachsenenmodus, der im Laufe der Therapie mehr und mehr aufgebaut wird. Dieser Modus entspricht der ‚Regiefunktion‘, die die Freude in dem oben genannten Film in den Augen des Autors fälschlicherweise einnimmt. Die Basisemotion Freude ist nämlich das Ergebnis, wenn der Erwachsenenmodus seine Aufgabe gut erfüllt.
Der Erwachsenenmodus wird in den erlebnisaktivierenden Übungen (s. u.) durch inneren Perspektivwechsel darin unterstützt, die Schemaaktivierungssituation wie von außen mit den Augen einer wohlwollenden anderen Person anzuschauen. Durch die emotionale Distanz sinkt das Erregungsniveau, der mentale Blickwinkel weitet sich, und die Patienten können wieder auf vorhandene Ressourcen zurückgreifen. Aus diesem Abstand heraus ist eine ausbalancierte Grundbedürfnisbefriedigung leichter möglich. Wo das nicht möglich ist, bauen Therapeut und Patient schrittweise diese Ressourcen auf. Abhängig von dem Ausmaß, in dem das notwendig ist, dauern die Therapien dann entsprechend länger.
Die innere Balance in der Suchtbehandlung
Der Konsum von Suchtmitteln als Bewältigungsmodus dient generell dazu, die sich im Hintergrund andeutenden Basisemotionen ‚aufzulösen‘. Dadurch wird aber deren Signalcharakter zugedeckt und eine nachhaltige Befriedigung verhindert. Schaut man auf die oben genannten fünf Grundtypen von Suchtverhalten vor dem Hintergrund der aktivierten Kind- und Elternmodi, zeigen diese jeweils eine andere Form des Ungleichgewichts bei der Grundbedürfnisbefriedigung:
Typ 1 tut für Bindung und Anerkennung (fast) alles und vernachlässigt darüber sein Selbstbehauptungsbedürfnis, was langfristig zu Ärgergefühlen führt, in denen sich diese Frustration zeigt. Er müsste sein ‚Selbstbehauptungs-Bein‘ stärken, um in eine innere Balance zu finden.
Typ 4 und 5 als Gegenpol leben ihr Selbstbehauptungsbedürfnis übertrieben aus und ignorieren, dass sie auch Bindung brauchen, was sich später in Einsamkeitsgefühlen oder auch Panik zeigen kann. Sie müssten in Kontakt mit ihrer verletzbaren Seite kommen, um motiviert zu sein, sich einzuordnen und zu kooperieren, damit sie nicht nur durch Vorwürfe oder Kontrolltendenzen, sondern auch in vertrauensvollen Beziehungen Sicherheit (und Annahme bzw. Liebe) finden.
Typ 2 und 3 nehmen eine Mittelstellung ein und zeigen ein mehr passives (Typ 2) bzw. aktives (Typ 3) Vermeidungsverhalten. Sie gehen weder enge Bindungen ein noch zeigen sie erfolgreiches Selbstbehauptungsverhalten. Sie ziehen sich gewissermaßen zu stark in sich selbst zurück. Dadurch bleiben beide Grundbedürfnisse weitgehend unbefriedigt, was die Suchtdynamik verstärkt. Diese Situation trifft für die meisten Menschen mit Abhängigkeiten zu. Sie müssten in einer Therapie sowohl modellhaft Vertrauen in Bindungen zu anderen Menschen aufbauen als auch in den Therapiebeziehungen Selbstbehauptung üben. Zudem sind für sie funktionale Wege zur inneren Distanzierung und Selbstberuhigung hilfreich, um das Suchtverhalten zu ersetzen.
Die schematherapeutische Beziehung
Wie aus den oben genannten Studien hervorgeht, ist die Schematherapie keine Kurzzeittherapie, denn das ‚erste Bein‘, auf dem sie steht, ist eine recht intensive therapeutische Beziehung, die von dem Begründer, Jeffrey Young (Young et al. 2005), „begrenzte Nachbeelterung“ (engl.: limited reparenting) genannt wurde. Der Name deutet an, was die Schematherapie-Beziehung erreichen will, nämlich eine Beziehungsdichte, die für eine begrenzte Zeit und im therapeutisch möglichen Rahmen die Intensität einer Eltern-Kind-Beziehung besitzt, um in der Kindheit ‚eingebrannte‘ negative Beziehungserfahrungen (die Schemata) zu ‚heilen‘. Um diese Beziehungsintensität in der Stunde zu erreichen, aber die Patienten dennoch ausreichend stabil aus der Therapiestunde entlassen zu können, setzt sie sog. erlebnisaktivierende Techniken ein, die überwiegend dem Psychodrama und der Gestalttherapie entlehnt sind. Diese stellen das ‚zweite Bein‘ einer Schematherapie dar.
Die erlebnisaktivierenden Techniken
Dabei handelt es sich zum einen um die sog. Imaginationstechniken, zum anderen um sog. Modusdialoge auf mehreren Stühlen. Beide Techniken folgen einem relativ klar vorgezeichneten Ablauf, der natürlich an die einzelnen Patienten und den jeweiligen Verlauf der Übung angepasst wird, der aber den Therapeuten eine klare Orientierung gibt, ‚wohin die Reise geht‘. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu weniger direktiven Ansätzen, die mehr mit einem ‚geleiteten Entdecken‘ arbeiten. Unter http://www.schematherapie-roediger.de/blatt/index_blatt.htm können Abläufe für die wichtigsten Therapiesituationen im Detail angeschaut werden. Zur Anwendung dieser Techniken bei einem alkoholabhängigen Patienten siehe Roediger (2016a). Die Therapeuten nehmen bei den erlebnisaktivierenden Techniken mitunter anfangs eine sehr aktive Rolle ein und haben dadurch eine gute Kontrolle über den Verlauf der Stunde. Sie können entsprechend der Fähigkeiten der Patienten zunächst die Auflösung einer von den Patienten eingebrachten schwierigen Situation modellhaft vormachen, und die Patienten übernehmen schrittweise eine aktivere Rolle. Eben ganz ähnlich, wie es in alltäglichen Lernsituationen auch geschieht. Damit ist die Schematherapie deutlich ‚pädagogischer‘ als die meisten anderen Therapien.
Die Fallkonzeption
Die erlebnisaktivierenden Techniken und die Therapiebeziehung werden immer bezogen auf eine zu Beginn der Therapie von Therapeut und Patient gemeinsam erarbeitete Fallkonzeption eingesetzt. Zum besseren Verständnis der eigenen Situation bezogen auf das Schematherapiemodell gibt es mehrere Bücher für Patienten (Jacob et al. 2011; Roediger 2014, 2015). Die Fallkonzeption stellt das ‚dritte Bein‘ einer Schematherapie dar. Dadurch haben Patienten und Therapeuten jederzeit im aktuellen Prozess in der Stunde einen gemeinsamen Bezugspunkt, der Orientierung und einen Überblick gibt. Das ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn wenn die emotionale Aktivierung zu stark zu werden droht oder um die aktuellen Schemaaktivierungen in die Fallkonzeption einzuordnen, können Therapeut und Patient ganz konkret aufstehen und nebeneinander stehend in die Rolle eines ‚Beraterteams‘ wechseln. Folgende Fragen klären dann die Situation: „In welchem Bewältigungsmodus sind Sie jetzt?“, „Was sagen die Stimmen der inneren Bewerter dazu?“, „Welche Gefühle löst das in Ihrem Inneren aus (Kindmodus)?“, „Wie würde ein gesunder Erwachsener in dieser Situation reagieren?“. Das reguliert die Emotionen herunter und stabilisiert die therapeutische Arbeitsbeziehung. Näheres dazu bei Roediger (2016b).
Auf diesen drei Beinen stehend, verbindet die Schematherapie die Beziehungsintensität und das biographische Verständnis einer psychodynamischen Therapie mit der Transparenz und zielgerichteten Lösungsorientierung von Verhaltenstherapien. Sie liefert einen übergeordneten Rahmen dafür, die Persönlichkeitsmuster der Patienten biographisch zu verstehen und das Suchtverhalten als maladaptiven Bewältigungsversuch einzuordnen, und sie gibt den Patienten einen Kompass für eine ausbalancierte und nachhaltige Grundbedürfnisbefriedigung.
Anwendung des Schemamodells in der Suchtbehandlung: Schematherapie und „SchemaBeratung“
Die oben umrissene Schematherapie ist als Langzeittherapie konzipiert und evaluiert, könnte aber an unser Suchtbehandlungssystem in verschiedener Weise angepasst werden:
Die hohe Therapieintensität in einer stationären Suchtbehandlung erlaubt den Einsatz einer speziellen Gruppenschematherapie (Farrell & Shaw 2013), die in einer geschlossenen Gruppe über zwölf Wochen eine familienartige ‚Zweitsozialisation‘ mit tiefgehenden korrigierenden Beziehungserfahrungen ermöglicht. Bei Patientinnen mit Borderline-Störungen führte dies zu sehr starken Therapieeffekten (Farrell et al. 2009). Kombiniert mit Einzelgesprächen ist so ein intensiver Einstieg in eine schematherapeutisch-fundierte Suchtbehandlung auch für Patienten mit komorbiden Persönlichkeitsstörungen möglich. Ein solches Modell befindet sich in der Fachklinik Wilhelmsheim in der Implementierung. Die schematherapeutische Behandlung sollte idealerweise ambulant fortgesetzt werden.
In Kliniken, die eine solche Gruppe (noch) nicht anbieten können, kann im Rahmen der Einzelgespräche das Schematherapiemodell als Erklärungsmodell für die Suchtentstehung und -behandlung dienen, und in einzelnen erlebnisaktivierenden Übungen kann eine Motivation zur ambulanten Weiterbehandlung aufgebaut werden. In vielen Gegenden Deutschlands sind schematherapeutisch qualifizierte niedergelassene Therapeuten verfügbar, um die Therapie in der notwendigen Länge und Intensität weiterzuführen.
Für Patienten ohne komorbide Persönlichkeitsstörung erscheint die beschriebene Beziehungsdichte nicht unbedingt notwendig. Sie könnten im Sinne des oben genannten Balancemodells dennoch von der Schematherapie und den erlebnisaktivierenden Techniken in einem eher ressourcenorientierten Behandlungssetting, z. B. in der ambulanten Rehabilitation, profitieren. Ein entsprechender Ansatz kann als „SchemaBeratung“ auch von Therapeuten ohne ärztliche oder psychologische Approbation erlernt werden (Handrock et al. 2016; Infos unter http://www.eroediger.de/coach/index_coach.htm). Damit wäre eine Kombination aus stationärer Behandlungseinleitung und ambulanter Fortführung im Rahmen einer Rehabilitationsbehandlung möglich.
Menschen, die mit Suchtproblemen erstmalig in Beratungsstellen kommen, bietet die SchemaBeratung einen allgemeinpsychologisch verständlichen Zugang, ihr Suchtproblem zu verstehen und sich vor diesem Hintergrund auf eine Beratung einzulassen. Das Schemamodell ist vollständig mit dem Ansatz der Motivierenden Gesprächsführung (Miller & Rollnick 2009) kompatibel und kann diesen um eine biographische Dimension erweitern.
Zusammenfassung
Trotz der wenig ermutigenden Ergebnisse aus den Studien von Samuel Ball erscheint ein differenzierter Einsatz schemabasierter Ansätze in Therapie und Beratung sinnvoll, um die positiven Erfahrungen aus den von Arnoud Arntz geleiteten Studien auch für Patienten im Suchtbehandlungssystem in verschiedenen Settings nutzbar zu machen. Im Gegensatz zu den Studien von Ball sollte dabei auf eine ausreichend lange Gesamtbehandlungszeit und den systematischen Einsatz erlebnisaktivierender Techniken im Rahmen einer modusbasierten Fallkonzeption geachtet werden. Auch der Einsatz des Modells und der Techniken im Rahmen einer ressourcenorientierten Beratungsarbeit erscheint möglich. Entsprechende Ansätze sollten evaluiert werden, um den Ergebnissen Balls hoffentlich bessere Ergebnisse entgegensetzen zu können.
Dr. Eckhard Roediger ist in freier Praxis als Ärztlicher Psychotherapeut tätig. Er ist Leiter des Instituts für Schematherapie-Frankfurt (IST-F) und Präsident der internationalen Schematherapiegesellschaft (ISST).
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Roediger E (2016a). Was kann die Schematherapie zur Suchtbehandlung beitragen? Persönlichkeitsstörungen: Theorie und Therapie 20 (1) (im Druck).
Roediger E (2016b). Ressourcenaktivierung durch Perspektivwechsel. Stehen Sie doch einfach einmal auf! Ein Plädoyer für mehr Bewegung(en) in der Verhaltenstherapie. Verhaltenstherapie 26 (2) (im Druck).
Young JE, Klosko JS, Weishaar ME (2005). Schematherapie – ein praxisorientiertes Handbuch. Paderborn: Junfermann.
Der jährlich erscheinende „REITOX-Bericht“ ist das Standardwerk zum Thema illegale Drogen in Deutschland. Er liefert umfangreiches Zahlenmaterial über die Entwicklung des Drogenkonsums und zur Behandlung von Suchterkrankungen. Mit dem aktuellen Jahresbericht 2015, den die Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD) als REITOX-Knotenpunkt an die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) liefert, wird erstmalig eine europaweit einheitliche Struktur eingeführt. Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Leiter der DBDD: „In diesem Jahr legen wir den Bericht erstmalig in einer neuen, übersichtlicheren Struktur vor. Die einzelnen Themen werden in abgeschlossenen Einzeltexten – so genannten Workbooks – behandelt. Das ermöglicht eine deutlich effizientere Lektüre, insbesondere wenn nur Informationen zu einem bestimmten Bereich gesucht werden. Gleichzeitig erleichtert die neue Struktur auch den besseren Vergleich mit den Berichten aus anderen europäischen Staaten.“
Der REITOX-Bericht 2015 besteht aus folgenden Workbooks: „Drogenpolitik“, „Rechtliche Rahmenbedingungen“, „Drogen“, „Prävention“, „Behandlung“, „Gesundheitliche Begleiterscheinungen und Schadensminimierung“, „Gefängnis“, „Drogenmärkte und Kriminalität“ sowie in englischer Sprache „Research und Best Practice“. In ihnen wird die aktuelle Situation in Deutschland dargestellt.
So zeigt das „Workbook Drogen“, dass in Deutschland Cannabis nach wie vor sowohl unter Erwachsenen als auch unter Jugendlichen die mit großem Abstand am häufigsten konsumierte illegale Droge ist. Fast jeder vierte Erwachsene gab an, Cannabis wenigstens einmal im Leben konsumiert zu haben. Nennenswerte Prävalenzwerte für den Konsum illegaler Substanzen in der erwachsenen Bevölkerung erreichen darüber hinaus in absteigender Reihenfolge Kokain, Amphetamine und Ecstasy. Allerdings schwankt die Bedeutung einzelner Stimulanzien je nach Region und Szene sowie zwischen den Altersgruppen erheblich. Eine wachsende Bedeutung kommt dabei Amphetaminen zu. Dieser Trend steht in Übereinstimmung mit Beobachtungen und Entwicklungen in anderen Ländern Europas und international. Weiterhin spielt der Konsum von Neuen Psychoaktiven Substanzen (NPS) eine große Rolle. Besonders problematisch bleibt die Einschätzung gesundheitlicher Risiken angesichts der häufig unbekannten chemischen Zusammensetzung dieser Substanzen. Um die schädlichen Nebenwirkungen zu erforschen und ihnen entgegentreten zu können, werden aktuell Forschungsprojekte in Deutschland und Europa durchgeführt. Erste Ergebnisse dieser Projekte werden im Bericht aufgeführt.
Die Online-Veröffentlichung des REITOX-Berichts enthält eine Übersicht, die die neue Struktur erläutert und eine Kurzzusammenfassungen aller Workbooks gibt. Den REITOX-Bericht und alle weiteren Informationen finden Sie unter: http://www.dbdd.de/
Pressestelle der Bundesdrogenbeauftragten, 18. Januar 2016
Mit dem Reha-Bericht 2015 stellt die Deutsche Rentenversicherung wieder die wichtigsten aktuellen Daten und Fakten zur Rehabilitation der Rentenversicherung zusammen. Ziel ist, das Leistungsgeschehen der medizinischen und beruflichen Rehabilitation transparent und nachvollziehbar aufzuzeigen.
Den Schwerpunkt des vorliegenden Berichts bilden umfassende Informationen zur Rehabilitation – sowohl zu Umfang und Struktur der medizinischen und beruflichen Rehabilitation als auch zu Prozess und Ergebnis der Reha-Leistungen. Grundlage bilden die routinemäßig erhobenen Statistikdaten im Wesentlichen aus dem Jahr 2014 sowie Ergebnisse aus der Reha-Qualitätssicherung der Rentenversicherung. Neben der aktuellen Entwicklung der Rehabilitation der Rentenversicherung in Zahlen lenkt der Reha-Bericht 2015 den Blick auch auf inhaltliche Weiterentwicklungen in den Bereichen Recht und Politik, Reha-Qualitätssicherung, Sozialmedizin und Reha-Forschung.
Zwei Themen stehen im Reha-Bericht 2015 besonders im Fokus: Orthopädische Rehabilitation bei deutschen und ausländischen Versicherten sowie Medizinische Rehabilitation bei koronarer Herzkrankheit und Herzinfarkt.