Rund 87 % der Menschen in Deutschland sind über eine gesetzliche Krankenversicherung (GKV) versichert. Innerhalb der GKV ist die AOK mit über 24 Millionen Versicherten die größte Krankenkassenart. 15 Millionen dieser Versicherten sind zwischen 18 und 64 Jahre alt. Mit einer Analyse von Routinedaten dieser 15 Millionen AOK-Versicherten im erwerbsfähigen Alter haben Henkel und Schröder (2015) Zusammenhänge zwischen Suchtproblemen und dem Erwerbsstatus untersucht.
Dazu verknüpften sie die Daten zum Erwerbsstatus der 18-bis 64-Jährigen Versicherten aus den Jahren 2007 bis 2012 mit den suchtspezifischen Diagnosedaten, die der AOK von Arztpraxen, Krankenhäusern und anderen ambulanten, stationären und teilstationären medizinischen Behandlungseinrichtungen übermittelt wurden. Um den Zusammenhang zwischen aktuellem Erwerbsstatus und Suchtdiagnosen möglichst zeitnah abzubilden, wurden die Daten quartalsweise aufbereitet. Im untersuchten Zeitraum von sechs Jahren ergab das knapp 173 Millionen Quartalsfälle. Ausgeschlossen wurden Daten von Versicherten, die nicht erwerbsfähig oder aus anderen Gründen weder erwerbstätig noch arbeitslos waren.
Anhand der Routinedaten der Krankenkasse konnte zwischen den Beziehern von Arbeitslosengeld I (ALG-I nach SGB III) und Arbeitslosengeld II (ALG-II nach SGB II, „Hartz-IV“) sowie den sozialgesetzlich versicherten Erwerbstätigen unterschieden werden. Die Suchtdiagnosen werden im Gesundheitssystem nach ICD-10 erhoben, wobei für die Studie die ICD-10-Diagnosen F10 bis F19 und F50 (Essstörungen) sowie F63.0 (pathologisches Glücksspiel) berücksichtigt wurden. Vergleicht man die drei Gruppen miteinander, so findet man für die ALG-II-Beziehenden eine Belastung mit mindestens einer Suchtdiagnose von 10,2 Prozent. Das Ergebnis ist mehr als doppelt so hoch wie die Belastung mit mindestens einer Suchtdiagnose der sozialversicherten Erwerbstätigen mit 3,7 Prozent. Die ALG-I-Beziehenden liegen mit 6,3 Prozent deutlich über den Erwerbstätigen, aber auch deutlich unter den ALG-II-Beziehenden. Der größte Teil der Diagnosen entfällt dabei auf die Abhängigkeit von Alkohol und Tabak. Betrachtet man nur die alkoholspezifischen F10-Diagnosen, so sind die Unterschiede noch größer: Mit 1,9 Prozent ist der Anteil der Alkoholdiagnosen bei den ALG-I-Beziehenden mehr als doppelt so hoch wie bei den Erwerbstätigen mit 0,8 Prozent. Bei den ALG-II-Beziehenden liegt der Anteil der Alkoholdiagnosen mit 4,2 Prozent mehr als fünfmal so hoch wie bei den Erwerbstätigen und mehr als doppelt so hoch wie bei den ALG-I-Beziehenden. Noch deutlicher wird die Differenz bei den Opioid-Diagnosen: Hier haben 0,1 Prozent der Erwerbstätigen und 0,2 Prozent der ALG-I-Beziehenden, aber 1,1 Prozent der ALG-II-Beziehenden eine entsprechende F11-Diagnose.
Die nach Erwerbsstatus unterschiedliche Belastung lässt sich für Männer und Frauen zeigen, ebenso für unterschiedliche Altersgruppen. Der Anteil der Alkohol- und Tabakdiagnosen ist bei Männern im ALG-II-Bezug zwischen 50 und 64 Jahren am höchsten, der Anteil der Opioid-Diagnosen bei Männern zwischen 30 und 49. Der Anteil der Essstörungsdiagnosen ist bei Frauen zwischen 18 und 29 Jahren am höchsten, wobei etwa doppelt so viele Diagnosen (1 Prozent) für arbeitslose Frauen im Vergleich zu erwerbstätigen Frauen (0,5 Prozent) gestellt wurden. Zwischen ALG-II-Bezieherinnen und ALG-I-Bezieherinnen zeigen sich hingegen keine Unterschiede.
Aus diesen Daten lassen sich keine Rückschlüsse über exakte Prävalenzen einzelner Suchtprobleme ziehen, da hier im Wesentlichen Diagnosen analysiert worden sind, die mit behandlungsbedürftigen (Folge-)Erkrankungen einhergehen. Das dürfte auch der Grund sein, weshalb die Daten zum pathologischen Spielen in dieser Studie eher niedrig liegen. Wohl aber weisen die Daten auf unterschiedliche Belastungen von Erwerbstätigen und ALG-I-Beziehenden sowie ALG-II-Beziehenden hin.
Interessant ist ein Vergleich mit Daten aus der Deutschen Suchthilfestatistik zu Arbeitslosigkeit und Sucht. Hierzu haben Kipke u. a. (2015) eine Sonderauswertung der Deutschen Suchthilfestatistik aus den Jahren 2007 bis 2011 vorgelegt. Danach hat sich der Anteil der Arbeitslosen in den ambulanten und stationären Einrichtungen der Suchthilfe zwischen 2007 und 2011 nur wenig verändert und lag über alle Diagnosen 2011 in den ambulanten Einrichtungen bei 39,1 Prozent und in den stationären Einrichtungen bei 48,5 Prozent. Demnach werden in den ambulanten Suchthilfeeinrichtungen mehr Erwerbstätige als Arbeitslose und in den stationären Suchthilfeeinrichtungen etwa gleich viele Erwerbstätige und Arbeitslose behandelt. Am höchsten war der Anteil der Arbeitslosen in der Hauptdiagnosegruppe Opioide mit knapp 60 Prozent in ambulanten Einrichtungen und knapp 65 Prozent in stationären Einrichtungen. Bei den Arbeitslosen handelt es sich überwiegend (mehr als 80 Prozent) um ALG-II-Beziehende.
Wenn also im SGB-II-Bereich besonders viele Menschen mit Suchtproblemen anzutreffen sind, dann sind die Einrichtungen der Bundesagentur für Arbeit und insbesondere die Jobcenter – neben den Einrichtungen der medizinischen Versorgung – ein wichtiger Ort für Screening, Früherkennung, Frühintervention und Weitervermittlung in suchtspezifische Hilfen. Die in §16a SGB II vorgesehene Suchtberatung als kommunale Eingliederungsleistung findet offensichtlich nach wie vor nur in einem kleinen Teil der Fälle statt. Wie Henkel und Zemlin (2013) gezeigt haben, ist die angesichts der Prävalenzen sehr geringe Zahl der Vermittlungen in Suchtberatung seit 2010 sogar rückläufig. Alle Studien stimmen deshalb in der Forderung überein, dass die Schnittstelle zwischen Jobcenter und Suchthilfe besser überbrückt, die Kooperation zwischen Jobcentern und Suchthilfe dringend ausgebaut und die Möglichkeiten des § 16a SGB II besser genutzt werden müssen.
Quelle: HLS Forschungsbrief 42/Dezember 2015
Hessische Landesstelle für Suchtfragen, 04.12.2015
Literatur:
Henkel, D. & Schröder, H. (2015): Suchtdiagnoseraten von Hartz-IV-Beziehenden in der medizinischen Versorgung im Vergleich zu ALG-I-Arbeitslosen und Erwerbstätigen: eine Auswertung der Leistungsdaten aller AOK-Versicherten der Jahre 2007–20012. Suchttherapie 3-2015, 15, 129–135.
Kipke, I., et al. (2015): Arbeitslosigkeit und Sucht. SUCHT 2-2015, 61, 81–93.
Henkel, D. & Zemlin, U. (2013): Suchtkranke im SGB II: Vermittlungen an die Suchthilfe durch Jobcenter und Integration in Arbeit – eine kritische Bilanz. SUCHT 5-2013, 59, 279–286.
München: Droemer Knaur 2015, 220 S., ISBN 978-3-426-27670-9, 19,99 Euro, auch als E-Book erhältlich
Zusammen mit seinem Team hat Professor Markowetz eine App entwickelt, die das Verhalten der Smartphone-Nutzer dokumentiert. Er kommt zu einem erschreckenden Ergebnis: Drei Stunden täglich befassen wir uns im Schnitt mit unserem Smartphone, 55 Mal am Tag nehmen wir es zur Hand. Ständig sind wir abgelenkt, unkonzentriert, gestört. Welche dramatischen Folgen die digitale Permanenz für unsere Gesundheit, unser Leben und unsere Gesellschaft hat und was wir dagegen tun können – diesen Fragen geht Alexander Markowetz in seinem brisanten Buch auf den Grund.
Hannover: return Fachstelle für Mediensucht, 3. erw. Auflage 2015, 184 S. mit CD-ROM, ISBN 978-3-00-048231-1, EUR 29,90
Zwei Drittel aller männlichen Jugendlichen zwischen 16 und 19 Jahren konsumieren täglich bis wöchentlich Pornografie, jeder fünfte Junge schaut täglich (!) Pornos an (Pastötter, Pryce, Drey, 2008). Fast die Hälfte aller elf- bis dreizehnjährigen Kinder haben bereits pornografische Bilder oder Filme gesehen, bei den 17-jährigen sind es bereits 93 Prozent der Jungen und 80 Prozent der Mädchen (Dr.-Sommer-Studie 2009). Zahlreiche Studien belegen: Pornokonsum gefährdet die Beziehungsfähigkeit, fördert sexuelle Gewalt und birgt ein hohes Suchtpotential. Tägliche Konsumenten sind dreimal so häufig Täter von sexuellem Missbrauch wie seltenere Konsumenten. Sexuelle Übergriffe unter Minderjährigen nehmen zu. Längsschnittstudien zeigen: Je häufiger Jugendliche Pornografie konsumieren, desto mehr trennen sie Sexualität von jedem Beziehungskontext und halten Gelegenheitssex für normal. Jugendschutzgesetze und Filtersoftware sind wichtig, aber sie reichen nicht aus. Kinder und Jugendliche brauchen Hilfe, um die Auswirkungen von Pornokonsum zu durchschauen und eine fundierte Haltung dazu zu gewinnen.
„Fit for Love“ ist ein innovatives Lehrmaterial zur Prävention von jugendlichem Pornokonsum. Heranwachsende lernen, Liebe und Sexualität ganzheitlich zu verstehen. Ziel ist es, die Jugendlichen dabei zu unterstützen, einen reifen, verantwortungsvollen und selbstbestimmten Umgang mit der eigenen Sexualität zu entwickeln. Das Lehrmaterial beruht u. a. auf Erkenntnissen der Bindungsforschung, Entwicklungspsychologie, Sexualwissenschaft und Salutogenese sowie auf jahrelanger Praxiserfahrung. Weitere Informationen finden Sie unter www.fit-for-love.org.
Intensive Computernutzung führt in vielen deutschen Familien zu Problemen. Jedes fünfte Kind reagiert ruhelos und gereizt auf Online-Einschränkungen. Elf Prozent der 12- bis 17-Jährigen haben mehrfach erfolglos versucht, ihre Internetnutzung in den Griff zu bekommen. Oft geben Eltern ihren Kindern keine Regeln zum Umgang mit Laptop oder Smartphone. Das zeigt die neue Studie der DAK-Gesundheit und des Deutschen Zentrums für Suchtfragen zur Internetsucht im Kinderzimmer. Krankenkasse und Institut starten jetzt eine Aufklärungskampagne.
Für die repräsentative Untersuchung hat das Forsa-Institut 1.000 Mütter und Väter umfassend zum Internet- und Computergebrauch ihrer 12- bis 17-jährigen Kinder befragt. Es ist die erste Eltern-Studie, die neben der Dauer und der Art der Internetnutzung auch mögliche krankhafte Folgen für die Jungen und Mädchen untersucht. Hauptergebnisse der DAK-Studie: Laut der Hälfte der befragten Eltern bleibt das Kind länger online als vorgenommen. 22 Prozent der 12- bis 17-Jährigen fühlen sich ruhelos, launisch oder gereizt, wenn sie ihre Internetnutzung reduzieren sollen. Etwa jedes zehnte Kind nutzt das Internet, um vor Problemen zu fliehen. Bei elf Prozent der Befragten hat das Kind mehrfach erfolglose Versuche unternommen, seine Internetnutzung in den Griff zu bekommen. Bei sieben Prozent der Kinder gefährdet die Onlinewelt eine wichtige Beziehung oder eine Bildungschance, wobei die Jungen doppelt so häufig betroffen sind.
Marlene Mortler, Drogenbeauftragte der Bundesregierung: „Das Internet bietet Kindern und Jugendlichen große Möglichkeiten und Chancen. Gleichwohl dürfen die Risiken nicht unterschätzt werden. Experten gehen davon aus, dass in Deutschland bereits bis zu einer Million Menschen onlinesüchtig sind. Die Vermittlung einer frühen Medienkompetenz ist der entscheidende Schlüssel zur Prävention gesundheitsschädlicher Auswirkungen des Internetgebrauchs und der Computernutzung. Die aktuellen Zahlen geben uns brauchbare Anregungen und wichtige Hinweise für die Präventionsarbeit. Das Thema Onlinesucht habe ich zu meinem Schwerpunktthema in 2016 gemacht.“
„Die aktuelle Befragung macht deutlich, dass Suchtgefährdung auch im Kinderzimmer besteht“, erklärt Professor Dr. Rainer Thomasius, Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). „Die Daten deuten darauf hin, dass etwa fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland unter krankhaften Folgen ihrer Internetnutzung leiden.“
Laut Studie der DAK-Gesundheit haben die Kinder im Durchschnitt im Alter ab zwölf Jahren begonnen, das Internet selbstständig zu nutzen. Bei etwa einem Zehntel der befragten Eltern waren die Jungen und Mädchen aber jünger als zehn Jahre. Häufig vereinbaren Eltern mit ihren Kindern keine Regeln für den Umgang mit dem Computer:
71 Prozent der Eltern haben keine Regeln, an welchen Orten ihr Kind das Internet nutzen darf.
51 Prozent der Eltern haben keine Regeln, wie lange ihr Kind das Internet nutzen darf.
32 Prozent der Eltern haben keine Regeln, welche Inhalte ihr Kind im Internet nutzen darf.
Auch wenn es Regeln zur Internetnutzung gab, so wurden diese nur von 42 Prozent der befragten Eltern auch „voll und ganz“ umgesetzt.
Nach der Befragung schätzen die Eltern die private Internetnutzung der Kinder an einem normalen Werktag auf rund zweieinhalb Stunden. Am Wochenende steigt die verbrachte Zeit im Durchschnitt auf vier Stunden an. 20 Prozent der Jungen und Mädchen sind am Samstag oder Sonntag sechs Stunden und mehr am Computer. Während Jungen die meiste Zeit mit Online-Spielen verbringen, nutzen die Mädchen das Internet für das so genannte Chatten. In jeder dritten Familie sorgt die Internetnutzung manchmal bis sehr häufig für Streit. Dies ist vor allem bei Kindern im Alter zwischen zwölf und 13 Jahren der Fall.
„Unsere Studie zeigt, dass bei vielen Eltern offenbar eine große Verunsicherung bei der Internetnutzung ihrer Kinder herrscht“, sagt Herbert Rebscher, Vorstandschef der DAK-Gesundheit. „Wir nehmen die Ergebnisse zum Anlass, um die Prävention beim Thema Internetsucht zu verstärken und den Betroffenen neue Hilfsangebote aufzuzeigen.“ Die Krankenkasse finanziert neue Aufklärungsbroschüren, die Jugendliche, Eltern und Lehrkräfte gezielt über das Thema Internet- und Computersucht informieren. Herausgegeben werden die Hefte mit ausführlichen Hintergrundinformationen, Beispielen und einem Selbsttest vom Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Weitere Informationen gibt es auch im Internet unter www.computersuchthilfe.info oder unter www.dak.de/internetsucht.
Die Studie „Internetsucht im Kinderzimmer“ der DAK unterstreicht ein weiteres Mal die Notwendigkeit einer umfassenden, nachhaltigen und qualifizierten Präventionsarbeit für den Bereich der jugendlichen bzw. familiären Mediennutzung. Ein exzessives Agieren im virtuellen Raum kann zu massiven innerfamiliären Kommunikationsproblemen, zu Entwicklungsverzögerungen und sozialem Rückzug führen.
Die Aktivitäten der Bundesregierung zeigen, dass sie den Themen Suchtprävention und Sicherung eines gesunden Aufwachsens in einer digitalisierten Gesellschaft besondere Bedeutung beimisst. So wurde im Sommer 2015 ein Präventionsgesetz verabschiedet, welches als Gesundheitsziele u. a. die Entwicklung von Lebenskompetenz sowie adäquate Bewegung und Ernährung benennt (§20 Abs. 3). Das Erreichen dieser Ziele wird durch einen exzessiven Mediengebrauch gefährdet. Im Oktober 2015 wurde die Einrichtung einer Arbeitsgruppe „Computerspielsucht und Internetabhängigkeit“ durch den Drogen- und Suchtrat beschlossen, welche konkrete Empfehlungen zur Hilfe und Prävention erarbeiten soll. Gleichzeitig stellt die Kinderkommission des Deutschen Bundestages die gesellschaftliche Notwendigkeit der Prävention von Medienabhängigkeit fest.
Das Bundesministerium für Gesundheit förderte den Methodenreader „Let´s play – Methoden zur Prävention von Medienabhängigkeit“, welcher 2013 vom Fachverband Medienabhängigkeit e. V. (FVM) herausgegeben wurde (erschienen bei Pabst Science Publishers). Präventionsfachkräfte verschrifteten die erprobten Methoden und achteten auf eine effektive und übersichtliche Darstellung, die durch Arbeitsmaterialien ergänzt wird. Auf diese Weise kann jedes interessierte Elternteil, jede/r Pädagoge/in oder Sozialarbeiter/in einen spielerischen Austausch über Standpunkte anregen, ein Forschungs- oder Entwicklungslabor kreieren, ein Medientabu-Spiel gemeinsam selbst entwickeln oder Glücksgefühlaspekte thematisieren. Diese Präventionsbroschüre enthält einen kurzen Einführungsteil und vor allem Anregungen für die Altersgruppe der 12- bis 16-Jährigen. Sie kann als effiziente Grundlage für eine intensive und kontinuierliche Präventionsarbeit im Bereich der Internetabhängigkeit und Computerspielsucht dienen.
Vorstand des Fachverbands Medienabhängigkeit e. V., 30.11.2015
Dr. Jens HinrichsDr. Anne-Kathrin ExnerProf. Dr. Anke Menzel-Begemann. Foto: Wilfried Gerharz
Der Science Circle wurde 2012 unter dem damaligen Namen „Zukunftsworkshop“ durch Prof. Dr. Anke Menzel-Begemann und Dr. Anne-Kathrin Exner ins Leben gerufen, um die Vernetzung und den Austausch zwischen Forschenden aus verschiedenen Disziplinen und Praktikern verschiedener Professionen aus der Rehabilitation zu fördern. Mittlerweile hat sich die Gründungsidee bestätigt: Die Qualität der Rehabilitationsforschung wird mithilfe des Science Circles durch gezielte Projektentwicklungen und die Nutzung gemeinsamer Ressourcen und Potenziale verbessert (Menzel-Begemann & Exner 2013). Seit 2014 ist die Innovationswerkstatt offiziell eine Arbeitsgruppe des Nordrhein-Westfälischen Forschungsverbundes Rehabilitationswissenschaften.
Was führte zu der Idee?
Das Feld der Rehabilitationswissenschaften ist im Vergleich zu anderen Wissenschaftsdisziplinen überschaubar. Viele forschende Kollegen (im Sinne einer besseren Lesbarkeit des Textes wird durchgängig die männliche Form verwendet, wobei jeweils beide Geschlechter impliziert sind) kennen und schätzen sich mitunter schon über Jahre, jedoch findet Forschung häufig relativ unverbunden im Rahmen von Projekten und an unterschiedlichen Standorten statt. Zu welchen Themen geforscht wird oder welche Kompetenzen und Forschungsschwerpunkte die Kollegen mitbringen, bleibt vage, und ein Austausch findet meist nur auf Fachtagungen statt. Besonders unter den Kollegen, die auch regional im Einzugsbereich der Deutschen Rentenversicherungen (DRV) Westfalen, Rheinland und Knappschaft-Bahn-See zusammenarbeiten, wurde dieser Umstand oft als unbefriedigend erlebt.
Neben der Vernetzung der Forschenden untereinander war von Beginn an auch wichtig, dass Praktiker aus der medizinischen und beruflichen Rehabilitation und Vertreter der Rentenversicherung von einer gemeinsamen ‚Ideenwerkstatt‘ angesprochen werden. Der Grund hierfür ist einfach: Über die Jahre haben sich zum Teil gute Kontakte zu Praktikern entwickelt, die Interesse haben, Themen mit den Forschenden zusammen anzustoßen. Und gerade die Impulse derjenigen, die direkt mit Rehabilitanden im Versorgungssystem arbeiten, sind besonders wichtig, da sie neue Forschungsbedarfe anhand eigener Erfahrungen aufzeigen. Zusammen mit Forschenden und Vertretern der Leistungsträger können diese Beobachtungen im Science Circle diskutiert und konkretisiert und gemeinsam in Projekte umgesetzt werden.
Welchen Nutzen hat der Science Circle für die Beteiligten?
Vernetzung
Das persönliche Kennenlernen der Teilnehmer, die aus verschiedenen Berufsgruppen kommen und in unterschiedlichen Funktionen an gemeinsamen Forschungsideen arbeiten, ist sicherlich einer der wichtigsten Zugewinne im Rahmen des Science Circles. Die dabei entstehenden neuen Kontakte schaffen Vernetzung zwischen Universitäten, Fachhochschulen, Instituten, Rehabilitationseinrichtungen (Leistungserbringern) und Leistungsträgern. Diese Vernetzung bildet die Grundlage einer guten und vertrauensvollen Zusammenarbeit innerhalb der Projekte, die auch außerhalb des Science Circles geschätzt und genutzt wird.
Gestaltungsmöglichkeiten
Die Zusammenarbeit zwischen Forschenden und Praktikern bietet einen Gestaltungsraum für bedarfs- und bedürfnisgerechte Forschung, d. h., es können Themen aufgezeigt werden, die unmittelbar an der Versorgungsrealität der Kliniken, ihren Mitarbeitern und nicht zuletzt den Patienten liegen. Es eröffnen sich so Möglichkeiten, Forschungsbedarfe aus Sicht der Leistungserbringer zu formulieren, und diese bilden eine ideale Ergänzung zu den Trendvorgaben der DRV und den Themenschwerpunkten beteiligter Forschungseinrichtungen. Jeder Teilnehmer, ob aus Forschung oder Praxis, kann die Federführung innerhalb einer Projektentwicklung übernehmen. Außerdem gilt, dass unkonventionelle, vielleicht auch noch unklare Ideen in die Gruppe eingebracht und aus verschiedenen Perspektiven diskutiert werden können. Diese Gedankenfreiheit innerhalb eines relativ engen Rahmens, den die vorgegebenen Rehabilitationsstrukturen mit sich bringen, macht den besonderen Reiz des Science Circles aus.
Transfer
Die Beteiligung an Forschung beinhaltet – besonders aus Sicht der Praktiker – einen zusätzlichen Aufwand an Zeit und Personal. Jedoch können erfolgreich durchgeführte Projekte und die resultierenden Ergebnisse einen wertvollen Beitrag für die Praxis leisten. Mitarbeiter aus teilnehmenden Kliniken erhalten je nach Art des Projektes Einblicke in neue Verfahren und Methoden in der Rehabilitation und Rehabilitationsforschung. Die Erfahrungen und Erkenntnisgewinne können nützlich bei der Gestaltung und Verbesserung eigener Klinikprozesse (z. B. im Sinne von Qualitätssicherung) sein oder auch Antworten auf Grundsatzfragen in der Rehabilitation geben (z. B. bei Fragen der Zugangs- und Therapiesteuerung).
Beispiel eines gelungenen Transfers ist der Fragebogen „Diagnostik von Arbeitsmotivation“ (DIAMO; Fiedler et al. 2005). Er wurde in einer gemeinsamen Studie der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Münster, der Deutscher Orden Ordenswerke, Suchthilfe, Weyarn und der Klinik am Park, Medizinisches Zentrum für Gesundheit Bad Lippspringe auf die Anwendbarkeit in der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankten untersucht. Die Studienfrage wurde von den Praktikern aufgeworfen, die nach Alternativen in der Eingangsdiagnostik der medizinisch-beruflich orientierten Rehabilitation (MBOR) von Suchterkrankten suchten. Die Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften e. V. NRW folgte der Forschungsfrage und förderte das Projekt nach positiver Begutachtung (GfR 2014). Bereits während der Durchführung des Projekts konnten die Mitarbeiter der teilnehmenden Kliniken und Einrichtungen praktische Erfahrungen mit dem Instrument sammeln und diese bewerten. Durch die Aufnahme des DIAMO-Fragebogens in die BORA-Empfehlungen fand ein erfolgreicher Transfer in die Praxis der Suchtrehabilitation statt. Die geplante Publikation der Forschungsergebnisse wird den wissenschaftlichen Transfer abschließen.
Abbildung 1: Bereiche, die durch den DIAMO-Fragebogen abgefragt werden
Wie sind die Treffen organisiert?
Die Treffen des Science Circles finden dreimal im Jahr an unterschiedlichen Standorten in Nordrhein-Westfalen statt. Sie starten in der Regel donnerstagvormittags und enden samstagmittags. Diese Zeit wird intensiv dafür genutzt, in moderierten Gruppen und im Plenum an rehabilitationsbezogenen Themen und Projekten zu arbeiten. Es werden hierzu regelmäßig Experten als Gastredner eingeladen, die zu ausgewählten Themen Impulsreferate halten und mit den Teilnehmern diskutieren.
Wer wirkt am Science Circle mit?
Der Science Circle ist ein offenes Angebot, an dem alle Interessierten, die mit Reha befasst sind, nach rechtzeitiger Anmeldung mitwirken können. Die Veranstaltungen des Science Circles haben bereits zu einer guten Resonanz geführt, die Teilnehmer setzen sich mittlerweile aus Rehabilitationsforschern der Universitäten Bielefeld, Hannover und Chemnitz, des Universitätsklinikums Münster, der Fachhochschulen Münster und Bielefeld, der Deutschen Sporthochschule Köln und des Instituts für Rehabilitationsforschung Norderney sowie aus Mitarbeitern verschiedener medizinischer und beruflicher Rehabilitationseinrichtungen und den Forschungsreferenten der Deutschen Rentenversicherungen Westfalen und Rheinland zusammen.
Arbeitsgruppen und Projekte aus dem Science Circle
Eine Arbeitsgruppe bearbeitet übergeordnete Themenfelder, die in der Rehabilitation bedeutsam sind, aber nicht direkt in ein Projekt münden sollen. Folgende Arbeitsgruppen haben sich bisher gebildet:
der „Inner Circle“ als ein Gremium, das die regelmäßig Teilnehmenden umfasst und die fortlaufende Diskussion und Bearbeitung von speziellen Themen ermöglicht, z. B. die Gestaltung eines gelungenen wechselseitigen Transfers zwischen Forschung und Praxis in der Rehabilitation,
die Arbeitsgruppe „Relevante Effekte und Signifikanzen in der Rehabilitationsforschung“, die sich mit der Frage befasst, wann Forschungsergebnisse eine für die Praxis klinische Relevanz haben (Leitung: Dr. Odile Sauzet),
die Arbeitsgruppe „Transferförderung – Veranstaltung“, die sich mit der Gestaltung und Organisation eines Veranstaltungsformates zur Förderung von Transfer befasst, in dem ein aktiver Austausch zwischen Forschenden, Trägern und Praktikern stattfinden kann (Leitung: Jochen Heuer, Philipp Pressmann).
Soll die Bearbeitung von Themen über eine geordnete Antragstellung in ein drittmittelgefördertes Projekt münden, werden Projektarbeitsgruppen gebildet, an denen sich jeder Interessierte beteiligen kann. Folgende geförderte Projekte sind aus dem Science Circle hervorgegangenen:
Verfügbarkeit und Verwendung von Arbeitsplatzbeschreibungen in der Rehabilitation (OpAA) (Projektleitung: Jochen Heuer; Förderer: Verein zur Förderung der Rehabilitationsforschung e. V. Norderney)
Bedeutung von Umweltfaktoren in der medizinischen Rehabilitation zur Förderung von Teilhabe (UfaR) (Projektleitung: Prof. Dr. Anke Menzel-Begemann, Prof. Dr. Thorsten Meyer; Förderer: Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften NRW e. V.)
Resilienzförderung im Reha-Prozess: Entwicklung einer verhaltens- und verhältnisorientierten Intervention (InResPro) (Projektleitung: Dr. Jens Hinrichs, Prof. Dr. Thomas Altenhöner; Förderer: Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften NRW e. V.)
Folgende Vorhaben sind in Vorbereitung auf eine Antragstellung zur Drittmittelförderung:
Verhaltens- und verhältnisorientierte Nachsorge (Projektleitung: Dr. Andrea Schaller)
Qualitative Analyse von Faktoren des Erfolgs einer medizinisch-beruflich orientierten Rehabilitation (QAFE-MBOR) (Projektleitung: Prof. Dr. Anke Menzel-Begemann, Prof. Dr. Thorsten Meyer)
Spezifizierung von MBOR-Bedarfen (Projektleitung: Dipl.-Psych. Johanna Frieler)
Wissenschaftsnetzwerk „Internationale Rehabilitationsforschung“ (Projektleitung: Jun.-Prof. Dr. Patrick Brzoska)
Wie können Interessierte am Science Circle mitwirken?
Für die Mitwirkung am Science Circle wird Freude am Austausch und an der Zusammenarbeit mit anderen Forschungsinteressierten zur (Weiter-)Entwicklung von Themen und Projekten vorausgesetzt. Eine personelle Einbindung in Forschungsprojekte, die bei der Rentenversicherung zur Förderung vorgelegt werden, ist nicht zwingend, aber möglich. Wer Interesse zur Mitwirkung im Science Circle hat, kann Kontakt zu den Autoren dieses Beitrags aufnehmen. Ebenso besteht die Möglichkeit, den Newsletter zu abonnieren, der über die Aktivitäten des Science Circles und Veranstaltungstermine informiert.
Dr. Jens Hinrichs (*1972) schloss 2005 das Studium der Psychologie mit dem Schwerpunkt Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Osnabrück ab. Seit 2007 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum Münster. Er promovierte zum Thema berufsspezifischer Belastungen von Polizeibeamten in NRW. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Ressourcen- und Motivationsdiagnostik und in der Entwicklung von Interventionen zur Förderung von beruflicher Motivation und Resilienz.
Dr. Anne-Kathrin Exner (*1982) schloss 2005 den Bachelorstudiengang Ökotrophologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen und 2008 das Masterstudium Public Health an der Universität Bielefeld ab. Seit 2009 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Methodenberatung des NRW-Forschungsverbunds Rehabilitationswissenschaften an der Universität Bielefeld. Sie promovierte zum Thema Ernährungs- und Sportverhalten bei Frauen mit Brustkrebs nach Abschluss einer medizinischen Rehabilitation. Interessen in den Rehabilitationswissenschaften sind der Forschungs-Praxis-Transfer und regionale Vernetzung.
Prof. Dr. rer. nat. Anke Menzel-Begemann, Dipl.-Psych.
Fachhochschule Münster
Fachbereich Pflege und Gesundheit
Lehr- und Forschungsgebiet Rehabilitationswissenschaften
Leonardo-Campus 8
48149 Münster menzel-begemann@fh-muenster.de
Anke Menzel-Begemann (*1972) studierte Psychologie an der Universität Bielefeld mit dem Schwerpunkt Neuropsychologie, arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der psychologischen (2002–2006) und gesundheitswissenschaftlichen (2010–2014) Fakultät sowie in der neurologischen Abteilung einer Rehabilitationsklinik. In ihrer Promotion entwickelte sie Diagnoseverfahren für Planungs- und Organisationsstörungen nach Hirnschädigungen. Seit 2015 ist sie Professorin für Rehabilitationswissenschaften an der Fachhochschule Münster. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Förderung von Teilhabe und Selbstmanagement, was u. a. in Konzepte zur medizinisch-beruflichen Orientierung und zur Vorbereitung auf die häusliche Pflege mündete.
Literatur:
GfR e.V. NRW (2014) Förderprojekt: Diagnostik von Arbeitsmotivation: Eine indikationsspezifische Validierung des DIAMO-Fragebogens im Bereich der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankten (FKZ: 13005)
Fiedler R.G., Ranft A., Schubmann C., Heuft G., Greitemann B. (2005) Diagnostik von Arbeitsmotivation in der Rehabilitation – Vorstellung und Befunde zur faktoriellen Struktur neuer Konzepte. Psychother Psych Med, 55: 476-482. (Online-Demo: http://diamo.zazo-i.de/)
Menzel-Begemann A., Exner A.-K. (2013) Rehabilitationsforschung in Nordrhein-Westfalen – Ergebnisse aus dem Zukunftsworkshop des NRW-Forschungsverbundes Rehabilitations-wissenschaften am 28.06.2012 in Bielefeld und 19.10.2012 in Münster (Westfalen). Rehabilitation, 52: 424-427
Gießen: Psychosozial-Verlag 2015, 144 S., ISBN 978-3-8379-2306-3, EUR 16,90, auch als E-Book erhältlich
Wie unterscheidet sich der krankhafte Gebrauch von Suchtmitteln wie Zigaretten, Alkohol und Glücksspielen vom sozial verträglichen Konsum? Wie kann Betroffenen geholfen werden? Was sind die intrapsychischen Motive von Suchtkranken? Während Freud die Sucht als eine unreife perverse Lust begreift, hat sich bei seinen Nachfolgern die Position durchgesetzt, dass die Sucht zur Abwehr eines früh in der Kindheit entstandenen Affekts dient. Die heutige Psychoanalyse kennt unterschiedliche Schweregrade der Sucht und verschiedene Funktionen des Suchtmittelgebrauchs wie die Verleugnung neurotischer Hemmungen, das Aufblähen eines geringen Selbstwerts, Beziehungsvermeidung oder gar die Vernichtung eines wertlosen Selbst.
Im vorliegenden Buch werden die wichtigsten Erklärungsmodelle dargestellt und anhand zahlreicher Fallbeispiele illustriert. Schließlich gibt der Autor Hinweise für die psychoanalytische Therapie mit Suchtkranken. Hier sollte die Übertragungssituation genutzt werden, um Affekt- und Beziehungsängste bewusst zu machen und sie durch kontrolliertes Erleben abzumildern. Ziel ist, das schwache Selbst des Patienten oder der Patientin so weit zu stärken, dass es immer weniger auf die süchtige Abwehr angewiesen ist.
Im Rahmen ihres jährlichen Psychiatriekongresses (25. bis 28. November 2015) stellte die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) dieses Jahr u. a. das Thema Suchterkrankungen besonders in den Fokus. Dazu veröffentlichte sie folgende Stellungnahme:
Suchtkranke haben in Deutschland nach wie vor mit großen Vorurteilen zu kämpfen. Viele Betroffene versuchen ihre Sucht zu verbergen und verzichten dadurch auf eine frühzeitige Hilfe. Neben dem gesellschaftlichen Stigma stoßen sie zusätzlich auf Barrieren im Gesundheitswesen. Auf dem DGPPN Kongress in Berlin fordern Suchtexperten deshalb heute einen offenen Umgang mit Abhängigkeitserkrankungen und passgenaue Versorgungsangebote für Betroffene.
Sucht ist eine schwerwiegende Krankheit. Bei ihrer Entstehung spielen biologische, genetische, psychische und soziale Faktoren eine wichtige Rolle. „Eine Suchterkrankung basiert auf einer Fehlsteuerung des Belohnungssystems im Gehirn. Suchtmittel aktivieren verschiedene Botenstoffe, die zum Beispiel Wohlbefinden oder Euphorie auslösen. Dadurch lernt das Gehirn relativ schnell, ein bestimmtes Suchtmittel als positiven Reiz wahrzunehmen. Fehlt dieser Reiz, empfindet es eine Art Belohnungsdefizit – mit der Folge, dass der unkontrollierte Wunsch nach dem Suchtmittel entsteht. Sucht ist also keine Charakterschwäche, sondern eine Krankheit, die im Gehirn nachgewiesen werden kann“, erläutert Prof. Falk Kiefer, Ärztlicher Direktor der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim.
Obwohl sich die Ursachen und Mechanismen von Suchterkrankungen heute wissenschaftlich erklären lassen, sind suchtkranke Menschen gesellschaftlich immer noch stark stigmatisiert. Sie erleben immer wieder Diskriminierung – zum Beispiel bei der Suche nach Arbeit und Wohnung. Rund 36 Prozent der Bevölkerung halten Sucht für eine selbstverschuldete Krankheit. Die Folge: Suchterkrankungen werden von den Betroffenen und ihrem sozialen Umfeld totgeschwiegen. Therapeutische Interventionen erfolgen daher oft erst in einem sehr späten Stadium der Abhängigkeit.
„Doch auch das Gesundheitswesen ist noch nicht ausreichend für Abhängigkeitserkrankungen sensibilisiert. Vor allem in der primärmedizinischen Versorgung ist der Grad an Awareness verbesserungsfähig, gleichzeitig ist auch zu wenig Zeit für Diagnostik und Behandlungsplanung vorgesehen. Die kurative Therapie, die Entzugsbehandlung, die vorwiegend in spezialisierten Abteilungen der Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie stattfindet, wird durch Eingriffe der Kostenträger – etwa in Bezug auf Behandlungsdauer und Therapieziele – noch nicht voll ausgeschöpft. Die gesetzlich geregelten Zuständigkeiten befördern keine leistungsfähige Vernetzungen mit dem Suchthilfesystem. Hilfeleistungen werden den Betroffenen noch zu wenig differenziert angeboten. So erhalten zum Beispiel nur rund 10 Prozent der Alkoholabhängigen pro Jahr eine rehabilitative Behandlung. Das standardmäßige Screening von Abhängigkeitserkrankungen ist in der ambulanten und stationären Versorgung immer noch nicht Realität. In der Therapie werden zwar gute Resultate erzielt, doch die öffentliche Meinung setzt Therapieerfolg meistens mit Abstinenz als Erfolgskriterium gleich und übersieht, dass diese Therapieziel aus unterschiedlichsten Gründen nicht für alle Suchtkranke geeignet ist“, stellt Dr. Heribert Fleischmann fest, stv. Leiter des DGPPN-Fachreferates für Abhängigkeitserkrankungen und Vorsitzender der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS).
Durch Ausgrenzung der Patienten und Defizite in der Versorgung entsteht für die Betroffenen und deren Familien viel Leid. Hinzu kommen hohe Folgekosten für die Gesellschaft. „Wir müssen Suchterkrankungen qualifiziert in das Gesundheitssystem integrieren und neben einem verbesserten Behandlungszugang auch einen nahtlosen Übergang in die Nachsorge sicherstellen. So genannte Stepped Care-Modelle könnten hier zukunftsweisend sein. Gleichzeitig müssen wir Suchterkrankungen noch stärker thematisieren. Dabei sind alle Berufsgruppen gefordert, die mit Suchtkranken in Kontakt kommen – und dies schon sehr frühzeitig. Durch gezieltes Fragen – zum Beispiel beim Hausarzt – lassen sich ein riskanter Konsum oder eine Abhängigkeit frühzeitig eruieren und Gegenmaßnahmen oder die Überweisung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie einleiten. Ein offensiver Umgang mit der Erkrankung trägt längerfristig auch zu deren Entstigmatisierung bei“, so DGPPN-Präsidentin Dr. Iris Hauth.