Psychiatrie Verlag/utb, Köln 2024, 576 Seiten, 40 €, ISBN 9783825261238
Drogen- und Suchthilfe verstehen und anwenden: Dieses umfassende Grundlagenwerk komplementiert die Trilogie aus Lehr- und Fallbüchern der Klinischen Sozialarbeit und führt in eines der wichtigsten Arbeitsfelder, die Suchthilfe, ein. Wie beim Lehrbuch „Soziale Arbeit in der Psychiatrie“ wurden Lehrende und Praktiker:innen aus verschiedenen Hochschulen und Praxissettings als Mitschreibende gewonnen, die ihre Erfahrung weitergeben wollen. Die Autor:innen nutzen alle die gleiche didaktische Struktur mit Lernzielen, Kästen, Exkursen, Zusammenfassungen und Reflexionsfragen.
Neben einer Beschreibung von Suchtmodellen, Behandlungsmöglichkeiten und Rahmenbedingungen werden unterschiedliche Methoden und Zugänge zu einer Klientel vorgestellt, die neben medizinischer Behandlung vor allem psychosoziale Unterstützung braucht. Studierende und Berufsanfänger:innen lernen spezialisierte Angebote für verschiedene Personengruppen und Lebenssituationen kennen. Ein konkurrenzloses Kompendium der Suchthilfe mit einem exzellenten Einblick in Forschung, Praxis und Weiterbildung.
Public Health gilt in vielen Bereichen der modernen Arbeit im Gesundheitswesen als „der“ Lösungsansatz. Doch woher kommt dieser Gedanke und warum ist er auch für die Suchthilfe entscheidend? Ist dieser Ansatz wirklich neu? Um es vorwegzunehmen: nicht neu, aber interessant. Und er erklärt, warum aktuelle Entwicklungen die Qualität der Suchthilfe und Suchtprävention gefährden könnten. Natürlich kann in einem relativ kurzen Artikel wie diesem kein Anspruch auf Vollständigkeit bestehen. Aber vielleicht macht er ein wenig neugierig und lädt zum Diskutieren ein: über das Thema öffentliches Gesundheitswesen, die Sichtweise der Weltgesundheitsorganisation, bestehende Strukturen und die sich daraus ergebenden Chancen.
Perspektivwechsel
Die Suchthilfe und Suchtprävention in Deutschland ist in vielen Bereichen, vermutlich ohne ihr Wissen, ein schönes Beispiel dafür, wie der Grundgedanke von Public Health in den Praxisalltag des Sozial- und Gesundheitssystems Einzug gehalten hat. Die Suchthilfe mit all ihren Facetten ist ein Tätigkeitsfeld, welches seit Jahren die „öffentliche Gesundheit“ prägt. Viele Faktoren, die Public Health ausmachen, werden hier gelebt. Vereinfacht dargestellt versucht der Public Health-Ansatz, den Erhalt der Gesundheit in den Vordergrund zu rücken, wohingegen die Medizin das Erkennen und die Behandlung einer Krankheit in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt.
Dies ist ein relativ einfacher Perspektivwechsel, der aber einige Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Public Health bezieht sich dabei auf die Definition von Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Diese hat bereits im Jahr 1948 ihre Sichtweise auf das Thema Gesundheit deutlich erweitert. Damals und auch mit Blick auf die verheerende Geschichte musste man anerkennen, dass es neben den medizinischen und biologischen Faktoren deutlich mehr Einflüsse gibt, die zum Erhalt der Gesundheit und zum Entstehen von Erkrankungen beitragen. Umweltbedingungen, die soziale Lebenswelt, der Lebensstil und die Zugänge zu einem funktionierenden Gesundheitssystem gehören beispielsweise primär dazu.
Es blieb nicht bei der Definition der WHO, denn die daraus gefolgerten Zusammenhänge zwischen Lebenswelt und Gesundheit führten im Jahr 1986 zur Ottawa-Charta. Darin wird Gesundheitsförderung als Prozess definiert, der Menschen befähigt, ihre Gesundheit zu verbessern und mehr Kontrolle darüber zu erlangen. In der Charta wird deutlich, dass Gesundheit ganzheitlich zu betrachten ist. Sie entsteht in einem partizipativen Prozess zwischen den Menschen und dem Sozial- und Gesundheitssystem. Politik hat den Auftrag, diesen Raum zu gestalten, wozu viele professionelle und interdisziplinäre Ansätze benötigt werden. Dabei werden individuelle, aber auch soziale und ökologische Faktoren berücksichtigt. Deutschland hat sich den Zielen der Ottawa-Charta angeschlossen (vgl. Kaba-Schönstein, 2018), und das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) versuchte, diese bis Ende 2023 auch umzusetzen (vgl. Deutscher Bundestag, 2021). Die Formulierung von Gesundheitszielen, eine interdisziplinäre Gesundheitsförderung, Aktionspläne der Länder und Kommunen sowie Forschung und die Evaluation von Maßnahmen beruhen auf dieser Charta und ließen Hoffnung aufkommen. Viele Professionen konnten seitdem aus ihrer Perspektive das Thema Gesundheit erforschen, Erkenntnisse gewinnen und das Gesundheitssystem stetig weiterentwickeln.
Ein Baustein von vielen
Die WHO setzte mit ihrem erweiterten Blickwinkel deutlich früher an, als eine einzelne Profession das gekonnt hätte. Sie „beschränkte“ sich dabei nicht mehr auf die Behandlung einzelner Erkrankungen und ihrer Symptome. Nur um Missverständnisse zu vermeiden: Das Erkennen und Behandeln von Erkrankungen ist eine große Wissenschaft und genießt zu Recht höchste Anerkennung. Im gesamten Gesundheitswesen ist die Medizin aber ein Baustein von vielen. Es zeigte sich, dass ein interdisziplinärer Ansatz deutlich effektiver war. Wenn im Fachbereich Public Health von Gesundheit gesprochen wird, geht es um die Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen und Professionen auf Augenhöhe. Die Suchthilfe praktiziert dies in vielen Bereichen schon seit Jahrzehnten. Exemplarisch seien an dieser Stelle die Fachbereiche Soziale Arbeit, Pflege, Pädagogik, Therapie, Medizin, aber auch Pharmakologie erwähnt, die gut ineinandergreifen. Über viele Jahre hinweg wurde unter Beteiligung einer Reihe von Professionen (und vor allem durch die Partizipation der Betroffenen) ein vielseitiges professionelles und ehrenamtliches Hilfesystem aufgebaut und stetig weiterentwickelt. Natürlich ist dies weiterhin deutlich ausbaufähig, und allein der Blick auf die aktuelle Zahl der Drogentoten und die sich stark verändernden Konsumgewohnheiten zeigt, dass sich dieses System in einem dauerhaften Wandel befindet und befinden muss. Ohne dieses interdisziplinäre Hilfesystem würden viele Veränderungen viel zu spät erkannt.
Erhalt von Lebensqualität
Der Perspektivwechsel stellt nicht nur die Gesundheit in den Vordergrund, sondern definiert auch neue Ziele. Eines davon ist der Erhalt und im besten Falle auch die Steigerung der Lebensqualität trotz bzw. mit einer bestehenden Erkrankung. Der Suchthilfe ist dieser „akzeptierende“ Gedanke durchaus bekannt. Trotz einer Diagnose geht das Leben in den meisten Fällen glücklicherweise weiter, aber wie geht man mit dieser Einschränkung um? Ab wann gilt ein Mensch als „krank“, ab wann als „gesund“? Circa 40 Prozent (vgl. Stiftung Gesundheitswissen, 2022) aller Deutschen leben mit einer chronischen Erkrankung, die wenigsten von ihnen werden sich im Alltag als dauerhaft „krank“ bezeichnen. Vor allem Leser:innen mit „mehr Lebenserfahrung“ werden dies gut nachvollziehen können. Das subjektive Empfinden bei vielen Erkrankungen ist, dass diese zwar als störend und unangenehm wahrgenommen werden, viele Menschen es aber schaffen, dies im Alltag zu kompensieren. Vor allem die Stärkung der positiven Faktoren reduziert die Wahrnehmung der Beeinträchtigung deutlich. Dies ist selbstverständlich immer abhängig von der Art und Schwere der Erkrankung. Aber auch bei schwerstkranken Menschen trägt jede einzelne Minute, in der die Erkrankung ihre Dominanz verliert, positiv zur subjektiven Lebensqualität bei. Deutlich sollte werden: Es gibt einen gestaltbaren Raum zwischen „krank“ oder „gesund“. Wie ein Mensch seine gesundheitliche Situation erlebt, ist sehr individuell und temporär bedingt.
Da die Lebensqualität subjektiv wahrgenommen wird, liegt es an den betroffenen Menschen selbst, diese auch zu definieren. Selbst wenn eine Person sehr schwer erkrankt ist, bestimmt sie das Ziel, die Geschwindigkeit und die damit verbundenen Hilfen. Der Ansatz von Public Health besteht darin, die vielen Einflussfaktoren zu identifizieren und mit den Betroffenen selbst Strategien zu entwickeln, das Positive zu stärken und die negativen Auswirkungen zu reduzieren. In der Suchthilfe wird dies seit Jahren unter dem Begriff Akzeptanzorientierung und Harm Reduction praktiziert, gleichzeitig bleibt die Möglichkeit einer medizinischen Behandlung bestehen. Das entlastet die betroffenen Menschen und eröffnet neue Möglichkeiten. Denn gleichzeitig können nun auch die Beratungs- und therapeutischen Angebote der Suchthilfe versuchen, mit den Betroffenen gemeinsam die Konsumanlässe zu reduzieren. Drohender Wohnungsverlust, Schulden, bestehende Strafverfahren, Konflikte in der Familie – es gibt viele Auslöser für einen unkontrollierten Konsum. Vom Erkennen eines Problems bis zur Lösung und deren Aufrechterhaltung (vgl. Transtheoretisches Modell der Veränderung, TTM) ist es ein weiter Weg. Hier zeigt sich, wie wichtig dieser interdisziplinäre Gedanke ist.
Prävention und Salutogenese
Betrachtet man Public Health allgemein in Bezug auf die Gesellschaft, so steht natürlich die Vermeidung von Erkrankungen, die Förderung und letztendlich der Erhalt der Gesundheit im Fokus. Das gilt besonders für Suchterkrankungen. Sie haben eine enorm hohe Morbiditäts- und Mortalitätsrate. Alkohol, Nikotin und andere psychoaktive Substanzen lösen nachweislich schwere Erkrankungen aus. Dazu gehören beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Infektionskrankheiten, Krebs, psychische Störungen u.v.a. Die Liste ist lang, die Fallzahlen sind hoch, und für die Suchthilfe ist es keine neue Erkenntnis.
Für die Prävention stellt sich die Frage, wie die vielen Formen potenzieller Schädigungen vermieden werden können. Ein einfacher Hinweis auf den Verzicht ist in einer Konsumgesellschaft bei Weitem nicht ausreichend. Dem Konzept der Salutogenese (vgl. Faltermaier, 2023) entsprechend richtet der Public Health-Ansatz auch hier den Fokus auf den Erhalt der Gesundheit und nicht auf eine der vielen potenziell möglichen schweren Erkrankung, die in einen Zeitraum von vielen Jahren auftreten können. Aus der Perspektive vieler Kinder und Jugendlicher ist eine Gefahr in ferner Zukunft kaum greifbar. Neue Präventionsansätze gehen deshalb gezielt auf Zielgruppen zu und versuchen, mit ihnen gemeinsam Bewältigungsstrategien zu entwickeln, um beispielweise mit Stressoren besser umgehen zu können. Anstatt sich auf zukünftige Risiken zu konzentrieren, werden Ressourcen und Stärken von Individuen und Gemeinschaften in den Mittelpunkt gestellt. Das Ziel ist u. a., das Kohärenzgefühl und die Selbstwirksamkeit junger Menschen zu stärken, damit eine Suchterkrankung und die sich daraus ergebenden sozialen und gesundheitlichen Folgeschäden nach Möglichkeit vermieden werden. Moderne Präventionsprojekte wie beispielweise MOVE, FreD und HaLT basieren fast alle auf diesem Ansatz.
Unterschiedliche Präventionsansätze für unterschiedliche Zielgruppen
Neben der Verschiebung der Perspektive wurden auch die Zielgruppen präziser gefasst. Klaus Hurrelmann unterteilte schon vor vielen Jahren in Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention. Heute wird bevorzugt von universeller, selektiver und indizierter Prävention gesprochen. Wie werden Zielgruppen angesprochen, in welchem Alter, mit welchen Hintergrund, wann und wo? Wir wissen, dass schlecht gemachte Informationskampagnen auch Schaden anrichten können. Vor allem bei der Primärprävention besteht ein schmaler Grat zwischen Informationskampagne und Neugierig-Machen. Nicht ohne Grund gibt es mittlerweile Suchtpräventionsfachkräfte, die mit pädagogischen Interventionen und Sozialer Arbeit Zielgruppen und Risikofaktoren identifizieren und geeignete Maßnahmen bereitstellen. Dabei ist bei vielen erfolgreichen Projekten ein Methodenmix z. B. aus den Bereichen der Pädagogik, Sozialen Arbeit und der Psychologie entstanden.
Nicht nur die Verhaltensprävention wurde in den letzten Jahrzehnten deutlich präzisiert, auch wurde der Bereich der Verhältnisprävention gestärkt. Die soziale Umwelt hat einen massiven Effekt auf die Entstehung einer Suchterkrankung. Die Steuererhöhung bei den Alkopops und der erschwerte Zugang zu Nikotin zeigten deutliche Effekte, auch bei Kindern und Jugendlichen. Die Möglichkeiten, hier mit wenigen Veränderungen viel zu bewegen, sind enorm. Dabei geht es nicht um Prohibition, was gerne unterstellt wird, sondern um den gezielten Schutz von vulnerablen Gruppen. Die sinkenden Fallzahlen bei Alkohol- und Nikotinkonsum bei Kindern und Jugendlichen machen Hoffnung (vgl. Alkoholsurvey der BZgA 2022 und Drogenaffinitätsstudie der BZgA 2023). Gleiche Effekte über gezielte Verhaltensprävention zu erreichen, wäre mit den bestehenden Ressourcen praktisch unmöglich.
Aktuelle Entwicklungen führen in die Vergangenheit
Umso spannender wurde es Ende 2023, als aus dem BMG ein erster Arbeitsentwurf zur Errichtung eines Bundesinstituts mit Schwerpunkt Prävention auftauchte. Durch den Koalitionsvertrag war bekannt, dass Veränderungen kommen würden. Hier wurde das neue Institut als „Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit“ bezeichnet, mit direktem Bezug zu Aktivitäten im Public Health-Bereich (vgl. „Mehr Fortschritt wagen“, Koalitionsvertrag 2021–2025, S. 65). Dieser Prozess war im Vorfeld relativ still verlaufen, und grundsätzlich gab es gegen mehr Prävention und Public Health in Deutschland keine Einwände. Die durch das BMG schließlich erfolgte Namensgebung „Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin“ (BIPAM) überraschte jedoch und ließ Zweifel aufkommen, denn der Schwerpunkt wurde nun auf eine einzige Profession gelegt. Der Widerspruch zum oben beschriebenen Gesundheitsbegriff und Präventionsansatz liegt schon im Titel. Dennoch sparte man bei der öffentlichen Ankündigung nicht mit Schlagwörtern wie „Public Health“, „interdisziplinär“ und „Primärprävention“. Dem Beauftragten für die Errichtung des „Bundesinstituts für Prävention und Aufklärung in der Medizin“ wurde zudem die Leitung der BZgA übertragen (vgl. Interview mit Dr. Johannes Nießen auf KONTUREN online). Es ist anzunehmen, dass dies deutliche Auswirkungen auf die bisherige mehrdimensionale Sichtweise von Gesundheit haben wird.
Die Fachöffentlichkeit reagierte darauf mit einem offenen Brief an Bundesgesundheitsminister Lauterbach, den fachübergreifend über 150 Organisationen und Professionen aus Praxis, Wissenschaft und Forschung unterzeichneten. Darin begrüßen sie die Gründung eines zentralen Instituts für öffentliche Gesundheit ausdrücklich, fordern aber eine andere Strategie, „eine ganzheitliche, krankheitsübergreifende, an einem dynamischen Verständnis von Gesundheit und Wohlbefinden ausgerichtete Strategie, die […] eine Institution befähigt, in dynamischen, komplexen Systemen zu denken und zu handeln und die sich daher nicht auf medizinische Sachverhalte beschränkten darf.“ (Götz & Rosenbrock, 2023, S. 3) Die bisherige Reaktion des BMG ist überschaubar.
Eigentlich könnte man mit guten Gewissen auf die Suchthilfe als Vorbild verweisen. Das bio-psycho-soziale Modell wird in der Praxis seit vielen Jahren professionsübergreifend gelebt. Als problematisch stellt sich aber die Vielzahl der Kostenträger im deutschen Gesundheitssystem und der Suchthilfe mit ihren unterschiedlichen Zuständigkeiten und Qualitätskriterien heraus. Dazu gehört auch die zunehmende Fokussierung auf evidenzbasierte Medizin (EbM). Während EbM in der medizinischen Behandlung und Forschung als Gold-Standard gehandelt wird, greift sie bei der Bewertung von Maßnahmen im Bereich der sozialen Gesundheit zu kurz, da pädagogische und therapeutische Interventionen nur sehr aufwendig quantitativ zu messen sind. Statistisch ist dies zwar möglich, aber um wirklich (hoch) signifikante Aussagen treffen zu können, ist der Forschungsaufwand um ein Vielfaches höher. Das beinhaltet die Gefahr, dass Projekte oder neue Arbeitsansätze allein aufgrund des deutlich höheren Aufwandes bei der Evaluation bei der notwendigen Förderung oder anschließenden Refinanzierung weniger Beachtung finden. In Erinnerung sollte aber auch gebracht werden, dass die sehr gute Methode der evidenzbasierten Medizin in der Form vermutlich nie für diesen breiten professionsübergreifenden Einsatz vorgesehen war.
Die Suchthilfe hat aber mit dem Deutschen Kerndatensatz (KDS) ein interessantes Evaluationstool als Ass im Ärmel. Dieser wird aktuell angepasst und könnte vor allem aus dem Blickwinkel von Public Health viele Potenziale beinhalten. Optimierungsbedarf besteht aktuell noch in der Unterscheidung der einzelnen Arbeitsgebiete. So wird im KDS primär von Behandlung und Betreuung gesprochen, obwohl die ambulante Suchthilfe mit großem Abstand die meisten Fallzahlen in der Beratung (vgl. Schwarzkopf et al., 2023, Abbildung 1., S. 9) vorweist (ca. 68 Prozent; vgl. Martens & Neumann-Runde, 2023, Abbildung 2, S. 18). Diagnosen, die in der stationären Suchthilfe und Therapie eine zentrale Rolle spielen, sind in der ambulanten Beratung weniger relevant (ca. 5 Prozent aller Mitarbeitenden der ambulanten Suchthilfe verfügen über eine entsprechende Qualifikation; vgl. Martens & Neumann-Runde, 2023, Abbildung 2, S. 18) und in der Suchtprävention kaum von Bedeutung. Zurzeit wird noch wenig deutlich, dass je nach Setting der Kontakt zu den Klient:innen zwischen Tagen und Jahren beträgt. Auch ist der KDS bisher wenig dynamisch in der Erfassung von Beratungs- und Behandlungsverläufen. Die zunehmende Digitalisierung der Suchthilfe und auch die Möglichkeiten der Verarbeitung beinhaltet große Potenziale. Mit dem KDS steht ein flächendeckendes gutes Instrument zur Verfügung, welches nur an die aktuellen Gegebenheiten angepasst werden muss.
Im Sinne von Public Health und der Ottawa-Charta sollte zukünftig aber ein sehr großes Interesse darin bestehen, die geleistete Arbeit professionsübergreifend zu begleiten und zu bewerten. Immerhin geht es hier um die Entwicklung von passenden kurz-, mittel- und langfristigen bio-psycho-sozialen Angeboten für die betroffenen Menschen. Die Datengrundlage dient an entscheidenden Stellen als Argument in Verhandlungen zu Förderung und Forschung, und natürlich werden hier Impulse für die Verwaltung und Politik gesetzt (siehe Ottawa-Charta). Ganz direkt geht es auch um Definitionshoheiten und um die Verteilung von knappen Ressourcen (vgl. Notruf Suchtberatung, 2019).
Doch bei aller – konstruktiv gemeinter – Kritik: Es sind Feinheiten, die es zukünftig zu optimieren gilt. Die Suchthilfe ist mit der Deutschen Suchthilfestatistik und vielen evaluierten Projekten in der Lage, schon jetzt die Betroffenen und die Wirksamkeit der Hilfen wissenschaftlich evaluiert sichtbar zu machen (vgl. Deutsche Suchthilfestatistik (DSHS)). Damit sind die Suchthilfe und Suchtprävention vielen anderen Bereichen im Sozial- und Gesundheitswesen weit voraus.
Fazit
Abschließend: Der Public Health-Ansatz hatte sich in den letzten Jahrzenten bewusst oder unbewusst als gute, konstruktive Perspektive im Gesundheitssystem, der Suchthilfe und Suchtprävention herausgestellt. Die interdisziplinäre Sichtweise und der Perspektivwechsel eröffneten im Praxisalltag neue Ideen, die unterschiedlichen Positionen und Professionen ergänzen sich gegenseitig. Dass das in der Suchthilfe und Suchtprävention nicht immer nur ein „harmonieorientierter“ Diskurs war und ist, weiß jeder/jede, der/die schon länger in dem Bereich tätig ist. Veränderung ist auch hier ein Prozess. Dennoch, es zählt das Ergebnis: Die Lebensqualität von vielen betroffenen Menschen hat sich verbessert, die Suchtprävention hat sich deutlich weiterentwickelt und erreicht in höherem Maße und präziser ihre Zielgruppen. Das gute Netzwerk der ehrenamtlichen und professionellen Suchthilfe ist in der Lage, schnell auf Veränderungen in der Suchtmittelszene zu reagieren. Das BMG kann man nur ermutigen, nicht nur über Public Health zu reden, sondern es vor dem Hintergrund der vielen nationalen und internationalen positiven Erfahrungen der letzten Jahrzehnte im Sinne der WHO konsequenter umzusetzen.
Die hier vertretenen Auffassungen geben die Meinung des Verfassers wieder und entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion.
Kontakt:
Mathias Speich
Der Paritätische NRW
Marienstraße 12
33332 Gütersloh
Speich(at)paritaet-nrw.org
Angaben zum Autor:
Mathias Speich: Master of Public Health, Dipl.-Sozial- und Umweltpädagoge. Seit über 20 Jahren aktiv in der Suchthilfe und Suchtprävention. Fachreferent der Suchthilfe und der Hilfen nach § 67 SGB XII des Paritätischen NRW. Mitglied im Arbeitsausschuss Drogen und Sucht NRW, im Beirat der Suchtkooperation NRW, im Fachausschuss Gefährdetenhilfe und aktiv in vielen weiteren kleinen und großen engagierten Gremien der Suchthilfe, landes- und bundesweit.
Faltermaier, T. (2023): Salutogenese. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden. https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i104-3.0
Götz, Dr. Thomas & Rosenbrock, Prof. Dr. Rolf (2023): Offener Brief zur angekündigten Errichtung eines Bundesinstituts für Aufklärung und Prävention in der Medizin im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit an den Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach, Berlin, den 22.11.2023. https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Seiten/Presse/docs/Offener_Brief_BIPAM.pdf
Kaba-Schönstein, L. (2018): Gesundheitsförderung 3: Entwicklung nach Ottawa. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden. https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i035-1.0
Das Bundeskabinett hat am 17. Juli 2024 den Entwurf des Gesetzes zur Stärkung der Öffentlichen Gesundheit beschlossen. Damit werden die Rahmenbedingungen für die Errichtung eines Bundesinstituts für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM) geschaffen. Das neue Bundesinstitut wird als selbstständige Bundesoberbehörde zum 1. Januar 2025 seine Arbeit aufnehmen und die Aufgaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und in Teilen des Robert Koch-Instituts (RKI) übernehmen.
„Deutschland muss bei Vorsorge und Früherkennung von Krebs- oder Herzkrankheiten endlich von den hinteren Plätzen in Europa an die Spitze kommen. Vorbeugung durch Aufklärung und Früherkennung müssen stärker werden! Mit dem BIPAM fördern wir den Austausch von Wissenschaft, Politik und Praxis und stärken endlich die Prävention in der Bevölkerung. Das wird helfen, chronische Krankheiten und deren kostenintensive Behandlungen zu vermeiden.“
Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach
Das BIPAM hat seinen Hauptsitz in Köln sowie eine Außenstelle in Berlin. Die 334 Beschäftigten der BZgA werden in das BIPAM überführt. Aus dem RKI werden 180 Beschäftigte zukünftig in dem neuen Institut arbeiten.
Das BIPAM übernimmt folgende Aufgaben
Das BIPAM erhebt, analysiert und wertet Daten zum Gesundheitszustand der Bevölkerung, zu den gesundheitlichen Auswirkungen durch Klima und Umwelt sowie zu gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen – auch im Hinblick auf die Auslastung und Entwicklung der Kosten des Gesundheitssystems in Deutschland – aus. Die Erkenntnisse sollen als Grundlage für politische und strategische Entscheidungen sowie zielgruppenspezifische Präventionsmaßnahmen dienen. Das BIPAM arbeitet eng mit dem Forschungsdatenzentrum (FDZ) im RKI zusammen, um die Datenqualität im Gesundheitssystem weiter zu verbessern.
Das BIPAM unterstützt die Gesundheitsämter in Deutschland, koordiniert und bündelt im Rahmen der Bundeszuständigkeit die Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Gesundheit, anderen Bundesbehörden, Ländern, Kommunen und nichtstaatlichen Organisationen.
Das BIPAM informiert die Bevölkerung umfassend und verständlich über Gesundheitsrisiken, Präventionsmöglichkeiten und Maßnahmen im gesundheitlichen Krisenfall. Es bietet allen Bürgerinnen und Bürgern einen einfachen und schnellen Zugang zu gut verständlichen Gesundheitsinformationen.
Das BIPAM entwickelt weitere Maßnahmen zur Verhaltens- und Verhältnisprävention, einschließlich der Vorsorge und Früherkennung von Krankheiten, und unterstützt deren Umsetzung. Die Verminderung von Risikofaktoren wie Rauchen, Alkoholkonsum, Übergewicht und Bewegungsarmut ist eine wichtige Aufgabe. Hierdurch werden gefährliche Erkrankungen wie Krebs, kardiovaskuläre und psychische Erkrankungen adressiert. Darüber hinaus fokussiert das BIPAM auf Themen wie gesundheitliche Chancengleichheit und mentale Gesundheit.
Seit 20 Jahren ist NACOA Deutschland als Interessenvertretung für Kinder aus suchtbelasteten Familien aktiv. Was wurde in dieser Zeit erreicht? Was könnten die nächsten Ziele sein? Um diese und andere Fragen ging es auf der Jubiläumsveranstaltung am 20. September, zu der NACOA Deutschland nach Berlin eingeladen hatte.
Wie alles anfing, das weiß Reinhard Mayer noch ziemlich genau. Im Dezember 2003 war der Psychotherapeut nach Berlin zu einer Tagung ins Bundesgesundheitsministerium zum Thema „Familiengeheimnisse“ gereist. Zum Schluss des Treffens trat dort der noch junge Journalist Henning Mielke ans Rednerpult, stellte sich als betroffenes erwachsenes Kind aus einer Suchtfamilie vor und erzählte von NACOA USA und seinem Ziel, NACOA Deutschland zu gründen. Mayer, heute Mitglied im Vorstand von NACOA Deutschland, fühlte sich angesprochen. „Endlich sah es so aus, dass es möglich sein könnte, dass eine bundesweite Interessenvertretung entsteht, die im Sinne einer Lobby für die betroffenen Kinder und Jugendlichen Sprachrohr in Politik oder Gesellschaft sein könnte“, berichtete er in seinem Rückblick bei der Jubiläumsveranstaltung zum 20-jährigen Bestehen von NACOA Deutschland.
Etwa drei Millionen Kinder und Jugendliche wachsen derzeit in Deutschland mit mindestens einem suchtkranken Elternteil auf, jedes fünfte bis sechste Kind ist betroffen. Hinzu kommen sechs Millionen Erwachsene, die in suchtbelasteten Familien aufgewachsen sind und häufig noch immer darunter leiden. Denn sie alle tragen ein deutlich erhöhtes Risiko, eine psychische Krankheit zu entwickeln. „Kinder aus Suchtfamilien sind die größte zusammenhängende Risikogruppe in unserem Land, auf die der biografische Faktor multipler Belastungen und Traumata zutrifft“, sagte der auf die Behandlung von Angehörigen Suchtkranker spezialisierte Psychotherapeut Jens Flassbeck in seinem Vortrag. Nur etwa 40 Prozent gelten als „resiliente“ Kinder, die anderen entwickelten selbst Suchtprobleme oder eine andere psychische Störung.
„Im Prinzip stehen uns in Deutschland für suchtkranke und psychisch kranke Menschen zwei gut ausgebaute Hilfesysteme – Suchthilfe und Psychotherapie – zur Verfügung“, erklärte Flassbeck. „Doch im Hinblick auf die psychisch gefährdeten und kranken Angehörigen sind die Systeme nach meiner Erfahrung unzureichend aufgestellt und kooperieren ungenügend.“ Daher seien unabhängige Vertretungen nötig, die „solidarisch und parteiisch mit den Angehörigen, ihrer Not und ihrem Hilfebedarf sind“, sagte Flassbeck und sieht hier ein wichtiges Aufgabenfeld unter anderem für NACOA Deutschland auch für die Zukunft.
Erreichte Meilensteine
Auf die bereits erreichten Meilensteine seit der Gründung von NACOA Deutschland im März 2004 verwies hingegen Reinhard Mayer. Der Verein erstellte Informationsmaterialien für pädagogische und medizinische Fachkräfte und lud zu Strategiekonferenzen ein, die auf hohes Interesse in der Fachwelt stießen. Die Schauspielerin Katrin Sass konnte als erste Schirmherrin gewonnen werden, mittlerweile hat diese Aufgabe der Sänger Max Mutzke, der mit einer alkoholkranken Mutter aufwuchs, übernommen. Die Jugendseite „Trau Dir“ wurde entwickelt, die ersten COA-Aktionswochen fanden statt und bringen bis heute jährlich im Februar in der Woche rund um den Valentinstag bundesweit die „vergessenen Kinder“ in die Medien und die Öffentlichkeit. Eine Online-Beratung entstand, die mittlerweile in Kooperation mit KidKit in Köln unter „Hilfen im Netz“ umfassende Beratungen für Betroffene und Fachkräfte anbietet. Der „Fluffi-Klub“ für Präventionsarbeit in Kitas nahm seine Arbeit auf. Er war bereits in zahlreichen Berliner Kitas aktiv und ist weiter gefragt. Zudem wurde die Kommunikationsplattform COA.KOM geschaffen. Sie vernetzt Fachkräfte, die sich um Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten Familien kümmern. Und auch die Arbeit mit und für erwachsene Kinder aus suchtbelasteten Familien ist zu einem eigenen Arbeitsbereich geworden und schafft Austauschmöglichkeiten für Betroffene und Fachkräfte.
Die politische Lobby-Arbeit gemeinsam mit anderen Interessensgruppen brachte ebenfalls Erfolge. Im März 2018 wurde die Arbeitsgruppe „Kinder psychisch und suchtkranker Eltern“ des Deutschen Bundestags ins Leben gerufen – unter Beteiligung von NACOA Deutschland. Sie erarbeitete 16 Empfehlungen, die in den nachfolgenden Jahren sukzessive umgesetzt wurden oder noch umzusetzen sind. Der aktuell sichtbarste Erfolg der politischen Arbeit: In einem gemeinsamen Antrag der Regierungskoalition und der CDU/CSU-Fraktion wurde im Juli 2024 ein Entschließungsantrag „Prävention stärken – Kinder mit psychisch oder suchtkranken Eltern unterstützen“ in den Bundestag eingebracht, in dem konkrete Schritte für eine bessere Versorgung von Kindern psychisch und suchtkranker Eltern formuliert werden. Er wird derzeit in den Fachausschüssen diskutiert.
„Aber hinter diesen bewältigten Aufgaben verbergen sich viel Arbeit, Schweiß und auch Tränen“, erinnerte Reinhard Mayer die Teilnehmenden der Tagung. „Lange wurde und wird bis heute die tägliche Arbeit durch viel ehrenamtliches Engagement getragen.“ Zwar gelinge es immer wieder, engagierte, junge Mitarbeitende für die jeweiligen Arbeitsbereiche zu begeistern und anzustellen. Aber leider könne man immer noch nicht eine gesicherte Perspektive über bewilligte Förderzeiträume hinaus anbieten. „Vieles gleicht dem Erleben in Suchtfamilien“, meint Mayer. „Glaubt man, es geschafft zu haben, dass etwas Ruhe einkehrt, kommt schon die nächste Krise. Auch diese Tatsache gehört zur Geschichte von NACOA. Es wird nie langweilig.“
Vielfältig war auch das Programm der Gala am Abend. Unterschiedliche Talkrunden beleuchteten verschiedene Facetten des Themas „Aufwachsen in suchtbelasteten Familien“, betroffene erwachsene Kinder berichteten berührend über ihre Erfahrungen, darunter auch die Poetry-Slammerin Michelle Boschet, die mit ihrem Gedicht über das „Monsterbier“ das Publikum begeisterte. Auch die Sängerin „Miss Pirate“ beschrieb in ihren bewegenden Liedern die Abgründe, die das Aufwachsen mit suchtkranken Eltern hervorbringt und die viel zu oft mit einem „Fake Smile“ überdeckt werden. Denn: Noch immer ist Sucht eine tabuisierte Krankheit und in den Familien herrscht ein Schweigegebot. Dies immer wieder zu brechen, darüber zu reden und so den vergessenen Kindern eine Stimme zu geben, diesem Ziel hat sich auch der NACOA-Schirmherr Max Mutzke verschrieben. Er krönte den Abend gemeinsam mit dem Pianisten Nick Flade mit einem halbstündigen Konzert, in dem er nicht nur seinen neuen Song „Whisky Baby“ über das Abrutschen in eine Alkoholabhängigkeit vortrug, sondern auch das ältere Stück „Hier bin ich Sohn“, in dem er die Gefühle gegenüber seiner mittlerweile verstorbenen suchtkranken Mutter besingt – zwei Perspektiven auf die Krankheit Sucht, die das Leben des erkrankten Menschen ebenso prägt wie das seiner Angehörigen.
Text: Stephan Kosch Stephan Kosch ist Journalist und für die Öffentlichkeitsarbeit von NACOA Deutschland zuständig.
Vor dem Hintergrund einer wachsenden Komplexität der Fälle und einer höheren Nachfrage bei gleichzeitigem Personal- und Fachkräftemangel stehen Suchtberatungsstellen vielerorts unter erheblichem Druck: Sprech- und Öffnungszeiten müssen gekürzt werden. Schließungen von Suchtberatungsstellen sind bereits erfolgt, weitere Schließungen stehen bevor. Dreiviertel der öffentlich finanzierten Suchtberatungsstellen in Deutschland können ihre Kosten in diesem Jahr nicht decken. Von einem Defizit in der Finanzierung ihrer Angebote von bis zu 20 Prozent berichten über die Hälfte der Befragten. Ein Drittel der befragten Einrichtungen liegt sogar darüber. Das sind die alarmierenden Ergebnisse eines am 26. September veröffentlichten Berichts der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) zur Finanzierung der Suchtberatungsstellen.
Suchtberatungsstellen leisten für die Gesellschaft eine unverzichtbare Hilfe: Sie retten Leben, begleiten und stabilisieren abhängigkeitskranke Menschen in Krisen und unterstützen hilfesuchende Angehörige. Für Betroffene führt der Weg in die Therapie meist über eine Suchtberatung. Der Nutzen ist auch für die öffentlichen Kassen relevant: Laut einer Studie in Bayern spart die ambulante Suchtberatung für jeden eingesetzten Euro rund 17 Euro an Folgekosten ein. Angesichts der hohen volkswirtschaftlichen Kosten des Alkoholkonsums von rund 57 Milliarden Euro und des Tabakkonsums von rund 97 Milliarden Euro ist jeder Euro in die Suchtberatung also gut investiert. Aber:
„Die Politik muss handeln, damit die Suchtberatungsstellen in Deutschland weiterhin ihre wichtige Arbeit für die Gesellschaft und für Betroffene leisten können. Kern des Problems ist: Die kommunal finanzierte Suchtberatung ist keine verbindliche und gesetzlich gesicherte Leistung. Somit ist ihre Ausstattung auch von der Finanzlage der jeweiligen Kommune oder des Bundeslandes abhängig. Das ist besonders dramatisch, weil Suchtberatungsstellen häufig die erste Adresse für Hilfesuchende in akuten Krisen sind. Sie spielen die zentrale Rolle im hoch spezialisierten und vielgliedrigen Versorgungssystem für Menschen mit Suchtproblemen.
Um den bedingungslosen Zugang, individuell ausgerichtete Angebote und die Kontinuität von Suchtberatung bundesweit sicherzustellen, hat die DHS Vorschläge für gesetzliche Neuregelungen erarbeitet. Als Dachorganisation der Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe in Deutschland fordert die DHS Bund, Länder und Kommunen zum Handeln auf. Die politischen Ebenen müssen sich abstimmen, um ein Wegbrechen der Suchtberatung zu verhindern“, sagt Christina Rummel, DHS Geschäftsführerin und Autorin des Berichts.
Für den DHS-Bericht zur Finanzierung der Suchtberatungsstellen in Deutschland wurden im Frühjahr 2024 rund 1.300 Einrichtungen, die das Angebot der ambulanten Beratung / Sucht- und Drogenberatung vorhalten und im DHS Suchthilfeverzeichnis aufgeführt sind, befragt. Dabei wurden ausschließlich Aussagen zur kommunal orientierten Suchthilfe erhoben.
Mit dem bundesweiten Aktionstag Suchtberatung am 14. November 2024 machen Suchtberatungsstellen in ganz Deutschland auf ihre vielfältigen Angebote sowie auf aktuelle Problemlagen vor Ort aufmerksam. Die Website aktionstag-suchtberatung.de informiert umfassend zu den Leistungen und zum gesellschaftlichen Stellenwert der Suchtberatung.
Download des kompletten DHS-Berichts zur Finanzierung der Suchtberatungsstellen in Deutschland auf der Website der DHS.
Pressestelle der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), 26.9.2024
Aus dem Amerikanischen von Astrid Gravert
Hirzel Verlag, Stuttgart 2021, 264 Seiten, 28,00 €, ISBN 978-3-7776-2852-3
Mit dem heutigen Wissen lassen sich beinahe unbegrenzt psychoaktive Substanzen entwickeln, darunter auch das Schmerzmittel Fentanyl. Es ist etwa 100-mal stärker als Morphin und führt jedes Jahr zu Tausenden Drogentodesfällen, vor allem in den USA, aber zunehmend auch in Europa. Ben Westhoff hat vier Jahre zum globalen Netzwerk der Produzenten und Profiteure der neuen Drogen recherchiert und erzählt darüber in einem packenden Bericht – ebenso wie über die meist erfolglosen Versuche, sich den Kartellen entgegenzustemmen. Westhoff ist überzeugt: Strafen und Repression helfen nicht, wichtig sind vielmehr Aufklärung, Unterstützung und Angebote, um Schäden an Leib und Leben zu minimieren.
In unserem Gehirn werden Signale nicht immer auf dieselbe Weise verarbeitet: Bestimmte Rezeptoren modulieren diese Verarbeitungsprozesse. Sie beeinflussen so unsere Stimmung, Wahrnehmung und unser Verhalten auf vielfältige Weise. Zu dieser Gruppe gehört auch der 5-HT2A-Rezeptor, der eine Besonderheit hat: Er dämpft eintreffende visuelle Informationen, sodass unser Gehirn mehr Raum für interne Prozesse und Interpretationen hat. Diese Erkenntnis eines Forschungsteams der Ruhr-Universität Bochum könnte auch die Wirkung von Drogen wie LSD erklären: Wird der Rezeptor dadurch überaktiviert, werden externe Sinneseindrücke unterdrückt und vermehrt eigene Bilder erzeugt.
„Ein wenig so, als würde unser Gehirn mit sich selbst reden“, erklärt Prof. Dr. Dirk Jancke. Die Ergebnisse, die in der Zeitschrift „Nature Communications“ vom 14. September 2024 veröffentlicht sind, liefern neue Einsichten für unser Verständnis von Wahrnehmung und psychischen Erkrankungen.
Im Dschungel der Serotonin-Rezeptoren
Rezeptoren vermitteln die Übertragung von Information zwischen Nervenzellen. So bewirkt die Ausschüttung des Botenstoffs Serotonin über zahlreiche Rezeptortypen eine Veränderung von Nervenzellaktivitäten im gesamten Gehirn. Mindestens 14 Rezeptortypen können unterschieden werden. „Die Sache ist besonders knifflig, weil die Rezeptoren selbst sowohl hemmend als auch aktivierend sein können“, so Dirk Jancke. „Zusätzlich werden sie auch noch in verschiedenen Zelltypen ausgeschüttet, die wiederum wechselseitig hemmenden oder erregenden Einfluss auf das gesamte Netzwerk haben.“
Die Untersuchung der Wirkung von Rezeptoren im Gehirn ist daher keine einfache Aufgabe. Herkömmliche pharmakologische Methoden zur Aufklärung neuronaler Netzwerkfunktion von Rezeptoren sind begrenzt. Sie sind meist nicht spezifisch genug und vor allem schlecht zu timen. Die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Stefan Herlitze hat daher alternative Untersuchungsmethoden entwickelt. Dabei werden Lichtrezeptor-Proteine mithilfe von Viren in Nervenzellen eingebracht. Die Lichtrezeptor-Proteine sind gentechnisch so modifiziert, dass sie Funktionen eines ausgewählten Rezeptortyps imitieren können. Der ausgewählte Rezeptortyp wird damit wie über einen Lichtschalter an- und abschaltbar, präzise innerhalb weniger Millisekunden. Mäusen werden dazu hauchdünne Lichtleiter implantiert, die – über LEDs gesteuert – Licht der gewünschten Wellenlänge an die entsprechende Stelle im Gehirn bringen und dort den Rezeptor aktivieren.
5-HT2A Rezeptoren regulieren die Empfindsamkeit für sensorische Eingänge
Die Forschenden fanden auf diese Weise heraus, dass der 5-HT2A Rezeptor selektiv die Stärke eintreffender Sehinformation unterdrückt. „Erstaunlicherweise geschieht dies, ohne andere, parallel ablaufende Prozesse zu hemmen“, berichtet Dr. Ruxandra Barzan, Erstautorin der Studie. Das Gehirn reduziert somit die Bedeutung aktueller sensorischer Eingänge zugunsten interner Kommunikation und Interpretationsprozesse. „Das heißt, wir haben einen Mechanismus entdeckt, der reguliert, wie wichtig eingehende Informationen genommen werden“, sagt Ruxandra Barzan.
Halluzinationen, die durch Drogen wie LSD ausgelöst werden, könne man daher als eine Art Selbstgespräch interpretieren, so Dirk Jancke. „Durch die Überaktivierung unterdrückt der 5-HT2A-Rezeptor von außen kommende Sinneseindrücke, und das Gehirn ersetzt sie durch eigene Produktionen.“ Im gesunden Gehirn aktiviert Serotonin verschiedene Rezeptortypen gleichzeitig, was gewährleistet, dass Informationsflüsse in ihrer Gewichtung ausbalanciert sind. Bei psychischen Erkrankungen kann diese Balance gestört sein.
Die Erkenntnisse aus der Studie könnten dazu beitragen, neue Therapien zu entwickeln, bei denen gezielt ausgewählte Rezeptoren aktiviert werden, um das Gleichgewicht wiederherzustellen, hoffen die Forschenden. Psychedelische Drogen, die beispielsweise selektiv den 5-HT2A Rezeptor ansprechen, könnten unter fachärztlicher Aufsicht in geringer Dosierung und in definierten Lernkontexten zu Therapiezwecken genutzt werden, um Disbalancen in der Rezeptoraktivierung langfristig wieder auszugleichen.
Künstliche Intelligenz trifft auf Neurobiologie
Um die komplexen Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Zelltypen und den Rezeptoren im Gehirn besser zu verstehen, setzten die Forschenden Computermodelle ein, die wesentliche Merkmale neuronaler Schaltkreise vereinfacht darstellen. Die Forschenden prüften die Hypothese, dass der Rezeptor die gefundenen Effekte nur dann entfaltet, wenn er gleichzeitig in hemmenden und aktivierenden Nervenzellen aktiviert wird. Diese Hypothese konnte durch die Modelle gestützt werden. Die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Sen Cheng fand in ihren Simulationen heraus, dass nur die gleichzeitige Rezeptoraktivierung in hemmenden und erregenden Zellen zu Interaktionen im Netzwerk führen, die die experimentellen Befunde abbilden.
Kooperationspartner
Die Studie wurde gemeinsam von den Gruppen von Dirk Jancke, Sen Cheng, Prof. Dr. Melanie Mark und Stefan Herlitze im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 874 und des Graduiertenkollegs „MoNN&Di“ (Monoaminergic Neuronal Networks and Disease) erarbeitet. Maßgeblich beteiligt war die Erstautorin und Doktorandin der International Graduate School for Neuroscience Ruxandra Barzan unter der Leitung von Dirk Jancke.
Originalpublikation:
Ruxandra Barzan et al.: Gain Control of Sensory Input Across Polysynaptic Circuitries in Mouse Visual Cortex by a Single G Protein-Coupled Receptor Type (5-HT2A), in: Nature Communications, 2024, DOI: 10.1038/s41467-024-51861-1, https://www.nature.com/articles/s41467-024-51861-1
Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum, 18.9.2024