Autor: Simone Schwarzer

  • Neues aktiva-Gutachten zur Kostenentwicklung in der Reha erschienen

    Cover aktiva-gutachten-20152016Die Arbeitsgemeinschaft Medizinische Rehabilitation SGB IX (AG MedReha) hat wie in den letzten Jahren zu den vergütungsrelevanten Kostensteigerungen für medizinische Rehabilitationseinrichtungen eine Expertise bei der aktiva – Beratung im Gesundheitswesen GmbH in Auftrag gegeben: das „Gutachten zur aktuellen und perspektivischen Situation der Einrichtungen im Bereich der medizinischen Rehabilitation – Neuauflage 2015“.

    Insbesondere vor dem Hintergrund der hohen Investitionsbedarfe in der Rehabilitation, die erstmalig auch durch eine bundesweite Befragung bestätigt wurden, empfehlen die Gutachter eine Anhebung der Vergütungssätze in Höhe der Veränderungsrate um 2,95 Prozent für das Jahr 2016. Für eine Erhöhung der Vergütungssätze in mindestens diesem Umfang sprechen insbesondere folgende Aspekte:

    • der größtenteils nicht refinanzierte jährliche Investitionsbedarf von rund 930 Millionen Euro in der Rehabilitation, der mit dieser Anhebung etwas gemildert werden könnte, bis andere politische Lösungen entwickelt werden – in diesem Sinne könnte die Investitionskostenlücke etwas reduziert werden –,
    • die Finanzierungslücken in den absoluten Vergütungssatzhöhen, die aufgrund der Kosten-Erlös-Schere in den letzten Jahren weiter gewachsen sind,
    • die deutliche Erhöhung der Personalbeschaffungskosten sowie die Personalkosten für knappe Berufsgruppen, die deutlich über den vereinbarten Tarifsteigerungen und damit über der Kalkulation liegen,
    • die spezifischen Anforderungen im Bereich der Rehabilitation wie z. B. die Zunahme isolationspflichtiger Patienten oder auch Mehraufwände, welche im Rahmen des elektronischen Datenaustauschs nach § 301 Abs. 4 SGB V und der Umstellung der Verfahrensweise entstehen können,
    • das Vorgehen im Krankenhausbereich, wo auch aktuell die Veränderungsrate gilt, sobald sie den Orientierungswert überschreitet.

    Zusätzlich wurde in diesem Jahr eine Aktualisierung zur Berechnung der erforderlichen ‚absoluten Vergütungssatzhöhen‘ vorgenommen. Die 2012 ermittelten Werte für drei Beispielindikationen (Orthopädie, Kardiologie und Psychosomatik) wurden fortgeschrieben, und eine Kalkulation für den Indikationsbereich Sucht wurde ergänzt. Bei der entsprechenden Simulation wurden folgende Tagessätze ermittelt, die im Jahr 2015 für einen kostendeckenden Betrieb erforderlich wären:

    • Orthopädie = 145 Euro
    • Kardiologie = 135 Euro
    • Psychosomatik = 150 Euro
    • Sucht = 134 Euro

    Bereits in den Gutachten der Vorjahre konnte gezeigt werden, dass in den letzten Jahren die Vergütungssatzanpassungen zum Teil deutlich unter den ermittelten durchschnittlichen Kostensteigerungen in der Rehabilitation lagen. Aufgrund dieses Finanzierungsdefizits sind die Rehabilitationskliniken seit Jahren gezwungen, Wirtschaftlichkeitsreserven im erheblichen Ausmaß zu schöpfen. Gleichzeitig müssen sie sich im Wettbewerb um qualifiziertes Personal gegenüber anderen Sektoren und Branchen behaupten. Angesichts dieser Entwicklung sind heute eine Vielzahl von Einrichtungen an der Grenze ihrer Belastbarkeit angekommen. Einige Kliniken mussten bereits schließen. Es ist zu erwarten, dass ohne angemessene Berücksichtigung der realen Kostenentwicklungen sich diese Entwicklung auf breiter Front fortsetzt. Eine weitere Unterfinanzierung des rehabilitativen Sektors gefährdet die qualitative Versorgung der Versicherten mit medizinischen Rehabilitationsleistungen.

    In der AG MedReha sind die maßgeblichen Spitzenverbände der Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation zusammengeschlossen: Der Bundesverband Deutscher Privatkliniken e. V. (BDPK), der Bundesverband Geriatrie e. V. (BV Geriatrie), der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss), die Deutsche Gesellschaft für Medizinische Rehabilitation e. V. (DEGEMED) sowie der Fachverband Sucht e. V. (FVS). Die AG MedReha vertritt in Deutschland somit rund 800 Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen mit ca. 80.000 Behandlungsplätzen.

    Weitere Informationen zu den jährlichen Gutachten finden sie hier.

    AG MedReha, 02.11.2015

  • Kinder ohne Aufenthaltspapiere dürfen zur Schule gehen

    Cover Es darf nicht an Papieren scheiternDürfen Kinder, die keine Aufenthaltspapiere haben – so genannte papierlose Kinder – in Deutschland zur Schule gehen? Nein, meinen sechs von zehn Grundschulen in einer aktuellen Studie der Universität Bremen. Und damit liegen sie falsch. Jedes Kind darf zur Schule gehen – so verlangt es internationales Recht. „Der Rechtsanspruch auf Schule gilt für alle Kinder, unabhängig von ihrer aufenthaltsrechtlichen Situation“, sagt die Bildungsexpertin Yasemin Karakasoglu, Professorin im Fachbereich Erziehungswissenschaften und Konrektorin für Internationalität und Diversität der Universität Bremen. Zusammen mit Dr. Dita Vogel und Barbara Funck, beide ebenfalls aus dem Arbeitsbereich Interkulturelle Bildung, hat sie die Schulaufnahmemöglichkeit eines papierlosen Kindes in 100 Grundschulen im gesamten Bundesgebiet untersucht. Ein Ergebnis: Bei 62 Prozent der Schulen wurde keine Möglichkeit zur Schulanmeldung dieser Kinder aufgezeigt. In einigen Schulen und Schulbehörden wurde sogar irrtümlich angenommen, dass die Polizei informiert werden müsse.

    Die Zahl der papierlosen Kinder in Deutschland wird auf einige Tausend bis einige Zehntausend geschätzt. Wie viele Kinder davon tatsächlich die Schule besuchen, ist unklar. Lange war umstritten, ob Schulen an die Ausländerbehörden melden müssen, wenn sie mitbekommen, dass ein Kind ohne Aufenthaltspapiere in Deutschland lebt. Eine prekäre Situation: Die Familien mussten befürchten, wegen illegalen Aufenthaltes abgeschoben zu werden, wenn sie versuchen, ihr Kind in einer Schule anzumelden. Damit aber jedes Kind ohne Angst zur Schule gehen kann, wurde 2011 bundesgesetzlich klargestellt, dass Bildungseinrichtungen keine Informationen an die Ausländerbehörden weitergeben müssen. „Jedoch gab es Hinweise von Beratungsstellen, dass die Schulanmeldung papierloser Kinder nach wie vor nicht gelingt. Dem wollten wir auf den Grund gehen“, erklärt Dr. Dita Vogel. Die Studie mit dem Titel „Es darf nicht an Papieren scheitern“ wurde von der Max-Traeger-Stiftung in Auftrag gegeben.

    Mit einer telefonischen Umfrage von Mai bis Juli 2015 untersuchten die Bremer Wissenschaftlerinnen, ob und wie die Schulaufnahme aufenthaltsrechtlich nicht registrierter Kinder in Deutschland funktioniert. Nach einem Zufallsprinzip wurden in allen Landeshauptstädten und in allen Großstädten mit über einer halben Million Einwohnern die Schulen ausgewählt. Wegen ihrer Vergleichbarkeit wurden Öffentliche Grundschulen ausgesucht. Um eine hohe Antwortquote zu erreichen, wurden nur drei kurze Fragen zu Beispielfällen gestellt.

    Die Studie zeigt, dass Schulleitungen oft unsicher sind, wie die rechtliche Grundlage in solchen Fällen ist. Oftmals verweisen sie an höherrangige oder spezialisierte Stellen in der Bildungsadministration. Aber auch dort wird von der Hälfte der Stellen keine positive Aussage zur Schulaufnahmemöglichkeit getroffen. Darüber hinaus verweisen viele Schulen darauf, dass es bürokratische oder technische Hindernisse gibt, so dass sie die Kinder nicht aufnehmen können. So sei eine Meldebestätigung „definitiv“ erforderlich und ohne sie eine computertechnische Erfassung nicht möglich. „Bei einigen Reaktionen klangen Vorbehalte gegenüber Zuwanderung durch“, so Dita Vogel. „Eine Antwort lautete: ‚Man kann ja nicht einfach in eine Schule reinwandern.‘ Das klingt nicht danach, als ob für jedes Kind eine Lösung gesucht wird.“

    Zum Schluss haben die Bremer Wissenschaftlerinnen konkrete Handlungsempfehlungen entwickelt, wie eine verbesserte Informationspolitik die Situation für beide Seiten entlasten kann:

    • Ein Zusatz in den Landesschulgesetzen, dass alle Kinder unabhängig vom Aufenthaltsstatus einen Anspruch auf Einschulung haben, stellt das Schulrecht von papierlosen Kindern unmissverständlich klar.
    • Wenn Daten nicht gemeldet werden müssen, dürfen diese auch nicht weitergegeben werden.
    • Schulleitungen müssen auch bei schwierigen Fällen auf Einschulungsanfragen reagieren und sich um passende Wege kümmern. Dazu müssen die Schulbehörden und Ministerien Verfahren bereitstellen.
    • Das Schulpersonal sollte die Botschaft, dass jedes Kind zur Schule gehen kann, auch an Eltern in prekären Situationen vermitteln.

    Pressestelle der Universität Bremen, 29.10.2015

  • Cannabispolitik in Deutschland

    Hamm: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS) 2015, 16 S., als kostenloser Download verfügbar unter http://www.dhs.de/, als gedrucktes Exemplar zu bestellen unter info@dhs.de

    DHS-Arbeitspapier_Cannabis_CoverIn ihrer Stellungnahme zur Cannabispolitik in Deutschland fordert die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) die Einsetzung einer Enquete-Kommission des Bundestages, die die deutsche Cannabispolitik überprüfen soll. Dabei bezieht sie sich auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 90, 145. Die DHS zählt zwölf Gründe auf, warum die Enquete-Kommission eingesetzt werden soll, und erläutert diese ausführlich. Aufgrund der Auswirkungen der Cannabispolitik auf die Lebenswelten der Konsumentinnen und Konsumenten betont die DHS die Bedeutung von Prävention, Jugendschutz, Schadensminderung, Frühintervention, Beratung und Behandlung.

    In der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V. sind die in der Suchthilfe und Suchtprävention bundesweit tätigen Verbände und gemeinnützigen Vereine zusammengeschlossen. Damit repräsentiert sie rund 1.400 ambulante Suchtberatungsstellen, 800 stationäre Suchthilfeeinrichtungen sowie über 6.000 Selbsthilfegruppen.

    Das Grundsatzpapier „Cannabispolitik in Deutschland“ wurde vom Vorstand der DHS im September 2015 einstimmig und ohne Enthaltung verabschiedet und an alle mit dem Thema befassten Politiker versandt: an die Bundesdrogenbeauftragte, das Referat Sucht im BMG, alle Bundestagsabgeordneten, die suchtpolitischen Sprecher der Parteien sowie die Drogenbeauftragten der Bundesländer.

    Redaktion KONTUREN online/Simone Schwarzer, 29.10.2015

  • Smartphone-Nutzung von Kindern und Jugendlichen

    csm_Teaser_Always_on_0560d46b4c64 Prozent der 8- bis 14-Jährigen können über das Handy bzw. Smartphone auf das Internet zugreifen. Bei den 13- und 14-Jährigen sind es bereits 86 Prozent. Zahlen, die verdeutlichen, wie präsent mobile (Online-)Kommunikation für Kinder und Jugendliche geworden ist. Was bedeuten diese Zahlen für die Lebenswelt von Heranwachsenden? Wie wird das Smartphone im Alltag genutzt? Welche Potenziale und Gefahren stecken dahinter? Wie wirkt sich die digitale Kommunikation auf das Miteinander im Freundeskreis und in der Familie aus? Diesen und weiteren Fragen sind Forscher der Universität Mannheim im Auftrag der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM) nachgegangen. Die Ergebnisse der neuen LfM-Studie „Mediatisierung mobil. Handy- und mobile Internetnutzung von Kindern und Jugendlichen“ präsentierten die Wissenschaftler am 1. Oktober 2015 im Rahmen der Fachtagung „Always On! Wie Kinder und Jugendliche Smartphones nutzen“ in Düsseldorf.

    Hinsichtlich der Bindung zu ihrem Mobiltelefon zeigen sich bei den befragten Kindern und Jugendlichen erkennbare Unterschiede. Prof. Dr. Peter Vorderer: „Viele sind in der Lage, auch längere Zeit ohne das Handy oder Smartphone auszukommen. Etwa 21 Prozent der Kinder und Jugendlichen weisen jedoch eine sehr starke Bindung auf.“ Dies äußere sich unter anderem dadurch, dass sie „ständig an das Mobiltelefon denken, es auf neue Nachrichten überprüfen oder zum unspezifischen Zeitvertreib nutzen.“ Acht Prozent von ihnen seien so stark involviert, dass sie „als suchtgefährdet bezeichnet werden müssen“.

    Die hohe Smartphone-Nutzung hat deutliche Auswirkungen auf die Beziehung zu Gleichaltrigen: Als positive Effekte für Freundschaften untereinander nennen die Wissenschaftler z. B. das gemeinsame Anschauen von Fotos und Videos oder das gemeinsame Handyspielen. Allem voran kommt dem Handy aber eine herausragende Bedeutung als Kommunikationsmittel zu, das die Bindungen untereinander stärkt, so Dr. Dorothée Hefner. Hier liegt aber auch die Schattenseite der vermehrten Handynutzung: Cybermobbing, Sexting und Happy Slapping (körperlicher Angriff, der gefilmt und über das Internet veröffentlicht wird) sind dabei Verhaltensweisen mit besonders weitreichenden Folgen für die Heranwachsenden. Etwa zehn Prozent haben Cybermobbing bereits als Täter oder Opfer erlebt, zwischen vier und sechs Prozent der Kinder und Jugendlichen haben bereits Happy Slapping erfahren oder sexualisierte Fotos von sich verschickt. Auffällig ist laut Dr. Karin Knop auch die Angst, etwas zu verpassen und aus dem Kommunikationsfluss ausgeschlossen zu sein (Fear of missing out, FoMO): „Dies ist der stärkste Erklärungsfaktor für unkontrollierte, exzessive und risikobetonte Handynutzung. Wenn Kinder und Jugendliche zusätzlich einen hohen Anpassungsdruck an ihren Freundeskreis verspüren und dieser Freundeskreis eine ‚Always-on‘-Mentalität lebt, lassen sie sich besonders stark durch ihr Handy ablenken.“

    Handys und mobiles Internet bringen im familiären Alltag einerseits viele Erleichterungen. Der größte Vorteil ist die vereinfachte Kommunikation und Alltagsorganisation. Im alltäglichen Familienleben kommt es andererseits aber auch zu Reibungspunkten. So ist vor allem das zeitliche Ausmaß des kindlichen Handykonsums Grund für Konflikte. Aktive Handyerziehung, die über Restriktionen und Regelungen hinausgeht, wird offenbar auch dadurch erschwert, dass das Handy vorrangig ein mobil und individuell genutztes Medium mit kleiner Bildschirmgröße und privatem Charakter ist, und sich deshalb dem unmittelbaren Einfluss der Eltern entzieht.

    Die Studie bietet zahlreiche Impulse und Anknüpfungspunkte für Eltern und die pädagogische Arbeit. Zwar besitzen Kinder und Jugendliche bei der Handhabung von Geräten und Apps oft einen Wissens- bzw. Bedienungsvorsprung vor Eltern und Lehrkräften, aber, so LfM-Direktor Dr. Jürgen Brautmeier: „Die Studie zeigt, dass es beim Großteil dessen, was mit dem Handy und mobilen Internet betrieben wird, um Kommunikation und menschliches Miteinander geht. Hier haben Erziehende wiederum einen Vorsprung, der sie dazu ermuntern sollte, mit Kindern und Jugendlichen über die Nutzung ins Gespräch zu kommen.“

    Bibliografische Informationen: Knop, Karin; Hefner, Dorothée; Schmitt, Stefanie; Vorderer, Peter: Mediatisierung mobil. Handy- und Internetnutzung von Kindern und Jugendlichen. Leipzig (Vistas), 2015. Schriftenreihe Medienforschung der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM), Band 77. ISBN 978-3-89158-616-7.

    Eine Zusammenfassung der Studie und weitere Informationen finden Sie hier.

    Pressestelle der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen

  • Mädchen im Netz

    Berlin, Heidelberg: Springer 2016 (bereits erschienen), 235 S., ISBN 978-3-662-47034-3, EUR 14,99, auch als E-Book erhältlich

    Voigt_Mädchen im NetzOb zu Hause, auf dem Pausenhof, eigentlich überall: Vor allem junge Mädchen scheinen mit ihrem Smartphone verwachsen zu sein. Von früh bis spät sind sie dabei, ihren persönlichen Auftritt zu polieren und Kontakt zur Clique zu halten. Die Freundschaft zur ‚abf‘ – ihrer allerbesten Freundin – wird in den sozialen Netzwerken besonders emotional inszeniert. Hübsch aussehen und beliebt sein sind die zentralen Identitätsbausteine. Warum zieht sich dieses Verhaltensmuster so übertrieben durch eine ganze Mädchengeneration? Trifft die ‚normale Pubertät‘ auf moderne Medien, oder steckt mehr dahinter? Der Jugendforscher Martin Voigt geht in seinem Buch diesen Fragen auf den Grund.

    „Vor allem Mädchen zwischen 12 und 16 legen in teilweise exzessivem Ausmaß Wert auf ihre Selbstdarstellung auf Facebook und Co – unentwegt werden Selfies hochgeladen und Liebesschwüre zwischen befreundeten Mädchen geteilt,“ erklärt Martin Voigt. Likes und Kommentare zum neuen Selfie – „süßee du bist sooo hüübsch !!“ – sind die Gradmesser für Beliebtheit, vor allem in den unteren Jahrgangsstufen. Nach Ansicht des Jugendforschers steht hinter dem Überschwänglichen die Angst, in der Gleichaltrigengruppe an den Rand zu geraten. „Kommen Sie nicht auf die Idee, einer 14-Jährigen das Handy wegzunehmen. Der dauerhafte Kontakt zu ihren Freundinnen ist Rückversicherung und emotionale Basis im langen Schulalltag“, erklärt Voigt, der soziale Medien nicht als einzigen Grund für diese Dramatisierung sieht: „Sie sind lediglich Bühnen und als solche kaum für die Ich-Entwürfe der Teenager verantwortlich.“

    Wer sich mit kritischen Fragen der Lebenswelt von Teenagern nähert, dem begegnet manchmal der Vorwurf, er reite auf der Welle der „Moral Panic“. Dennoch fragt Voigt, wie es Kindern geht, die von klein auf in Ganztagseinrichtungen ‚wegorganisiert‘ werden und mehr unter Gleichaltrigen sind als zu Hause. Im steten Bezug auf die psychologische Bindungsforschung untersucht Voigt die familiäre Erosion, die zunehmende Gleichaltrigenorientierung und den vielschichtigen Begriff „Sexualisierung“ als weitere Ursachen neben den neuen Medien. Anhand umfangreicher Korpusmaterialien belegt der Jugendforscher Anzeichen für das Verhalten unsicher gebundener Kinder, die bereits zu standardisierten Mustern geworden sind. Deutschlandweit zu beobachtende Beschwörungen und Verlustängste wie „nie wieder ohne dich“, „ich liebe dich sooo sehr“, i“ch will dich niiiee niieee wieder verlieren“ in den Online-Gästebüchern allerbester Freundinnen sieht Voigt nicht nur als modernes Ausgestalten von Freundschaften, sondern auch als Ausdruck mangelnder emotionaler Zuwendung und Bestätigung in der Kindheit.

  • Glücksspielmarkt

    Fotos©Forschungsstelle Glücksspiel/Uni Hohenheim
    Fotos©Forschungsstelle Glücksspiel/Uni Hohenheim

    Für den Verbraucher sind sie kaum zu erkennen: Illegale Lotterien, Sportwetten und Casinospiele im Internet gedeihen prächtig und sind sehr lukrativ. Nun hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof das Glücksspielkollegium, die oberste Glücksspielaufsicht der Länder, für verfassungswidrig erklärt. Mit dem Urteil stünde die derzeitige Form der Regulierung des Glücksspielmarktes nun vor dem Aus, meint Prof. Dr. Tilman Becker, Leiter der Forschungsstelle Glücksspiel an der Universität Hohenheim.

    „Der Glücksspielstaatsvertrag von 2012 sah zwar erstmalig ein koordiniertes Vorgehen der Bundesländer gegen illegale Anbieter vor, doch das funktionierte leider nicht. Die staatliche Regulierung ist weitestgehend gescheitert, die verantwortlichen Behörden erscheinen machtlos. De facto existiert in Deutschland ein in weiten Bereichen nicht regulierter Glücksspielmarkt“, schildert der Experte die Lage. Er plädiert dafür, anstelle des Glücksspielkollegiums eine wesentlich effizientere Glücksspielkommission einzusetzen. Sie könnte wirkungsvoller Kontrollen ausüben und die Zahlungsströme zu illegalen Anbietern unterbinden: „Ziel ist es, die legalen Anbieter auf der einen Seite möglichst wenig einzuschränken, aber auf der anderen Seite möglichst viel für den Jugend- und Spielerschutz zu tun.“

    Derzeit wird bei Sportwetten mittlerweile fast der gesamte Umsatz durch nicht-legale Anbieter getätigt. „Diese bieten im Internet meist nicht nur Sportwetten, sondern auch die deutlich lukrativeren Online-Casinospiele an, die fast überall in Deutschland illegal sind“, berichtet Prof. Becker. „Die verantwortlichen Behörden erscheinen machtlos.“ Es bestünde offenbar ein strukturelles Vollzugsdefizit. Der Jugend- und Spielerschutz werde bei dem nicht-legalen Angebot kaum berücksichtigt. Es lohne sich für einen Anbieter, sich nicht an die gesetzlichen Vorgaben zu halten, so Prof. Becker.

    Die einzelnen Glücksspielformen unterscheiden sich erheblich in Bezug auf ihr Suchtpotenzial. Am höchsten ist es bei Geldspielgeräten, Casinospielen und Sportwetten, am geringsten bei den traditionellen Lotterien. „Die Glücksspielaufsicht fordert bisher jedoch bei Lotterien die höchsten Standards für die Suchtprävention. Dadurch verschiebt sich das Angebot von den ungefährlicheren Spielen hin zu den gefährlichen“, umreißt Prof. Becker eines der Probleme. Online-Anbieter agieren außerdem in der Regel europaweit. Ordnungsrechtlich war bislang jedoch nur das jeweilige Bundesland zuständig. „Es stellt sich hier die Frage, ob eine föderale Struktur nicht grundsätzlich mit der Kontrolle und Überwachung dieser Anbieter überfordert ist“, gibt Prof. Becker zu bedenken. Die bisherige Situation sei für illegale Anbieter von erheblichem Vorteil. „Der Markt ist völlig unreguliert. Potenzielle Anbieter, die sich an die Gesetze halten wollen, werden vom Markt ferngehalten – und die eindeutig illegalen Angebote von Casinospielen anscheinend durch die Glücksspielaufsicht geduldet.“

    „Künftig kann der Glücksspielmarkt in Deutschland nur dann erfolgreich reguliert werden, wenn hierfür die institutionellen Voraussetzungen geschaffen werden“, meint Prof. Becker. Das bisherige Glücksspielkollegium mit einem einzigen Glücksspielreferenten aus jedem Bundesland, der daneben auch noch für andere Bereiche verantwortlich ist, sei zum Scheitern verurteilt gewesen. Prof. Becker schlägt als Abhilfe eine Glücksspielkommission vor, wie sie in den meisten Ländern Europas als Aufsichtsbehörde dient. „In diesen Kommissionen sind bis zu mehrere hundert Mitarbeiter tätig. Sie arbeiten mit den Zahlungsdienstleistern eng zusammen. In Belgien ist die Glücksspielkommission sogar mit Polizeirechten ausgestattet.“ Um den Glückspielmarkt nicht wie bisher nur auf dem Papier, sondern tatsächlich sinnvoll zu regulieren, sei eine Expertise in den Bereichen Verbraucher, Wirtschaft und Recht notwendig. Diese müsse eine Glücksspielkommission vorweisen können. „Und nicht zuletzt ist auch die Infrastruktur für die Kontrolle der Anbieter und den Schutz der Spieler zu schaffen“, mahnt der Experte.

    Die Forschungsstelle Glücksspiel der Universität Hohenheim besteht seit 2004. Sie ist eine unabhängige universitäre Einrichtung, die keine privatwirtschaftlichen Ziele verfolgt. Weitere Informationen finden Sie hier.

    Pressestelle der Universität Hohenheim, 20.10.2015