Autor: Simone Schwarzer

  • NEWS-Projekt: Warnmeldung zu HHC

    Das NEWS-Projekt (National Early Warning System) hat eine Warnmeldung zu HHC herausgegeben (siehe auch https://mindzone.info/news/warnmeldungen/). Das in einem Münchner Kiosk erworbene HHC-Produkt „HHC Weblace Miami Vice“ enthielt HHC-P-Acetat (HHC-P-O-Acetat). Dieses HHC-Derivat wurde europaweit bislang nur in Deutschland festgestellt. Die Wirkung der Substanz wurde als „stärker als erwartet“ beschrieben und führte zu einem „Drauf-Gefühl“ und Pupillenweitung.

    MItteilung des News-Projekts, 27.2.2024

    Weitere Informationen zu HHC finden Sie hier:

    Bundesinstitut für Risikobewertung: Hexahydrocannabinol (HHC) in Lebensmitteln: Hinweise auf psychoaktive Wirkungen: Stellungnahme Nr. 044/2023 des BfR vom 5. Oktober 2023. doi:10.17590/20231005-165839-0

    EMCDDA (Hg.): Technical Report. Hexahydrocannabinol (HHC) and related substances, 2023. Verfügbar unter: https://www.emcdda.europa.eu/publications/technical-reports/hhc-and-related-substances_en; abgerufen am 29.2.2024

  • Nach der Pandemie nutzt jedes vierte Kind soziale Medien riskant

    Vorstellung der neuen Studienergebnisse bei der Pressekonferenz: Rüdiger Scharf (Pressesprecher), Andreas Storm (Vorsitzender des DAK-Vorstands), Melanie Eckert (krisenchat.de), Prof. Rainer Thomasius (DZSKJ), Dr. Michael Hubmann (Präsident des BVKJ) (v.l.n.r.)

    Die Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland hat sich in und nach der Pandemie deutlich verändert. Aktuell nutzen knapp 25 Prozent der Minderjährigen soziale Medien riskant. Das sind hochgerechnet 1,3 Millionen Mädchen und Jungen – dreimal so viele wie im Jahr 2019. Sechs Prozent der 10- bis 17-Jährigen erfüllen derzeit die Kriterien einer pathologischen Nutzung. Hochgerechnet sind dies 360.000 Kinder und Jugendliche – fast doppelt so viele wie vor vier Jahren. Das zeigen aktuelle Ergebnisse einer gemeinsamen Längsschnittuntersuchung der DAK-Gesundheit und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). Diese weltweit einzigartige Studie fragt in bundesweit 1.200 Familien in sechs Wellen die digitale Mediennutzung von Kindern und deren Eltern ab. Während die Probleme bei den sozialen Medien weiter angestiegen sind, gibt es beim Gaming und Streaming auch positive Entwicklungen. Im Vergleich zum Vorjahr gingen die Nutzungszeiten und die Zahl der Minderjährigen, die die Kriterien einer pathologischen Nutzung erfüllen, wieder zurück. DAK-Chef Andreas Storm und Experten fordern mehr Aufklärung über Mediensucht und zusätzliche Präventions- und Hilfeangebote für betroffene Familien.

    Problematische Entwicklung bei Social-Media-Nutzung

    Laut DAK-Studie stieg die Zahl der 10- bis 17-Jährigen mit einer riskanten Social-Media-Nutzung seit 2019 von 8,2 auf 24,5 Prozent. Hochgerechnet waren so im September 2023 rund 1,3 Millionen Minderjährige betroffen. Die Anzahl der Kinder und Jugendlichen mit einer pathologischen Nutzung hat sich von 3,2 auf 6,1 Prozent fast verdoppelt, somit waren rund 320.000 Mädchen und Jungen betroffen.

    Laut Mediensucht-Studie von DAK-Gesundheit und UKE Hamburg verbringen Kinder und Jugendliche an einem normalen Wochentag durchschnittlich 150 Minuten in sozialen Netzwerken (2019: 123 Minuten), am Wochenende sind es mit 224 Minuten über dreieinhalb Stunden (2019: 191 Minuten). Die Untersuchung zeigt erstmals auch Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Minderjährigen. Mädchen und Jungen mit einer problematischen Social-Media-Nutzung berichten häufiger von depressiven Symptomen, mehr Ängsten und einem höheren Stresslevel als unauffällige Nutzerinnen und Nutzer. Ferner zeigen sich Defizite beim Umgang mit Emotionen und beim Thema Achtsamkeit. Die Eltern der betroffenen Kinder und Jugendlichen sind unzufriedener mit der Kommunikation in den Familien und berichten von einer geringeren Funktionalität als die Vergleichsgruppe.

    „Psychisch belastete Jugendliche neigen oftmals vermehrt zu problematischem Nutzungsverhalten bei sozialen Medien“, sagt Prof. Rainer Thomasius, Studienleiter und Ärztlicher Leiter am Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) am UKE Hamburg. „Gleichzeitig führt die übermäßige Nutzung jedoch zu neuen Problemen und erhöhten psychischen Belastungen – es entsteht ein Teufelskreis. Eine exzessive Mediennutzung führt oft zu Kontrollverlust mit weitreichenden Folgen. Da persönliche, familiäre und schulische Ziele in den Hintergrund treten, werden alterstypische Entwicklungsaufgaben nicht angemessen gelöst. Ein Stillstand in der psychosozialen Reifung ist die Folge.“

    Rolle der Eltern

    Nach Einschätzung von Prof. Thomasius kommt den Eltern bei der Steuerung der Mediennutzung ihrer Kinder eine besondere Bedeutung zu. Laut Studie gab jedes vierte bis fünftes Elternteil an, sich Sorgen um die Mediennutzung des Kindes zu machen. Fast jedes dritte Elternteil sieht sich beim Thema nicht als Vorbild. Dabei habe die Medienkompetenz der Eltern und ein gesunder Mediengebrauch starken Einfluss auf das Nutzungsverhalten ihrer Kinder. „Eltern mit einer hohen digitalen erzieherischen Selbstwirksamkeit stellen deutlich häufiger Regeln für medienfreie Zeiten auf“, sagt Prof. Thomasius. „Ferner setzen sie aufgestellte Regeln deutlich konsequenter um.“

    „Die Ergebnisse zeigen leider deutlich, dass die Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland während und nach der Corona-Pandemie erheblich zugenommen hat“, erklärt Dr. Michael Hubmann, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzt*innen e. V. (BVKJ). „Dies unterstreicht die dringende Notwendigkeit, gezielte Maßnahmen zu ergreifen, um diesem besorgniserregenden Trend entgegenzuwirken. Ich verstehe es als unsere gesellschaftliche Verantwortung, Medienkompetenz zu fördern, präventive Programme zu implementieren und einen bewussten Umgang mit digitalen Medien zu fördern. Ein Mediensuchtscreening in der Kinder- und Jugendarztpraxis kann dabei unterstützen, eine riskante Nutzung von Computerspielen und Social Media frühzeitig zu erkennen.“ Im Rahmen eines Pilotprojekts übernimmt die DAK-Gesundheit die Untersuchungen zur Früherkennung von Mediensucht aktuell in fünf Bundesländern.

    Positive Entwicklungen bei Gaming und Streaming

    Anders als bei der Social-Media-Nutzung zeigen sich beim Gaming sowie beim Streaming positive Entwicklungen: Den Studienergebnissen zufolge verbringen junge Menschen nach der Pandemie wieder etwas weniger Zeit mit digitalen Spielen und Streamingdiensten. Beim Gaming sind die Nutzungszeiten an Werktagen auf durchschnittlich 98 Minuten gesunken (Wochenende: 168 Minuten). Sie liegen damit fast wieder auf dem Niveau von vor der Pandemie. Auch beim Streaming gehen die Werte nach einem starken Ausschlag zur Hochphase der Pandemie wieder nach unten: Die durchschnittliche Streamingdauer sank im September 2023 auf 98 Minuten pro Werktag. Zum Vergleich: Im Mai 2021 waren es 170 Minuten.

    Erstmals seit Beginn der Pandemie zeigt sich darüber hinaus ein signifikanter Rückgang der pathologischen Nutzung digitaler Spiele. Mit 4,3 Prozent ist die Prävalenz wieder auf dem Niveau von Mai/Juni 2021. Beim Streaming hat sich der Anteil pathologischer Nutzerinnen und Nutzer im Vergleich zum Vorjahr auf 1,2 Prozent halbiert.

    Hilfeangebote

    Um Betroffene und Angehörige zu unterstützen, bietet die DAK-Gesundheit gemeinsam mit der Mediensuchthilfe Hamburg eine Online-Anlaufstelle Mediensucht an. Auf www.mediensuchthilfe.info erhalten Betroffene und deren Angehörige Informationen und Hilfestellungen rund um die Themen Online-, Gaming- und Social-Media-Sucht. Das kostenlose DAK-Angebot ist offen für Versicherte aller Krankenkassen. Neu ist mit „Res@t“ ein App-basiertes Trainingsprogramm des DZSKJ, das von der DAK-Gesundheit gefördert wird und Versicherten aller Kassen offensteht. Das digitale Programm für Smartphone oder Tablet richtet sich an alle Kinder und Jugendlichen, die digitale Games, Soziale Medien oder Streaming übermäßig und unkontrolliert nutzen. Den Zugang erhalten sie über ihren behandelnden Kinder- und Jugendpsychiater. Weitere Informationen zum neuen Programm gibt es auf: www.uke.de/resat

    Zur Längsschnittstudie

    Die repräsentative Längsschnittstudie zur Mediennutzung im Verlauf der Corona-Pandemie untersucht an rund 1.200 Familien die Häufigkeiten pathologischer und riskanter Gaming- und Social-Media-Nutzung bei Kindern und Jugendlichen nach den neuen ICD-11-Kriterien der WHO und ist damit weltweit einmalig. Die DAK-Gesundheit führte dazu gemeinsam mit dem Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) in mehreren Wellen Befragungen durch das Meinungsforschungsinstitut Forsa durch. Dafür wurde eine repräsentative Gruppe von Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen zehn und 17 Jahren mit je einem Elternteil zu ihrem Umgang mit digitalen Medien befragt. Die DAK-Gesundheit ist mit 5,5 Millionen Versicherten die drittgrößte Krankenkasse Deutschlands und engagiert sich besonders für Kinder- und Jugendgesundheit.

    Download: Problematische Mediennutzung im Kindes- und Jugendalter in der post-pandemischen Phase. Ergebnisbericht 2023. Ausgewählte Ergebnisse der sechsten Erhebungswelle im August/ September 2023

    Pressestelle der DAK-Gesundheit, 27.2.2024

  • Mediennutzung bei Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit

    Mediennutzung bei Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit

    David Schneider
    Ulrich Claussen
    Katharina Munz

    Die heute teils intensive Mediennutzung im Alltagsleben der Bevölkerung ist ein medial verbreitetes und mitunter kontrovers diskutiertes Thema. Auch in der Suchthilfe kommt der Thematik „intensiver Medienkonsum“ eine immer größere Bedeutung zu. Es ist damit zu rechnen, dass die gesellschaftliche und gesundheitspolitische Relevanz der Folgen der allgemeinen Digitalisierung eher zu- als abnehmen wird.

    Das intensive Mediennutzungsverhalten von Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung lässt sich als komorbides Verhalten im Sinne einer medienbasierten Abhängigkeit begreifen oder auch als Verlagerung anderer Suchtproblematiken interpretieren. Es ist davon auszugehen, dass Menschen mit Suchtproblematik ein spezifisches Risiko für problematischen Medienkonsum aufweisen. Studien, die in der stationären Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen und in anderen Hilfesettings durchgeführt wurden, deuten auf einen Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen bzw. Abhängigkeitserkrankungen und einer erhöhten Vulnerabilität für medienbasiertes Suchtverhalten hin (Müller et al., 2012 a + b; Müller, 2019).

    Seit der Studie von Müller et al. über „Komorbide Internetsucht unter Patienten der stationären Suchtrehabilitation“ aus dem Jahr 2012, auf die wir uns in der vorliegenden Untersuchung zu einem großen Teil beziehen, ist viel Zeit vergangen. Das Internet wird flächendeckend in allen sozialen Milieus genutzt und ist durch Smartphones auch mobil jederzeit verfügbar. Die durch technische Neuerungen bewirkten Veränderungen der Kommunikationsformen haben dazu geführt, dass der Stellenwert digitaler Medien heute ein ganz anderer ist. Deswegen erscheint es uns sinnvoll, an die mitunter über zehn Jahre zurückliegenden Fragen nach dem medienbasierten Verhalten von Klientinnen und Klienten im Suchthilfesystem anzuknüpfen.

    Unserer Einschätzung nach ist es wichtig, das Medienkonsumverhalten anamnestisch abzuklären, es im Blick zu haben und auf entsprechende Anzeichen und Hinweise seitens der unterstützten Personen zu reagieren. Aus der Perspektive der Suchthilfe besteht die Gefahr, dass behandlungsrelevante pathologische Mediennutzung in den verschiedenen Suchthilfesettings lange unentdeckt bleibt und sich − auch in Wechselwirkung mit stoffgebundenen Süchten – negativ auf den individuellen Verlauf auswirkt.

    Forschungsfrage

    In den Einrichtungen des Frankfurter Trägers Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. (JJ) ist das Thema Medienkonsumverhalten – insbesondere im Kontext der Suchtprävention – immer wieder präsent, gleichzeitig liegen wenige aktuelle belastbare Daten vor. Mit der im Folgenden vorgestellten Untersuchung wollten wir feststellen, in welcher Intensität Medien von den von uns beratenen und behandelten Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit tatsächlich genutzt werden.

    Aufgrund der weiten Verbreitung des Internets und der Möglichkeit, dieses auch in Einrichtungen der Suchthilfe während der Beratung und Behandlung zu nutzen, liegt die Hypothese nahe, dass sich die bereits im Jahr 2012 festgestellte Komorbidität weiter erhöht hat. Auch könnte der Anteil der Personen mit einer latenten medienbasierten Abhängigkeit in den ambulanten Einrichtungen der Suchthilfe weit höher liegen als bisher angenommen, da das Medienkonsumverhalten bei anderweitiger Erstdiagnose oft nicht abgefragt wird. Klientinnen und Klienten werden deshalb nicht ausreichend unterstützt, ihr Medienkonsumverhalten zu hinterfragen und zu ändern. Ziel unserer praxisnahen Untersuchung ist folglich auch, das Thema abhängiger Medienkonsum zu beleuchten und ggf. noch stärker in die Alltagspraxis der Beratung und Behandlung zu integrieren.

    Methode und Design

    Es wurde eine explorative Querschnittsstudie mit n=136 Personen mit einer Suchtmittelabhängigkeit mit einem Befragungszeitpunkt durchgeführt. Die Befragung fand von November 2021 bis März 2022 statt. Die teilnehmenden Einrichtungen wurden zuvor ausführlich informiert, die Fragebögen wurden den beteiligten Mitarbeiter:innen erläutert. Die Befragung wurde anonym und ohne die Möglichkeit zur Verknüpfung mit anderen Daten aus Betreuung und Behandlung durchgeführt.

    Befragt wurden nur Klient:innen, die bereits mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit oder pathologischem Glücksspiel als Erstdiagnose ins Hilfesystem eingemündet waren. Klient:innen, die aufgrund eines medienbasierten abhängigen Verhaltens als Hauptproblematik die Einrichtungen aufsuchten, waren von der Studie ausgenommen. So sollte sichergestellt werden, dass tatsächlich das Phänomen der Komorbidität untersucht wurde.

    Um eine Stichprobe von Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankung zu gewinnen, wendeten wir uns an verschiedene Suchthilfeeinrichtungen des Trägervereins JJ. Die Gewinnung der Befragten erfolgte ohne weitere Ausschlusskriterien als anfallende Stichprobe. Wir erhielten 138 Fragebögen zurück, davon waren 136 auswertbar. Es konnte eine sehr gute Datenqualität erreicht werden. Die Antworten verteilen sich auf ein breites Spektrum von Einrichtungstypen, wie in Tabelle 1 ersichtlich. (Am Ende des Artikels werden die beteiligten Einrichtungen aufgezählt*.)

    Tabelle 1: Anzahl der Personen aus den verschiedenen Einrichtungstypen

    Instrumente

    Die Skala zum Onlinesuchtverhalten bei Erwachsenen OSVe-S (Wölfling, K., Müller, K.W. & Beutel, M.E., 2008) ist ein Fragebogen zur Erfassung medienbasierten Suchtverhaltens. Neben einer Beschreibung des Medienkonsums werden im OSVe-S Kriterien für eine Abhängigkeit erfragt. Einige Fragen beziehen sich beispielsweise auf das Verlangen nach Onlineaktivitäten („Wie häufig erscheint Ihnen Ihr Verlangen nach Onlineaktivitäten so übermächtig, dass Sie diesem nicht widerstehen können?“), andere auf vergebliche Kontrollversuche („Wie häufig haben Sie bisher versucht, Ihr Onlineverhalten aufzugeben bzw. einzuschränken?“). Weitere Items erfragen schädlichen Gebrauch von Medien („Wie häufig vermeiden Sie negative Gefühle [z. B. Langeweile, Ärger, Trauer] durch Onlineaktivitäten?“). Insgesamt können 45 Punkte erreicht werden, mehr als 13 Punkte sprechen für abhängigen, 7 bis 13 Punkte für einen problematischen oder grenzwertigen Medienkonsum.

    Ergänzt wurden die Angaben zum OSVe-S durch Angaben zu Alter, Geschlecht, Betreuungssetting, Einrichtung und Hauptsuchtmittel.

    Stichprobe

    Es werden n=136 Menschen befragt, die sich in einer stationären Suchthilfeeinrichtung befinden oder durch eine ambulante Suchthilfeeinrichtung beraten oder betreut werden: 112 Männer (82,3 %) und 24 Frauen (17,7 %). Es werden fast ausschließlich Erwachsene befragt, das Durchschnittsalter beträgt 36,2 Jahre, die jüngste befragte Person ist 17, die älteste befragte Person 63 Jahre alt.

    Nach der von ihnen hauptsächlich konsumierten Substanz befragt, nennen 60,5 % eine Substanz, 39,5 % nennen mehrere. Insgesamt zeigen sich folgende Ergebnisse: 30,7 % der Befragten nennen Cannabis, 25,4 % Kokain, 23,7 % Alkohol, 18,4 % Opiate, 13,2 % Stimulanzien und 13,2 % Sonstiges.

    Berufstätig sind 25 % der Befragten, 14,4 % in Vollzeit angestellt, 6,1 % in Teilzeit, 4,5 % der Befragten geben eine selbständige Tätigkeit an. Weitere 6,8 % befinden sich in Ausbildung oder Studium. 46,2 % der Befragten geben an, kein Anstellungsverhältnis zu haben, also ohne Erwerbstätigkeit zu sein.

    Aus vorangegangenen Untersuchungen und aus der klinischen Beobachtung vermuten wir, dass es in der hier untersuchten Stichprobe von Menschen mit einer Drogen-, Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit einen relativ hohen Anteil von Personen mit einem missbräuchlichen oder abhängigen Mediennutzungsverhalten geben könnte.

    Aufgrund des explorativen Designs unserer Studie haben wir darauf verzichtet, eine Kontrollgruppe zu rekrutieren, und vergleichen die Anteile missbräuchlichen oder abhängigen Mediennutzungsverhaltens in unserer Stichprobe mit den Ergebnissen der vorausgegangenen Untersuchung „Komorbide Internetsucht unter Patienten der stationären Suchtrehabilitation: Eine explorative Erhebung zur klinischen Prävalenz“ (2012).

    Ergebnisse

    Häufigkeit einer problematischen oder abhängigen Mediennutzung

    Insgesamt zeigen 21,3 % der Befragten ein missbräuchliches oder abhängiges Mediennutzungsverhalten. 78,7 % zeigen ein unauffälliges Mediennutzungsverhalten (s. Tabelle 2).

    Tabelle 2: Onlinenutzung: Ergebnisse der beiden Studien im Vergleich

    In der Auswertung von JJ kamen 23 Personen auf einen Wert zwischen 7 und 13 Punkten. Dieser Punktebereich zeigt missbräuchliche Mediennutzung an und liegt bei 16,9 % der Befragten vor.

    Sechs Personen oder 4,4 % weisen einen Punktewert höher als 13 Punkte auf und fallen damit in den Bereich der Abhängigkeit. Im Vergleich mit der Studie aus dem Jahr 2012 lässt sich ein hoher Anteil an Menschen feststellen, die die Kriterien für medienbasiertes Suchtverhalten erkennen lassen.

    Genutzte Onlineangebote

     Die bloße Erfassung der Onlineaktivitäten sagt zunächst wenig über ein potenziell riskantes, missbräuchliches oder gar abhängiges Mediennutzungsverhalten aus. Gerade für Klient:innen in stationären Settings der Suchthilfe stellt z. B. das Chatten über Messenger-Dienste oder Online-Communities eine wesentliche Möglichkeit dar, mit ihren Angehörigen während der Zeit der Reha in Kontakt zu bleiben. Gleichwohl liefern die Daten einen Überblick, welche digitalen Möglichkeiten wie intensiv genutzt werden. Am meisten Zeit wird laut der Befragten für Internetrecherche aufgebracht, gefolgt von Chatten und Online-Communities. Aber auch Angebote wie Glücksspiel werden von 6,8 % oft bzw. sehr oft genutzt. 16,1 % benutzen oft oder sehr oft Onlinesex-Angebote (s. Tabelle 3).

    Tabelle 3: Genutzte Onlineangebote (JJ 2022)

    Begrenzung der online verbrachten Zeit

    Insgesamt ist ein Drittel (33,2 %) der Befragten zumindest gelegentlich länger online, als sie es sich vorgenommen hatten. 11,1 % sind dies oft oder sehr oft. Ihnen gelingt es kaum, sich online zu begrenzen. Es ist dann auch diese Gruppe, die sich schlecht fühlt, wenn sie nicht online sein kann (11,8 %). Gelegentlich schlecht fühlen sich  9,6 %, wenn sie keine Onlineaktivitäten ausüben können.

    Verlangen nach Onlineaktivitäten

    Fragt man nach der Stärke des durchschnittlichen Verlangens nach Onlineaktivitäten, geben insgesamt 41,9 % an, einen mittelstarken bis sehr starken Drang nach Onlineaktivitäten zu verspüren. Bei 13,2 % ist der Drang stark bis sehr stark.

    8 % der Befragten geben an, dass ihnen der Drang nach Onlineaktivitäten sehr oft so übermächtig erscheint, dass sie ihm nicht widerstehen können. 13,2 % der Befragten geben an, dass es ihnen gelegentlich so geht.

    Vermeidung negativer Gefühle

    Um negative Gefühle wie Langeweile oder Ärger zu überspielen, gehen zumindest gelegentlich 41,9 % online. 16,9 % tun dies oft bzw. sehr oft. Dies verweist auf die Kompensations- und Ablenkungskraft des Onlineangebotes.

    Länge und Intensität der Onlineaktivitäten

    Ein schlechtes Gewissen bezüglich der Länge und Intensität ihrer Onlineaktivitäten haben zumindest gelegentlich 35,5 %. 14,0 % geben an, oft oder sehr oft zu viel oder zu lange online zu sein.

    Negative Folgen aufgrund des Onlineverhaltens

    Die Befragten nennen manifeste negative Folgen des Mediennutzungsverhaltens (s. Tabelle 4). Die Vernachlässigung anderer Freizeitaktivitäten kennt ein Drittel der Befragten. Knapp 20 % nennen Geldprobleme, was darauf verweist, dass auch kostenintensive Aktivitäten zu verzeichnen sind. 22,1 % nennen Probleme mit der Gesundheit, was ein hoher Wert ist. Leider kann nicht expliziert werden, um welche gesundheitlichen Probleme es sich hierbei handelt. Aus der Beratungspraxis lässt sich schließen, dass es sich hierbei um Probleme der körperlichen Gesundheit wie Schmerzen im Rücken, Belastung der Augen oder auch Probleme mit dem Tag-Nacht-Rhythmus bzw. dem Einschlafen handeln könnte. Auch psychische Probleme sind denkbar, ein erhöhter Medienkonsum geht häufig mit einer zunehmenden Antriebslosigkeit einher und kann die Entstehung von depressiven Symptomen begünstigen.

    Tabelle 4: Von Befragten genannte Problembereiche aufgrund ihrer Mediennutzung (JJ 2022)

    Insbesondere Menschen aus der jüngeren Altersgruppe bis 34 Jahre leiden aufgrund ihrer Mediennutzung häufiger an sogenanntem digitalen Stress, einem Zustand der psychischen und physiologischen Stressbelastung, die auf die Nutzung von z. B. Social Media zurückzuführen ist. So heißt es in einer Studie aus dem Jahr 2020: „Für die jüngste Altersgruppe (14. bis 34. Lebensjahr) bestätigte sich, dass ein intensiver bis exzessiver Gebrauch von Social Media mit erhöhter Ängstlichkeit und Symptomen aus dem depressiven Formenkreis, insbesondere Antriebsminderung, innerer Unruhe und Erschöpfungszuständen korrespondierte.“ (Müller, 2020)

    In dieser Altersgruppe ist auch in der aktuellen Befragung der Anteil der Personen mit problematischer Mediennutzung erheblich höher als in der älteren Gruppe (s. Tabelle 7).

    Vergleiche zwischen Gruppen

    Im Folgenden werden Personen, die die Kriterien für eine suchtartige Mediennutzung erfüllen, mit Personen verglichen, die keine Mediennutzungsstörung aufweisen.

    Tabelle 5: Geschlecht der Klient:innen mit unauffälligem und mit suchtartigem Mediennutzungsverhalten
    Tabelle 6: Genannte hauptsächlich konsumierte Substanz

    Auffällig ist der hohe Anteil der Menschen, die Stimulanzien konsumieren und gleichzeitig suchtartig Medien nutzen (60,0 %). An zweiter und dritter Stelle für die Häufigkeit einer komorbiden Mediennutzungsstörung stehen Klient:innen, die hauptsächlich Cannabis (35,0 %) und Alkohol (30,8 %) konsumieren (s. Tabelle 6).

    Tabelle 7: Alter der Befragten

    Nicht sehr überraschend wird deutlich, dass der Anteil derjenigen, die Medien suchtartig nutzen, unter den Jüngeren (bis 34 Jahre) höher, ja fast doppelt so hoch, ist als bei den Befragten, die älter als 34 Jahre sind (27,3 % vs. 13,4 %) (s. Tabelle 7).

    Tabelle 8: Betreuungssetting, in dem sich die Befragten zum Zeitpunkt der Befragung befanden

    Auffällig ist in Tabelle 8 die hohe Zahl der von suchtartiger Mediennutzung Betroffenen im ambulanten Setting. Dies könnte darauf hindeuten, dass die Strukturen in stationären Einrichtungen mehr Kontrolle über den Medienkonsum bieten, während eine Person, die Beratung in einem ambulanten Setting wahrnimmt, außerhalb dieser Termine weitestgehend selbst über ihren Medienkonsum und ihre Tagesstruktur bestimmen kann.

    Vergleich mit vorangegangener Studie

    Im Folgenden werden die JJ-Zahlen mit den Zahlen der Studie „Komorbide Internetsucht unter Patienten der stationären Suchtrehabilitation“ aus dem Jahr 2012 (vgl. Müller et al., 2012) verglichen.

    Nutzung von Onlineangeboten

    Tabelle 9: Nutzung von Onlineangeboten im Vergleich

    Es lässt sich gut erkennen, dass in den letzten Jahren vor allem die Bereiche Online-Einkaufen, Online-Communities und Streamingdienste deutlich stärker genutzt werden (s. Tabelle 9). Der Bereich der Streamingdienste wurde 2012 noch nicht abgefragt, da ein solches Angebot zu diesem Zeitpunkt noch nicht flächendeckend der Allgemeinbevölkerung zur Verfügung stand. An der aktuellen Prozentzahl lässt sich jedoch erkennen, dass dieser Bereich einen großen Teil der Mediennutzung ausmacht.

    Negative Folgen bzw. Probleme aufgrund des Onlineverhaltens

    Tabelle 10: Entstandene Probleme bei Menschen mit suchtartiger Internetnutzung im Vergleich

    Auffällig ist, dass sich die entstandenen Probleme der Menschen, die eine suchtartige Internetnutzung aufweisen, verbessert haben und in fast allen Bereichen weniger Probleme aufzutreten scheinen, als das in der Studie von 2012 der Fall war (s. Tabelle 10). Dies mag zum einen an der Veränderung der Stichprobe liegen. Prozentual gesehen ist der Anteil der Menschen mit suchtartiger Nutzung stark angestiegen, aber die Konzentration der verschiedenen Probleme pro Person ist nicht mehr so hoch wie bei der Stichprobe aus 2012. Zum anderen lassen sich Medien heutzutage aufgrund von Smartphones etc. möglicherweise besser in den Alltag integrieren und verursachen dadurch gefühlt oder tatsächlich weniger Probleme als vor zehn Jahren. Werte bis zu 69 % sind aber trotz der Verbesserung immer noch sehr hoch, und es verwundert nicht, dass sich diese Probleme bei Menschen mit suchtartiger Nutzung immer noch zeigen.

    Tabelle 11: Entstandene Probleme bei Menschen ohne suchtartige Internetnutzung im Vergleich

    Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass es sich bei Tabelle 11 um die Werte der Personen handelt, die anhand des Fragebogens keine problematische Nutzung des Internets aufweisen. Trotzdem zeigen sich in unserer Untersuchung deutlich höhere Werte für entstandene Probleme als in der Vergleichsstudie.

    Obwohl laut Fragebogen hier keine suchtartige Mediennutzung besteht, berichtet fast ein Viertel der Befragten von Vernachlässigung anderer Freizeitaktivitäten und fast ein Fünftel von finanziellen Schwierigkeiten aufgrund des eigenen Mediennutzungsverhaltens. Es scheint also angeraten, auch bei Personen, die in der Befragung keine suchtartige Internetnutzung gezeigt haben und ein scheinbar unproblematisches Nutzungsverhalten haben, genauer nachzufragen, ob ihr Verhalten trotz der niedrigen Punktzahl in der Auswertung Probleme in ihrem Leben verursacht.

    Zusammenfassung und Fazit

    Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die aktuelle Zahl der Klient:innen in der ambulanten und stationären Suchthilfe, die Kriterien für ein medienbasiertes Suchtverhalten zeigen, hoch ist. Sie ist deutlich höher (21,3 %) als in der zum Vergleich herangezogenen Studie von Müller et al. aus dem Jahr 2012 (4,2 %).

    Unterscheidet man bei JJ die Suchthilfesettings ambulant und stationär, ergibt sich, dass Klient:innen im ambulanten Setting mit 30,6  % stärker betroffen sind als Personen im stationären Setting mit 16,7 %.

    Jüngere Klient:innen unter 34 Jahren scheinen mehr von medienbasiertem Suchtverhalten betroffen zu sein (27,3 %) als ältere Klient:innen (13,4 %).

    Auch Personen, die unterhalb des Cut-Offs für suchtartige Internetnutzung liegen und somit als „unproblematische“ Nutzer:innen gelten, beschreiben, dass ihr Mediennutzungsverhalten in vielen Bereichen ihres Lebens Probleme verursacht (Vernachlässigung anderer Freizeitaktivitäten 23,4 %, Konflikte mit der Familie 15,9 % und Probleme mit der Gesundheit 13,1 %). In diesem Themenfeld ist ebenfalls ein starker Anstieg im Vergleich zur Studie aus 2012 zu erkennen.

    Hervorzuheben ist zudem noch die Differenz zur Allgemeinbevölkerung. Die Studie „Prävalenzschätzung und Strategieentwicklung zur suchtassoziierten Internetnutzung in der Steiermark“ aus dem Jahr 2023 legt hierzu valide Zahlen vor. Demnach liegt die Prävalenz in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung der Steiermark geräteunabhängig bei 9,7 %. Ausgehend davon, dass sich die Internetnutzung in Deutschland und Österreich nur bedingt unterscheiden dürfte, lässt sich hier ein signifikanter Unterschied der Prävalenzen zwischen Allgemeinbevölkerung (9,7 %) und Personen aus dem Suchthilfesetting (21,3 %) feststellen.

    Diskussion

    Die vorliegende Untersuchung ist als explorative Querschnittsstudie angelegt, eine Intervention wurde nicht vorgenommen, ein randomisiertes und kontrolliertes Design haben wir für unsere Fragestellung „Wie stellt sich das Mediennutzungsverhalten der von uns beratenen und behandelten Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit dar?“ nicht vorgesehen. Dementsprechend können wir hier deskriptive Ergebnisse vorlegen und mit Ergebnissen von vorausgehenden Untersuchungen vergleichen. Aus den Ergebnissen leiten wir weiteres Vorgehen und Ansatzpunkte zur Verbesserung der Versorgung ab, die wir im Folgenden darstellen.

    Aus unserer Sicht sollten einige Ansatzpunkte weiterverfolgt werden. Diese betreffen vor allem eine Anpassung der Versorgung an die hier ermittelten Bedarfe an Beratung und Behandlung, aber auch zusätzliche Forschungsfragen, da die Datenlage zum Mediennutzungsverhalten bei Personen mit einer substanzgebundenen Abhängigkeit bislang sehr überschaubar ist. Folgende Ansatzpunkte sehen wir:

    • Anpassen von Dokumentation und Anamnese
    • Dezentrale Beratung bei medienbasiertem Suchtverhalten
    • Weitere Forschung

    Anpassen von Dokumentation und Anamnese

    Die hier vorgelegten Daten spiegeln sich bislang in unseren Jahresstatistiken nicht wider. Dies liegt zum einen an Voreinstellungen der Basisdokumentation, die somit zu einer Unterbetonung des Problems beitragen. Studien zeigen, dass insbesondere die suchtartige Nutzung von Pornographie in den letzten Jahren vermehrt vorkommt und auch in den kommenden Jahren stärker in der Suchthilfe vertreten sein könnte (vgl. Mestre-Bach et al., 2020). Dieses Themenfeld lässt sich in der aktuellen Basisdokumentation noch nicht dokumentieren. Hier sind also bessere Möglichkeiten der digitalen Dokumentation nötig.

    Des Weiteren ist medienbasiertes Suchtverhalten ein Thema, das oft nicht direkt angesprochen wird. Oftmals stehen stoffgebundene Probleme im Fokus von Beratung und Behandlung. Aus den vorgelegten Daten lässt sich die Notwendigkeit ableiten, Mediennutzung in der Anamneseerhebung stets zu erfragen und Beratung und Behandlung auf die Bedarfe hin abzustimmen. Nicht erfasstes Medienverhalten kann nicht behandelt werden – ein Phänomen, das auch in der „IBSfemme“-Studie thematisiert wird (vgl. Müller et al, 2019).

    Dezentrale Beratung bei medienbasiertem Suchtverhalten

    Wenn gleichzeitig eine stoffgebundene Abhängigkeit und ein problematisches oder abhängiges Mediennutzungsverhalten vorliegen, sollten beide Anliegen in einer Beratung ihren Platz finden, die Aufteilung auf zwei beratende Personen erscheint wenig zielführend und wenig ökonomisch. Eine Aufteilung in allgemeine, oft auch dezentrale Suchtberatungen und Fachstellen für Verhaltenssucht, die vorrangig in Großstädten angeboten wird, bietet keine integrierte Versorgung aus einer Hand und erfordert zusätzliche Wege und weitere Ressourcen.

    Eine Integration der Beratung zu problematischer Mediennutzung erfordert Schulungen für die Beratenden. Sowohl Beratung im Einzelkontakt als auch Beratung in Gruppen für substanzgebundene Störungen erfordert neben allgemeiner beraterischer Kompetenz noch Fachwissen zu Substanzen und zu abhängiger und problematischer Mediennutzung. Eine Spezialisierung weniger Beratender wird der Breite des Problems nicht gerecht. Um mit der Vielzahl der komorbid betroffenen Klient:innen sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich kompetent umgehen und passgenaue Angebote entwickeln/umsetzen zu können, müssen Mitarbeiter:innen zum Thema geschult sein und sich kompetent fühlen. Ist dies nicht der Fall, können Gefühle von Überforderung entstehen und Widerstände, sich des Themas anzunehmen.

    Weitere Forschung

    Kinder und Jugendliche gelten als gefährdete Gruppe für die Entwicklung eines problematischen Mediennutzungsverhaltens. Zur Entwicklung von Medienkompetenz sind präventive Angebote erforderlich. Bei bereits bestehenden Problemen mit Mediennutzung sind sekundärpräventive Ansätze zu entwickeln. Die Beratung und Behandlung von Menschen mit abhängiger oder problematischer Mediennutzung zusätzlich zu einer bereits bestehenden Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen ist wenig erforscht und sollte in die bestehenden Angebote integriert werden. Mögliche Forschungsfragen hierzu wären:

    • Wie kann die Funktionalität dieser beiden Störungen geklärt werden? Bedingt das eine Problem das andere, gehen beide auf eine gemeinsame Ursache zurück oder existieren sie unabhängig voneinander? (vgl. Moggi, 2014)
    • Verändern sich Auftretenswahrscheinlichkeiten von problematischer Mediennutzung im lebensgeschichtlichen Verlauf einer substanzbezogenen Abhängigkeit?
    • Wie ist die Geschlechterverteilung dieser Problematik einzuschätzen und was sind mögliche Ursachen hierzu? Gibt es systematische Unterschiede zu den einzelnen Bereichen problematischer Mediennutzung?
    • Handelt es sich um eine jugendtypische Problematik oder tritt diese auch im höheren Erwachsenenalter auf?
    • Gibt es Zusammenhänge zwischen konsumierten Substanzen und Art der problematischen Mediennutzung?

    Zusammenfassend lässt sich sagen: Ein Großteil der von Substanzen abhängigen Menschen scheint zusätzlich von medienbasiertem Suchtverhalten betroffen zu sein. Zudem lassen Studien in der Allgemeinbevölkerung besonders unter den Minderjährigen und in Bezug auf spezielle Themenfelder wie Online-Sexsucht darauf schließen, dass exzessive Mediennutzung ein Thema ist, das die Suchthilfe und andere Hilfeangebote in den kommenden Jahren zunehmend beschäftigen wird.

    *An der Untersuchung beteiligte Einrichtungen: Therapiedorf Villa Lilly (Bad Schwalbach), Haus der Beratung (Frankfurt), Therapeutische Einrichtung Auf der Lenzwiese (Höchst im Odenwald), Übergangseinrichtung Wolfgang-Winckler-Haus (Kelkheim), Suchthilfezentrum Wiesbaden, Zentrum für Jugendberatung und Suchthilfe für den Hochtaunuskreis (Bad Homburg), Betreute Wohngemeinschaft Eddersheim, Zentrum für Jugendberatung und Suchthilfe für den Main-Taunus-Kreis (Hofheim), Zentrum für Jugendberatung und Suchthilfe für den Rheingau-Taunus-Kreis (Taunusstein)

    Kontakt und Angaben zu den Autor:innen:

    Katharina Munz
    Jugendberatung und Jugendhilfe e.V.
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt am Main
    Telefon: 0611 9004870
    E-Mail: Katharina.munz(at)jj-ev.de

    Ulrich Claussen
    Jugendberatung und Jugendhilfe e.V.
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt am Main
    Telefon: 069 743480-11
    E-Mail: kontakt(at)claussen-psychotherapie.de

    David Schneider
    Jugendberatung und Jugendhilfe e.V.
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt am Main
    Telefon: 069 743480-13
    E-Mail: david.schneider(at)jj-ev.de

    Literatur
    • Programmheft Deutscher Suchtkongress 7. – 9. September 2022 in München. Lübeck, 2022
    • Herz, A., Tran, K. (2022). Jugendfreundschaften während der Coronakrise. https://www.dji.de/themen/corona/jugendfreundschaften-in-der-pandemie.html
    • JIM-Studie 2020 + 2021
    • DAK Mediensucht 2020-Studie: Gaming und Social Media und Corona 2020, vor allem S. 82 ff.
    • DKHW Kinderreport 2021
    • Mestre-Bach, G., Blycker, G.R., Potenza, M.N. (2020): Pornography use in the setting of the COVID-19 Pandemic, J Behav Addict. 2020 Jun; 9(2):181-183
    • Moggi, F. (2014) Theoretische Modelle bei Doppeldiagnosen. In: Walter, M., Gouzoulis-Mayfrank, E. (Hrsg.) (2014) Psychische Störungen und Suchterkrankungen: Diagnostik und Behandlung von Doppeldiagnosen. Stuttgart: Kohlhammer
    • Müller, K.W., Koch, A., Beutel, M.E., Dickenhorst, U., Medenwaldt, J., Wölfling, K., (2012 a). Komorbide Internetsucht unter Patienten der stationären Suchtrehabilitation: Eine explorative Erhebung zur klinischen Prävalenz. Psychiatrische Praxis, 2012, 39: 286 – 292
    • Müller, K.W., Ammerschläger, M., Freisleder, F. J., Beutel, M., E., Wölfling, K., (2012 b). Suchtartige Internetnutzung als komorbide Störung im jugendpsychiatrischen Setting – Prävalenz und psychopathologische Symptombelastung. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 40 (5), 2012, S. 331 – 339
    • Müller, K. W., (2019). Internetbezogene Störungen bei weiblichen Betroffenen: Nosologische Besonderheiten und deren Effekte auf die Inanspruchnahme von Hilfen (IBSfemme)
    • Türcke, C., (2019): Digitale Gefolgschaft. Auf dem Weg in eine neue Stammesgesellschaft, C.H. Beck, München 2019
    • Müller, K. W. (2020): Die Nutzung von sozialen Medien durch Kinder und Jugendliche – Ein Überblick über gesundheitsrelevante Aspekte, Kinder- und Jugendmedizin 2020; 20(04): 229-236
    • Gesundheitsfond Steiermark (2023). Prävalenzschätzung und Strategieentwicklung zur suchtassoziierten Internetnutzung in der Steiermark, Graz 2023
  • Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie kritisieren Cannabis-Entscheidung

    Der Bundestag hat trotz nachdrücklicher Warnungen der Ärzteschaft die Teil-Legalisierung von Cannabis beschlossen. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) kritisiert das Gesetz weiterhin. Ihre zentralen Punkte: die zu niedrige Altersgrenze, die zu hohen Mengen und die unzureichenden Mittel für Prävention und Forschung. Die Fachgesellschaft plädiert dafür, dass das Gesetz im Vermittlungsausschuss überarbeitet wird.

    „Mit 18 Jahren ist die Hirnentwicklung noch nicht abgeschlossen. Daher kann der Konsum von Cannabis bei Jugendlichen große Schäden anrichten, vor allem, wenn er regelmäßig ist“, erläutert die Psychiaterin Prof. Dr. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, President Elect der DGPPN. „Die im Gesetz vorgesehene Altersgrenze ist deshalb deutlich zu niedrig.“ Die Fachgesellschaft plädiert daher nachdrücklich für eine Überarbeitung dieses Aspekts. Zudem betont sie, dass die vorgesehenen Mittel und Maßnahmen für die Prävention, die Behandlung und den Jugendschutz bei weitem nicht ausreichen.

    Ebenso kritisiert die DGPPN die erlaubten Mengen. „50 Gramm Cannabis monatlich pro Person haben mit einem sogenannten Freizeitkonsum nichts mehr zu tun. Hier bewegt man sich klar im Bereich eines problematischen Konsums, der mit Abhängigkeiten und vielen weiteren psychischen Störungen einhergeht“, ordnet die Medizinerin Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank ein.

    Als medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaft fordert die DGPPN darüber hinaus deutlich mehr Ressourcen zur Erforschung der Effekte der Teil-Legalisierung und kritisiert die geplante Begleitforschung als unzureichend. „Wir wissen aus anderen Ländern, dass Entwicklungen mitunter erst nach einigen Jahren sichtbar werden. Im jetzt verabschiedeten Gesetz sind Gelder für die Forschung allerdings nur für vier Jahre vorgesehen“, sagt Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank. „Zudem hätten solche Studien bereits vor der Legalisierung starten müssen. Man muss die Ausgangssituation kennen, um die Auswirkungen auf den Konsum und die psychische Gesundheit der Bevölkerung zu untersuchen.“

    Die DGPPN plädiert daher eindringlich dafür, dass das Gesetz im Vermittlungsausschuss des Parlaments überarbeitet wird. Denn sollte das Gesetz in der jetzt verabschiedeten Form umgesetzt werden, befürchtet die psychiatrische Fachgesellschaft gravierende Konsequenzen – für Einrichtungen zur Behandlung von Suchterkrankungen ebenso wie für die psychische Gesundheit der Bevölkerung insgesamt.

    Weitere Informationen:
    Stellungnahme vom 02.11.2023
    Positionspapier vom 29.03.2022

    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN), 23.2.2024

  • Bundestag beschließt kontrollierte Abgabe von Cannabis zu Konsumzwecken

    Der Bundestag hat am 23. Februar 2024 in abschließender Lesung die kontrollierte Weitergabe von Cannabis zu Konsumzwecken beschlossen. Damit wird der private Eigenanbau von bis zu drei Cannabis-Pflanzen zum Eigenkonsum sowie der gemeinschaftliche, nicht-gewerbliche Eigenanbau zum Eigenkonsum in Anbauvereinigungen bzw. Genossenschaften für Erwachsene erlaubt. Gleichzeitig werden mit dem Gesetz der Gesundheitsschutz, der Schutz von Kindern und Jugendlichen sowie die Prävention und Aufklärung gestärkt.

    Der Besitz von bis zu 25 Gramm Cannabis im öffentlichen Raum bleibt straffrei. Gleichzeitig gilt für Cannabis als auch Anbauvereinigungen ein allgemeines Werbe- und Sponsoringverbot.

    So werden Kinder und Jugendliche geschützt

    Verboten ist der Konsum von Cannabis:

    • in unmittelbarer Gegenwart von Minderjährigen
    • in/auf und in Sichtweite (100 Meter) von Schulen, Kinderspielplätzen, Kinder- und Jugendeinrichtungen und öffentlich zugänglichen Sportstätten
    • in Fußgängerzonen zwischen 7 und 20 Uhr
    • in Anbauvereinigungen und in Sichtweite von Anbauvereinigungen (100 Meter)
    • Anbauvereinigungen dürfen Konsumcannabis ausschließlich an Mitglieder, verbunden mit einer strikten Pflicht zur Überprüfung der Mitgliedschaft und des Alters, weitergeben (max. 25 Gramm pro Tag / 50 Gramm pro Monat; an Heranwachsende zwischen 18 und 21 Jahren max. 30 Gramm pro Monat mit max. 10 Prozent THC-Gehalt). Die Mindestmitgliedschaftsdauer in einer Anbauvereinigung beträgt drei Monate.
    • Der in begrenztem Umfang zulässige private Eigenanbau muss vor dem Zugriff durch Kinder, Jugendliche sowie Dritte geschützt werden.
    • Für die vorsätzliche gewerbliche Abgabe oder die Überlassung von Cannabis und anderen Betäubungsmitteln an Kinder und Jugendliche gelten nunmehr höhere Strafen als ursprünglich vorgesehen. Mindeststrafrahmen: zwei Jahre Freiheitsstrafe (vormals ein Jahr). Ebenfalls eine Mindeststrafe von zwei Jahren gilt für den bandenmäßigen Anbau, die bandenmäßige Herstellung, Einfuhr oder Ausfuhr, das bandenmäßige Handeltreiben von Cannabis in nicht geringen Mengen.
    • Die Auswirkungen des Gesetzes auf den Kinder- und Jugendschutz werden wissenschaftlich evaluiert. 18 Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes erfolgt eine erste Evaluation der Auswirkungen des Konsumverbots auf den Kinder- und Jugendschutz im ersten Jahr. Zwei Jahre nach Inkrafttreten wird ein Zwischenbericht zu Auswirkungen des Gesetzes, einschließlich der Auswirkungen auf die cannabisbezogene organisierte Kriminalität unter Einbeziehung der Expertise des Bundeskriminalamtes, vorgelegt. Vier Jahre nach Inkrafttreten erfolgt eine umfassende und abschließende Evaluation des Gesetzes.
    • Die Präventionsangebote der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung werden ausgebaut.

    Maßnahmen gegen organisierte Kriminalität

    • Der gemeinschaftliche Eigenanbau in einer Anbauvereinigung ist erlaubnispflichtig. Die Vereinigungen müssen bei der zuständigen Erlaubnisbehörde vor Ort umfangreiche Angaben zu Anbauflächen, Beschäftigten und Vorstandsmitgliedern machen. Insbesondere bei einschlägigen Vorstrafen (z. B. Geldwäsche, Betrug) wird keine Erlaubnis erteilt.
    • Die Überwachungsbehörden können vor Ort die Einhaltung der Vorgaben des Gesundheits- und Jugendschutzes kontrollieren, Proben nehmen sowie einer Anbauvereinigung Auflagen erteilen und bei Verstößen die Erlaubnis entziehen.
    • Die Anbauvereinigungen dürfen nicht gewinnbringend tätig sein, also lediglich Mitgliedsbeiträge verlangen. Der gewerbliche Umgang mit Cannabis bleibt verboten.
    • Verboten bleibt ebenfalls Import, Export und Durchfuhr von Cannabis sowie Versand, Lieferung und Onlinehandel.

    Verbesserungen bei Medizinalcannabis

    • Medizinalcannabis bleibt weiterhin in pharmazeutischer Qualität für Patientinnen und Patienten durch inländischen Anbau und Importe verfügbar und wird künftig in einem eigenen Medizinal-Cannabisgesetz (MedCanG) geregelt.
    • Das Vergabeverfahren für den Anbau von Medizinalcannabis wird abgeschafft und durch ein reines Erlaubnisverfahren ersetzt. Durch die Abschaffung werden Hürden für den marktgerechten Anbau in Deutschland verringert und Chancengleichheit für die deutschen Anbauer im internationalen Wettbewerb hergestellt. Durch das Erlaubnisverfahren und Inspektionen wird weiter gewährleistet, dass Medizinalcannabis ein sicheres und kontrolliertes Arzneimittel bleibt.

    Mehr Schutz von Jugendlichen vor Betäubungsmittelmissbrauch

    • Jugendliche sollen zukünftig besser vor Betäubungsmitteln, wie z. B. Crack und Heroin, geschützt werden.
    • Dazu sind im Cannabisgesetz auch zusätzliche Strafschärfungen im Betäubungsmittelrecht vorgesehen: Der Mindeststrafrahmen für Abgabe, Verabreichen oder Überlassen von Betäubungsmittel durch über 21-Jährige an Minderjährige wird von einem Jahr auf zwei Jahre angehoben, wenn die Täterin/der Täter dabei vorsätzlich handelt und dadurch wenigstens leichtfertig ein Kind oder eine jugendliche Person in der körperlichen, geistigen oder sittlichen Entwicklung schwer gefährdet.

    Das Gesetz bedarf nicht der Zustimmung des Bundesrates.

    Der Bundesrat wird das Cannabisgesetz am 22. März 2024 beraten. Das Cannabisgesetz soll am 1. April 2024 in Kraft treten. Das Inkrafttreten der Regelungen zu Anbauvereinigungen und zum gemeinschaftlichen Eigenanbau in Anbauvereinigungen ist in einer zweiten Stufe für den 1. Juli 2024 vorgesehen.

    Hintergrund

    4,5 Millionen Erwachsene haben nach einer Erhebung im Jahr 2021 in den vergangenen zwölf Monaten mindestens einmal Cannabis konsumiert (10,7 Prozent der Männer sowie 6,8 Prozent der Frauen – 12-Monatsprävalenz). Am häufigsten wurde Cannabis in der Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen konsumiert (bezogen auf die 12-Monatsprävalenz).

    Pressestelle des Bundesministeriums für Gesundheit, 23.2.2024

  • „Mini-Trendspotter“ zu Lachgas

    Lachgas ist momentan ein viel diskutiertes Thema, u. a. in den sozialen Medien. Allerdings existiert bisher in Deutschland nur begrenztes Wissen dazu, beispielsweise über dessen Verbreitung. Daher wurde das IFT München vom Bundeministerium für Gesundheit gebeten, im Rahmen des NEWS-Projekts (National Early Warning System, ein Projekt des IFT) einen „Mini-Trendspotter“ zu Lachgas durchzuführen. Das NEWS-Team lädt somit Sie als Expert:innen dazu ein, an folgender Online-Befragung teilzunehmen: https://s2survey.net/lachgas-experts/

    Bitte füllen Sie den Fragebogen auch dann aus, wenn Lachgas in Ihrem Zuständigkeitsgebiet keine oder keine größere Rolle spielt, um ein möglichst umfassendes Bild zu erhalten.

    Um auch die Perspektive der Konsumierenden (ab 16 Jahren) einzubeziehen, bittet das NEWS-Team Sie auch, den folgenden Link zu einer Online-Befragung für Konsumierende in Ihrem Netzwerk zu teilen: https://s2survey.net/lachgas-users/

    Die Fragebögen sind zunächst bis Montag, 4. März 2024, verfügbar, wobei die Beantwortung nur wenige Minuten dauern sollte.

    Sämtliche Informationen, die im Rahmen des Mini-Trendspotters in den kommenden sechs Wochen zusammentragen werden, sollen in einem kurzen Bericht veröffentlicht werden, der voraussichtlich Anfang April 2024 über den NEWS-Verteiler sowie unter https://mindzone.info/news/trendspotter/ zur Verfügung gestellt wird.

    Quelle: Mitteilung NEWS-Projekt, 14.2.2024

  • Synthetische Opioide als gefährliche Beimengung in Heroin

    Ziel und Ergebnisse des Projekts

    Auch in Deutschland wird Heroin bereits mit lebensbedrohlichen synthetischen Opioiden gestreckt. Im Bundesmodell-Projekt RaFT (Rapid Fentanyl Tests in Drogenkonsumräumen) der Deutschen Aidshilfe (DAH) wurden im letzten Jahr 3,6 Prozent von 1.401 Heroinproben positiv auf die Beimengung getestet. Das Bundesmodellprojekt, gefördert vom Bundesgesundheitsministerium, veröffentlichte Mitte Februar zentrale Ergebnisse.

    Über sechs Monate lang wurden in 17 Drogenkonsumräumen bundesweit Schnelltests auf Fentanyl angeboten. Das Projekt RaFT sollte ermitteln, wie weit die gefährliche Beimengung in Deutschland bereits verbreitet ist, um entsprechend darauf reagieren zu können. Das Anliegen ist dringlich: Illegal hergestellte synthetische Opioide als Zusatz in anderen Substanzen sind auf dem Vormarsch, weil sie billig und einfach zu produzieren sind. Fentanyl, Nitazene und andere solche Substanzen wirken sehr viel stärker als Heroin. Während bei Heroin 200 Milligramm tödlich wirken, sind es bei Fentanyl schon 2 Milligramm. Wenn Konsumierende nichts von der Beimengung wissen, sind sie in Lebensgefahr.

    Im Bundesmodellprojekt nahmen 70 Prozent der Nutzer:innen das Angebot an, ihre Substanzen untersuchen zu lassen. Für die Schnelltests genügen winzige Mengen der Substanz. Sie können per Abstrich vom Verpackungsmaterial nachgewiesen werden. Konsument:innen müssen nichts von der Substanz abgeben. Sie erhalten das Ergebnis vor dem Konsum, können also Risiken unmittelbar vermeiden.

    RaFT dokumentierte Fälle vor allem in Hamburg sowie in Düsseldorf und Münster, aber auch in Berlin, Frankfurt, Hannover und Wuppertal gab es einige wenige positive Tests. Diese erlauben allerdings keine Aussage über die Menge des Stoffes in den untersuchten Proben. Es genügen kleinste Verunreinigungen, damit der Test anschlägt.

    Gefährlicher weltweiter Trend

    Im letzten Jahr kam es in Dublin zu 54 Drogennotfällen aufgrund von Nitazenen, in Birmingham verstarben im Sommer letzten Jahres 30 Personen am Konsum von Heroin, das synthetische Opioide enthielt. In Nordamerika haben die Substanzen aus dem Chemielabor Heroin schon fast vollständig verdrängt. Dort wissen die Konsument:innen in der Regel, was sie konsumieren. Die Risiken bleiben so oder so: Aufgrund ihrer extrem starken Wirkung sind synthetische Opioide kaum sicher dosierbar. Kürzlich warnte auch Interpol vor den neuen Substanzen.

    Fentanyl in Deutschland

    In Deutschland starben im Jahr 2022 nachweislich 83 Menschen unter Einwirkung synthetischer Opioide (Vorjahr: 102). Die wirkliche Zahl dürfte höher liegen, da bei drogenbedingten Todesfällen meist keine toxikologischen Gutachten erstellt werden.

    Die Daten aus dem RaFT-Projekt geben nun einen ersten Anhaltspunkt zur Verbreitung von Fentanyl als Beimengung in Deutschland. Im Dezember 2023 wurde, wie jetzt erst gemeldet, bei einer polizeilichen Überprüfung in München Carfentanyl gefunden, das noch einmal sehr viel stärker wirkt.

    Maßnahmen gegen Drogentodesfälle implementieren

    Winfried Holz vom Vorstand der Deutschen Aidshilfe: „Synthetische Opioide sind in Deutschland angekommen. Es ist nun höchste Wachsamkeit geboten. Internationale Erfahrungen zeigen: Viele Menschen könnten so ihr Leben verlieren. Die Bundesländer sowie die Kommunen müssen jetzt dafür sorgen, dass Drogenhilfeeinrichtungen und Konsumierende vorbereitet sind!“

    Angezeigt sind folgende gut erprobte Maßnahmen:

    • Naloxon hebt auch die Wirkung synthetischer Opioide auf. Es muss unter potenziellen Ersthelfenden (Rettungsdienste, Drogenhilfemitarbeiter:innen, Polizei, Konsument:innen selbst) verbreitet werden. Das Bundesmodellprojekt NALtrain hat Grundlagen gelegt, die Länder müssen nun für die Implementierung sorgen.
    • In Drogenkonsumräumen gehört Naloxon bereits zur Standardausrüstung. In Notfällen kann das lebensrettende Nasenspray umgehend verabreicht werden. Auch darum braucht es mehr Drogenkonsumräume – insbesondere in den noch fehlenden Bundesländern wie Bayern, die bisher die nötigen Rechtsverordnungen verweigern – und längere Öffnungszeiten.
    • Heroinkonsumierende Menschen müssen über das Risiko und mögliche Vorsichtsmaßnahmen aufgeklärt werden. Sie können zum Beispiel zunächst nur eine kleine Menge ihrer Substanz konsumieren (Dosissplitting), um die Wirkkraft zu testen, und so Überdosierungen zu vermeiden.
    • Schnelltests auf Fentanylbeimengungen müssen in Drogenkonsumräumen und anderen Drogenhilfeeinrichtungen zum Standardangebot gehören. Nach einer Beratung vor Ort könnten die Tests in Zukunft auch nach Hause mitgegeben werden. Die rechtliche Situation erlaubt diese Tests bereits.
    • Darüber hinaus brauchen wir Drug-Checking-Angebote auch für Menschen, die Drogen im Nachtleben konsumieren. Dafür müssen die Bundesländer die rechtlichen Voraussetzungen schaffen. Nur Berlin und Thüringen sind hier bereits entscheidende Schritte gegangen.

    Erprobtes Testverfahren flächendeckend anwenden

    Die beteiligten Drogenkonsumräume bieten die Tests nun auf Nachfrage weiterhin an. „Das Bundesmodellprojekt spricht dafür, das Schnelltestangebot auszuweiten und flächendeckend zu implementieren: Testangebote auf Beimengungen eröffnen in der Drogenhilfe nicht zuletzt die Möglichkeit, eine Beratung zum Thema anzubieten, so dass die Konsumierenden auf Basis von Fakten eine Entscheidung treffen können. Risiken lassen sich so reduzieren“, sagt RaFT-Projektleiterin Maria Kuban.

    „RaFT hat wichtige Erkenntnisse geliefert, wie wir Leben und Gesundheit von drogenkonsumierenden Menschen besser schützen können. Die Situation für diese marginalisierte Gruppe verschärft sich immer mehr, auch durch ein vermehrtes Auftreten von Crack. Die Drogenpolitik muss dringend die Voraussetzungen für angepasste Hilfsangebote schaffen“, sagt DAH-Vorstand Winfried Holz.

    RaFT-Ergebnisse zum Download

    Pressestelle der Deutschen Aidshilfe, 15.2.2024

  • Videotherapie

    Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2023, 195 Seiten, 38,00 €, ISBN 978-3-17-041856-1

    Eine chronische Erkrankung, eine schlechte Anbindung zur Praxis oder die Weiterführung der Therapie vom Studienort aus – auch abseits der Corona-Pandemie gibt es viele Gründe, die das Setting der videobasierten Therapie attraktiv machen. Mit dem Erfahrungsschatz aus mehreren Jahren praktischer Arbeit beschreibt die Autorin, wie Videotherapie auf der Basis der wichtigsten Wirkfaktoren psychodynamischer Psychotherapie gestaltet werden kann, und veranschaulicht ihre Umsetzung anhand zahlreicher Fallbeispiele. Das Buch bietet damit einen Einblick in die konkrete praktische Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen via Video und zeigt, dass auf diesem Weg tatsächlich intensive Psychotherapie stattfinden kann.

  • Der Forschungskompass Mentale Gesundheit kommt

    Forschung mitgestalten und die eigenen Themen im Forschungskompass Mentale Gesundheit einbringen. Foto©Jörg Farys

    Zum ersten Mal in Deutschland sammeln Menschen mit psychischen Schwierigkeiten und ihnen nahestehende Personen die für sie relevanten Forschungsthemen. Dafür startet am 22. Februar auf der Website https://kommit-deutschland.de/ ein dreiwöchiger Online-Dialog. Betroffene können dort ohne großen Aufwand ihre Themen einbringen und sehen, welche Themen andere eingebracht haben. Aus den Ergebnissen wird im Zuge einer mehrstufigen Betroffenenbeteiligung ein Forschungskompass Mentale Gesundheit erarbeitet. Er soll Forschenden dabei helfen, ihre Themenauswahl stärker am Bedarf der Betroffenen auszurichten.

    Wertvolles Erfahrungswissen

    Das Projekt trägt den Namen KOMMIT und ist angesiedelt am Deutschen Zentrum für Psychische Gesundheit (DZPG). „Wir wollen das Erfahrungswissen von Betroffenen sammeln und damit stetig zur Verbesserung von Lebensqualität und Forschung beitragen“, so Silke Lipinski, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt KOMMIT.

    „Die Online-Beteiligung ist niedrigschwellig und ohne großen zeitlichen Aufwand machbar. Mit kommit-deutschland.de wollen wir möglichst viele Betroffene und ihnen Nahestehende zum Mitmachen motivieren und so eine Vielzahl von Perspektiven für den Forschungskompass einsammeln“, ergänzt Myriam Bea, Mitinitiatorin von KOMMIT.

    Beteiligung von Anfang an

    Das Projekt wurde initiiert von Menschen mit psychischen Schwierigkeiten und ihren Angehörigen, die im sogenannten Trialogischen Zentrumsrat des DZPG organisiert sind. Eine Arbeitsgruppe der Mitglieder hat mit Unterstützung von Forschenden KOMMIT für andere Betroffene und Nahestehende konzipiert und gestaltet und begleitet es bis zur Veröffentlichung des Forschungskompasses.

    Über das DZPG

    Zum Deutschen Zentrum für Psychische Gesundheit (DZGP) gehören Forschungsinstitute in ganz Deutschland. Ihr Anliegen: die psychische Gesundheit der Bevölkerung verbessern und das Stigma von psychischen Erkrankungen nehmen. Hierfür arbeiten die Forschenden eng mit Betroffenen und ihnen Nahestehenden zusammen.

    Pressestelle des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit, 15.2.2024

  • Mehr Antipsychotika für Kinder und Jugendliche

    Antipsychotika (AP) sind Medikamente, die zur Behandlung von Erkrankungen wie Schizophrenie oder bipolaren Störungen eingesetzt werden. Obwohl das Wissen über die Sicherheit und Wirksamkeit des AP-Einsatzes bei Kindern und Jugendlichen begrenzt ist, werden AP zunehmend auch bei anderen Indikationen wie Unruhe, Angst und Schlafstörungen eingesetzt. Eine neue Studie am Universitätsklinikum Ulm (UKU) zeigt nun, dass der AP-Gebrauch bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat.

    Die Studie „Trends in antipsychotic use among children and adolescents in Germany: a study using 2011–2020 nationwide outpatient claims data“ untersuchte die Verordnung von Antipsychotika bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland von 2011 bis 2020 anhand von bundesweiten Abrechnungsdaten aus der ambulanten Versorgung. „Wir konnten zeigen, dass Antipsychotika in diesem Zeitraum immer häufiger verschrieben wurden“, erklärt Prof. Dr. Dr. Christian Bachmann, Leiter der AG Versorgungsforschung an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/ Psychotherapie des UKU und Erstautor der Studie. Dabei stieg die Verwendung von typischen Antipsychotika, also AP der ersten Generation, von 1,16 pro 1.000 auf 1,35 pro 1.000 Kindern und Jugendlichen, das ist ein Anstieg um 16 Prozent. Die Verwendung von atypischen Antipsychotika, also modernere AP, die im Vergleich zu typischen AP weniger Bewegungsstörungen mit sich bringen, nahm von 2,35 auf 2,75 pro 1.000 zu. Dies entspricht einem Anstieg von 17 Prozent. Besonders stark war die Zunahme bei Mädchen.

    „Der markante Anstieg des AP-Gebrauchs bei weiblichen Jugendlichen im Alter von 15 bis 19 Jahren, der größtenteils auf eine vermehrte Verwendung des atypischen Antipsychotikums Quetiapin zurückzuführen ist, ist bemerkenswert. Mögliche Gründe für diesen Anstieg – z. B. ein unzureichender Zugang zu psychosozialen Therapien – sollten sorgfältig analysiert werden“, betont Prof. Bachmann. Aktuelle Studien haben gezeigt, dass das Risiko für negative Veränderungen im Stoffwechsel und schwerwiegende kardiovaskuläre Ereignisse selbst bei niedrigdosiertem Quetiapin-Gebrauch erhöht ist. Aufgrund des deutlichen Anstiegs des Gebrauchs und des Mangels an Daten für diese vulnerable Gruppe empfehlen die Forschenden, die Sicherheit des Quetiapin-Gebrauchs bei Kindern und Jugendlichen weiter zu untersuchen. Darüber hinaus könnte die Einführung von Monitoringmaßnahmen – z. B. restriktivere Verschreibungsrichtlinien oder Schulungen für Verschreiber – in Betracht gezogen werden.

    „Ob der Anstieg des Antipsychotikagebrauchs in Deutschland nun auf eine zunehmende Belastung durch psychische Störungen, auf einen Ausgleich fehlender psychotherapeutischer Kapazitäten oder auf andere Gründe zurückzuführen ist, muss in weiteren Forschungsarbeiten überprüft werden. Fest steht jedoch, dass insbesondere die Sicherheit des Antipsychotikagebrauchs bei Kindern und Jugendlichen weiter untersucht werden muss“, resümiert Prof. Bachmann.

    Die Studie wurde in Zusammenarbeit mit dem Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS in Bremen, dem Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Berlin und der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg durchgeführt und in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift „Frontiers in Psychiatry“ veröffentlicht.

    Originalpublikation:
    Michael Dörks, Christian J. Bachmann, Maike Below, Falk Hoffmann, Lena M. Paschke and Oliver Scholle. Trends in antipsychotic use among children and adolescents in Germany: a study using 2011–2020 nationwide outpatient claims data. DOI: https://doi.org/10.3389/fpsyt.2023.1264047

    Pressestelle des Universitätsklinikums Ulm, 21.12.2023