Autor: Simone Schwarzer

  • Jugendschutzfilter verhindert Aufklärung für Jugendliche

    Der weit verbreitete technische Jugendschutzfilter „JusProg“ hat über lange Zeit den Zugriff auf bestimmte Webseiten der Deutschen Aidshilfe (DAH) und einiger ihrer Mitgliedsorganisationen zu Aufklärung über HIV und sexuell übertragbare Infektionen sowie zu sexueller Bildung blockiert. Auch zahlreiche andere wichtige Angebote sind betroffen. Darüber berichten der Bayerische Rundfunk (BR) und netzpolitik.org.

    „Diese Sperrpraxis ist diskriminierend und wirkt dem Auftrag der Aufklärung und Prävention entgegen. Jugendlichen werden damit lebenswichtige Informationen vorenthalten. Angebote zu sexueller Bildung für junge Menschen gilt es zu stärken statt wegzufiltern“, sagt Ulf Kristal vom Vorstand der Deutschen Aidshilfe. „Gerade bei sensiblen Themen brauchen Jugendliche vertrauenswürdige, altersgerechte Angebote.“

    Stoppschild für queeres Coming-out

    JusProg ist weit verbreitet, unter anderem, weil es sich um das einzige Programm dieser Art handelt, das in Deutschland nach gesetzlichen Vorgaben anerkannt ist. Der Jugendschutzfilter kann von Eltern oder Schulen auf Geräten installiert werden, die Kinder und Jugendliche nutzen, läuft aber zum Beispiel auch im öffentlichen BayernWLAN des Freistaates mit. Er soll anhand bestimmter Schlüsselwörter potenziell jugendgefährdende Inhalte blockieren. Rund eine Milliarde Webseitenaufrufe pro Monat laufen laut dem Betreiber von JusProg, einem gleichnamigen Verein, durch den Filter.

    Von einem roten Stoppschild empfangen wurden Informationssuchende zum Beispiel beim Aufruf der Webseiten MeinComingOut.de, ein Unterstützungsangebot für queere Jugendliche im Coming-out-Prozess der DAH-Präventionskampagne ICH WEISS WAS ICH TU sowie von Herzenslust in Nordrhein-Westfalen, Sidekicks aus Berlin und sag-muenchen.de. Sie bieten Informationen zu sexueller Gesundheit für Männer, die Sex mit Männern haben. Betroffen war auch das Portal drugchecking.berlin von Vista, der Schwulenberatung Berlin und Fixpunkt. Wie es in Prävention und Aufklärung erforderlich ist, sprechen die Angebote bezüglich Sexualität und Drogenkonsum eine klare, an der Zielgruppe orientierte Sprache – die der technische Filter dann falsch interpretiert. Alle genannten Organisationen erhalten für ihre Arbeit eine öffentliche Förderung.

    Technik darf beim Jugendschutz nicht alles sein

    Die Deutsche Aidshilfe hat von den JusProg-Betreibern eine sofortige Freigabe der Seiten gefordert, die mittlerweile auch erfolgt ist, darüber hinaus eine gründliche Klärung, wie es zu der Panne kommen konnte. JusProg e.V. hat bereits Maßnahmen ergriffen, um falsche Sperrungen in Zukunft zu reduzieren. Die Recherche zeigt aber, dass weiterreichende Maßnahmen notwendig sind. „Bei technischen Jugendschutzmaßnahmen bedarf es einer diskriminierungssensiblen Umsetzung. Um ungerechtfertigte Sperrungen zu verhindern, müssen unabhängige Fachleute die Systeme kontrollieren und korrigieren – nach öffentlich nachvollziehbaren Kriterien“, betont DAH-Vorstand Ulf Kristal. Betreiber gesperrter Seiten sollten zudem standardmäßig informiert werden, damit sie sich gegebenenfalls wehren können.

    Zugleich brauchen Jugendliche mehr nicht-technische Maßnahmen zum Jugendschutz, zum Beispiel in Form von guten Aufklärungsmaßnahmen und altersgerechter sexueller Bildung. An Schulen geschieht dies oft unzureichend – vor allem mit Blick auf geschlechtliche und sexuelle Vielfalt. Die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen zu diesen Themen ist daher unverzichtbar. Oft ist ihre Finanzierung prekär. „Wenn jugendgerechte Angebote dann noch durch Jugendschutzfilter von ihren Zielgruppen abgeschnitten werden, entsteht bezüglich Aufklärung und Prävention eine gefährliche Unterversorgung – mit fatalen Folgen für die psychische und körperliche Gesundheit von jungen Menschen“, sagt Kristal.

    Darüber hinaus schränken Jugendschutzfilter, wenn sie in öffentlichen Netzen wie dem „Bayern WLAN“ oder in Verkehrsbetrieben zum Einsatz kommen, alle Menschen ein, ganz unabhängig von ihrem Alter.

    JusProg ist kein Einzelfall

    Das Thema von Inhaltsfiltern ist der Deutschen Aidshilfe nicht neu: Die DAH-Antidiskriminierungsstelle bearbeitete zum Beispiel einen Fall, wonach ein schwuler Mann aus dem Netz einer Reha-Klinik nicht auf das queere Newsportal queer.de und das schwule Netzwerk Romeo zugreifen konnte. Auch in anderen sozialen Netzwerken gestaltet sich eine sexualitätsbejahende Bildungsarbeit oft schwierig, weil Beiträge, die das Wort „Sex“ auch nur beinhalten, oft geblockt oder in ihrer Reichweite eingeschränkt werden. „Prävention kann nur gelingen, wenn über Sexualität gesprochen werden darf – in positiver und unterstützender Weise“, betont DAH-Vorstand Ulf Kristal.

    Bericht auf tagesschau.de

    Pressestelle der Deutschen Aidshilfe, 17.1.2024

  • Medikamentenabhängigkeit als Thema bei GUTE ZEITEN, SCHLECHTE ZEITEN

    Burkhard Blienert, Olivia Marei, Andrea Hardeling. Foto: RTL/Anna Riedel

    Seit Oktober ist die Figur Toni Ahrens, gespielt von Olivia Marei, in der UFA Serial Drama Produktion GUTE ZEITEN, SCHLECHTE ZEITEN zurück aus den USA. Die Polizistin bringt aber nicht nur schöne Erinnerungen aus dieser Zeit mit, sondern ist durch die Behandlung einer Schussverletzung schmerzmittelabhängig geworden. Die Zuschauer:innen können seitdem ihren inneren Kampf und auch den Umgang ihrer Freund:innen und Familie mit Tonis Sucht bei RTL verfolgen – Schweißausbrüche, Angstzustände, Scham, Qual und Zerrissenheit zwischen Entzug und Rückfall.

    Damit ist Toni keine Ausnahme: In Deutschland nehmen etwa 2,7 Millionen Menschen Medikamente in schädlichen Mengen ein oder sind von ihnen abhängig. Etwa vier bis fünf Prozent der häufig verordneten rezeptpflichtigen Medikamente besitzen ein Abhängigkeitspotential.

    Mit der Geschichte rund um die Figur Toni haben GZSZ, UFA Serial Drama und RTL wieder ein gesellschaftlich relevantes Thema aufgegriffen. Diesmal geht es um Medikamentenabhängigkeit. Die fachliche Unterstützung für die GZSZ-Produktion kommt dazu diesmal von Burkhard Blienert, Drogenbeauftragter der Bundesregierung, sowie von der Brandenburgischen Landesstelle für Suchtfragen e. V. und der Ambulanten Beratungs- und Behandlungsstelle für Suchtkranke und Suchtgefährdete (aBBS) des AWO Bezirksverbandes Potsdam e. V. In der Vergangenheit wurden Themen wie Häusliche Gewalt, Rassismus oder Spielsucht in der Serie aufgenommen.

    Am 16. Januar wurden UFA Serial Drama-Produzentin Dominique Moro und Schauspielerin Olivia Marei sowie Burkhard Blienert in der Brandenburgischen Landesstelle für Suchtfragen in Potsdam von Geschäftsführerin Andrea Hardeling und Daniel Zeis, Einrichtungsleiter der Beratungsstelle, in Empfang genommen und konnten sich vor Ort ein Bild machen, welche vielfältigen Angebote zur Verfügung stehen, um Betroffenen und Angehörigen zu helfen und sie in ein Leben ohne Sucht zu begleiten. In Anwesenheit mehrerer regionaler und überregionaler Medien fand ein Austausch darüber statt, wie wichtig es ist, Abhängigkeitserkrankungen sichtbar zu machen.

    Burkhard Blienert, Beauftragter der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen: „Früher oder später kommen alle Menschen in ihrem Leben mit Drogen und Sucht in Kontakt. Deshalb begrüße ich, dass solche Themen auch bei täglichen Serien wie GUTE ZEITEN, SCHLECHTE ZEITEN aufgegriffen werden und dann quasi zum Serienalltag gehören. Derartige Folgen holen die Zuschauer:innen bei sich zu Hause in ihrem gewohnten Umfeld ab, also genau dort, wo sie auch mit ihrer Sucht zu kämpfen haben. Zu informieren, zu unterstützen und auch zu schützen – vor Drogenkonsum und Abhängigkeiten –, das ist ein wesentlicher Ansatz meiner Sucht- und Drogenpolitik. Ich denke, genau das ist hier bei GZSZ gelungen, sogar mit einem Thema wie Medikamentensucht, die eher zu den stillen Süchten gehört und selten im Fokus der Öffentlichkeit steht.“

    Andrea Hardeling, Geschäftsführerin der Brandenburgischen Landesstelle für Suchtfragen: „Wir freuen uns sehr, dass die besondere Situation medikamentenabhängiger Menschen durch die Serie eine so große Öffentlichkeit erfährt. OIivia Marei gibt dem Thema ein Gesicht mit all dem Leiden, das diese Krankheit mit sich bringt, aber auch der Hoffnung, die die Betroffenen niemals aufgeben dürfen. Daher mein Aufruf – sehen Sie nicht weg, suchen Sie sich Unterstützung. Suchtberatungsstellen begleiten Sie und Ihre Angehörigen auf dem Weg aus der Sucht.“

    Schauspielerin Olivia Marei: „Es berührt mich sehr, wie die Zuschauer:innen auf Tonis Geschichte und ihren inneren Kampf reagieren. Ich habe viele positive Reaktionen bekommen und bin stolz, dass wir damit etwas bewegen. Denn so kräftezehrend es ist, diese Story zu spielen, geben wir Betroffenen und Angehörigen damit auch eine Plattform – seht her, ihr seid nicht allein. Schämt euch nicht, sondern lasst euch helfen! Es wird schwer, aber ihr schafft das!“

    Dominique Moro, Produzentin UFA Serial Drama: „Der Anspruch von GZSZ und der UFA Serial Drama war schon immer, unsere Zuschauer:innen emotional abzuholen –  sei es mit Liebe, Freundschaft und Leichtigkeit, aber auch mit Intrigen, Streit und Krisen. Tonis Geschichte zeigt, wie schnell man als gefestigter Charakter in eine Medikamentenabhängigkeit rutschen kann. Sie zeigt aber auch, dass man es wieder herausschaffen kann: Mit professioneller Hilfe und viel Kraft ist ein Weg aus der Sucht möglich. GZSZ ist ganz klar ein Unterhaltungsformat und dennoch ist es wichtig, unsere Reichweite auch für ernste Themen zu nutzen. Wenn wir nur einen Menschen für das Thema Medikamentensucht sensibilisiert oder wachgerüttelt haben, hat es sich schon gelohnt!“

    Gesellschafts- und drogenpolitische Themen in der GZSZ-Produktion aufzunehmen, damit gibt es bereits gute Erfahrungen. In einer früheren GZSZ-Produktion wurde das Thema Glücksspiel aufgegriffen. Damals konnten überragend viele Menschen erreicht werden. Auch das Feedback zu Medikamentenabhängigkeit ist sehr gut: Das Gespräch mit Olivia Marei, Andrea Hardeling und Daniel Zeis wurde im Livestream auf Instagram übertragen. Insgesamt haben über 32.000 Menschen live zugesehen und knapp 1.200 Kommentare im Chat hinterlassen. Das Gespräch ist weiterhin abrufbar und hat bis jetzt schon knapp 100.000 User erreicht.

    Pressemitteilung der Brandenburgischen Landesstelle für Suchtfragen e.V., 16.1.2024

  • „Und dann war Mama Königin“ und 11 weitere Geschichten von seelischen Erkrankungen und Belastungen

    MONTEROSA Verlag, Karlsruhe 2023, 186 Seiten, 30 €, ISBN 978-3-942640-20-6, ab 8 Jahren

    12 Kinder – 12 Familien – 12 Geschichten. In diesem Buch werden Geschichten erzählt, die so oder so ähnlich häufig vorkommen und immer wieder vorkommen werden. Sie stehen stellvertretend für die Geschichten viele Kinder und Familien, die unter seelischen Erkrankungen und Belastungen leiden. Solche Geschichten zu erzählen, fällt oft sehr schwer. Aber in Vanessa, Emil und den anderen Kindern, die hier im Mittelpunkt stehen, können junge Leser:innen ihre eigene Situation wiedererkennen und merken: Ich bin nicht allein!

    In dem erzählenden Sachbuch werden anhand der zwölf Geschichten folgende psychische Erkrankungen oder Belastungen vorgestellt: Angststörung, Bipolare Störung, Depression, Essstörung,  Schizophrenie, Suchterkrankung, Traumafolgestörung, Zwangsstörung, Flucht/Heimweh, Woanders leben, Mobbing, Traurigkeit/Trauern/Trennung der Eltern. Zusätzlich zu jeder Geschichte liefert das Buch sachliche Informationen, auch für Fachkräfte, und schlägt Fragen vor, um nach der Lektüre mit den Kindern ins Gespräch zu kommen.

  • Filmprojekt zum Thema „Kinder von psychisch oder suchtkranken Eltern“

    In dem Filmprojekt zum Thema „Kinder von psychisch oder suchtkranken Eltern“ soll mit mehreren Kindern/ Jugendlichen aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil psychisch oder suchtkrank ist, eine dokumentarische Filmreihe produziert werden. Das Medienprojekt Wuppertal sucht Teilnehmende.

    Im Fokus sollen Kinder und Jugendliche stehen, die in dieser herausfordernden Familiensituation mit kranken und hilfsbedürftigen Eltern groß werden und Gefahr laufen, unter der Last selbst zu erkranken. Diese Kinder und Jugendlichen, aber auch ihre Familienmitglieder, sollen mit dem Filmprojekt eine Stimme bekommen. Interviews und Porträts von betroffenen Kindern bzw. Jugendlichen und ihren Eltern können verschiedene Fragen thematisieren: Wie ist der Alltag der Kinder im Zusammenleben mit dem kranken Elternteil? Welche Gefühle, Verhaltensweisen und Probleme der Kinder resultieren aus der Krankheit der Eltern? Was sind die Wünsche und Hoffnungen der betroffenen Kinder/ Jugendlichen?

    Der Film soll eine positive Grundhaltung haben und niemanden anklagen, sondern Offenheit und Verständnis für ein sensibles und zum Teil noch tabuisiertes Thema erzeugen. Er soll  Empathie und Solidarität unter Jugendlichen stärken, die wie alle Menschen per Zufall in ihre unterschiedlichen Familien hineingeboren wurden.

    Die Projektteilnehmenden können ihren Film von Anfang bis Ende mitgestalten und mitbestimmen, was sie in den Beiträgen von sich Preis geben möchten. Sie haben die Chance, offen über ihre Situation zu sprechen, zu reflektieren und Kummer rauszulassen. Geschichten, Erfahrungen, Nöte und Tipps können geteilt werden.

    Die Filmreihe soll anschließend öffentlich im Kino präsentiert und als Stream/ Download/ DVD für die Aufklärungs- und Präventionsarbeit genutzt werden.

    Betroffene Familien (auch Alleinerziehende), Jugendliche oder auch Kooperationspartner, die mit solchen Kindern, Jugendliche oder Familien zusammenarbeiten, können sich gerne melden bei:

    Medienprojekt Wuppertal, Tim Gontrum
    E-Mail: info(at)medienprojekt-wuppertal.de
    Insta: instagram.com/medienprojektwuppertal
    Facebook: facebook.com/medienprojekt.wuppertal
    Fon: 0202-28 31 98 79
    WhatsApp: 0177-739 1405

    Mitteilung des Medienprojekts Wuppertal, 15.1.2024

  • Sucht ist ein Querschnittsthema

    1998 hat der Hessische Landtag das Sozialministerium beauftragt, in regelmäßigen Abständen einen Suchtbericht für Hessen zu erstellen und der Öffentlichkeit vorzulegen.

    Der nun erschienene sechste Suchtbericht umfasst den Zeitraum von 2016 bis 2020 und bildet damit eine Zeit ab, die durch besondere gesellschaftliche Ereignissen geprägt war: zum einen durch den Zuzug vieler Menschen, die vor Krieg und Zerstörung geflohen sind, zum anderen durch die Corona-Pandemie, deren Anfang in das letzte Berichtsjahr fällt.

    Der Suchtbericht beschreibt die Dimension der Suchtproblematik in Hessen im Zusammenhang mit allen angrenzenden Arbeitsfeldern. Er berichtet über: Epidemiologie, Suchtpolitik, Angebote der Prävention, Beratungs- und Behandlungsangebote im Hilfesystem, Maßnahmen der Polizei und der Justiz zur Angebotsreduzierung und Repression sowie Aktivitäten in Wissenschaft und Kultur. Der Bericht dient als Informationsquelle, weist aber auch auf Bereiche hin, die zur langfristigen Sicherstellung eines wirksamen Beratungs- und Therapieangebotes der Weiterentwicklung bedürfen.

    Mit dem sechsten Suchtbericht liegt ein vielseitiger, breit aufgestellter Überblick über den Umgang mit dem Thema Sucht in Hessen vor, der nicht nur für Landeskinder interessant sein dürfte.

    Die barrierefreie Online-Version finden Sie auf der Internetseite des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration (https://soziales.hessen.de/) unter „Statistiken und Berichte zur Suchtthematik auf Landes-, Bundes- und europäischer Ebene“.

    Für eine gedruckte Version wenden Sie sich bitte per mail an: Manuela Schwender, manuela.schwender(at)hsm.hessen.de.

    Quelle:
    Sechster Suchtbericht des Landes Hessen (2016-2020), Oktober 2023
    Herausgeber: Hessisches Ministerium für Soziales und Integration (HMSI), Referat Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Wiesbaden

  • Online-Portal mit Faktenüberblick zu Sucht und Drogen

    Seit Ende Dezember 2023 ist das neue und informative Digitalportal für Daten um Sucht und Drogen online. Zentrale Daten, vielfältige Fakten und Informationen rund um Sucht und Drogen werden aktuell und kompakt bereitgestellt. Das hatte der Beauftragte der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen Burkhard Blienert am Anfang des Jahres 2023 angekündigt und verkündet nun Vollzug:

    „Wir gehen mit der Zeit und sich ändernden Anforderungen: Papierausgaben sind gut und wichtig, aber online ist schneller, unkomplizierter und für mehr Nutzende zugänglich. Die entscheidenden Daten werden nun mit dem neuen Online-Portal zentral gesammelt und so aufbereitet, dass sie vom Laien bis zur Fachkraft für jede:n gut nutzbar werden. Wer das neue Datenportal verwendet, kann sicher sein, dass qualitativ hochwertige und – ganz wichtig – aktuelle Informationen abgebildet werden.“

    Der Schwerpunkt des Portals liegt auf der interaktiven grafischen Darstellung von wissenschaftlichen Daten. Nutzer:innen können die Informationen, die sie interessieren, aussuchen und nach verschiedenen Kriterien grafisch zusammenstellen – etwa nach Geschlecht, Alter oder problematischem Konsum. Angereichert sind die faktenbasierten Seiten mit kurzen und prägnanten Informationstexten zum Hintergrund. Auch das ein oder andere Statement des Drogenbeauftragten bietet eine politische Einordnung für Laien und Fachinteressierte. Zudem sind für das fachinteressierte Publikum wissenschaftliche Quellverweise sowie weiterführende Fakten übersichtlich verlinkt.

    Verfügbar sind über das Online-Portal Informationen unter anderem zur Verbreitung des Substanzgebrauchs, zu sozialen und gesundheitlichen Folgen sowie zu Prävention, Behandlungsnachfrage und Schadensminderung.

    Bisher müssen entsprechende Informationen aus verschiedenen Quellen zusammengestellt werden. Viele Informationen sind nicht allgemein verständlich dargestellt, so dass das verfügbare Wissen seine Wirkkraft nicht in Gänze entfalten kann. Das Portal wurde gemeinsam mit dem Institut für Therapieforschung (IFT) aufgesetzt, mit ihm ist auch die weitere Datenpflege geplant.

    Unter diesem Link ist das Datenportal zu finden: https://datenportal.bundesdrogenbeauftragter.de/

    Pressestelle des Beauftragten der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen, 20.12.2023

  • Act creative ONLINE!

    Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2023, 304 Seiten,32,00 €, ISBN 978-3-608-89281-9

    Wer als Coach, Berater:in oder Psychotherapeut:in eine „zündende Idee“, eine überraschende Intervention oder eine bewährte Übung sucht, wird hier fündig. In diesem Buch erfahren die Leser:innen, wie sie im Online-Setting kreativ und abwechslungsreich vorgehen können. Für alle, die online mit Einzelpersonen, Gruppen oder Teams arbeiten, bietet die neue Creative-Toolbox eine Fülle an handlungs- und erlebnisorientierten Methoden.

    20 sorgfältig aufeinander abgestimmte Tipps zeigen zu Beginn, wie das Online-Setting souverän vorbereitet und durchgeführt werden kann. Nach der Vermittlung von klassischen Basistechniken, die für das Online-Setting modifiziert wurden, folgen 75 kreative Tools, sortiert in Starter, mit denen die Teilnehmer:innen angewärmt werden, Explorer zum Vertiefen von Prozessen und Themen sowie Integratoren zum Abrunden.

  • Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie auf die Sucht-Rehabilitation

    Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie auf die Sucht-Rehabilitation

    1. Einleitung

    Bereits Anfang 2020 war erkennbar, dass die SARS-CoV-2-Pandemie erhebliche Implikationen auch auf die medizinische Rehabilitation haben wird. Daher initiierte die Deutsche Rentenversicherung Bund den Förderaufruf „Forschungsvorhaben zu Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie auf das System der Rehabilitation“. In diesem Rahmen wurde das hier vorgestellte Forschungsprojekt „Auswirkungen der SARS‐CoV‐2-Pandemie auf die Sucht-Rehabilitation und Nachsorge (CoV-AZuR)“ im Sommer 2020 am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin konzipiert.

    Die Sucht-Rehabilitation unterscheidet sich von der medizinischen Rehabilitation bei anderen Indikationen in mehreren Aspekten, welche während der SARS-CoV-2-Pandemie Bedeutung gehabt haben könnten. Hierzu gehören besondere Zugangswege. Neben Entgiftungsstationen in Akutkrankenhäusern und weiteren Institutionen erfolgt der Zugang insbesondere über Suchtberatungsstellen. Das Spektrum der Einrichtungen, in denen Sucht-Rehabilitation durchgeführt wird, variiert erheblich, von Suchtberatungsstellen mit wenigen Reha-Behandlungsplätzen bis hin zu großen Fachkliniken mit hunderten Betten. Die durchschnittliche Dauer der Sucht-Rehabilitation beträgt 86 Tage, im Gegensatz zu 23 Tagen in der somatischen Rehabilitation (Deutsche Rentenversicherung Bund, 2022). Entsprechend höher liegen die Kosten für Sucht-Rehabilitationsleistungen (Deutsche Rentenversicherung Bund, 2020). Die Rehabilitandenstruktur unterscheidet sich deutlich von derjenigen in der übrigen medizinischen Rehabilitation: Sie weist einen hohen Männeranteil, ein vergleichsweise niedriges mittleres Alter und einen niedrigen sozioökonomischen Status mit einer Überrepräsentation von z. B. Arbeitslosen, Wohnungslosen, Menschen in betreutem Wohnen und Gefangenen auf.

    Während der Pandemie kam es zu Veränderungen im Zugang zu Suchtmitteln und im Konsumverhalten. Die Studienlage hierzu ist je nach Suchtmittel und untersuchter Population uneinheitlich (Georgiadou et al., 2020; Koopmann et al., 2020; Manthey et al., 2020; Suhren et al., 2021; Klosterhalfen et al., 2022). Es wurden neue oder vermehrt in der Pandemie auftretende Motive für erhöhten Substanzkonsum und verstärktes Suchtverhalten identifiziert, darunter Langeweile, Einsamkeit und Angst vor Ansteckung (Lochbühler, 2021). Es ist aus vorherigen Studien bekannt, dass diese Faktoren bestehende Suchterkrankungen verstärken bzw. die Rückfallgefahr erhöhen können (Henkel, Zemlin, 2009).

    Vor diesem Hintergrund hatte die Studie zum Ziel, pandemiebedingte Veränderungen in der Sucht-Rehabilitation und ‑Nachsorge zu beschreiben. Folgende Fragestellungen wurden untersucht: Welche Veränderungen während der SARS‐CoV‐2-Pandemie zeigten sich für die Sucht-Rehabilitation und ‑Nachsorge in Bezug auf

    1. organisatorische, strukturelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen,
    2. Personal und Teamarbeit,
    3. Zugang und Inanspruchnahme der Sucht-Rehabilitation und Rehabilitandenstruktur,
    4. Reha-Konzept, therapeutische Leistungsangebote und Digitalisierung
    5. und in Bezug auf Behandlungsergebnisse?

    2. Methoden

    Die Beobachtungsstudie verfolgt einen Mixed-Methods-Ansatz und bindet mehrere Akteure und Perspektiven ein. Hierzu gehören Einrichtungsleitungen, Behandler:innen und Rehabilitand:innen. Die Studie gliedert sich in vier Module M1 bis M4:

    M1: Einrichtungsleitungen aller ca. 1.050 Einrichtungen der Sucht-Rehabilitation und ‑Nachsorge in Deutschland wurden zu zwei Zeitpunkten (t1: Herbst 2021, t2: Sommer 2022) angefragt, online einen Fragebogen auszufüllen. Einschlusskriterium war das Vorhalten wenigstens einer der folgenden Leistungstypen: stationäre Rehabilitation (STR), Adaption (ADA), ganztägig ambulante Rehabilitation (TAR), ambulante Rehabilitation (ARS) und Suchtnachsorge (NAS). Der auswertbare Rücklauf umfasste zu t1/t2 n=336/415 Fragebögen für n=556/615 Einrichtungsstandorte. Für einen Teil der Analysen wurden die Einrichtungen in drei Settings gruppiert:

    1. Stationäre Einrichtungen: ausschließlich stationäres Angebot inkl. Adaption (t1/t2 n=58/68)
    2. Gemischt stationär-ambulante Einrichtungen (inkl. TAR, n=39/35)
    3. 3. Ambulante Einrichtungen: ausschließlich berufs-/alltagsbegleitendes ambulantes Angebot (ARS und/oder NAS, n=239/312).

     M2: Zur vertieften Exploration wurden mit n=26 ärztlich oder therapeutisch in Sucht-Reha-Einrichtungen tätigen Personen Leitfaden-gestützte Interviews (über Videotelefonie) zu zwei Zeitpunkten durchgeführt (t1: Ende 2021/Anfang 2022; t2: Herbst 2022). Die Audioaufnahmen wurden transkribiert und inhaltsanalytisch nach Kuckartz ausgewertet.

     M3: In der ersten Jahreshälfte 2022 wurde in 34 Sucht-Reha-Einrichtungen eine Hybrid-Befragung (wahlweise online oder schriftlich) von insgesamt n=460 Personen, die sich zum Befragungszeitpunkt in Sucht-Rehabilitation (n=303) oder Nachsorge nach vorheriger Sucht-Rehabilitation (n=157) befanden, durchgeführt. Die Angaben wurden deskriptiv ausgewertet.

    M4: Ergänzend wurden Routine-Statistiken der Deutschen Rentenversicherung und Routine-Daten, die mit dem Kerndatensatz Sucht (KDS) erhoben werden, vergleichend für die Jahre 2019 bis 2021 herangezogen.

    Abbildung 1 zeigt, wie sich die vier Studienmodule in den Pandemieverlauf zeitlich einordnen.

    Abbildung 1: Studienmodule mit Erhebungszeiträumen im Pandemieverlauf. Pfeile symbolisieren retrospektive Fragestellungen teils spezifisch auf die erste Welle bezogen (M1) und Einschluss von Personen in Nachsorge, die zuvor ihre Rehabilitation abgeschlossen hatten (M3). Quelle: Robert-Koch-Institut 2023; eigene Darstellung.

    In diesem Beitrag werden ausgewählte Studienergebnisse vorgestellt. Eine detailliertere Beschreibung sowohl der Methodik als auch von einzelnen Ergebnissen und deren Einordnung in den Forschungsstand wurde an anderer Stelle publiziert (Brünger et al., 2023; Burchardi et al., 2023).

    3. Ergebnisse

    3.1 Organisatorische, strukturelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen

    Nahezu sämtliche Einrichtungen der Sucht-Rehabilitation und Nachsorge berichteten von der Implementierung umfassender Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit der Pandemie. Diese Maßnahmen umfassten die Verpflichtung zum Testen und zum Tragen von Masken, Abstandsregeln, die Reduzierung von Gruppengrößen, die Erweiterung räumlicher Kapazitäten (teilweise durch Anmietung oder Umwidmung von Räumlichkeiten), die Umwandlung von Doppelzimmern in Einzelzimmer sowie restriktivere Vorschriften bezüglich Ausgang, Besuchen und Heimfahrten. Der infolge der Implementierung von Hygiene- und Abstandsregeln entstandene Raummangel führte bei etwa 70 % der Einrichtungen zu Problemen bei der Umsetzung von Therapie und Aufenthalt. Die subjektive Wahrnehmung von Corona-Schutzmaßnahmen durch die Rehabilitand:innen selbst variierte: Während 34 % der Befragten eher oder völlig zustimmten, dass sie sich durch die Hygienemaßnahmen stark eingeschränkt fühlten, gaben 42 % an, sie fühlten sich eher nicht oder überhaupt nicht eingeschränkt.

    Die Einstellungen in Bezug auf Corona-Schutzimpfungen variierten deutlich zwischen den verschiedenen Einrichtungen. Einerseits akzeptierte etwa ein Drittel der Einrichtungen zumindest zeitweise nur Rehabilitand:innen mit Impfnachweis (34 %). Andererseits verzichteten zwei Drittel der Einrichtungen durchgehend im Zeitverlauf auf einen Impfnachweis (66 %). Die einrichtungsbezogene Impfpflicht für das Personal wurde je nach Setting von 59-85 % der Einrichtungsleitungen begrüßt. Allerdings traten in 23-30 % der Einrichtungen Konflikte in der Belegschaft in Bezug auf die Corona-Schutzimpfung auf, die in Einzelfällen zu Kündigungen oder Versetzungen führten (Abbildung 2).

    Abbildung 2: Interne Probleme aufgrund der einrichtungsbezogenen Impfpflicht (M1, t2). Mehrfachantworten möglich

    Abbrüche oder Unterbrechungen laufender Reha-Leistungen, ein Aufnahmestopp und die generelle Ein­­stellung von rehabilitativen und weiteren, nicht-rehabilitativen Leistungen waren am häufigsten in der ersten Pandemiewelle im Frühjahr 2020 zu verzeichnen. Jedoch war dies bei einer Minderheit der Einrichtungen der Fall. Die häufigsten genannten Gründe hierfür waren landesrechtliche bzw. behördliche Anordnungen gefolgt von innerbetrieblichen Gründen. Ein beträchtlicher Anteil der Einrichtungs­leitungen gab an, die Anzahl der Behandlungsplätze pandemiebedingt reduziert zu haben. Die Reduktion fiel in der ersten Welle besonders hoch aus, überwiegend in Einrichtungen der stationären (48 %) und ganztägig ambu­lan­ten Rehabilitation (55 %). Die am häufigsten genannten Gründe waren ein Mangel an Therapie­räumen sowie ein Mangel an Rehabilitandenzimmern aufgrund zunehmender Einzel­belegung.

    Bedingt durch die Reduktion von Behandlungsplätzen, die gesunkene Nachfrage und pandemiebedingte Mehrausgaben gestaltete sich die wirtschaftliche Situation der Einrichtungen 2020 und 2021 im Vergleich zu 2019 auch unter Berücksichtigung von Ausgleichszahlungen für etwa jede zweite Einrichtung mit stationärem Angebot (49 %) und gut jede dritte ambulante Einrichtung schwieriger (39 %). Dies führte je nach Setting bei 26-51 % der Einrichtungen zu Zurückstellungen von Investitionen (Abbildung 3).

    Abbildung 3: Finanzielle Auswirkungen der Pandemie (M1, t1). Mehrfachantworten möglich

    Die Einrichtungsleitungen bewerteten Vorgaben und Unterstützungsangebote der Fachverbände überwiegend positiv, auch die Leistungsträger erhielten eine eher positive Bewertung. Hierzu zählt die mehrheitlich als flexibel und unbürokratisch erachtete Möglichkeit zur modifizierten Leistungs­erbringung bzw. Abrechnung während der Pandemie. Hingegen wurden Gesundheitsämter und andere staatliche Institutionen bzw. Behörden kritischer bewertet.

    3.2 Personal und Teamarbeit

    Die Pandemie war mit erheblichen Auswirkungen auf Personalsituation und -management verbunden. Hierzu gehören zum ersten Befragungszeitpunkt im Herbst 2021 eine Verringerung oder Einstellung von Fortbildungen, mehr Homeoffice, Mehrarbeit/Überstunden und Verschiebung von Urlaub. Daneben wurden als Herausforderungen krankheitsbedingte Ausfälle beim Personal, besondere Regelungen für Risiko-Beschäftigte, Abbau von Überstunden bzw. Resturlaub sowie erhöhter Personalbedarf genannt. Zum zweiten Befragungszeitpunkt im Sommer 2022 hatten pandemiebedingte Auswirkungen auf die Personalsituation etwas abgenommen, lagen jedoch weiterhin auf einem hohen Niveau. Eine Ausnahme stellte der Personalausfall durch Krankheit dar: Dies war zu diesem Zeitpunkt mit je nach Setting 61-85 % Nennungen der am häufigsten berichtete Aspekt (Abbildung 4).

    Abbildung 4: Auswirkungen der Pandemie auf Personalsituation und -management (M1). Mehrfachantworten möglich

    Je nach Setting berichteten im Herbst 2021 74-82 % der Einrichtungen von erheblichen Veränderungen in der Teamarbeit. Im Sommer 2022 ging dieser Anteil bei den stationären Einrichtungen leicht von 74 % auf 67 % zurück und halbierte sich in gemischt stationär-ambulanten (41 %) und rein ambulanten Einrichtungen (37 %). Zu den genannten Veränderungen gehörten die Einführung von digitalen Teamsitzungen, weniger Möglichkeiten zur Supervision und Team-Konflikte hinsichtlich Corona (Abbildung 5).

    Abbildung 5: Art der Veränderungen in Teamarbeit (M1). Mehrfachantworten möglich

    Ein sehr hoher Anteil der Einrichtungsleitungen in stationären (90 %) und gemischt stationär-ambulanten Einrichtungen (97 %) sowie 77 % der ambulanten Einrichtungen berichteten im Herbst 2021 von pandemiebedingten beruflichen Mehrbelastungen beim Personal. Private Mehrbelastungen wurden vergleichbar häufig genannt (84-89 %). Im Sommer 2022 ging der Anteil zurück, jedoch gab weiterhin die Mehrheit der Einrichtungsleitungen berufliche (53-73 %) und private (58-71 %) Mehrbelastungen an. Zu den genannten beruflichen Mehrbelastungen gehören Hygiene- und Schutzmaßnahmen, höhere Arbeitsintensität bzw. Mehrarbeit, veränderte Teamarbeit und veränderte Arbeitsinhalte, Umstellung auf digitale therapeutische Angebote, Homeoffice und veränderte Arbeitszeiten. Als private Mehrbelastungen wurden psychische Anspannung und Stress, Angst vor Ansteckung und Belastung durch vermehrte häusliche Kinderbetreuung bzw. Homeschooling sowie Belastungen durch soziale Isolation und reduzierte Work-Life-Balance genannt.

    3.3 Zugang, Inanspruchnahme und Rehabilitandenstruktur

    Gut die Hälfte der befragten Rehabilitand:innen (54 %) gab an, dass es pandemiebedingt zu einem erhöhten Verlangen bzw. Drang nach Suchtmitteln kam. Von diesen Personen wurden als häufigste Gründe soziale Isolation/Einsamkeit (73 %), Langeweile (64 %) und Konflikte in Partnerschaft und/oder Familie (36 %) angegeben. 52 % gaben einen (eher) erhöhten Suchtmittel­konsum an, 11 % einen verminderten Konsum. 62 % der Befragten berichteten, häufiger allein konsumiert zu haben.

    Während der Pandemie waren zunächst 23 % der Rehabilitand:innen über Behandlungsmöglich­keiten (eher) verunsichert, 19 % hatten laut eigenen Angaben nicht ausreichend professionelle Hilfe. 12 % gaben (eher) Schwierigkeiten an, sich über Möglichkeiten einer Sucht-Rehabilitation zu infor­mieren. 13-15 % der Befragten empfanden die Suchthilfe und ‑beratung in der Nähe als schwer oder gar nicht persönlich erreichbar und nahmen überwiegend telefonische oder Online-Gespräche wahr. 11 % gaben (eher) an, dass sie von keiner Klinik zur Entgiftung aufgenommen werden konnten (Abbildung 6).

    Abbildung 6: Subjektive Wahrnehmung von Beratung und Unterstützung im Vorfeld einer Sucht-Rehabilitation (M3)

    Gemäß Auswertungen der Deutschen Rentenversicherung lag die Anzahl der Sucht-Reha-Leistungen 2020 und 2021 um 10 % bzw. 9 % unter dem Niveau des Vorpandemiejahrs 2019. Der Rückgang fiel bei Frauen (-12 %/-11 %) und Alkohol­abhängigkeit (-13 %/-16 %) sowie für Kurzzeitbehandlung (-12 %/-18 %) und Adaption (-14 %/-12 %) überdurchschnittlich hoch aus. Bei illegalen Drogen wurde 2021 fast wieder das Niveau von 2019 erreicht (-2 %). Die Quote von angetretenen zu bewilligten Sucht-Reha-Leistungen reduzierte sich gemäß Deutsche Rentenversicherung von 79 % im Jahr 2019 auf 70 % im Jahr 2021. Die Einrichtungsleitungen berichteten ebenfalls von einem erhöhten Anteil an Nicht-Antrit­ten, der im Sommer 2022 noch anhielt. Als Gründe für die gesunkene Nachfrage wurden Verun­sicherung über Behandlungsmöglichkeiten in der Pandemie (79 %), weniger Weitervermittlungen (69 %), Angst vor Ansteckung (62 %) und restriktive Regeln in der Einrichtung (48 %) am häufigsten genannt.

    Je nach Setting vermuteten im Sommer 2022 71-80 % der Einrichtungsleitungen mittelfristig einen erhöhten Bedarf an Sucht-Rehabilitationen im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie. Als primärer Grund wurde von 99 % ein pandemiebedingter Anstieg von Suchtproblematiken angegeben, 47 % begründeten ihre Erwartungen zudem mit nachzuholenden Leistungen.

    Hinsichtlich möglicher Veränderungen der Rehabilitandenstruktur während der Pandemie gaben die Einrichtungsleitungen zu beiden Befragungszeitpunkten an, dass der Anteil von Personen mit ausgeprägter somatischer bzw. psychischer Komorbidität gestiegen sei.

    3.4 Reha-Konzept, Leistungsangebote und Digitalisierung

    Die Einrichtungsleitungen berichteten zum ersten Befragungszeitpunkt im Herbst 2021 von erheblichen Änderungen sowohl am Reha-Konzept als auch bei einzelnen therapeutischen Leistungsangeboten. Die Mehrheit der Einrichtungen trennte zumindest zeitweise konsequent sowohl Behandlungsgruppen (60-66 %) als auch Wohnbereiche (48-56 %). Bei gruppen­therapeutischen Angeboten wurden Gruppengrößen reduziert, Gruppen ins Freie verlagert, Ersatzangebote wie „Stillarbeit“ angeboten bzw. auf telefonische und videogestützte Einzel- und Gruppentherapie umgestellt. Auch angehörigenorientierte Interventionen wurden stark eingeschränkt bzw. auf digitale Formen umgestellt. Externe Belastungs- und Arbeitserprobungen sowie Praktika mussten aufgrund von Ausgangs- und Heimfahrtbeschränkungen sowie restriktiven Regeln bei kooperierenden Unternehmen eingeschränkt werden. Einige Reha-Einrichtungen erweiterten im Gegenzug ihre internen berufsbezogenen Angebote oder gewährleisteten einen digitalen Austausch mit externen Unternehmen. Im Sommer 2022 zum zweiten Befragungszeitpunkt wurden Änderungen am Reha-Konzept und an einzelnen therapeutischen Leistungsangeboten seltener berichtet.

    Im Herbst 2021 gaben 48 % der Leitungen von stationären Einrichtungen und 71-74 % der Leitungen der übrigen Einrichtungen an, dass sich in der Pandemie die therapeutische Beziehung verändert habe. Als Gründe wurden vorwiegend die Maskenpflicht und Abstandsregeln genannt. Reduzierte Gruppengrößen sowie mehr Einzeltherapie wurden in Hinblick auf den Aufbau einer guten therapeutischen Beziehung kontrovers beurteilt. Je nach Setting überwogen leicht negative bzw. positive Bewertungen. Die Rehabilitand:innen nahmen ihre Rehabilitation während der Pandemie subjektiv überwiegend positiv wahr. 63 % stimmten der Aussage (eher) zu, sich innerhalb der Reha-Einrichtung sicher und frei zu fühlen. Nur 12 % gaben an, dass die Therapie durch Konflikte aufgrund von Meinungsverschieden­heiten zum Thema Corona beeinträchtigt war. Allerdings berichtete gut die Hälfte der Einrichtungsleitungen im Herbst 2021, dass es wegen restriktiverer Ausgangs-, Besuchs- und Heimfahrtregeln häufig (17 %) bzw. gelegentlich (39 %) zu Konflikten mit Rehabilitand:innen oder Angehörigen kam. Lediglich etwa 7 % der Einrichtungen gaben an, dass es diesbezüglich nie zu Konflikten gekommen sei.

    Telefonische und digitale Technologien kamen in der Pandemie für zahlreiche Leistungsangebote vermehrt zum Einsatz. Am häufigsten waren telefonische Einzeltherapien verbreitet, 95 % der ambulanten und 58 % der stationären Einrichtungen berichteten dies. Zudem boten 72 % der ambulanten Einrichtungen Einzeltherapie auch videogestützt an, bei stationären Einrichtungen waren es 22 %. Ein häufiger Einsatzzweck für digitale Technologien waren auch Online-Vorgespräche vor Aufnahme (je nach Setting bei 38-45 % der Einrichtungen) und Online-Angehörigengespräche (51-56 %). Gut ein Drittel der gemischt stationär-ambulanten (35 %) und ambulanten Einrichtungen (37 %) berichtete, auch Gruppentherapien online erbracht zu haben. Telefonisch angebotene Gruppen­therapien waren hingegen selten (je nach Setting 1-14 %) (Abbildung 7).

    Abbildung 7: Nutzung telefonischer/digitaler Therapieangebote (M1, t2). Mehrfachantworten möglich

    Von den befragten Rehabilitand:innen gab ein Viertel an, telefonische bzw. digitale Angebote in Anspruch genommen zu haben, wobei die Nutzung in der ambulanten Rehabilitation (37 %) erheblich höher als in der stationären Rehabilitation (10 %) ausfiel.

    Die Implementierung von telefonischen bzw. digitalen Therapieangeboten wurde sowohl von Einrichtungsleitungen als auch Rehabilitand:innen überwiegend positiv beurteilt. 87 % der Einrichtungsleitungen fanden dies während der Pandemie als ergänzendes Angebot (eher) sinnvoll, 84 % plädierten (eher) dafür, dies auch nach der Pandemie zu ermöglichen. Zugleich gaben 75 % an, dass Vor-Ort-Angebote (eher) zu bevorzugen sind. Bei der Befragung von Rehabilitand:innen zeigten sich vergleichbare Ergebnisse.

    3.5 Behandlungsergebnisse

    Laut Deutscher Suchthilfestatistik blieb der Anteil planmäßiger Entlassungen über die Jahre 2019 bis 2021 konstant bei etwa 80 %. Gemäß Auswertungen der Deutschen Rentenversicherung ging der Anteil regulärer Entlassungen im Bereich Alkoholabhängigkeit im Jahr 2020 (62 %) im Vergleich zu 2019 (66 %) etwas zurück, stabilisierte sich jedoch 2021 (65 %) wieder annähernd. Ein vergleichbarer Befund zeigte sich für die Arbeitsfähigkeit bei Rehabilitationsende.

    Schwierigkeiten beim Entlassmanagement berichteten 77 % der stationären Einrichtungen und 43 % der Einrichtungen mit ambulantem Angebot im Herbst 2021. Im Sommer 2022 reduzierte sich dieser Anteil deutlich auf 33 % bzw. 19 % der Einrichtungen. Am häufigsten wurden Probleme bei der Weitervermittlung in Selbsthilfegruppen berichtet (je nach Setting 83-86 %). Ebenso war der Zugang in Nachsorge (41 %), in ambulante ärztliche (23-46 %) und psychotherapeutische Versorgung (36-52 %) und in berufliche Wiedereingliederungsmaßnahmen (28-51 %) während der Pandemie vielfach erschwert. Tendenziell wurden in allen drei Settings im Sommer 2022 für die meisten Weiterbehandlungsbereiche seltener besondere Schwierigkeiten berichtet. Ausnahmen stellen die ambulante ärztliche (48-55 %) und psychotherapeutische Versorgung (50-85 %) dar (Abbildung 8).

    Abbildung 8: Weiterbehandlungsbereiche, bei denen Schwierigkeiten auftraten (M1). Mehrfachantworten möglich; nur Ergebnisse n≥5 dargestellt

    Die befragten Einrichtungsleitungen berichteten sowohl von positiven als auch negativen Einflüssen auf den Behandlungserfolg. Verkleinerungen der Gruppengröße wurden am häufigsten positiv hinsichtlich des Behandlungserfolgs eingeschätzt, gefolgt von mehr Einzeltherapie und festen Gruppenkonzepten. Als negative Einflussfaktoren des Behandlungserfolgs wurden fehlende externe Belastungserprobung, Veränderungen der Ausgangs-, Heimfahrt- und Besuchsregelungen, Personalbelastungen sowie Hygiene- und Abstandsregeln genannt.

    4. Diskussion

    Es zeigten sich deutliche pandemiebedingte Auswirkungen auf die Sucht-Rehabilitation in Bezug auf Rahmenbedingungen, Personalsituation und Teamarbeit, Inanspruchnahme von Sucht-Rehabilitation sowie hinsichtlich Reha-Konzept und Ausgestaltung einzelner therapeutischer Leistungsangebote. Um das Therapieangebot bei gleichzeitig bestmöglichem Schutz von Rehabilitand:innen und Personal vor einer Corona-Infektion aufrechtzuerhalten, mussten die Sucht-Reha-Einrichtungen mit Beginn der Pandemie in kürzester Zeit umfassende Konzepte zur Hygiene und Infektionsprävention erstellen, umsetzen und regelmäßig an die aktuellen Vorgaben und die jeweilige Pandemiesituation anpassen. Damit einher gingen Veränderungen in der Teamarbeit – z. B. digital geführte Teamsitzungen, Supervisionen sowie Fort- und Weiterbildungen – sowie erhöhte berufliche und private Belastungen für das Personal.

    Die Nachfrage nach Sucht-Rehabilitation reduzierte sich in den Jahren 2020 und 2021 um jeweils etwa 10 % gegenüber 2019, allerdings fiel dieser Rückgang weniger stark aus als in der medizinischen Rehabilitation insgesamt. Hier waren Rückgänge von 18 % bzw. 15 % zu verzeichnen (Deutsche Rentenversicherung Bund, 2022). Ein Großteil der Einrichtungsleitungen rechnet kurz- bis mittelfristig mit einer steigenden Nachfrage nach Sucht-Rehabilitation, im Wesentlichen begründet durch einen pandemiebedingten Anstieg an Suchtproblematiken und als Nachholeffekt. Die gesunkene Nachfrage, die notwendige Verringerung von Behandlungsplätzen und pandemiebedingte Mehrausgaben gingen mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Reha-Einrichtungen einher. 2022 kamen Energiekrise und Inflation hinzu.

    Nahezu alle therapeutischen Leistungsangebote mussten zur Wahrung von Corona-Schutzmaßnahmen zumindest zeitweise in veränderter Form erbracht werden, beispielsweise durch Verkleinerungen von Gruppen, Verlagerungen ins Freie und durch Umstellungen auf digitale und telefonische Angebote. Dies hatte laut Einrichtungsleitungen unterschiedliche Auswirkungen auf die therapeutische Beziehung. So wurden Maskenpflicht und Abstandsregeln mehrheitlich als negativ empfunden. Es ist derzeit noch nicht eindeutig beurteilbar, ob Pandemie und Corona-Schutzmaßnahmen und damit verbundene Änderungen des Rehabilitationskonzepts und der therapeutischen Leistungsangebote Auswirkungen auf den langfristigen Behandlungserfolg haben, da Auswertungen zur Katamnese zwölf Monate nach dem Ende der Rehabilitation im Pandemiezeitraum erst begrenzt verfügbar sind. Gemäß Routinedatenauswertungen hat sich der kurzfristige Behandlungserfolg hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit zu Reha-Ende – nach einem leichten Rückgang im Jahr 2020 – im Jahr 2021 wieder auf dem Niveau vor der Pandemie stabilisiert (Erbstößer et al., 2022).

    Während der Pandemie wurden vermehrt telefonische und digitale Technologien für einzelne therapeutische Leistungsangebote eingesetzt, darunter Einzel- und Gruppentherapien sowie für Vorgespräche und angehörigenorientierte Interventionen. Dies wurde sowohl von Einrichtungs­leitungen als auch Rehabilitand:innen als ergänzendes Angebot überwiegend positiv bewertet. Grund­sätzlich werden Vor-Ort-Angebote bevorzugt. Zugleich waren sowohl Einrichtungsleitungen als auch befragte Rehabilitand:innen mehrheitlich der Meinung, dass telefonische und digitale Therapieangebote auch über die Pandemie hinaus eine sinnvolle und niedrigschwellige Ergänzung darstellen. Solche Angebote ermöglichten es den Einrichtungen zudem, in der Pandemie unter Wahrung von Corona-S­chutz­maßnahmen die therapeutische Beziehung auch bei Personen aufrechtzuerhalten, die beispiels­weise aufgrund von Krankheit oder Quarantäne nicht an Vor-Ort-Therapien teilnehmen konnten.

    Es liegt bislang wenig Evidenz vor, ob telefonische oder digitale rehabilitative Angebote genauso wirksam sind wie Vor-Ort-Angebote. Es gibt zwar vergleichende Studien zur Wirksamkeit einzelner digitaler Angebote wie ambulante Psychotherapie (Lutz et al., 2021) und Suchtberatung (Pritszens, Köthner, 2020). Jedoch existieren noch keine ausreichenden Erkenntnisse darüber, ob sich diese Ergebnisse auf komplexe Versorgungsformen wie die Sucht-Rehabilitation übertragen lassen. Weitere Wirksamkeits­untersuchungen sind wünschenswert, um den Nutzen digital erbrachter Therapieangebote besser beurteilen zu können.

    5. Fazit

    Die Einrichtungen der Sucht-Rehabilitation und ­‑Nachsorge wurden in der Pandemie vor erhebliche Herausforderungen gestellt. Durch gemeinschaftliche Anstrengungen konnten diese Herausforderungen gemeistert werden. Davon zeugen:

    • der im Vergleich zur übrigen medizinischen Rehabilitation geringere Rückgang bei der Inanspruch­nahme der Sucht-Rehabilitation,
    • die im gesamten Pandemieverlauf kontinuierliche und lückenlose Aufrechterhaltung eines niedrigschwelligen Sucht-Rehabilitations- und Nachsorgeangebots in der Fläche, teils unter Nutzung telefonischer und digitaler Technologien,
    • der allenfalls temporär reduzierte kurzfristige und langfristige Rehabilitationserfolg (soweit sich dies anhand der vorliegenden Studiendaten und weiterer Statistiken und Veröffentlichungen aktuell beurteilen lässt).

    Diese in der Pandemie gewonnenen Erfahrungen bieten Potenzial für die Weiterentwicklung der Sucht-Rehabilitation sowohl für zukünftige Krisen als auch für die Routineversorgung in postpandemischer Zeit.

    Um die Versorgung auf hohem Niveau und angepasst an die gegebenen Bedingungen auch in Krisenzeiten zu gewährleisten, ist es sinnvoll, Vorkehrungen zu treffen. Dazu zählen:

    • die Erstellung von Pandemieplänen einschließlich der kurzfristigen Einrichtung eines Krisenstabs bei Bedarf,
    • die Bereitstellung der erforderlichen technischen Ausstattung,
    • das Vorhalten von Infektionsschutzmaterialien und
    • die entsprechende Schulung der Beschäftigten.

    Zusätzlich ist es von entscheidender Bedeutung, die Erreichbarkeit und Zugänglichkeit des Suchthilfesystems für Betroffene und Angehörige auch in Krisenzeiten zu kommunizieren, um potenzielle Versorgungslücken zu vermeiden.

    In einem anderen Forschungsprojekt wurden detaillierte Handlungsempfehlungen für pandemische Krisensituationen entwickelt, die prinzipiell auch auf die Sucht-Rehabilitation übertragbar sind (Annaç et al., 2023a). Dieser Handlungskatalog ist frei zugänglich (Annaç et al., 2023b). Jedoch sollte wegen Spezifika der Sucht-Rehabilitation geprüft werden, ob gegebenenfalls Modifikationen oder Ergänzungen bei einzelnen Empfehlungen ratsam sind.

    Neben der besseren Bewältigung zukünftiger Krisensituationen lassen sich aus der Studie Möglichkeiten für eine Weiterentwicklung der Sucht-Rehabilitation in der Regelversorgung ableiten. Der bedeutendste Aspekt ist der vermehrte Einsatz digitaler Technologien. Die Pandemie wirkte als Katalysator für die Digitalisierung im Bereich der Sucht-Rehabilitation. Zum einen sind digitale Technologien für interne Prozesse wie Besprechungen, Homeoffice, Supervisionen, Fort- und Weiterbildungen sowie für die externe Kommunikation mit Vor- und Nachbehandler:innen, mit Rehabilitand:innen und deren Angehörigen nutzbar. Zum anderen ist vor allem der Einsatz für therapeutische Zwecke möglich, beispielsweise für Einzel- und Gruppentherapien sowie für angehörigenorientierte Interventionen. Die Mehrheit der Einrichtungsleitungen hält dies in Ergänzung zu Vor-Ort-Angeboten für sinnvoll, beispielsweise als niedrigschwelliges Angebot für bislang nicht ausreichend erreichte Personengruppen (z. B. ländliche Regionen, bessere Vereinbarkeit von Reha und beruflichen oder privaten Verpflichtungen wie Kinderbetreuung oder Pflege von Angehörigen). Ob digitale Technologien nach dem temporären Einsatz während der Pandemie auch langfristig in der Regelversorgung für die Erbringung von therapeutischen Leistungen in der Sucht-Rehabilitation eingesetzt werden, hängt insbesondere von der Schaffung entsprechender rechtlicher, finanzieller und organisatorischer Rahmenbedingungen und dem Nachweis vergleichbarer Behandlungserfolge ab.

    Förderhinweis:
    Die Studie wurde von der Deutschen Rentenversicherung Bund finanziell gefördert. Kooperationspartner der Studie waren der Bundesverband Suchthilfe e. V. (bus.) und der Fachverband Sucht+ e. V. Die Forschungsgruppe dankt allen Einrichtungen, die mitgewirkt haben.

    Literatur
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    • Annaç, K., Fieselmann, J., Wahidie, D., Ölcer, S., Audia, A., Yilmaz-Aslan, Y., Brzoska, P. (2023b). ReCoVer-Handlungskatalog. Handlungsoptionen zur Bewältigung pandemiebedingter Herausforderungen in der medizinischen Rehabilitation aus intersektionaler Multi-Stakeholder-Perspektive. Letzter Zugriff am 01.10.2023, https://www.uni-wh.de/fileadmin/user_upload/03_G/07_Humanmedizin/03_Lehrstuehle/Versorgungsforschung/ReCoVer_Handlungskatalog.pdf.
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    Kontakt:

    Martin Brünger
    Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft
    Charité – Universitätsmedizin Berlin
    Charitéplatz 1
    10117 Berlin
    https://medizinsoziologie-reha-wissenschaft.charite.de/forschung/rehabilitationsforschung/
    rehaforschung@charite.de

    Angaben zu den Autor:innen:

    Alle Autor:innen sind am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin affiliiert.

    • Martin Brünger, Arzt, MPH, Wissenschaftlicher Mitarbeiter
    • Stefanie Köhn, Dipl.-Päd. (Rehab.), Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Jennifer Marie Burchardi, B.Sc. Physiotherapie, M.Sc. Public Health, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Dr. Anna Schlumbohm, M.A. Soziologie, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Dr. Eva Jansen, M.A. Ethnologie, Psychologie und Politik, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Friedericke Schall, cand. med., Doktorandin
    • Prof. Dr. Karla Spyra, Professorin für Rehabilitationswissenschaften und Leiterin des Bereichs Rehabilitationsforschung am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft
  • Das Trauma als Übersetzungsversuch?

    Maren Ochs, Trägerin des Henriette-Fürth-Preises 2022/23. Foto: Polar Studio

    In den letzten Jahren ist die Auseinandersetzung mit traumatischen Erlebnissen sowie deren Folgen vermehrt in das Bewusstsein der Gesellschaft gerückt. In ihrer Abschlussarbeit mit dem Titel „Das Trauma als Übersetzungsversuch? Feministisch-psychoanalytische Überlegungen im Anschluss an die ‚Memory Wars‘“ untersuchte Maren Ochs, Absolventin des Master-Studiengangs Psychosoziale Beratung und Recht an der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS), die komplexen Zusammenhänge zwischen Traumata und der psychologischen Verarbeitung dieser Erfahrungen. Für diese Arbeit wurde ihr im November 2023 – als eine von zwei Preisträgerinnen – der Henriette-Fürth-Preis 2022/23 in der Kategorie Masterarbeit verliehen.

    Die Auszeichnung wird jährlich vom Gender- und Frauenforschungszentrum der Hessischen Hochschulen (gFFZ) für herausragende Abschlussarbeiten zur Frauen- und Genderforschung an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften verliehen und ist mit einem Preisgeld von 500 Euro dotiert. Ochs’ Thesis wurde von Prof. Dr. Birgit Gaertner und Prof. Dr. habil. Margrit Brückner betreut. Das gFFZ zeichnet mit dem Preis nicht nur die Absolventin aus, sondern würdigt auch die Arbeit der Betreuenden.

    Bei der Masterarbeit von Maren Ochs handelt es sich um eine literaturgestützte theoretische Arbeit, die gleichwohl ihren Ausgangspunkt in der Beratung von Frauen und der Konfrontation mit den in deren Narrativen enthaltenen vielfältigen Spuren erlittener sexueller Gewalt nimmt. Maren Ochs knüpft dabei an die polarisierte Debatte der sogenannten „Memory Wars“ in den 1990er Jahren an und setzt sich als Ziel, eine psychoanalytische Konzeption des Erinnerns gegen eine korrespondistische Theorie des Gedächtnisses in Stellung zu bringen. Mit ihrer in der Masterarbeit Schritt für Schritt entfalteten Konzeption des traumatischen Neuerinnerns ist das Projekt verbunden, weder die Realität von patriarchaler Herrschaft und Gewalt noch das Unbewusste im freudschen Sinne preiszugeben.

    Nach dem Urteil der Jury bestechen die mit dem Henriette-Fürth-Preis 2022/23 ausgezeichneten Abschlussarbeiten nicht nur durch ihr durchweg hohes Reflexionsniveau, sondern auch durch den eigenständigen und tiefgründigen wissenschaftlichen Beitrag zu hochbrisanten und aktuellen gesellschaftspolitischen Themen. Der Preis ist mit je 500 Euro dotiert und geht bereits zum neunten Mal an die Frankfurt UAS und zum sechsten Mal an die Hochschule Fulda. Die Preise wurden im November 2023 im Rahmen von Veranstaltungen an den jeweiligen Hochschulen verliehen.

    Das Gender- und Frauenforschungszentrum der hessischen Hochschulen (gFFZ) verleiht seit 2003 den Henriette-Fürth-Preis für herausragende Abschlussarbeiten zur Frauen- und Genderforschung, die von Absolvent:innen an einer hessischen Hochschule für Angewandte Wissenschaften verfasst wurden. Der Jury gehören Vertreter:innen der hessischen Hochschulen für Angewandte Wissenschaften und Personen aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit an. In der diesjährigen Bewerbungsrunde für den Henriette-Fürth-Preis waren acht studentische Thesis-Studien eingereicht worden.

    Weitere Informationen zum Gender- und Frauenforschungszentrum der hessischen Hochschulen (gFFZ): https://www.gffz.de/

    Pressestelle der Frankfurt University of Applied Sciences, 7.11.2023