Autor: Simone Schwarzer

  • Sprache verzerrt ChatGPT-Informationen bei bewaffneten Konflikten

    Wird ChatGPT auf Arabisch nach der Anzahl getöteter Zivilisten im Nahostkonflikt gefragt, gibt es deutlich höhere Opferzahlen an als bei derselben Frage auf Hebräisch, wie eine neue Studie der Universitäten Zürich und Konstanz zeigt. Diese systematischen Verzerrungen können Vorurteile in bewaffneten Konflikten verstärken und Informationsblasen befeuern.

    Millionen von Menschen kommunizieren täglich mit ChatGPT und anderen Large Language Models, etwa um Informationen zu erhalten. Doch wie werden die Antworten, welche die Sprachmodelle liefern, durch die Sprache der Suchanfrage beeinflusst? Macht es einen Unterschied, ob man dieselbe Frage auf Englisch oder Deutsch, Arabisch oder Hebräisch stellt? Christoph Steinert, Postdoc am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich (UZH), und Physiker Daniel Kazenwadel von der Universität Konstanz haben diese Frage systematisch untersucht.

    Informationen beeinflussen Verlauf bewaffneter Konflikte

    Gewählt haben die Forscher ein sowohl aktuelles wie auch heikles Thema: bewaffnete Auseinandersetzungen wie der Nahostkonflikt oder der türkisch-kurdische Konflikt. Sie haben ChatGPT in einem automatisierten Verfahren wiederholt die gleichen Fragen in unterschiedlichen Sprachen gestellt. So haben die Wissenschaftler sowohl auf Hebräisch als auch auf Arabisch wiederholt gefragt, wie viele Opfer es bei 50 zufallsbasiert ausgewählten Luftangriffen – etwa dem israelischen Luftangriff auf das Nuseirat Flüchtlingscamp am 21. August 2014 – gegeben habe.

    „Wir haben herausgefunden, dass ChatGPT systematisch höhere Opferzahlen angibt, wenn es auf Arabisch gefragt wird im Vergleich zu Hebräisch. Im Schnitt sind es 34 Prozent mehr“, sagt Steinert. Wird ChatGPT zu israelischen Luftangriffen in Gaza befragt, erwähnt es auf Arabisch im Durchschnitt doppelt so häufig zivile Opfer und sechsmal häufiger getötete Kinder als auf Hebräisch. Das gleiche Muster fanden die Forscher auch, wenn sie nach Luftangriffen der türkischen Regierung auf kurdische Gebiete fragten und diese Fragen sowohl auf Türkisch als auch auf Kurdisch stellten.

    „Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“, lautet ein Kommentar, der dem US-Republikaner Hiram Johnson (1866-1945) zugeschrieben wird. Im Lauf der Geschichte haben selektive Informationspolitiken, Propaganda und Falschinformationen zahlreiche bewaffnete Konflikte beeinflusst. Was heutige kriegerische Auseinandersetzungen auszeichnet, ist die Verfügbarkeit einer noch nie dagewesenen Fülle von Informationsquellen – wie ChatGPT.

    Übertreibung in der einen, Beschönigung in der anderen Sprache

    Die Ergebnisse zeigen generell, dass ChatGPT höhere Opferzahlen angibt, wenn die Suchanfragen in der Sprache der angegriffenen Gruppe gestellt werden. Außerdem neigt ChatGPT dazu, in der Sprache der angegriffenen Gruppe über mehr getötete Kinder und Frauen zu berichten und die Luftangriffe eher als wahllos und willkürlich zu beschreiben. „Unsere Resultate zeigen gleichzeitig, dass die Luftangriffe in der Sprache des Aggressors von ChatGPT mit einer höheren Wahrscheinlichkeit bestritten werden“, ergänzt Steinert.

    Dies hat nach Ansicht der Forschenden weitreichende gesellschaftliche Implikationen: ChatGPT und andere Large Language Models spielen eine zunehmend zentrale Rolle in Prozessen der Informationsverbreitung. Implementiert in Suchmaschinen wie Google Gemini oder Microsoft Bing beeinflussen sie die Informationen, die man anhand von Suchanfragen zu den unterschiedlichsten Themen erhält, grundlegend.

    „Wenn Menschen mit unterschiedlichen Sprachkenntnissen durch diese Technologien unterschiedliche Informationen erhalten, dann hat das einen zentralen Einfluss auf ihre Wahrnehmungen der Welt“, sagt Christoph Steinert. Solche Sprachbiases könnten dazu führen, dass Menschen in Israel auf Grundlage der Informationen, die sie von Large Language Models erhalten, die Luftangriffe auf Gaza als weniger verlustreich einschätzen als die arabischsprachige Bevölkerung.

    Vorurteile werden verstärkt, Informationsblasen befeuert

    Auch klassische Nachrichtenmedien können die Berichterstattung verzerren. Im Unterschied dazu sind aber die sprachbedingten systematischen Verzerrungen von Large Language Models für die meisten Anwenderinnen und Anwender schwer zu durchschauen. „Es besteht die Gefahr, dass die zunehmende Implementierung von Large Language Models in Suchmaschinen unterschiedliche Wahrnehmungen, Vorurteile und Informationsblasen entlang von Sprachgrenzen verstärkt“, sagt Steinert, was bewaffnete Auseinandersetzungen wie den Nahostkonflikt in Zukunft weiter befeuern könnte.

    Originalpublikation:
    Christoph Valentin Steinert, Daniel Kazenwadel. How user language affects conflict fatality estimates in ChatGPT. Journal of Peace Research. 4 November 2024. DOI: https://doi.org/10.1177/00223433241279381

    Pressestelle der Universität Zürich, 25.11.2024

  • Haben wir es geschafft?

    Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgau 2024, 172 Seiten, € 29,00 €, ISBN 978-3-7841-3701-8

    Von den 23,9 Millionen Menschen mit einem sog. Migrationshintergrund in Deutschland ist ein Großteil (10,4 Millionen) eingebürgert. Nimmt man diese Zahlen, um den Stand der Integration zu messen, sind über 40 Prozent der Migrant:innen gut integriert. Über die tatsächliche Integration sagt diese Zahl jedoch wenig aus, da die Kriterien für die Einbürgerung eher formal sind (Aufenthaltsdauer, Erwerbstätigkeit u. v. m.). In der Integrationsdebatte werden deshalb die soziale und kulturelle Integration in den Mittelpunkt gestellt, obwohl die strukturelle Integration (Arbeitsmarkt und Bildungssystem) noch nicht überall gelungen ist.

    Das Buch geht auf die Frage ein, wie eine nachhaltige und zufriedenstellende Integration der Geflüchteten – vor allem der jungen Menschen – gelingen kann. Welche Kompetenzen bringen die Geflüchteten mit und welche Ressourcen muss das Aufnahmeland zur Verfügung stellen? Und was heißt überhaupt Integration? Zunächst werden die vier Ebenen der Integration dargelegt, die methodischen Grundlagen skizziert und 16 befragte Personen im Profil vorgestellt. Anschließend werden die vier Ebenen der Integration anhand der Interviewergebnisse diskutiert und zum Schluss Handlungsempfehlungen für Politik und Gesellschaft formuliert.

  • Ausländerfeindlichkeit und antisemitische Einstellungen steigen auch im Westen Deutschlands

    „Vereint im Ressentiment. Autoritäre Dynamiken und rechtsextreme Einstellungen / Leipziger Autoritarismus Studie 2024“, erschienen im Psychosozial-Verlag

    Im Westen Deutschlands hat die Zustimmung zu ausländerfeindlichen Aussagen deutlich zugenommen und nähert sich damit den Einstellungen im Osten an. In den ostdeutschen Bundesländern ist die Zufriedenheit mit der Demokratie, wie sie in Deutschland gelebt wird, so gering wie zuletzt 2006. Das sind zentrale Ergebnisse der Leipziger Autoritarismus Studie 2024, die am 13. November unter dem Titel „Vereint im Ressentiment“ von Prof. Dr. Oliver Decker und Prof. Dr. Elmar Brähler vom Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig vorgestellt wurde. Die Studie entstand in Kooperation mit der Heinrich-Böll- und der Otto Brenner Stiftung.

    Seit Beginn der Studienreihe im Jahr 2002 ging die Zustimmung zu ausländerfeindlichen und chauvinistischen Aussagen im Westen zurück, während sie im Osten schwankte. Studienleiter Prof. Dr. Oliver Decker stellt fest: „Die Studie erfasst in diesem Jahr vor allem im Westen eine deutliche atmosphärische Verschiebung.“ Der Sozialpsychologe hat die Studie gemeinsam mit Prof. Dr. Elmar Brähler, Dr. Johannes Kiess und Dr. Ayline Heller veröffentlicht.

    Im Westen ist der Anteil mit einem geschlossen ausländerfeindlichen Weltbild von 12,6 Prozent (2022) auf 19,3 Prozent gestiegen. „Die Ausländerfeindlichkeit hat sich damit zu einem bundesweit geteilten Ressentiment entwickelt“, erklärt Co-Leiter Elmar Brähler. 31,1 Prozent der Befragten im Westen stimmten der Aussage zu, dass Deutschland durch „die vielen Ausländer überfremdet“ sei. Vor zwei Jahren waren es noch 22,7 Prozent. In den ostdeutschen Bundesländern ist die manifeste Zustimmung im selben Zeitraum von 38,4 auf 44,3 Prozent gestiegen. Ein geschlossen ausländerfeindliches Weltbild weisen mit 61 Prozent vor allem Wähler:innen der AfD auf.

    Leichte Trendumkehr bei den antisemitischen Einstellungen in Westdeutschland

    Von 2002 bis 2022 waren die im Westen Deutschlands gemessenen antisemitischen Einstellungen von 13,8 Prozent auf 3 Prozent gesunken. In diesem Jahr zeigt sich bei der manifesten Zustimmung zu antisemitischen Aussagen ein leichter Anstieg auf 4,6 Prozent. Im Osten sinkt die Anzahl der manifesten Antisemit:innen von 3 Prozent im Jahr 2022 auf 1,8 Prozent. Die latente Einstellung zu einzelnen Aussagen liegt höher. So stimmen nur 10,2 Prozent der Westdeutschen und 5 Prozent der Ostdeutschen ausdrücklich zu, dass Jüdinnen und Juden „auch heute noch“ zu viel Einfluss hätten.

    Erstmals wurden in diesem Jahr postkolonialer und antizionistischer Antisemitismus untersucht. „Vor dem Hintergrund des 7. Oktober 2023 wollten wir erfassen, wie antisemitische Einstellungen in linken Milieus geäußert werden können“, erklärt Co-Herausgeberin Dr. Ayline Heller. 13,2 Prozent stimmen voll und ganz zu, dass es besser wäre, „wenn die Juden den Nahen Osten verlassen würden“. Weitere 24 Prozent stimmen zudem latent zu. „Der Antisemitismus funktioniert als Brückenideologie, er verbindet linke und rechte Milieus“, sagt Co-Herausgeber Dr. Johannes Kiess.

    Rückgang der Zufriedenheit mit der Demokratie

    Die Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland nimmt ab. Zwar stimmen 90,4 Prozent aller Befragten der Demokratie als Idee zu (2022 waren es noch 94,3 Prozent). Die Zustimmung zur „Demokratie, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland funktioniert“ findet aber nur noch bei 42,3 Prozent der Befragten Anklang. Vor allem im Osten lässt sich ein rapider Abstieg der Akzeptanz beobachten. Sprachen sich 2022 noch 53,5 Prozent für die Demokratie, wie sie in Deutschland funktioniert, aus, sind es in diesem Jahr nur noch 29,7 Prozent. Aber auch im Westen geben sich nur noch 46 Prozent mit dem Funktionieren der Staatsform zufrieden, gegenüber 58,8 Prozent im Jahr 2022. Auch das ist der geringste Wert seit 2006.

    Erstmals konnten die Teilnehmer:innen der Studie in diesem Jahr Gedanken zur Demokratie in Freitextfeldern teilen. Die Antworten thematisierten am häufigsten eine Verdrossenheit mit Parteien und Politiker:innen und fehlende Möglichkeiten der Partizipation.

    Antimoderne Ressentiments und die Flucht in den Autoritarismus

    Antimoderne Ressentiments geben durch die Abwertung „Fremder“ die Möglichkeit, autoritäre Aggressionen zu befriedigen. Dazu gehören neben Antisemitismus auch Muslimfeindschaft, Antiziganismus und Antifeminismus. Antiziganismus und Muslimfeindschaft sind im Westen seit 2022 angestiegen. Im Jahr der letzten Erhebung zeigten sich Westdeutsche nur zu einem Viertel bis einem Drittel bereit, Muslime abzuwerten. Heute ist es knapp die Hälfte, während sich das Bild im Osten kaum verändert hat. In diesem Jahr wurden neue Dimensionen wie Antiamerikanismus, Antikapitalismus und Transfeindlichkeit untersucht. Vor allem letztere ist weit verbreitet.

    Ausblick und gesellschaftliche Herausforderungen

    Die Studie verdeutlicht, dass viele Menschen die Zukunft als ungewiss empfinden. „Obwohl die Demokratie skeptisch betrachtet wird, ist unklar, ob der Wunsch nach autoritären oder extrem-rechten Lösungen länger andauert. Es zeigt sich aber eine Neigung zum Abschied von der Realität“, sagt Prof. Dr. Oliver Decker. „Diese Entwicklung ist nicht auf Ostdeutschland beschränkt“, ergänzt Brähler. „Auch in Westdeutschland zeigen sich Ressentiments nun offener.“

    Zur Methode

    Die Leipziger Autoritarismus Studie wird seit 2002 regelmäßig durchgeführt und erfasst die Einstellungen der Bevölkerung zu autoritären und demokratiefeindlichen Tendenzen. Befragt wurden für die repräsentative Stichprobe von Ende März bis Mitte Juni dieses Jahres 2.500 Menschen. Diese werden von den Interviewer:innen zuhause aufgesucht. Die Befragten bekommen den Fragebogen mit den politischen Einstellungsfragebögen ausgehändigt, füllen ihn selbst aus und übergeben diesen danach den Interviewer:innen – auf Wunsch auch in einem Umschlag. Mit diesem Vorgehen gelingt es, in etwas mehr als der Hälfte der angesteuerten Haushalte Personen zur Teilnahme an der Untersuchung zu gewinnen.

    Weitere Informationen, auch zur Methodik und zu den neuen Fragen der diesjährigen Erhebung, bietet auch das Interview mit Studienleiter Oliver Decker im Leipziger Universitätsmagazin: https://uni-l.de/autoritarismus-interview

    Die Leipziger Autoritarismus Studie 2024 ist unter dem Titel „Vereint im Ressentiment. Autoritäre Dynamiken und rechtsextreme Einstellungen“ im Psychosozial-Verlag erschienen.

    Pressestelle der Universität Leipzig, 13.11.2024

  • Die Schatten der Kindheit

    Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben in einer aktuellen Analyse mit Daten der NAKO Gesundheitsstudie den Zusammenhang zwischen Kindheitstrauma und der Diagnosewahrscheinlichkeit ausgewählter Erkrankungen untersucht. Sie konnten zeigen, dass traumatische Erfahrungen im Kindesalter mit einem höheren Risiko für körperliche und psychische Erkrankungen im Erwachsenalter verbunden waren. Dieses Erkrankungsrisiko war bei jüngeren Menschen besonders stark ausgeprägt.

    Der Begriff „Kindheitstrauma“ umfasst verschiedene Arten von Missbrauch und Vernachlässigung in Kindheit und Jugend. Wie stark die Traumata mit Erkrankungen im Erwachsenenalter assoziiert sind, kann von verschiedenen Faktoren abhängen, wie zum Beispiel dem Alter, dem Geschlecht und der Art des Traumas, das erlebt wurde.

    Forschende unter Federführung der Universitätsmedizin Greifswald haben auf Basis der Daten von 156.807 teilnehmenden Erwachsenen der NAKO Gesundheitsstudie diese Zusammenhänge untersucht. Sie haben sich dabei auf Erkrankungen mit großer persönlicher Krankheitslast und gesellschaftlicher Relevanz fokussiert. Dazu gehörten Krebserkrankungen, Herzinfarkt, Schlaganfall, Typ-2-Diabetes, chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD), Angsterkrankungen und Depression.

    Die Traumata wurden mittels eines standardisierten Fragebogens in fünf Kategorien erfasst: emotionaler, körperlicher und sexueller Missbrauch sowie emotionale und körperliche Vernachlässigung. Ein Drittel der Teilnehmenden mit Kindheitstraumata gab mehrere Trauma-Arten an, wobei die Kombination emotionaler und körperlicher Traumata am häufigsten geschildert wurde. Die Forschenden fanden heraus, dass Kindheitstraumata insgesamt mit einer höheren Wahrscheinlichkeit verbunden waren, im Erwachsenenalter sowohl psychische als auch körperliche Krankheiten zu entwickeln. Dabei traten psychische Erkrankungen wie Angststörungen und Depression als Folge traumatischer Erlebnisse häufiger auf als körperliche. All diese Zusammenhänge waren bei jüngeren Erwachsenen besonders stark ausgeprägt, unabhängig von der Art des Kindheitstraumas.

    „Die Ergebnisse könnten darauf hinweisen, dass Kindheitstraumata umso stärker mit einer Diagnose assoziiert sind, je näher der Erkrankungsbeginn am Zeitpunkt der Traumatisierung liegt. So liegt das Erkrankungsalter bei einer Depression meist im frühen Erwachsenenalter“, sagt Dr. Johanna Klinger-König, Wissenschaftlerin der Universitätsmedizin Greifswald.

    Unterschiede zwischen den Geschlechtern wurden nur für einzelne Erkrankungen beobachtet. Frauen gaben bei den Erkrankungen als Erwachsene häufiger Krebs-, Angst- und Depressionsdiagnosen an. Männer berichteten häufiger über Diagnosen von Herzinfarkt und Diabetes.

    !Kindheitstraumata sind individuelle Ereignisse, über die das Opfer wenig bis gar keine Kontrolle hat. Die Krankheiten, die im Erwachsenenalter in Verbindung mit den Kindheitstraumata auftreten können, sind eine schwere Belastung für die Betroffenen und die Gesellschaft. Daher ist es wichtig, Kindheitstraumata frühzeitig zu erkennen und gezielte Therapien sowie Präventionsmaßnahmen anzubieten“, sagt Professor Dr. Hans Jörgen Grabe, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Greifswald.

    Zukünftige Forschungsprojekte sollen auf weitere psychische Störungen und Krankheiten im psychiatrischen Bereich ausgeweitet werden. Dabei möchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler insbesondere die Faktoren unter die Lupe nehmen, die die Zusammenhänge zwischen Traumata und Folgeerkrankungen beeinflussen.

    Originalpublikation:
    Klinger-König J, Erhardt A, Streit F, et al. Childhood trauma and somatic and mental illness in adulthood—findings of the NAKO health study. Deutsches Ärzteblatt international. 2024. http://doi.org/10.3238/arztebl.m2023.0225

    Pressestelle der NAKO e. V. / NAKO Gesundheitsstudie, 10.10.2024

  • Digitale Aufklärungsarbeit: Suchtforschung und Suchthilfe nahbar machen

    Digitale Aufklärungsarbeit: Suchtforschung und Suchthilfe nahbar machen

    Stefanie Bötsch

    Die mediale Aufbereitung des Konsums psychoaktiver Substanzen prägt für einen Großteil der Allgemeinbevölkerung das Bild von konsumierenden Menschen und Sucht. Vor allem der Konsum illegalisierter Substanzen wird häufig in Verbindung mit Kriminalität, sozialen Schwierigkeiten und gesundheitlichen Problemen dargestellt (Hughes et al. 2011) und trägt somit einen beachtlichen Teil zur Stigmatisierung konsumierender Menschen bei.

    Um dem Stigmatisierungsprozess entgegenzuwirken, können auf der einen Seite Journalist:innen mit Fachwissen, das durch Interviews oder Hintergrundgespräche vermittelt wird, bei ihrer Recherche unterstützt werden. Auf der anderen Seite hat die professionelle Suchthilfe die Möglichkeit, selbst mit attraktiven und zielgruppengerechten Angeboten die breite Aufklärung in die Hand zu nehmen und somit vollständig den Einfluss auf die Inhalte zu behalten. Um möglichst viele Menschen zu erreichen, eignen sich hier vor allem digitale Angebote. Allerdings bringt die digitale Aufklärungsarbeit über psychoaktive Substanzen einige Hürden mit sich, die berücksichtigt werden müssen. In diesem Artikel werden diese Herausforderungen beleuchtet und praxisnahe Einblicke anhand des Psychoaktiv-Podcasts gegeben.

    Das bietet der Psychoaktiv-Podcast

    Der Psychoaktiv-Podcast wird seit 2020 von der Suchttherapeutin und Sozialarbeiterin Stefanie Bötsch produziert. In Substanzkundefolgen werden unterschiedliche psychoaktive Substanzen porträtiert, während in den anderen Folgen Themen aus den Bereichen Substanzgebrauchsstörung, Drogenpolitik, Safer Use oder Suchttherapie behandelt werden. Regelmäßig sind auch Expert:innen aus Forschung und Praxis zu Gast und berichten über ihr jeweiliges Fachgebiet. Ziel des Podcasts ist es, nicht nur wissenschaftsbasierte Inhalte rund um psychoaktive Substanzen einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, sondern auch die professionelle Suchthilfe nahbarer zu machen, um Menschen den Weg in die Suchtberatung bei Bedarf zu erleichtern.

    Der Podcast erreicht aktuell ca. 100.000 Menschen im Monat. Die Zuhörerschaft besteht sowohl aus Konsumierenden und Angehörigen als auch aus Fachpersonal. Begleitend werden Beiträge auf Social Media (Instagram und TikTok) erstellt.

    Digitale Angebote nicht nur für Jugendliche!

    Wenn in der Suchthilfe ein Angebot geplant wird, ist eine der ersten Fragen, welche Zielgruppe man überhaupt erreichen möchte. Vor allem bei digitalen Angeboten stehen häufig Jugendliche und junge Erwachsene im Fokus. Für die Plattform TikTok ergibt das sicherlich Sinn. Bei der ARD/ZDF-Onlinestudie aus dem Jahr 2023 gaben 41 Prozent der 14- bis 29-Jährigen an, TikTok mindestens einmal pro Woche zu nutzen, während nur noch 18 Prozent der 30- bis 49-Jährigen TikTok wöchentlich nutzen. Auf Instagram sind jedoch auch Altersgruppen über 30 häufiger vertreten. Zwar sind die Jungen die größte Gruppe, 79 Prozent der 18- bis 29-Jährigen nutzen die Plattform wöchentlich, aber auch 46 Prozent der 30- bis 49-Jährigen sind mindestens ein Mal die Woche auf Instagram aktiv (Koch, 2023).

    Vor allem bei Podcasts lohnt sich die Überlegung, bewusst auch eine ältere Zielgruppe anzusprechen. 45,9 Prozent der 14- bis 29-Jährigen hören Podcasts und sind damit auch hier die Altersgruppe, die am stärksten vertreten ist. Allerdings zeigt die Studie „Online-Audio-Monitor (OAM) 2023“ bei dieser Altersgruppe einen absteigenden Trend, während bei den Altersgruppen 30 bis 49 Jahre und 50+ seit 2021 eine steigende Tendenz zu beobachten ist, wie in Abbildung 1 zu sehen ist (mindline media GmbH, 2023).

    Abb. 1: Regelmäßige Nutzung von Podcasts und Radiosendungen zum Nachhören. Eigene Darstellung nach mindline media GmbH (2023)

    Auch in der Altersverteilung der Hörer des Psychoaktiv-Podcasts lässt sich erkennen, dass über die Hälfte zwischen 35 und 54 Jahre alt ist. Den geringsten Anteil machen die 18- bis 24-Jährigen und die Altersgruppe über 65 Jahren aus (s. Abb. 2). Jetzt könnte sich die Annahme aufdrängen, dass dies daraus resultiert, dass der Podcast auch vermehrt von Fachpersonal gehört wird. Es ist zwar nicht möglich, diese Annahme komplett zu widerlegen, anhand von privaten Rückmeldungen aus der Zuhörerschaft wird jedoch deutlich, dass die stark vertretene Altersgruppe 35 bis 54 Jahre auf jeden Fall nicht nur von Fachpersonal ausgefüllt wird.

    Abb. 2: Altersverteilung im Psychoaktiv-Podcast vom 04.07.2023 bis 04.07.2024. Eigene Darstellung

    Hürden bei der digitalen Wissenschaftskommunikation

    Bei Aufklärungsarbeit zu psychoaktiven Substanzen und Sucht auf Instagram, TikTok oder auch YouTube kommt es häufig zu dem Problem, dass diese Plattformen Beiträge zu diesen Themen entweder in ihrer Reichweite drosseln oder entfernen. Ferner, und für die klassische Aufklärungsarbeit nicht ganz so wichtig, können diese Themen auch von Monetarisierungsprogrammen ausgeschlossen werden. Aus diesem Vorgehen der Plattformen ziehen die Creators (die Ersteller:innen der Inhalte) unterschiedliche Konsequenzen. Um die Themen trotzdem ansprechen zu können, werden entweder andere Begriffe verwendet (sehr bekanntes Beispiel ist der Begriff „Brokkoli“ anstatt Cannabis) oder drogenspezifische Stichworte z. B. durch einen Piep-Ton ersetzt. So wird es für Algorithmen schwieriger, die Inhalte zu erkennen, und die Inhalte können sich verbreiten.

    Ein Beispiel aus der Praxis: Auf der TikTok-Seite des Psychoaktiv-Podcasts werden seit acht Wochen Kurzvideos erstellt. In dieser Zeit werden drei Videos von TikTok gesperrt, und der Kanal wird mit Warnungen versehen (ab zwei Warnungen wird das komplette Profil gelöscht). Weitere zwei Videos werden von der Reichweite her erheblich gedrosselt. Auf Widerspruch der Produzentin werden all diese Maßnahmen zurückgenommen, und eine Löschung des Kontos kann verhindert werden. TikTok zeigt sich zumindest sehr transparent dahingehend, welche Konsequenzen bei Verstoß gegen die Community Richtlinien angewendet werden, und bietet eine niedrigschwellige Möglichkeit des Widerspruchs. Trotz des aktiven Vorgehens von Seiten TikToks gegen den Inhalt auf der Psychoaktiv-Seite haben einige Videos eine hohe bis virale Reichweite erreicht.

    An dieser Stelle zeigt sich der große Vorteil von Podcasts, wenn es um die Wissenschaftskommunikation rund um psychoaktive Substanzen geht. Podcasts werden über einen RSS-Link auf unterschiedliche Podcast-Plattformen verteilt. Die Macht einzelner Plattformen ist dadurch deutlich reduziert, da diese bei Podcasts keine Monopolstellung einnehmen. Zwar nutzen die unterschiedlichen Plattformen auch Algorithmen, z. B., um ihre Charts zu generieren, doch es scheint, dass inhaltliche Einschränkungen nur sehr begrenzt angewendet werden. Auf Anfrage von Seiten des Psychoaktiv-Podcasts bei Spotify gibt die Plattform an, keine inhaltsbezogene Reichweitendrosselung vorzunehmen.

    Chancen und Risiken einer digitalen Community

    Wenn ein Podcast, ein Instagram- oder TikTok-Account oder ein YouTube-Kanal wächst, steigt in der Regel auch die Interaktion mit den Nutzer:innen. Dann bietet es sich an, eine Brücke zu einem professionellen Hilfeangebot zu bauen, seien es digitale Kurzinterventionen, Motivationsarbeit, Onlineberatung oder Ähnliches. Auch kann es sein, dass die Community anfängt, sich untereinander zu unterstützen, und somit eine digitale Selbsthilfe rund um das Format entsteht.

    Die Kehrseite der Medaille kann jedoch darin bestehen, dass es zu konsum- und drogenverherrlichendem Verhalten, Werbung für den Kauf illegalisierter Substanzen oder abwertenden Kommentaren gegenüber konsumierenden Menschen kommen kann. Vor allem, wenn ein Beitrag viral geht, kann es in kurzer Zeit zu einer hohen Anzahl an Kommentaren kommen, die kontrolliert und sortiert werden müssen. Für ein erfolgreiches Community-Management gilt es dementsprechend, vorab zu planen, wie mit unterschiedlichen Situationen umgegangen werden kann und welche eigenen Community-Regeln man bei den Kommentaren anwenden möchte.

    Da Podcasts auf zahlreichen Plattformen publiziert werden und Interaktionsmöglichkeiten nur eingeschränkt und auch nicht auf jeder Plattform vorhanden sind, verschiebt sich die Interaktion mit der Zuhörerschaft in der Regel auf andere begleitende Plattformen wie z. B. Instagram. Dies erschwert es, mit dem Endkonsumenten/der Endkonsumentin in Kontakt zu treten, und kann eine Hürde für die Bildung einer interaktiven Community darstellen. Allerdings sind dann auch die Risiken deutlich geringer.

    Fazit

    Digitale Aufklärungsarbeit birgt viele Chancen – sei es die Reduktion von Stigmatisierung, die Werbung für die Suchthilfe oder die Möglichkeit, für unterschiedliche Altersgruppe passende Formate zu entwickeln. Trotz allem braucht vor allem die Aufklärung zu psychoaktiven Substanzen viel Fingerspitzengefühl, um gegen Algorithmen anzukommen, die darauf abzielen, Inhalte, die vermeintlich gegen Community-Richtlinien verstoßen, abzustrafen.

    Kontakt und Angaben zur Autorin:

    Stefanie Bötsch
    M.A. Suchttherapie und Sozialmanagement
    Produzentin des Podcasts „Psychoaktiv“
    Stefanie Bötsch | Der Podcast für Suchtprävention
    info@stefanieboetsch.de

    Quellen:
  • VIKTOR „Gemeinsam. Stark.”

    Autor:innen: Michael Klein, Rebecca Eschweiler, Nicole Kemper, Katharina Lich & Felix Winter-Wilms
    Pabst Science Publishers, Lengerich 2024, 210 Seiten, 20,00 €, ISBN 978-3-95853-852-8. Der Titel steht auch als Open Access-Download zur Verfügung

    Ältere, vereinsamte Männer missbrauchen häufig Alkohol und isolieren sich damit zusätzlich. Für sie wurde die psychoedukative Intervention „Viktor“ entwickelt: In zehn Gruppensitzungen werden Abstinenz bzw. Konsumreduktion und Einsamkeitsbewältigung eingeübt. Die Sitzungen konzentrieren sich auf die Reflexion des eigenen Verhaltens, auf überschaubare Vorsätze und immer wieder auf Anregungen durch Gleichgesinnte. Das Einbringen persönlicher Erfahrungen der Teilnehmer sorgt für ein kohärentes Verständnis der eigenen Situation. Der persönliche Austausch in der Gruppe ist zentral.

    Die jeweils etwa zweistündigen Gruppensitzungen bauen thematisch aufeinander auf:

    • Einstieg und Kennenlernen
    • Einsamkeit
    • Alkohol
    • Ressourcenaktivierung und Selbstmanagement
    • Rückfallprävention und Krisenmanagement
    • Kognitive Umstrukturierung dysfunktionaler Gedanken
    • Partnerschaft und Sexualität
    • Rollenbilder und Selbstakzeptanz
    • Zukunftsvisionen und Visualisierung
    • Auf der Zielgeraden

    „Viktor“ wurde in der Praxis erprobt und weiterentwickelt. Die wissenschaftliche Evaluation zeigte eine hohe Akzeptanz und Wirksamkeit.