Autor: Simone Schwarzer

  • Jahresbericht 2023 zur Situation illegaler Drogen in Deutschland erschienen

    Der am 11. Dezember vorgestellte Jahresbericht 2023 (Datenjahr 2022/2023) der deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD) zeigt, dass sich einige seit Jahren erkennbare Entwicklungen fortsetzen: Cannabis bleibt die am häufigsten konsumierte illegale Droge. Das führt zu steigenden Gesundheitsgefahren. Etwa 40 Prozent der ambulanten und etwa 30 Prozent der stationären Behandlungen gehen auf den Konsum von Cannabis und Cannabinoiden zurück. Nach der Coronapandemie nehmen nun auch die Präventionsangebote bundesweit wieder zu.

    Das sind Fakten aus dem neuen Jahresbericht. Diese bestärken auch den Beauftragten der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen Burkhard Blienert, den neuen Weg für eine Drogen- und Suchtpolitik der Hilfe und des Schutzes fortzusetzen:

    „Der Jahresbericht zeigt, wir haben weiterhin sehr viel zu tun. Wichtig ist, dass wir die kontrollierte Abgabe von Cannabis jetzt ins Ziel bringen. Mit diesem Projekt erkennen wir in der Drogenpolitik endlich die Lebenswirklichkeit vieler Menschen an und sorgen ganz praktisch für mehr Gesundheitsschutz. Dabei ist klar: Für Jugendliche bleiben Kiffen und Co. weiterhin untersagt. Und dennoch wird es gelingen, den Schwarzmarkt deutlich zurückzudrängen und die Gefahren des Konsums zu reduzieren, weil kein Erwachsener mehr gestrecktes oder hochpotentes Gras vom Dealer an der Ecke kaufen muss. Dieses Umdenken in der Sucht- und Drogenpolitik – weg vom Verbot, hin zu mehr Schutz und Hilfe – wird allein fast 4,5 Millionen Erwachsenen in Deutschland helfen, die regelmäßig zu Cannabis greifen. Ansonsten machen die Daten überdeutlich, dass wir die niedrigschwelligen Angebote der Suchthilfe in Deutschland weiter ausbauen müssen. Sie retten Leben und reduzieren den Schaden.“ 

    Der Reitoxbericht beschreibt auch die aktuellen Entwicklungen in der deutschen Sucht- und Drogenpolitik: Auf Bundesebene wurden etwa die betäubungsmittelrechtlichen Voraussetzungen für die Durchführung von Modellvorhaben zum Drug-Checking durch die Länder geschaffen. Wichtiges Element des Drug-Checking ist die Beratung, Aufklärung und gegebenenfalls die Warnung der Nutzerinnen und Nutzer vor (unerwartet) gefährlichen Substanzen. Darüber hinaus tragen Drug-Checking-Projekte dazu bei, dass Gesundheits-, Ordnungs- und Sicherheitsbehörden eine bessere Kenntnis darüber bekommen, welche Stoffe aktuell auf dem Drogenmarkt gehandelt werden.

    Auch die Entwicklungen in der Suchtprävention, etwa in Schulen oder Betrieben, sind ein Thema. Franziska Schneider, Leiterin der DBDD, dazu:

    „Die Zahl der angebotenen Präventionsmaßnahmen nimmt nach den Pandemiejahren erfreulicherweise wieder zu. Für die Suchtprävention bedeutete gerade das Aussetzen von strikten Kontaktbeschränkungen die Möglichkeit, zu gewohnten Arbeitsweisen und einer stärkeren Präsenz in der Bevölkerung zurückzukehren. Dadurch können wieder mehr Menschen mit Präventionsangeboten erreicht werden.“

    Der Reitoxbericht erscheint jährlich und liefert umfangreiches Zahlenmaterial sowie einen Überblick über Entwicklungen in Bezug auf illegale Drogen, ihren Wirkstoffgehalt und ihre Verbreitung in Deutschland. Insbesondere enthält er Hintergrundinformationen und fasst aktuelle Entwicklungen in den Bereichen Prävention, Beratung, Behandlung, Schadensminderung und Angebotsbekämpfung zusammen. Der Bericht ist die Grundlage für die deutsche Datenbasis für den Europäischen Drogenbericht, der sich mit illegalen Drogen beschäftigt.

    Die DBDD wird auf Grundlage eines Beschlusses des Deutschen Bundestages vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert. Sie wird von drei Institutionen getragen, welche die unterschiedlichen Bereiche des Themas Sucht und Drogen abdecken: die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) sowie das IFT Institut für Therapieforschung.

    Weitere Informationen zum Thema sowie der vollständige Bericht sind unter www.dbdd.de verfügbar.

    Gemeinsame Pressemitteilung des Beauftragten der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen und DBDD, 11.12.2023

  • Soziale Arbeit in Deutschland, Zentralasien und China

    Projektgruppe in Frankfurt am Main 2023

    SOLID ist ein internationales Forschungsprojekt der Frankfurt University of Applied Sciences und verschiedenen Universitäten in Zentralasien und China, die Soziale Arbeit unterrichten. Die Abkürzung SOLID steht für „Social work and strengthening NGOs in development cooperation to treat drug addiction“ (= Soziale Arbeit und Stärkung von NGOs in der Entwicklungszusammenarbeit zur Behandlung von Drogenabhängigkeit). Die Zielsetzungen des Projekts sind

    • die Entwicklung der Sozialen Arbeit als Forschungsgebiet und Berufsfeld in Zentralasien und China,
    • die Stärkung der Sozialen Arbeit in der Drogenhilfe, v. a. in Bezug auf Infektionskrankheiten und im Gefängnissystem,
    • die inhaltliche Orientierung an den UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung („Sustainable Development Goals“, SDGs).

    Die Partnerinstitutionen sind:

    • das Shanghai Mental Health Centre in China,
    • die Eurasian National University in Astana in Kasachstan,
    • die Bishkek State University in Kirgistan,
    • das Bukhara State Medical Institute in Usbekistan
    • sowie das Global Public Health Network in Warschau in Polen.

    SOLID fördert 14 Doktorand:innen und fünf Post-Doc Forscher:innen. Im Rahmen des Projektes wurde 2023 eine Reihe von Aktivitäten durchgeführt:

    • Im April fand ein Projekttreffen in Bishkek (Kirgistan) statt, gekoppelt mit einer Konferenz „City Health“.
    • Im Juli trafen sich die Stipendiat:innen im Rahmen der SOLID Sommerschule an der Frankfurt University of Applied Sciences.
    • Im November fand das PhD-Kolloquium statt.
    • Außerdem wurden verschiedene Online-Workshops (Methodentraining, Recherche, Journal Clubs) durchgeführt.

    PhD-Kolloquium

    Beim diesjährigen Kolloquium ging es um die Förderung der Fähigkeiten, in internationalen Fachzeitschriften zu publizieren, was den Doktorandinnen aus Zentralasien noch schwerfällt, weil sie vornehmlich in russischer Sprache publiziert haben, während die chinesischen Doktorand:innen englische Publikationen schon gut beherrschen.

    Deutscher Suchtkongress

    Projektgruppe beim Deutschen Suchtkongress in Berlin mit dem Drogenbeauftragten Burkhard Blienert (3.v.r.)

    Die Projektgruppe besuchte auch den Deutschen Suchtkongress. Der Deutsche Suchtkongress ist eine der wichtigsten und größten interdisziplinären Veranstaltungen zur Drogenbehandlung in Deutschland. Zu Beginn des Kongresses vom 18.-20. September 2023 in Berlin wurde unser SOLID-Team vom Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Burkhard Blienert, persönlich begrüßt. In einer englischsprachigen Sitzung hatten die Stipendiat:innen Gelegenheit, über ihre Forschungsarbeiten zu berichten.

    Das Programm

    Das Doktorandenprogramm besteht aus zwölf PhD-Stipendiat:innen aus Zentralasien und China sowie zwei Doktorand:innen aus Deutschland. Außerdem gehören fünf Post-Doc-Stipendiat:innen dazu, die die Begleitung der Doktorand:innen organisieren und Fachbetreuer:innen an den Partneruniversitäten sind. Wir gehen davon aus, dass die Doktorand:innen 2024 den Abschluss bzw. die Verteidigung der Dissertationen an den Partneruniversitäten erreichen.

    In dem Projekt geht es um die Einbindung der Stipendiat:innen in Lehre und Praxis, um Öffentlichkeitsarbeit und die Erweiterung des Netzwerks. Die Netzwerkarbeit fördert Kontakte in die Wissenschaft, die Zivilgesellschaft und den öffentlichen Sektor sowie die Zusammenarbeit mit lokalen, nationalen und internationalen Partnern.

    Über alle Aktivitäten informiert die SOLID-Webseite: www.solid-exceed.org. Ferner werden zunehmend Artikel in internationalen Fachzeitschriften veröffentlicht. Wir gehen zudem von einer Verstetigung des Doktorandenprogramms an den Partneruniversitäten und von einer Ausweitung der Aktivitäten im Bereich Curriculum Development (Entwicklung von MA-Kursen) aus. Im nächsten Jahr planen wir die Teilnahme an der „International AIDS Conference“ im Juli in München mit allen Projektpartnern. Parallel dazu wird die Herausgabe eines weiteren SOLID-Buchbandes „HIV and Hepatitis C in Central Asia and China“ vorbereitet. Der erste Band, „Social Work and Health in Prison“ (Nomos 2023), wurde im April bei der „City Health“-Konferenz in Bishkek vorgestellt.

    Das Projekt SOLID wird vom Deutschen Akademischen Austauschdienst e. V. (DAAD) und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefördert.

    Ingo Ilja Michels, Scientific Coordinator of the Project

  • Glücklich durch Frust

    Gräfe & Unzer Verlag, München 2023, 240 Seiten, 17,99 €, ISBN 978-3-8338-8741-3

    Viele Kinder sind es nicht mehr gewohnt, mit Langeweile, Frust und Rückschlägen angemessen umzugehen. Sie hatten in ihrem jungen Leben auch kaum Gelegenheit, den Umgang damit zu üben, da ihre Eltern sie mit Ablenkungen, Annehmlichkeiten und Fürsorge überschütten. Das tun sie im besten Glauben, „bedürfnisgerecht“ zu erziehen, und verwechseln dabei echte Bedürfnisse mit Wünschen oder umschiffen schlichtweg den Konflikt mit ihrem Kind. Gleichzeitig bekommen diese Kinder von ihren Eltern häufig eines nicht: ihre ungeteilte Zeit und Aufmerksamkeit, denn um diese Dinge konkurrieren sie mit dem Handydisplay und ziehen dabei häufig den Kürzeren. Mangelnde Frustrationstoleranz, eine gestörte Selbstregulationsfähigkeit, nicht altersgerecht ausgebildete soziale Kompetenzen und ein grundlegend geschwächtes Selbstbewusstsein sind die Folge.

    Der Psychologe und Generationenforscher Rüdiger Maas zeigt in seinem neuen Buch, wie es gelingt, sich in der Erziehung an wirklichen Bedürfnissen, statt an Wünschen, zu orientieren, damit Kinder Eigenschaften wie Resilienz, die Fähigkeit zur Selbstregulation und ein stabiles Selbstvertrauen ausbilden. Gleichzeitig erfahren Eltern, wie sie ihr Kind zu digitaler Kompetenz erziehen und ihr eigenes Medienverhalten positiv verändern können. So sind sie nicht nur gutes Vorbild, sondern auch ein verlässliches, wirklich verfügbares Gegenüber für ihre Kinder.

  • Was im Kopf der Menschen vor sich geht, wenn sie an Sucht denken

    „Denke an eine Tätigkeit, die du exzessiv betreibst und die dich stört. Schreibe die ersten fünf Wörter auf, die dir dazu einfallen.“ Das war die zentrale Methode, mit der Studienleiter Domonkos File und sein Team süchtigem Verhalten auf der Spur waren. Genau genommen ging es den Forschenden nicht um das Verhalten, sondern darum, was im Kopf der Menschen vor sich geht, wenn sie an Sucht denken. Fachleute sprechen von der „mentalen Repräsentation“.

    Bewusste Vermeidung des Begriffs „Sucht“ in der Befragung

    File und sein Team wollten herausfinden, ob sich die mentalen Repräsentationen bei substanzgebundenen Süchten von denen bei Verhaltenssüchten unterscheiden. 661 Personen hat das Team hierzu befragt. Um die Teilnehmenden nicht durch die Fragestellung zu beeinflussen, haben die Forschenden bewusst vermieden, den Begriff „Sucht“ zu verwenden. Stattdessen fragten sie nach einer „exzessiven Tätigkeit“. Es blieb den Befragten vorbehalten, was sie darunter verstehen.

    In einem nächsten Schritt legte das Forschungsteam den Befragten eine Liste mit Begriffen vor, die sowohl Substanzen wie Alkohol oder Tabak als auch Verhaltenssüchte enthielt. Die Verhaltenssüchte bezogen sich auf Glücksspiel, Internetnutzung, Computerspiele, Pornographie, Kaufen, Essen, Sex, Arbeiten, Seriengucken und die Nutzung von Social Media. Wie sich zeigte, ordneten rund zwei Drittel der Befragten ihre Schlagworte einem Thema zu, das auf der Liste stand. Teilnehmende, die an andere Themen dachten, wurden aus der weiteren Analyse ausgeschlossen.

    Vier verschiedene mentale Repräsentationen zu exzessiven Tätigkeiten

    Anschließend nahm sich das Forschungsteam die Wörter vor, die von den Befragten genannt worden waren, und bildete daraus Begriffsnetzwerke. Je häufiger Wörter gemeinsam genannt wurden, desto enger standen sie beieinander. Insgesamt ließen sich vier Netzwerke voneinander unterscheiden. Jedes stellt eine andere mentale Repräsentation dar.

    Ein Netzwerk wurde mit Sucht und Gesundheit betitelt. Wie sich zeigte, standen Begriffe rund um Sucht und Gesundheit stärker mit Substanzkonsum als mit Verhaltenssüchten in Zusammenhang. Das Netzwerk mit dem Titel Prokrastination/Langeweile war hingegen stärker mit Verhaltenssüchten verbunden. Ein drittes Netzwerk, bei dem die Begriffe Schuld und Scham zentral waren, stand zwar mit beiden Kategorien, also exzessives Verhalten mit und ohne Substanz, in Zusammenhang. Jedoch wurden Schuld und Scham umso öfter genannt, je häufiger die Person Drogen konsumierte. Bei Verhaltenssüchten war diese Verbindung nicht so stark ausgeprägt. Das vierte Begriffsnetzwerk mit dem Titel Stress/Entspannung wurde hingegen sowohl bei substanzgebundenen Süchten als auch bei Verhaltenssüchten etwa gleichermaßen genannt.

    Schuld und Scham besonders stark bei häufigem Drogenkonsum

    In der Studie ließen sich somit sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten in der mentalen Repräsentation von Substanzkonsum und Verhaltenssucht feststellen. Menschen, die sich wegen ihres Konsums von Substanzen Sorgen machen, denken eher an Begriffe, die mit Sucht in Verbindung stehen, als Personen, bei denen ein Verhalten wie Glücksspiel oder Kaufen aus dem Ruder gelaufen ist. Sowohl beim Konsum von Drogen als auch bei verhaltensbezogenen Süchten empfinden Menschen Schuld und Scham. Dies ist aber umso stärker der Fall, je mehr der Drogenkonsum zunimmt.

    Aus Sicht des Forschungsteams mag dies unter anderem daran liegen, dass Drogenkonsum stärker stigmatisiert ist als ausufernde Verhaltensweisen mit suchtähnlichem Charakter. Wer beispielsweise exzessiv Serien schaut oder mit Computerspielen seine gesamte freie Zeit füllt, denkt offenbar nicht automatisch an eine Sucht. Dennoch scheint es Betroffenen bewusst zu sein, dass das nicht in Ordnung ist, Stichwort Aufschieberitis.

    Die Studie könne nach Einschätzung des Forschungsteams dazu beitragen, bei der Diagnose von Sucht stärker darauf einzugehen, wie Menschen Sucht oder süchtiges Verhalten wahrnehmen. Auch ließen sich Hinweise für die Behandlung von Suchtproblemen ableiten. So könnten die Aspekte Schuld und Scham ein Ansatz in der Behandlung einer Drogensucht sein. Hingegen sei bei Verhaltenssüchten die Verbesserung des Zeitmanagements ein möglicher Behandlungsansatz, weil hier Prokrastination und Langeweile treibende Kräfte sind.

    Originalpublikation:
    File, D., File, B., Böthe, B., Griffiths, M. D. & Demetoviscs, Z. (2023). Investigating mental representations of psychoactive substance use and other potentially addictive behaviors using a data driven network-based clustering method. PLoS ONE, 18(19),e0287564. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0287564

    Quelle: https://www.drugcom.de/, 22.11.2023

  • Sucht ist divers

    Sucht ist divers

    Prof. Dr. Rebekka Streck

    Dass Sucht als Krankheit zu verstehen ist, scheint in der deutschsprachigen Fachwelt unstrittig. Ein solches Krankheitsverständnis beruht auf einem Diagnosesystem, in dem Symptome einer Diagnostik untergeordnet werden. Diese Praxis hat Vorteile – aber auch Nachteile. Ein Nachteil ist, dass die Diversität eines Phänomens aus dem Blick gerät.

    Im Folgenden fokussiere ich auf die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Phänomens Sucht. Ich setze das Wort „Sucht“ kursiv. Dies soll verdeutlichen, dass es sich dabei um ein gesellschaftliches Deutungsmuster handelt. Zugleich soll diese Schreibweise zeigen, dass Sucht ein offenes Konzept ist, das von Menschen – so wie den im Folgenden zitierten Gesprächspartner:innen – individuell genutzt wird. Ich spreche nicht von Abhängigkeit, weil dieser Begriff (jenseits von diagnostischen Setzungen) alltagsweltlich weniger präsent und in seiner Wortbedeutung unspezifisch ist, denn Menschen sind von sehr vielen Handlungsweisen und Stoffen abhängig.

    Nach einer kurzen kritischen Diskussion geläufiger Suchtdiagnostik werde ich einen lebensweltlichen Blick auf Sucht vorstellen, der Diversität zulässt, sogar nach ihr sucht. Hierzu werde ich anhand der Analyse von Interviews mit suchterfahrenen Menschen exemplarisch Unterschiede herausarbeiten und diese drei Kategorien zuordnen. Im Anschluss lege ich dar, welche Vorteile in einem solchen auf Diversität bezogenen Suchtverständnis liegen, im Gegensatz zu einem Verständnis, das nach Eindeutigkeit strebt. Dieser Artikel versteht sich als Teil der Wissenschaft Soziale Arbeit. Lebensweltorientierung (Thiersch u. a. 2012) ist eine der zentralen Theorien Sozialer Arbeit im deutschsprachigen Raum.

    1. Das Deutungsmuster „Sucht als Krankheit“ als Reduktion der Komplexität und Diversität

    Psychiatrisch-medizinisch geprägte Suchtdiagnostik ist gekennzeichnet durch Subsumtion (= Unterordnung). Ein Leiden, eine Beschreibung, ein Gefühl oder die Ergebnisse eines Tests werden einer Oberkategorie zugeordnet. Durch quantitative Forschung gestützte Diagnostikmanuale wie ICD-11 oder DSM-5 sollen das Diagnostizieren erleichtern, indem sie wahlweise unterschiedlich viele Aspekte benennen und festlegen, dass, wenn eine bestimmte Anzahl davon mit Ja beantwortet wird, eine Abhängigkeit oder substance use disorder vorliege (bei DSM-5 in unterschiedlicher Ausprägung). So ist medizinische Diagnostik erst einmal dadurch gekennzeichnet, dass Komplexität reduziert wird, um Kategorisierungen vorzunehmen. Dass diese Reduktion an Komplexität herausfordernd ist, wenn ein in sich konsistentes Diagnoseschema entwickelt werden soll, verdeutlicht eine rege Diskussion sowie eine kontinuierliche Veränderung von Diagnostiksystemen (vgl. bspw. Rumpf u. a. 2011, Heinz u. a. 2022).

    Ein solcher Prozess der Subsumtion prägt auch das alltagsbezogene Verständnis von Sucht. Menschen nehmen fremdes oder eigenes Handeln als abweichend und problematisch wahr und ordnen dieses dem Deutungsmuster Sucht zu. Diese alltägliche Typisierung eines Handelns als süchtig geschieht erheblich chaotischer und stärker subjektiv und kulturell geprägt, als es in der disziplinären Debatte in Psychologie und Medizin der Fall scheint. So begegnet uns Sucht ständig, im Gespräch mit der Freundin, die sich über das Computerspielverhalten ihres Freundes erregt, genauso wie in unterschiedlichsten medialen Formaten.

    Sucht ist also erstmal ein Deutungsmuster, mit dem diverse Phänomene in einen Container gepackt werden. Ein solches Deutungsmuster dient der alltäglichen oder auch der fachdisziplinären Kommunikation (vgl. Schmidt-Semisch 2010). Im sozialstaatlichen verwalterischen Umgang mit abweichendem Handeln dient es auch dazu, Zugänge zu öffentlich finanzierten Hilfemaßnahmen zu gewähren oder zu begrenzen. Es kann auch hilfreich sein, um das eigene oder fremde Handeln zu verstehen, ihm eine beispielsweise durch Medizin und Psychologie abgesegnete Bedeutung zu geben. Zugleich können solche vereinheitlichenden Deutungsmuster aber auch irreführend sein, weil möglicherweise auf subjektiver Ebene sehr unterschiedliche Erfahrungen gleichgesetzt werden. Vereinheitlichende Deutungsmuster können als einengend und stigmatisierend empfunden werden, weil die eigene Geschichte durch mächtigere Deutungen überschrieben wird (vgl. Boyd u.a. 2020).

    Eine solche Subsumtion kann auch den fachlichen Blick verstellen, so dass beispielsweise Sozialarbeiter:innen oder auch Ärzt:innen voreilig ihre Schlüsse ziehen, ohne den Einzelfall angemessen zu würdigen. Schütze (1992, S. 148 f.) sieht in dieser Paradoxie professionellen Handelns ein Risiko für Stigmatisierung und fachliche Fehleinschätzungen. In der Typisierung klammern Fachleute „sehr häufig – eigentlich empirisch durchaus vorliegende – konkrete, ‚schwierige‘ Informationen des Einzelfalls aus, die ein genaueres differenzierendes Hinsehen erforderlich machen und die automatische Anwendung von Typenkategorien verbieten würden“ (Schütze 1992, S. 149).

    2. Den lebensweltlichen Blick auf Diversitäten zulassen

    Auch wenn Sozialarbeiter:innen sich punktuell auf bio-medizinische Krankheitsverständnisse beziehen, bestimmen diese nicht ihre alltägliche Praxis. So wird in der Sozialen Arbeit eine lebensweltliche, soziale Diagnostik präferiert, die sich bspw. auf die ICF, die internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, bezieht (vgl. Hansjürgens/Schulte-Derne 2020). Darüber hinaus möchte ich im Folgenden diesem diagnostizierenden Blick einen lebensweltlichen Blick zur Seite stellen. Hier geht es um die Frage, wie Menschen, die selbst sagen, dass sie süchtig sind oder süchtige Phasen durchlebt haben, Sucht beschreiben.

    Füssenhäuser (2016, S. 214) entsprechend verstehe ich Sucht als „ein spezifisches Deutungs- und Handlungsmuster, in und mit dem Menschen/Subjekte ihr Leben gestalten“. Dieses Deutungs- und Handlungsmuster kann im Kontext der Bewältigung alltäglicher Aufgaben Handlungsoptionen eher eröffnen oder eher schließen. Funktionalität und Dysfunktionalität können auch gleichzeitig bestehen oder sich in einer dynamischen Entwicklung abwechseln.

    Diversität von Sucht kann mindestens auf vier Ebenen betrachtet werden: Erstens kann das Deutungsmuster über verschiedene Zeiten und sozio-kulturelle Orte hinweg verglichen werden. Zweitens kann es aus einer intersektionalen Perspektive analysiert werden. Wie beeinflussen bestimmte Ungleichheitskategorien (bspw. Geschlecht, ökonomische Ressourcen oder Staatsbürgerschaft) die Klassifikation eines Handelns als süchtig oder auch das Erleben und Bewältigen von süchtigen Phasen? Drittens kann Diversität auch bezogen auf die präferierten Substanzen und ihre bio-medizinischen und sozialen Eigenschaften untersucht werden. So unterscheiden sich beispielsweise Praxen und das Erleben von Alkohol-, Crack- oder Tabakkonsum oder gar exzessivem Glücksspiel erheblich. Ich werde im Folgenden eine vierte Ebene in den Fokus nehmen: Welche Unterschiede zeigen sich in den Erzählungen von suchterfahrenen Menschen?

    Mit dem Ziel, ein lebensweltliches Suchtverständnis zu entwickeln, begann ich im Oktober 2022 ein Lehr-Lern-Forschungsprojekt an der Evangelischen Hochschule Berlin. Studierende führten zehn problemzentrierte Interviews mit suchterfahrenen Menschen. Die Kontaktaufnahme erfolgte unsystematisch über das private Umfeld der Studierenden, über Praxisstellen Sozialer Arbeit sowie über Selbsthilfegruppen. Es wurden neun Männer und eine Frau interviewt. Vornehmlich konsumierten die Befragten illegale Substanzen (Cannabis, Amphetamine, Kokain oder Heroin). Sie waren zwischen 19 und 60 Jahre alt. Die Analyse wurde gemeinsam mit den Studierenden angestoßen und schließlich allein fortgesetzt und orientiert sich an dem Forschungsstil der Grounded Theory.*

    Die Interviewtexte unterschieden sich stark voneinander und waren schwer unter ein lebensweltliches Suchtverständnis zusammenzufassen. Vielmehr wurden Unterschiede deutlich, die ich im Folgenden anhand von drei Kategorien darstellen werde: Motive für fortgesetzten Konsum (1), Verknüpfung von lebensweltlichen Aspekten mit dem Konsum (2) sowie Prozessverläufe (3). Ziel der folgenden Darstellung ist es nicht, Unterscheidungskategorisierungen zu fixieren. Hierzu bedürfte es einer entsprechenden Weiterführung der Forschung. Ich möchte die Bandbreite von Erfahrungen, die mit dem Deutungsmuster Sucht verbunden werden, darstellen. Zudem ist es mir wichtig, Menschen mit Suchterfahrungen selbst zu Wort kommen zu lassen. Denn ein Blick in die deutschsprachige Forschungslandschaft verdeutlicht, dass Menschen, die von sich sagen würden, dass sie süchtig sind oder waren, bisher kaum in den Diskurs zur Frage, was Sucht ist, einbezogen werden.

    3. Suchterfahrene Menschen erzählen

    3.1 Motive für fortgesetzten Konsum: Sucht als Anpassungsversuch oder inszenierte Besonderheit

    Menschen berauschen sich mit legalen wie illegalen Substanzen. Die Gründe für den Konsum variieren: gemeinsam eine gute Zeit verbringen, Entspannung am Abend oder Intensivierung eines Erlebnisses (vgl. auch Barsch/Leicht 2014, S. 230). Auch suchterfahrene Menschen berichten von solchen Motiven. Bei den Motiven, den Konsum fortzusetzen und zu intensivieren, können mindestens zwei Begründungen unterschieden werden: Konsum als Bewältigung schwieriger Lebenssituationen einerseits und Konsum als Teil der Identitätsentwicklung andererseits.

    Daniel ist beim Interview ungefähr 30 Jahre alt. Wir haben ihn über eine Selbsthilfegruppe der Narcotics Anonymous für ein Interview gewinnen können. Er erzählt, dass er mit 19 Jahren begonnen hat, regelmäßig Cannabis zu rauchen, um sich „dicht zu machen. Das heißt, die Realität war mir zu viel.“ Er sagt: „Das Cannabis habe ich funktional genutzt, […] um mich zu betäuben.“ Er habe eine „hohe Grundanspannung“, und Cannabis habe ihm dabei geholfen, sich zu entspannen. Mit der Wirkung von Cannabis gelang es ihm, sich „freier zu fühlen und um auch tanzen zu können“ und auch „soziale Ängste“ zu bewältigen. Insofern erweitert der Konsum von Cannabis zunächst seine Handlungsmöglichkeiten, weil er sich in Situationen bewegen kann, die ihm zuvor verschlossen geblieben waren. Das Rauchen von Cannabis hilft ihm, soziale und emotionale Komplexität zu reduzieren. Der Konsum kann somit als Anpassungsversuch an soziale Anforderungen gedeutet werden.

    Konträr zu dieser Beschreibung erzählt Andreas, dass er derjenige gewesen sei, der immer „ins Extrem und dann noch einen Schritt weiter“ gegangen sei. Andreas ist zum Zeitpunkt des Interviews 30 Jahre alt. Ein Student hat über eine gemeinsame Freundin zu ihm Kontakt aufgenommen. Andreas beginnt das Interview folgendermaßen: „Also es ist relativ früh schon sichtbar geworden, 14, 15, 13 um den Dreh. Extrem extrovertiertes Verhalten. Immer so ein bisschen ins Extreme gehen müssen und so, um Aufmerksamkeit zu generieren.“ Andreas stellt seinen Drogenkonsum in den Kontext einer Selbstbeschreibung. Dieser hilft ihm aber nicht – wie Daniel –, sich sozialen Anforderungen anzupassen, sondern ermöglicht ihm, sich als besonders darzustellen. Im weiteren Verlauf des Interviews bringt er die Funktion des Drogenkonsums auf den Punkt: „Also so blöd das klingt, es war halt ein Stück von mir sozusagen, wie ich mich gegeben habe. Ich war halt Andreas, so ein bisschen das Sorgenkind. Andreas der Süchtige, was weiß ich, um den man sich kümmert und der ja voll lieb ist und den wir voll gern haben und so.“

    Sowohl Daniel als auch Andreas leben mittlerweile weitgehend abstinent. Sie beschreiben, dass sie ihren Konsum verändert haben, als diese Strategien im Kontakt zu anderen Menschen zunehmend dysfunktional wurden. Für Daniel behindert der Konsum zunehmend das angestrebte integrierte Leben (bspw. Kritik von Freund:innen, Probleme beim Lernen für die Universität). Andreas befürchtet, an einem Punkt seine Familie zu verlieren, die ihn lange begleitet hat. Sucht wird in beiden Fällen sozial kontextualisiert: als Anpassungsversuch oder inszenierte Besonderheit.

    3.2 Verknüpfung von lebensweltlichen Aspekten mit dem Konsum: Sucht als soziale Eingebundenheit oder radikales Ausblenden sozialer Einflüsse

    Eine Vielzahl von Unterschieden im Erleben des Konsums psychoaktiver Substanzen und im Erzählen davon zeigt sich auf einer zweiten Ebene. Diese Ebene entspricht dem, was mit der Akteur-Netzwerk-Theorie als „Attachements“ bezeichnet werden kann (vgl. Gertenbach 2019, Streck 2022). Menschen stellen in ihrem Alltag unterschiedliche Verknüpfungen zwischen Substanzen, Zeiten, Orten oder auch sozialen Beziehungen her. Diese Verknüpfungen prägen auch die Möglichkeiten der Veränderungen des Konsums.

    Denise ist zum Zeitpunkt des Interviews 19 Jahre alt. Eine Studentin hat über ein Jugendberufshilfeprojekt zu ihr Kontakt aufgenommen. Denise erzählt, dass sie auf der Straße gelebt hat, nachdem sie aus einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe „abgehauen“ war. Im Interview gibt es mehrere Passagen, in denen Denise das Leben auf der Straße, ihre soziale Eingebundenheit und ihren Drogenkonsum (v. a. Kokain, Speed und Ecstasy) miteinander verknüpft. So antwortet sie auf die Frage, welche Rolle ihre Freundinnen und Freunde bezogen auf den Konsum spielen: „Also dieses Motto, nach dem Motto, wenn du Drogen nimmst, geht‘s ja wieder gut so, und du bist halt so in deiner Welt so und du bist halt nicht alleine so.“ Sie stellt die Erfahrung von Gemeinsamkeit heraus: „Auch die Freunde, die dabei waren so. Die waren alle genauso verballert wie ich so. Aber es hat mir irgendwie auch gefallen, so irgendwie, dass wir alle zusammen auf demselben Film waren.“ Denise bearbeitet ihre Einsamkeitsgefühle, indem sie mit anderen Menschen illegale Substanzen konsumiert. Beides, die Wirkung der Drogen und das gemeinsame Handeln, helfen ihr bei der Bewältigung der schwierigen Lebensphase. Zugleich bietet die Gruppe auf der Straße einen Zufluchtsort in einer Zeit, in der andere Möglichkeiten der Einbindung (Jugendhilfe oder auch Kontakte zu den Eltern) konflikthaft sind.

    Denises ambivalente Haltung gegenüber dieser Eingebundenheit und ihre Erkenntnis, dass das Leben auf der Straße auch mit vielen Verletzungen und Enttäuschungen einhergeht, nimmt dieser biografischen Erfahrung nicht ihre emotionale Bedeutung und die damit erfahrene Sicherheit. Im Interview erzählt Denise, dass sie kein Verlangen hat, Drogen zu nehmen, wenn sie bei ihrem Vater ist. Für sie gibt es somit Menschen und Orte, die mit dem Konsum von Drogen verknüpft sind, und andere Menschen und Orte, mit und an denen sie keine Drogen nimmt.

    Während solche Verknüpfungen in Denises Erzählungen sehr bedeutsam sind, spielen sie in Roberts Erzählungen keine Rolle. Ihm scheint es stärker um die Wirkung der Substanz selbst und die damit einhergehenden Handlungen zu gehen. Eine Studentin hat den Kontakt zu Robert über gemeinsame Freund:innen hergestellt. Er ist 33 Jahre alt und erzählt, dass er zwischen 19 und 21 Jahren exzessiv Amphetamine genommen hat. Diese Phase, in der er „eigentlich bloß noch für die Drogen gelebt“ habe, mündete in die Einweisung ins Krankenhaus aufgrund einer psychotischen Episode, nachdem er sieben Tage wach gewesen sei.

    Seine Konsumphasen beschreibt Robert so: „Wenn man dann halt relativ viel nach einer Zeit, irgendwie so eins, zwei Gramm, wenn der Körper halt mehr aushält sozusagen. Ähm ja, wird es halt trotzdem irgendwie, ja man kriegt einen Art Tunnelblick, sowas habe ich oft beim Zocken dann gehabt, dass ich dann halt voll den Tunnelblick hatte und konnte halt wirklich die ganze Zeit irgendwie halt eine und dieselbe Sache machen. Ich habe dann zum Schluss irgendwie, drei Stunden am Stück, ohne mich zu bewegen, Solitär gezockt auf dem Handy. Das war dann halt irgendwie total der Film, ja.“

    Aus Roberts Schilderungen kann geschlossen werden, dass im Verlauf der Steigerung seines Amphetaminkonsums für ihn andere Menschen weitgehend unbedeutend waren. In diesem Ausschnitt verbindet er den Konsum mit dem Spielen eines relativ simplen Computerspiels. Beides zusammen führte zu einem „Tunnelblick“, der es ihm ermöglichte, alle andere Dinge auszublenden. Auch er verknüpft den Konsum mit einer anderen Tätigkeit. Im Gegensatz zu Denise, für die der Konsum mit sozialer Eingebundenheit einher geht, hebt Robert stärker die Bindung an die Wirkung der Substanz selbst hervor. Der Konsumkontext scheint für ihn weniger relevant.

    Mit der Hilfe eines Freundes distanziert sich Denise von ihrem sozialen Umfeld und reduziert ihren Konsum illegaler Substanzen. Robert wird nach mehreren Nächten ohne Schlaf ins Krankenhaus eingewiesen. Das Fehlen einer sozialen Eingebundenheit von Roberts Konsum begünstigt die exzessivere Konsumdynamik. In der situativen Verengung des Alltagslebens auf den Substanzkonsum zeigt sich ein deutlicher Unterschied zu Denises Suchtverhalten.

    Neben den Merkmalen von Substanzen (bspw. legal oder illegal, betäubend oder aufputschend) sind somit auch die Verknüpfungen der Konsumsituation und des sozialen Gefüges von großer Bedeutung, um spezifische Suchtdynamiken, aber auch Bedürfnisse und Sehnsüchte von Menschen zu verstehen, in deren Leben phasenweise der Konsum psychoaktiver Substanzen eine große Rolle spielt. Je nachdem, welche Aspekte miteinander verknüpft werden, kann es sein, dass Konsumveränderung begünstigt (bspw. wenn man aus einem Milieu herauswächst) oder auch erschwert wird (bspw. wenn ein Aufenthaltsort mit dem Konsum verknüpft ist).

    3.3 Prozessverläufe: Sucht als persönlicher Veränderungs- oder Normalisierungsprozess

    „Klassische“ Ergebnisse der Suchtforschung wie beispielsweise die „Subspecies of Alcoholism“ von Jellinek aus den 1960er Jahren (vgl. Kelly 2018, S. 3) oder die Analyse von Prozessen des „Herauswachsen aus der Sucht“ von Weber und Schneider (1997) zeigen, dass sich Konsummuster und Prozesse unterscheiden. Studien zu solchen Unterschieden sind jedoch immer noch marginal. Um die Bedeutung dieser Perspektive auf Sucht hervorzuheben, stelle ich die Erzählungen von Igor und Bernd dar.

    Igor ist zum Zeitpunkt des Interviews 30 Jahre alt. Der Kontakt konnte über eine Selbsthilfegruppe der Narcotics Anonymous hergestellt werden. Er beschreibt, dass er mit 13 angefangen hat, regelmäßig Cannabis zu rauchen. Er sagt, dass es seine „erste Liebe“ gewesen sei, weil es ihm in einer Phase des Hin und Her zwischen Jugendhilfe und seiner Mutter half abzuschalten. Zugleich erleichterte das gemeinsame Kiffen eine Verbindung zwischen ihm und seiner Mutter. „Das hat son bisschen die Spannung rausgenommen.“

    Mit Mitte zwanzig merkt er, dass das Kiffen das Lernen für die Ausbildung und das Fachabitur erschwert. Eine Entgiftung sowie eine Drogentherapie folgen. Erst nach der Drogentherapie, in der er neue Kontakt knüpft, beginnt er, andere illegale Substanzen auszuprobieren. Er bezeichnet diese Phase als „Experimentierorgie“. Er habe in einer recht kurzen Zeit das „Ende der Spirale schnell durchlaufen, um dann zu verstehen, dass es keine Substanz gibt, die mich irgendwie ja hält“. Es folgen die Kontaktaufnahme zu den Narcotics Anonymous und verschiedene stationäre und ambulante Therapien. „Es waren so viele Runden, dass ich das manchmal gar nicht so richtig rekapitulieren kann.“ Er stellt schließlich heraus: „Und ich würd sagen, dieses Kapitel Drogen ist auch irgendwann abgehakt für mich gewesen so. Ich hab mich jetzt ausgelebt mit der Sache und ähm bin ja jetzt auch 33.“ Rückblickend sagt er, dass seine Sucht „mein Lebensretter“ war. „Weil es war irgendwie meine intelligenteste Form, irgendwie mit dem Leben klar zu kommen.“ Zugleich sei es aber auch „Selbstzerstörung auf Raten“ gewesen, weil der Drogenkonsum seine Situation langfristig nicht verbessert habe.

    Igor erzählt seine Konsumgeschichte als Prozess, in dem der Konsum die Bewältigung schwieriger Lebenssituationen erleichtert und zugleich andere Aspekte erschwert. Im Verlauf seiner Konsumgeschichte hat er sich mit den Wirkungen verschiedener Substanzen auseinandergesetzt. Phasen des Ausprobierens, Stabilisierens, Destabilisierens und Reflektierens wechselten sich ab. Sucht scheint hier Teil eines biografisch-dynamischen Veränderungsprozesses zu sein, dessen retrospektive Bewertung ambivalent ist und damit auch als bedeutsam für die eigene Entwicklung eingeschätzt wird.

    Bernd ist zum Zeitpunkt des Interviews ungefähr 50 Jahre alt und wird von einem Studenten in einer Tagesstätte für Menschen in Substitution interviewt. Bernd erzählt, dass er als junger Mann verschiedene Substanzen im Partykontext aus Neugier probiert habe. „Sucht selber ist erst viele Jahre später durch Heroin entstanden.“ Mit ca. 30 Jahren bietet ihm ein Freund Heroin an, und dann habe sich der regelmäßige Konsum so „eingeschlichen“. Im weiteren Gesprächsverlauf wird deutlich, dass er seit ca. 20 Jahren Opiate konsumiert. Mit ca. 40 Jahren entscheidet er sich für eine Substitutionsbehandlung.

    Das Interview mit Bernd unterscheidet sich deutlich von anderen Interviews. Bernd redet ruhig und abgeklärt über seinen Drogenkonsum. Zugleich scheint es kaum größere Krisen aufgrund des Konsums gegeben zu haben. Er berichtet von kürzeren Phasen, in denen er versucht habe, nicht zu konsumieren, letztlich aber wegen der Entzugserscheinungen wieder angefangen habe. Das Rauchen von Heroin begleitet ihn durch sein Leben. Die körperliche Abhängigkeit von Opiaten stellt er schließlich als Normalität in seinem Leben heraus, mit der er sich abgefunden habe. So sagt er: „Turn selber hat man nicht mehr, sondern nur, dass man aufm normalen Level ist.“ Im Gegensatz zu Igor berichtet Bernd nicht von Therapien oder Selbsthilfegruppen, auch die Auseinandersetzung mit seinem sozialen Umfeld scheint konfliktarm. Die biografische Erzählung lässt sich so deuten, dass der Drogenkonsum in einem Prozess der Normalisierung zum alltäglichem Begleiter wird.

    Hier zeigt sich die Bandbreite der biografischen Prozesse mit und durch den Konsum illegaler Substanzen. Sucht kann eine zeitlich begrenzte biografische Phase beschreiben, genauso wie eine lebenslange Bindung an eine Substanz. Die Deutung von Drogenkonsum als Sucht kann das Resultat eines Prozesses der Bewusstwerdung oder die Interpretation körperlicher Reaktionen als Entzugserscheinungen sein. Genauso können süchtige Phasen als konflikthaft, eruptiv und als Grenzerfahrungen beschrieben werden, sie können aber auch relativ unauffällig auftreten und konfliktarm in die Arbeit am eigenen Alltag integriert werden.

    4. Chancen eines Suchtverständnisses, das Vielfalt zulässt

    Die Perspektive auf Diversitäten im Suchterleben kann Forschung und Praxis dazu anstoßen, eigene Glaubenssätze zu hinterfragen und das Erleben von Menschen und deren Erzählungen ernst zu nehmen.

    Für die Suchtforschung heißt das, weniger nach typisierenden Mustern oder Regeln zu suchen, als Unterschiede hervorzuheben. Diese Perspektive ermöglicht auch eine komplexere Analyse von Einflussfaktoren auf Suchterleben und -verläufe.

    Für die Suchthilfe heißt das, dass subjektbezogen und dialogisch gearbeitet wird. Es geht weniger darum, die eine Behandlungsform für diese oder jene Gruppe zu finden, als für jede Person erneut zu schauen, was bezogen auf ihre biografischen Erfahrungen, Deutungsmuster und ihren Alltag Unterstützung bedeuten kann. So fühlen sich Menschen in ihrer konkreten Einzigartigkeit sowie in den spezifischen sozialen Kontexten ihrer Erlebnisse ernst genommen.

    Für in der Suchthilfe beruflich tätige Menschen bedeutet die Perspektive auf Diversitäten im Suchterleben auch, sich immer wieder überraschen zu lassen und nach dem Besonderen, Neuen und Erstaunlichen Ausschau zu halten. Brown und MacDonald (2022, S. 405) plädieren für das Zulassen, Fördern und Wertschätzen von „Counternarratives“. Solche Gegenerzählungen fordern gängige Sucht-Narrative heraus und wären somit elementarer Teil einer kritischen und stigmasensiblen klinischen Sozialen Arbeit.

    Und für suchterfahrene Menschen heißt das, dass ihnen eine eigene, mitunter widersprüchlich, eigensinnige Deutung ermöglicht wird. Ihnen wird die Anstrengung erspart, sich mit den dominanten Deutungen anderer auseinandersetzen zu müssen. Die Arbeit mit lebensweltlichen Deutungen ermöglicht das Herstellen eigener Kohärenz und die Aneignung des süchtigen Erlebens unter eigenen, und nicht fremden Konditionen.

    *Ich danke den Ko-Forschenden L. Beyer, J. Bürgel, F. Dürr, L. Fink, M. Gollnick, A. Heckert, S. Hofer, A. Janz, R. Kaiser, G. Kalayeh, H. Kiesewetter, S. Kuhn, K. Müller, R. Neumann, S. Pfitzner, V. Rakow, L. Sawatzki, C. Strauß, M. Vogt, J. Wockenfuß.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Rebekka Streck
    Studiengang Soziale Arbeit
    Evangelische Hochschule Berlin
    rebekka.streck(at)eh-berlin.de

    Angaben zur Autorin:

    Prof. Dr. Rebekka Streck hat eine Professur für Sozialpädagogik und die Studiengangsleitung des Bachelorstudiengangs Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Berlin inne.

    Literaturverzeichnis:
    • Barsch, Gundula/Leicht, Astrid (2014). Drogenkonsum und Abhängigkeit/Sucht – Begrifflichkeiten und Diagnostik. In: Marc Lehmann/Marcus Behrens/Heike Drees (Hg.). Gesundheit und Haft. Handbuch für Justiz, Medizin, Psychologie und Sozialarbeit. Lengerich, Pabst Science Publishers, 226–252.
    • Brown, Catrina/MacDonald, Judy E. (2020). Counterstorying for Social Justice. In: Catrina Brown/Judy E. MacDonald (Hg.). Critical clinical social work: Counterstorying for social justice. Toronto, Vancouver, Canadian Scholars, 405–409.
    • Boyd, Susan/Ivsins, Andrew/Murray, Dave (2020): Problematizing the DSM-5 cirteria for opioid use disorder: A qualitative analysis. In: International Journal of Drug Policy (78), 1-10.
    • Füssenhäuser, Cornelia (2016). Lebensweltorientierung und Sucht. In: Klaus Grunwald/Hans Thiersch (Hg.). Praxishandbuch Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Handlungszugänge und Methoden in unterschiedlichen Arbeitsfeldern. 3. Aufl. Weinheim, Beltz Juventa, 212–220.
    • Gertenbach, Lars (2019). Die Droge als Aktant. Akteur-Netzwerk-Theorie. In: Robert Feustel/Henning Schmidt-Semisch/Ulrich Bröckling (Hg.). Handbuch Drogen in sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. Wiesbaden, Springer VS, 263–277.
    • Hansjürgens, Rita/Schulte-Derne, Frank (2020) (Hrsg.). Soziale Diagnostik in der Suchthilfe. Leitlinien und Instrumente für Soziale Arbeit. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht.
    • Heinz, Andreas/Gül Halil, Melissa/Gutwinski, Stefan/Beck, Anne/Liu, Shuyan (2022). ICD-11: Änderungen der diagnostischen Kriterien der Substanzabhängigkeit. Der Nervenarzt (1), 51–58.
    • Kelly, John F. (2019). E. M. Jellinek’s Disease Concept of Alcoholism. Addiction 114 (3), 555–559.
    • Rumpf, Hans-Jürgen/Kiefer, Falk (2011). DSM-5: Die Aufhebung der Unterscheidung von Abhängigkeit und Missbrauch und die Öffnung für Verhaltenssüchte. Sucht 57 (1), 45–48.
    • Schmidt-Semisch, Henning (2010). Doing Addiction. Überlegungen zu Risiken und Nebenwirkungen des Suchtdiskurses. In: Bettina Paul/Henning Schmidt-Semisch (Hg.). Risiko Gesundheit. Über Risiken und Nebenwirkungen der Gesundheitsgesellschaft. Wiesbaden, VS Verl. für Sozialwiss., 143–162.
    • Schütze, Fritz (1994). Strukturen des professionellen Handelns, biographische Betroffenheit und Supervision. Supervision 26, 10–39.
    • Streck, Rebekka (2022). Parkbank, Schnaps und Spritze – ethnografische Einblicke in Relationierungen von Alkohol- und Drogenkonsum mit dem Schlafen auf der Straße. In: Dierk Borstel/Jennifer Brückmann/Laura Nübold et al. (Hg.). Handbuch Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Wiesbaden, Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH; Springer VS.
    • Thiersch, Hans; Grunwald, Klaus; Köngeter, Stefan 2012: Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. In: Thole, Werner (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. Wiesbaden: VS Verlag. S. 175-196.
    • Weber, Georg/Schneider, Wolfgang (1997). Herauswachsen aus der Sucht illegaler Drogen: Selbstausstieg, kontrollierter Gebrauch und therapiegestützter Ausstieg. Berlin, VWB Verl. für Wiss. und Bildung.
  • Was ziehst du dir rein?

    Foto: blu:prevent

    Langes Suchen nach relevanten und jugendgerechten Inhalten hat ein Ende: Mit blu:base, der Suchmaschine der Suchtprävention, bekommen Jugendliche ein neues Werkzeug an die Hand. Nach einer intensiven Entwicklungsphase freut sich blu:prevent, die Suchtpräventionsarbeit des Blauen Kreuzes Deutschland, die neuartige Plattform nun vorzustellen. Eine Plattform, die die relevanten Themen aus der Lebenswelt junger Menschen abbildet und sie in den Kontext der Fachwelt setzt. Zu vielen Kategorien rund um stoffgebundene und ungebundene Süchte sind auf www.blu-base.de spannende Beiträge aller Medienformen (Blogbeiträge, Videos, Podcasts u. v. m.) zu finden.

    Zielgruppenorientiert

    Die Generation Z, auch als „Digital Natives“ bezeichnet, ist wie keine Generation davor an den Konsum von digitalen Medien gewöhnt und konsumiert diese auch meist ungefiltert. Denn schon seit langem übernehmen Influencer in den sozialen Medien die Rolle der Aufklärer, indem sie Content zu vielseitigen Themen rund um Lifestyle, Gesundheit und Sucht kreieren und über ihre Kanäle verbreiten. Hier setzt die neuartige Plattform blu:base an. Um den Jugendlichen eine Orientierung zu geben, beinhaltet blu:base Beiträge aus den sozialen Netzwerken und rahmt sie mit Beiträgen aus der Fachwelt. Dadurch schafft die Plattform eine ganzheitliche Informationsquelle mit aktuell über 500 Beiträgen, die Jugendliche dabei unterstützen, gute Entscheidungen zu treffen und sich mit den Auswirkungen verschiedener Konsumformen auf ihre Gesundheit auseinanderzusetzen.

    Schnittstelle in der Suchtprävention

    Die Einführung von blu:base ist ein wichtiger Schritt, um die Lücke zwischen der Lebenswelt der Jugendlichen und der Fachwelt zu schließen. Denn die Plattform hat Zugriff auf viele, z. T. auch kritischere, Beiträge aus der Welt von Social Media und Co. sowie fundierte Fachartikel von starken Partnern wie der BZgA, feelOK und KidKit. Alle Beiträge werden von einem Team aus Expertinnen und Experten ausgewählt und eingeordnet.

    blu:prevent glaubt an die Notwendigkeit von Synergien in der Suchthilfe und geht auch dort wichtige Schritte, indem nicht nur digital, sondern auch analog starke Kooperationspartner gesucht wurden, die den Jugendlichen Hilfsangebote in ihrer Nähe bieten können. Durch ein Register von über 1.300 Anlaufstellen garantiert die blu:base eine direkte und persönliche Hilfe für Betroffene

    Themenvielfalt durch Co-Creation

    Eine der Hauptstärken der blu:base liegt in der aktiven Beteiligung von Jugendlichen. Die Plattform ermutigt Jugendliche dazu, Beiträge und Inhalte einzureichen, die ihnen in ihrem Alltag begegnen. Durch die Einordnung der Beiträge durch das Team von Expertinnen und Experten erhalten sie eine Orientierungshilfe, um eine eigene gesunde Meinung zu bilden. Dies beinhaltet aktuelle Beiträge zu den Themen Fitness, Porno, Soziale Medien, Gaming u.v.m. Zu jedem Thema finden sich Beiträge in unterschiedlichen Medienformen, abgestimmt auf die Gen Z und interaktiv durch Umfragen etc. aufgearbeitet. Durch die Schnelllebigkeit unseres Medienzeitalters wird die Plattform stetig wachsen und immer mehr zu einer umfassenden Datenbank für eine moderne und relevante Suchtprävention.

    Smarter und innovativer Raum für junge Menschen

    Eine erste Orientierung bietet der intelligente Chatbot, der die Besuchenden auf der Plattform empfängt und dabei unterstützt, die für sie persönlich relevanten Themen zu finden. Er bietet Antworten rund um die Themenwelten, hilft aber auch dabei, schnell zu eventuell benötigten Hilfsangeboten zu kommen.

    blu:base ist mehr als nur eine Plattform. Sie ist ein bedeutender Schritt in Richtung einer neuen Suchtprävention und einer informierten Jugend, die in der Lage ist, die Herausforderungen der modernen Welt erfolgreich zu bewältigen und ein freies und selbstbestimmtes Leben zu führen. Mehr erfahren auf www.blu-base.de.

    Gemeinsame Pressemitteilung von blu:prevent und Blaues Kreuz Deutschland, 22.11.2023

  • Verkörperte Gefühle

    Aus dem Englischen von Silvia Autenrieth
    Kösel-Verlag, München 2023, 512 Seiten, 34,00 €, ISBN 978-3-466-34804-6

    In diesem Praxisbuch für Therapie und Alltag stellt der klinische Psychologe Raja Selvam die Grundlagen der von ihm entwickelten Praxis der Integralen Somatischen Psychologie (ISP) vor. Diese Methode eröffnet einen neuen Zugang zu Emotionen und ihrem Erleben. Das Buch erklärt auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse den Zusammenhang zwischen emotionalen Problemen und ihrer Verkörperung und zeigt, wie man durch Wahrnehmung, Atmung, Bewegung, Berührung und gezielte Intention gut in Kontakt mit seinen Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen kommt. Dieser praktische Ansatz hilft, leichter Zugang zu den unterschiedlichsten Emotionen zu bekommen und unangenehme Gefühle zuzulassen und sie besser regulieren zu können.

    Gut anwendbar, leicht verständlich und praxisnah ist dies das Grundlagen- und Praxisbuch für alle körperbasiert therapeutisch Praktizierenden und alle, die durch eine bessere Gefühlsregulation ihr Wohlbefinden steigern wollen.

  • Auf dem Weg zum Ende von AIDS?

    In diesem Jahr sind es genau 40 Jahre, seitdem das Humane Immundefizienz-Virus (HIV) erstmals als das Virus identifiziert und beschrieben wurde, welches das erworbene Immunschwächesyndrom AIDS (Acquired Immunodeficiency Syndrome) verursacht.

    Vor diesem Hintergrund und anlässlich des diesjährigen Welt-AIDS-Tages gibt das Epidemiologische Bulletin 47/2023 einen Überblick über den Verlauf der HIV-Epidemie in Deutschland und weltweit und beleuchtet die Herausforderungen der kommenden Jahre.

    In der ersten Hälfte der 1980er-Jahre begann HIV sich in Deutschland auszubreiten. Drogengebrauchende Menschen gehörten von Anfang an zu den am meisten betroffenen Personengruppen. Der Bericht informiert darüber, welche strukturellen Präventionsmaßnahmen getroffen und welche medizinischen Therapien seitdem entwickelt wurden und wie sich diese Wege, dem HI-Virus zu begegnen, auf die Infektionszahlen niederschlugen. So stellt der Bericht den Verlauf bis heute dar – über die zweite Infektionswelle nach 2000 vor dem Hintergrund der Verbreitung des Internets und von Smartphones bis hin zur Stabilisierung der Neuinfektionen ab 2010 und einem fortgesetzten langsamen Rückgang seit 2016.

    Ein Grund für den Rückgang könnte in der vermehrten Nutzung der Prä-Expositionsprophylaxe (PrEP) für HIV liegen. Dies trifft aber nur auf die Gruppe von Männern, die Sex mit Männern haben, zu. Kein Rückgang ist bei der Zahl der HIV-Neuinfektionen bei Heterosexuellen und bei intravenös Drogen konsumierenden Menschen zu erkennen – im Gegenteil, in beiden Gruppen steigen die Zahlen sogar leicht an. Bei Drogen konsumierenden Menschen wirkt sich die Änderung der Drogenkonsummuster ungünstig auf die Erreichbarkeit durch Testangebote aus.

    Den vollständigen Bericht und außerdem eine Analyse zum Einfluss des Kriegs in der Ukraine auf gemeldete HIV-Neudiagnosen in Deutschland finden Sie HIER.

    Publikation zur Schätzung der HIV-Neuinfektionen 2022

    Die üblicherweise zum Welt-AIDS-Tag (1. Dezember) erscheinende Schätzung der HIV-Neuinfektionen im Vorjahr und der Anzahl der Menschen, die in Deutschland mit HIV leben, wird sich für 2022 verzögern. Die beim RKI gemeldeten HIV-Neudiagnosen für 2022 wurden am 31.08.2023 im Epidemiologischen Bulletin 35/2023 veröffentlicht. Die gemeldeten Neudiagnosen sind nicht zu verwechseln mit den geschätzten Neuinfektionen. Da HIV über Jahre keine auffälligen Beschwerden verursacht, kann der Infektionszeitpunkt länger zurückliegen.

    Quelle: Epidemiologisches Bulletin 47/2023, 23.11.2023

  • Fehlende Steuerung und fehlgeleitete Regulierung im drogenaffinen Deutschland

    Wer darf was und wie viel konsumieren? Das Gesetzesvorhaben der Ampelkoalition zur Cannabis-Legalisierung liegt derzeit dem Bundestag vor. Aus diesem Anlass behandelt der 10. Alternative Drogen- und Suchtbericht (ADSB) Aspekte der Cannabis-Regulierung als einen seiner Schwerpunkte. Im Bericht, der am 23. November 2023 in Berlin vorgestellt wurde, kommen Stimmen aus der Suchtprävention, -hilfe und -forschung zu Wort, darunter Expert:innen der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS).

    Der Alternative Drogen- und Suchtbericht wird jährlich vom Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik akzept e. V. herausgegeben. „Wir wollen damit Unzulänglichkeiten der nationalen Drogenpolitik aufzeigen und neue, evidenzbasierte Wege einer notwendigen Weiterentwicklung beschreiben“, so Prof. Dr. Heino Stöver, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Suchtforschung Frankfurt (ISFF) an der Frankfurt University of Applied Sciences und Vorsitzender von akzept. Er verantwortet mit Dr. Bernd Werse vom Centre for Drug Research der Goethe-Universität Frankfurt und Larissa Hornig, Doktorandin am ISFF, redaktionell den diesjährigen Alternativen Drogen- und Suchtbericht.

    Darin bewertet etwa Dr. Ingo Iljas Michels vom ISFF das geplante Gesetz zur Legalisierung von Cannabis zwar als „großen Schritt in Richtung einer rationalen Drogenpolitik“. Mit seinen Co-Autoren Maximilian Plenert, Geschäftsführer des Kompetenzzentrums Cannabis GmbH, und Politik- und Gesundheitswissenschaftler Rüdiger Schmolke (akzept e. V.) bemängelt er aber unter anderem die restriktive Auslegung des Drogenrechts und die hohen bürokratischen Hürden. Der Suchtforscher Dr. Bernd Werse stellt in einem Beitrag den derzeit unregulierten Zugang zum halbsynthetischen Cannabinoid HHC heraus. Statt eines Verbots der ganzen Stoffgruppe sieht er mit seinem Co-Autor die Legalisierung von konventionellem Cannabis als „das beste Instrument, um dem unregulierten HHC-Markt zu begegnen“.

    Mit Blick auf die Steuerung von Konsum diskutiert der Bericht auch vielfältige Aspekte des Harm Reduction-Ansatzes, dessen Umsetzung die Ampelkoalition in ihrem Koalitionsvertrag vorsieht. Gemeint sind Maßnahmen, die auf die Reduzierung von Gesundheitsrisiken für Konsument:innen abzielen statt auf einen kompletten Verzicht. Den mangelnden Einsatz solcher Maßnahmen thematisieren die Autor:innen unter anderem in Beiträgen zur Alkoholprävention und der Rolle der E-Zigarette zur Rauchentwöhnung. Mit Blick auf das Rauchen bilanziert der Frankfurter Suchtforscher Stöver: „Schadensminimierende Strategien, die im Ausland erfolgreich sind, werden in Deutschland völlig ignoriert, und so werden Verbraucher:innen nicht über weniger gesundheitsschädliche Formen der Nikotinaufnahme aufgeklärt.“ Regulierungsbedarf sehen die Autor:innen bei Einweg-E-Zigaretten; diese dürfen bisher kinder- und jugendaffin beworben werden. Der Bericht enthält zudem Empfehlungen für ein flächendeckendes Drug-Checking-Angebot und Maßnahmen für bisher vernachlässigte Gruppen, die illegale Substanzen konsumieren.

    Vor dem Hintergrund von nunmehr zehn veröffentlichten Ausgaben des Alternativen Drogen- und Suchtberichts bilanziert Herausgeber Stöver insgesamt zwar einen Paradigmenwechsel in der Drogenpolitik und die Umsetzung einiger Anliegen. Er kritisiert aber: „Die willkürliche Einteilung in legale und illegale Substanzen hemmt die Suchtarbeit.“ Auch hochwirksame Methoden zur Reduzierung von Gesundheitsrisiken bei Substanzkonsum kämen noch zu wenig zur Anwendung.  

    Der 10. Alternative Drogen- und Suchtbericht steht hier als PDF zur Verfügung: www.alternativer-drogenbericht.de. Der Bericht ist als Buch im Verlag Pabst Science Publishers erschienen.

    Pressestelle der Frankfurt University of Applied Sciences, 24.11.2023