Autor: Simone Schwarzer

  • Gebrauch von Bildschirmmedien in Kindheit und Jugend

    Wie viel Mediennutzung ist für Kinder in welchem Alter angemessen? Wie können Eltern das Nutzungsverhalten ihrer Kinder regulieren? Diese und weitere Fragen greift die S2k-Leitlinie „Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs in Kindheit und Jugend“ auf, die unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DGKJ) erarbeitet und am 15. Juli 2023 im AWMF Leitlinien-Register veröffentlicht wurde. An der Erstellung der Leitlinie waren zehn weitere Fachgesellschaften und Institute beteiligt, unter anderem der Fachverband Medienabhängigkeit e. V.

    Das Ziel der vorliegenden Leitlinie ist es, einen Überblick zum aktuellen wissenschaftlichen Forschungsstand in Bezug auf dysregulierten Bildschirmmediengebrauch in der Kindheit und Jugend und die damit verbundenen Risiken und Umgangsmöglichkeiten zu geben. Darauf aufbauend werden Empfehlungen zur Prävention von zeitlich, inhaltlich oder funktional problematischer Nutzung von Bildschirmmedien durch Kinder und Jugendliche und ihre Bezugspersonen innerhalb der pädiatrischen Versorgung aufgestellt. Die Empfehlungen sollen die Beziehung zwischen Exptert:in und Patient:in bzw. Klient:in unterstützen und konkrete Hilfe für den Einsatz und Umgang mit Bildschirmmedien geben.

    Weiterhin enthält die Leitlinie Empfehlungen für Eltern zur Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs in der Familie. Diese umfassen:

    1. Möglichkeiten, wie Eltern einerseits durch verbale Vereinbarungen und Regeln, andererseits durch Nutzung von technischem Kinderschutz auf Hardware oder Softwareebene, regulierend auf den digitalen Medienkonsum ihrer Kinder einwirken können,
    2. Unterstützung, wie Eltern ihre allgemeinen Erziehungskompetenzen stärken und wie sie eine aktive bildschirmfreie Alltagsgestaltung für Kinder sowie alltagstaugliche Alternativen zum Bildschirm als „Babysitter“, „Streitschlichter“ oder „Belohnung/ Bestrafung“ etc. entwickeln,
    3. Anregungen, wie der elterliche Medienkonsum reguliert werden kann, um eine Gefährdung der Beziehungs- und Bindungsqualität zwischen Eltern und insbesondere ihren kleinen Kindern zu vermeiden.

    Quelle: https://www.awmf.org/, 22.8.2023

  • Ambulante und stationäre Suchtrehabilitation

    Ambulante und stationäre Suchtrehabilitation

    1 Einleitung

    Menschen mit Suchterkrankungen haben im Anschluss an eine Entzugsbehandlung – bei Erfüllung der Zugangsvoraussetzungen – grundsätzlich Anspruch auf eine Entwöhnungsbehandlung („Suchtrehabilitation“) als Antragsleistung, wobei sich die Maßnahme möglichst nahtlos an den qualifizierten Entzug anschließen soll. Neben einer nachhaltigen Konsummengenreduktion (i. d. R. mit dem Ziel der Abstinenz) wird bei Entwöhnungsbehandlungen großer Wert auf eine psycho-soziale Stabilisierung der Behandelten und die Förderung ihrer beruflichen und sozialen Teilhabe gelegt (Deutsche Rentenversicherung, 2017; Verband der Ersatzkassen (vdek), 2001).

    Der gesamte Rehabilitationssektor – und damit auch die Suchtrehabilitation – ist traditionell durch stationäre Maßnahmen geprägt. Allerdings mehrten sich in den vergangenen 20 Jahren Stimmen, die eine konsequentere Umsetzung des gesundheitspolitischen Leitsatzes „ambulant vor stationär“ im Rehabilitationssektor forderten und sich für den Ausbau stationsersetzender Angebote aussprachen (Hibbeler, 2010; Kalinka, 2003; Karoff, 2003; Seitz et al., 2008). Im Zuge dieser Tendenzen wurde auch bei Abhängigkeitserkrankungen die Rolle ambulanter bzw. ganztägig ambulanter Angebote u. a. auf Grundlage gemeinsamer Rahmenvereinbarungen der Deutschen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung gestärkt (Deutsche Rentenversicherung, 2008; Deutsche Rentenversicherung, 2011).

    Zugleich wurde klargestellt, dass ambulante und stationäre Suchtrehabilitation nicht automatisch austauschbare Angebote darstellen. Vielmehr bestimmen medizinische Aspekte (Schwere der Störung, Komorbiditätsprofil), soziale Aspekte (Teilhabe, Unterstützung durch das Umfeld) und infrastrukturelle Aspekte (Erreichbarkeit), ob eine ambulante Entwöhnungsbehandlung im konkreten Einzelfall in Erwägung zu ziehen ist (Deutsche Rentenversicherung, 2001).

    Einzelstudien bestätigen, dass ambulante und stationäre Entwöhnungsbehandlung tatsächlich unterschiedliche Zielgruppen erreichen (Preuss et al., 2012), eine systematische Gegenüberstellung der Klientel beider Behandlungsformen hinsichtlich soziodemographischer und behandlungsbezogener Parameter auf einer breiten Datengrundlage fehlt aber bislang.

    2 Methodik

    Dieser Artikel baut auf dem Kurzbericht 2023/I der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS) auf (Künzel et al., 2023) und erweitert die dort vorgenommene beschreibende Darstellung um statistische Verfahren, die Aufschluss geben, inwieweit Unterschiede zwischen der Klientel, die eine ambulante, und der Klientel, die eine stationäre Rehabilitation erhalten hat, als „auffällig“ einzustufen sind. Maßnahmen aus dem Bereich der ganztägigen ambulanten Rehabilitation bleiben unberücksichtigt.

    2.1 Datenquelle

    Die analysierten Daten stammen aus der Routineerhebung der DSHS im Datenjahr 2021. Die DSHS basiert auf einer großzahligen Gelegenheitsstichprobe ambulanter und stationärer Suchthilfe-Einrichtungen, die ihre Arbeit entsprechend den Vorgaben des Kerndatensatzes zur Dokumentation in der Suchtkrankenhilfe (KDS; aktuelle Version KDS 3.0) (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), 2022) mittels zertifizierter Softwareprogramme dokumentieren. Die Daten werden in den Einrichtungen fallbezogen erhoben, anhand bestimmter Gruppierungskriterien gebündelt und als Aggregatdaten dem IFT Institut für Therapieforschung in München zur Verfügung gestellt. Detaillierte Informationen zu den Erhebungsmechanismen und Datenflüssen wurden an anderer Stelle publiziert (Schwarzkopf et al., 2020).

    2.2 Stichprobenselektion

    Die hier präsentierten Auswertungen basieren auf der Gegenüberstellung der beiden Stichproben („Läufe“) „Fälle mit Hauptmaßnahme Stationäre Medizinische Rehabilitation“ (STR) sowie „Fälle mit Hauptmaßnahme Ambulante Medizinische Rehabilitation“ (ARS). Als Hauptmaßnahme gilt dabei diejenige Maßnahme, die die jeweilige Behandlungsepisode dominiert hat. Um bestmögliche Vergleichbarkeit der beiden Stichproben sicherzustellen, wurde jeweils die Bezugsgruppe der „Zugänge und Beender“ herangezogen. Somit gehen in die Auswertung nur Daten von Fällen ein, die im Jahr 2021 begonnen bzw. beendet wurden.

    Bei der Selektion wurde, den Standards der DSHS entsprechend, eine Missingquote von 33 % angesetzt. Demnach sind für jeden Auswertungsparameter nur Daten derjenigen Einrichtungen berücksichtigt, bei denen für den jeweiligen Parameter maximal 33 % der Angaben fehlen. Dies erhöht einerseits die Datenqualität, da Einrichtungen, die für einen entsprechenden Parameter viele Fehlwerte aufweisen, nicht in die Auswertungen eingehen, führt aber andererseits dazu, dass sich die Fallzahl von Parameter zu Parameter unterscheidet. Die Fallzahlen sowie die Anzahl der für die einzelnen Parameter datenliefernden Einrichtungen werden daher zusammen mit den Missingquoten jeweils ausgewiesen.

    2.3 Zielparameter

    Zunächst wurde die Zahl der Einrichtungen, die ARS bzw. STR als Hauptmaßnahme durchgeführt haben, sowie die Zahl der ARS- bzw. STR-Fälle deskriptiv gegenüberstellt.

    Anschließend wurde die in ARS und STR behandelte Klientel hinsichtlich soziodemographischer (Geschlechterverteilung, Altersstruktur, Elternschaft, Schulabschluss, Arbeitslosigkeit), störungsbezogener (Alter bei Erstkonsum, Konsumhäufigkeit bei Maßnahmenbeginn, dokumentierte Problembereiche) und behandlungsbezogener Parameter (Haltequote, Behandlungserfolg) verglichen. Hierfür wurde für soziodemographische und störungsbezogene Parameter auf Informationen aus der Stichprobe „Zugänge“ zurückgegriffen und für behandlungsbezogene Parameter auf Informationen aus der Stichprobe „Beender“. Auch dies trägt zu unterschiedlichen Fallzahlen bei.

    Zur Berücksichtigung der Altersstruktur wurde neben dem Durchschnittsalter die Verteilung der Fälle über die Kategorien „unter 30 Jahre“, „30 bis 49 Jahre“ und „50 Jahre und älter“ abgebildet. Der binär kodierte Parameter Elternschaft erfasst, ob die Behandelten eigene minderjährige Kinder haben. Für den Parameter Schulabschluss wurden die Ausprägungen „Abitur“ und „Schulabbruch“ dichotomisiert ausgewertet. Konsumhäufigkeit adressiert die Anzahl an Konsumtagen in den 30 Tagen vor Antritt der Maßnahme und berücksichtigt neben dem Durchschnittswert auch die Verteilung der Klientel über die Kategorien „kein Konsum“, „1 bis 6 Konsumstage“, „7 bis 15 Konsumstage“, „16 bis 28 Konsumtage“ und „(fast) täglicher Konsum“. Die dokumentierten Problembereiche benennen Bereiche des täglichen Lebens, die bei Behandlungsbeginn beeinträchtigt waren. Der Parameter Haltequote adressiert den Anteil planmäßig beendeter Behandlungen, wobei die unterschiedlichen Gründe einer plan- bzw. unplanmäßigen Beendigung differenziert erfasst werden. Als Behandlungserfolg gelten in Einklang mit den Standards der DSHS Behandlungen, an deren Ende sich die Suchtproblematik im Vergleich zur Ausgangssituation verbessert hat bzw. unverändert geblieben ist.

    2.4 Auswertungen

    Die Auswertungen konzentrieren sich auf eine Gegenüberstellung von ARS- und STR-Fällen aufgrund von alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen, wobei die Klassifikation der zu Grunde liegenden Störungen gemäß der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) erfolgt (Dilling et al., 2015). Hierbei werden sowohl Fälle mit Abhängigkeitssyndrom als auch Fälle mit missbräuchlichem Konsum der jeweiligen Substanzen berücksichtigt, wobei DSHS-Auswertungen beide Ausprägungen nicht differenzieren, sondern gemeinsam berichten. Die Schwerpunktsetzung auf Alkohol- (ICD-10 F10) und Cannabinoidkonsumstörungen (ICD-10 F12) ist mit ihrer empirischen Relevanz in ARS und STR begründet.

    Aufgrund der aggregierten Daten können in der DSHS nur einfache Gruppenvergleiche vorgenommen werden. Eine modelltechnische Mitberücksichtigung weiterer Erklärungsfaktoren bei der Interpretation der Unterschiede ist nicht möglich. Somit wurden für kontinuierliche Daten Mittelwertsvergleiche anhand von t-Tests durchgeführt. Für Anteilswerte erfolgten Chi²-Tests. Hierbei wurden in die Grundgesamtheit auch Fälle mit der Variablenausprägung „unbekannt“ einbezogen. Aufgrund der hohen Sensitivität der beiden statistischen Tests und der großen Fallzahlen wurde ein Signifikanzniveau von p < 0,01 festgelegt, um das Risiko einer Überinterpretation kleiner Ausprägungsunterschiede zu minimieren.

    Alle Auswertungen und Datenvisualisierungen wurden mit Hilfe der Statistik-Tools von Microsoft Excel vorgenommen.

    3 Ergebnisse

    3.1 Fallzusammensetzung

    328 Einrichtungen haben Falldaten zu ARS als Hauptmaßnahme und 107 Einrichtungen Falldaten zu STR als Hauptmaßnahme geliefert. ARS wurde überwiegend in ambulanten Suchthilfe-Einrichtungen (n = 309 Einrichtungen) und STR nahezu ausnahmslos in stationären Suchthilfe-Einrichtungen (n = 104 Einrichtungen) erbracht. Das Fallvolumen der STR war mit 24.508 Zugängen bzw. 26.985 Beendern rund fünfmal so hoch wie das der ARS mit 4.871 Zugängen bzw. 5.469 Beendern.

    Informationen zur Hauptdiagnoseverteilung lagen für 322 Einrichtungen mit ARS-Angebot sowie für alle 107 Einrichtungen mit STR-Angebot vor, wobei in ARS häufiger keine Hauptdiagnose dokumentiert wurde (n = 293 Fälle; 6,1 %) als in STR (n = 387 Fälle; 1,6 %; p-Wert < 0,0001). Alkoholbezogene Störungen dominierten jeweils die Fälle mit Hauptdiagnose (ARS: n = 3.103 Fälle; 69,0 % | STR: n = 15.711 Fälle; 65,2 %; siehe Abbildung 1). In ARS wie auch in STR folgten an zweiter Stelle Behandlungen aufgrund von cannabinoidbezogenen Störungen (ARS: n = 406 Fälle; 9,0 % | STR: n = 2.342 Fälle; 9,7 %). An dritter Stelle stand in ARS das Pathologische Spielen (n = 325 Fälle; 7,2 %), das in STR den siebten Rang einnahm (n = 445 Fälle; 1,8 %). Hier bildete Multipler Substanzmissbrauch den dritthäufigsten Behandlungsanlass (n = 2.085 Fälle; 8,6 %), der in ARS an sechster Stelle stand (n = 131 Fälle; 2,9 %). Auf Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von Störungen durch den Konsum von Flüchtigen Lösungsmitteln, Tabak oder Halluzinogenen entfiel jeweils nur ein geringer Anteil. Gleiches gilt für Exzessive Mediennutzung.

    3.2 Klientelcharakteristika

    a) Soziodemographie

    Die aufgrund von alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen behandelte ARS-Klientel unterschied sich hinsichtlich soziodemographischer Charakteristika systematisch von der STR-Klientel (siehe Tabelle 1). Bei beiden Konsumstörungen war die ARS-Klientel im Mittel älter und es fand sich ein geringerer Anteil an unter 30-Jährigen. Zudem lebte die ARS-Klientel jeweils seltener allein, hatte ein höheres Bildungsniveau (Abiturquote höher, Schulabbruchquote geringer) und war häufiger an den Arbeitsmarkt angebunden (Erwerbstätigkeit häufiger, Arbeitslosigkeit seltener). Für Rehabilitationsmaßnahmen aufgrund von alkoholbezogenen Störungen fand sich in ARS zudem ein höherer Anteil an Frauen und an Eltern minderjähriger Kinder.

    b) Störungsbezogene Parameter

    Der Erstkonsum von Alkohol bzw. Cannabinoiden erfolgte bei der ARS-Klientel und der STR-Klientel ähnlich früh, jedoch waren die ARS-Fälle bei Störungsbeginn im Mittel älter (siehe Tabelle 1). ARS wurde häufiger abstinent angetreten als STR, zugleich waren die drei Konsumklassen „7 bis 15 Tage“, „16 bis 28 Tage“ und „fast täglich“ schwächer besetzt (höchste Klasse bei cannabinoidbezogenen Störungen nicht signifikant). Für ARS-Fälle mit alkoholbezogenen Störungen ließen sich zudem im Mittel weniger Konsumtage im Monat vor Maßnahmenantritt beobachten.

    c) Dokumentierte Problembereiche

    Grundsätzlich wurde in ARS seltener eine Beeinträchtigung verschiedener Lebensbereiche dokumentiert als in STR, wobei die entsprechenden Unterschiede für beide Konsumstörungen meist signifikant waren (siehe Abbildung 2). Lediglich psychische Probleme (alkoholbezogene Störungen: ARS = 67,9 %; STR = 71,8 %; p = 0,02 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 71,0 %; STR = 79,0%; p = 0,09) und familiäre Probleme (alkoholbezogene Störungen: ARS = 54,7 %; STR = 51,8 %; p = 0,05 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 53,4 %; STR = 62,9 %; p = 0,03) wurden in ARS und STR jeweils ähnlich häufig erfasst.

    3.3 Behandlungsergebnisse

    Grundsätzlich endeten Entwöhnungsbehandlungen überwiegend planmäßig, wobei die Haltequote bei ARS und STR jeweils ähnlich war (siehe Abbildung 3). In wenigen Fällen wurde nicht dokumentiert, ob die Maßnahme planmäßig oder unplanmäßig endete, ohne dass diesbezüglich systematische Unterschiede zwischen ARS und STR bestanden (alkoholbezogene Störungen: ARS = 2,8 %, STR = 0,2 %; p = 0,16 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 2,3 %, STR = 0,3 %; p = 0,68).

    Betrachtet man die Anlässe einer planmäßigen Beendigung, so kam es in ARS jeweils häufiger als in STR zur Beendigung nach Behandlungsplan (alkoholbezogene Störungen 80,2 % vs. 73,8 %; p = 0,0003 | cannabinoidbezogene Störungen 80,1 % vs. 57,5 %; p < 0,0001) und seltener zu planmäßigen Wechseln in andere Einrichtungen (alkoholbezogene Störungen 5,1 % vs. 12,6 %; p < 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen 5,8 % vs. 17,9 %; p < 0,0001). Bei Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von alkoholbezogenen Störungen fanden sich in ARS zudem häufiger vorzeitige Beendigungen mit ärztlichem / therapeutischem Einverständnis (8,8 % vs. 7,3 %; p = 0,008) und bei cannabinoidbezogenen Störungen seltener Beendigungen auf ärztliche / therapeutische Veranlassung (7,6 % vs. 15,4 %; p = 0,0003).

    In Bezug auf eine unplanmäßige Beendigung waren disziplinarische Beendigungen in ARS seltener als in STR (alkoholbezogene Störungen 10,7 % vs. 17,5 %; p = 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen 9,8 % vs. 27,9 %; p = 0,003). Zudem kam es bei Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von cannabinoidbezogenen Störungen in ARS häufiger zu außerplanmäßigen Einrichtungswechseln (17,1 % vs. 2,7 %; p < 0,0001) und bei Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von alkoholbezogenen Störungen gab es in ARS mehr Todesfälle (2,7 % vs. 0,1 %; p < 0,0001).

    Im Zuge der Entwöhnungsbehandlung wurde bei beiden Konsumstörungen in ARS und STR ähnlich häufig eine Verbesserung der Ausgangssituation erreicht (siehe Abbildung 4). Bei alkoholbezogenen Störungen bestand auch hinsichtlich des Prozentsatzes, der stabil geblieben ist, kein Unterschied zwischen ARS und STR. Bei cannabinoidbezogenen Störungen wurde in ARS indes seltener eine Stabilisierung erreicht als in STR (13,3 % vs. 21,9 %; p = 0,005). Die Ausgangsproblematik verschlechterte sich in ARS jeweils häufiger als in STR, allerdings auf niedrigem Niveau (alkoholbezogene Störungen: ARS = 2,6%; STR = 0,6 %, p < 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 5,5%; STR =1,0 %, p < 0,0001).


    Zugleich war der Anteil an Behandelten, die die Konsumenge von Alkohol bzw. Cannabinoiden im Zuge der Entwöhnungsbehandlung verringert haben, in ARS niedriger als in STR (alkoholbezogene Störungen: 38,3 % vs. 72,5 %; p < 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen: 35,2 % vs. 63,4 %; p < 0,0001). Allerdings war am Ende der Maßnahme nicht immer dokumentiert, ob sich die anfängliche Suchtproblematik verändert hat, wobei dies bei der Klientel mit cannabinoidbezogenen Störungen in ARS seltener vorkam als in STR (5,0 % vs. 9,9 %; p = 0,002).

    4 Einordnendes Fazit

    Dieser Artikel vergleicht erstmals anhand von aktuellen Daten der DSHS die Fallzusammensetzung und das Ergebnis bei ambulanten und stationären Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen. Hierbei zeigt sich, dass stationäre Suchtrehabilitation deutlich weiter verbreitet ist als ambulante Maßnahmen, wobei in beiden Settings jeweils eine spezifische Klientel behandelt wird. Einschränkend sei darauf verwiesen, dass die Gegenüberstellung Fälle mit alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen – die Hauptanlässe für Suchtrehabilitation – adressierte. Eine Verallgemeinerung auf andere stoffgebundene und stoffungebundene Suchterkrankungen ist nicht unmittelbar möglich.

    Grundsätzlich waren soziodemographische Unterschiede zwischen der ARS-Klientel und der STR-Klientel ausgehend von den Anforderungskriterien, für wen eine ambulante Maßnahme geeignet ist, zu erwarten: Anlage 3 zur Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“ fordert unter anderem, dass im Falle einer ambulanten Entwöhnungsbehandlung ein stabilisierendes / unterstützendes soziales Umfeld sowie ausreichende berufliche Integration gewährleistet sein sollten (Deutsche Rentenversicherung, 2001). Dass den DSHS-Daten zu Folge die ARS-Klientel seltener allein lebt und häufiger erwerbstätig sowie seltener arbeitslos ist als die STR-Klientel, spiegelt eine adäquate Umsetzung dieser Vorgabe.

    Darüber hinaus hat die ARS-Klientel ein höheres Bildungsniveau (d. h. Abitur häufiger, Schulabbruch seltener) als die STR-Klientel. Dies deckt sich mit Beobachtungen in einer kleinen monozentrischen Studie unter Alkoholabhängigen (Schmidt et al., 2009). Hier steht zu vermuten, dass das höhere Bildungsniveau sich förderlich auf die Therapieadhärenz auswirkt, die wiederum eine Grundanforderung an die ambulante Durchführbarkeit einer Suchtrehabilitation darstellt (Deutsche Rentenversicherung, 2001). Zudem legt episodische Evidenz nahe, dass ein höherer Bildungsgrad – insbesondere bei Frauen – positiv mit dem Verbleib in der Suchtbehandlung assoziiert ist (Courtney et al., 2017; Pinto et al., 2011; Vigna-Taglianti et al., 2016).

    Des Weiteren finden sich in ARS häufiger Eltern minderjähriger Kinder als in STR. In einem ambulanten Setting lassen sich annahmegemäß Fürsorge- und Aufsichtspflichten leichter realisieren als in einem stationären Setting, weswegen Eltern gewisse Präferenzen für ambulante Angebote haben könnten. Dies legt zumindest eine Studie nahe, die den Mangel an auf Eltern zugeschnitten Therapieangeboten als eine von mehreren Hürden für die Inanspruchnahme stationärer Entwöhnungsbehandlungen unter Methamphetaminabhängigen identifizierte (Hoffmann et al., 2018). Eine Übertragbarkeit auf andere Suchterkrankungen erscheint hier legitim.

    Darüber hinaus spricht das klinische Bild der STR-Klientel für eine komplexere Problematik. Die STR-Fälle haben häufiger Probleme in verschiedenen Lebensbereichen und konsumieren Alkohol bzw. Cannabinoide im Monat vor Behandlungsbeginn intensiver. Dies korrespondiert mit den Klientelcharakteristika einer früheren Studie, die Risikoprofile für den frühzeitigen Abbruch einer ambulanten bzw. stationären Entwöhnungsbehandlung unter Personen mit Alkoholkonsumstörungen analysierte (Preuss et al., 2012). Hier fand sich eine höhere Prävalenz psychischer und körperlicher Begleiterkrankungen und eine kürzere Abstinenzperiode unter den stationär Behandelten. Beide Befunde reflektieren die Vorgaben der Anlage 3 zur Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“, die bei Personen mit intensivem Suchtverlauf und schwerwiegenden psychischen, sozialen oder körperlichen Beeinträchtigungen eine stationäre Rehabilitation empfehlen (Deutsche Rentenversicherung, 2001).

    Trotz dieser unterschiedlichen Fallcharakteristika wird in ARS und STR ähnlich häufig ein positives Behandlungsergebnis (Reduktion oder Stabilisierung) erzielt. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass sich in ARS behandelte Personen mit cannabinoidbezogenen Störungen zwar signifikant seltener stabilisieren, sich aber zugleich (nicht-signifikant) häufiger verbessern. Dies spricht für eine tendenzielle Verschiebung aus der Kategorie „Stabilisierung“ in die Kategorie „Verbesserung“. Zudem ist eine Verringerung der initialen Suchtproblematik in ARS und STR ähnlich wahrscheinlich. Dies lässt vermuten, dass Personen mit komplexerem Störungsbild von STR zumindest kurzfristig stärker profitieren als von ARS. Zugleich kommt es in ARS häufiger als in STR zu einer Verschlechterung der Suchtproblematik und die Konsummenge wird seltener verringert – was sicher auch mit der ausgangs niedrigeren Konsumintensität zusammenhängt. Ein wichtiger Erklärungsfaktor hierfür dürfte aber insbesondere die einfachere Verfügbarkeit der Substanzen kombiniert mit weniger engmaschigen Kontrollmöglichkeiten im ambulanten Setting sein.

    Da die Daten die Situation unmittelbar zum Behandlungsende abbilden, besteht keine Rückschlussmöglichkeit, ob sich die für STR beobachtete deutlich stärkere Konsummengenreduktion nachhaltig verstetigt. Es ist anzunehmen, dass bei stationären Entwöhnungsbehandlungen ein erhöhtes Rückfallrisiko besteht, sobald die Betroffenen in ihrer regulären Lebenswelt wieder erleichterten „Substanzzugriff“ haben. So geht der Katamnesebericht des Fachverbandes Sucht für das Datenjahr 2018 davon aus, dass die Hälfte der Personen, die eine ambulante Entwöhnungsbehandlung durchlaufen haben – davon 79,2 % aufgrund von Alkohol- und 6,4 % aufgrund von Cannabinoidkonsumstörungen – ein Jahr nach deren Abschluss gemäß DGSS 4-Standard (also ggf. nach Rückfall) abstinent war (Becker et al., 2021). Im Bereich der stationären Entwöhnungsbehandlung galt dies im Datenjahr 2020 aber nur für zwei Fünftel der Personen, die aufgrund von Alkoholkonsumstörungen behandelt worden waren (Bachmeier et al., 2023), bzw. für ein Fünftel der Personen, die aufgrund von Cannabinoidkonsumstörungen behandelt worden waren (Kemmann et al., 2023). Dies unterstreicht implizit die Bedeutung, die einer adäquaten Rehabilitations-Nachsorge (Deutsche Rentenversicherung, 2015) insbesondere nach einer stationären Entwöhnungsbehandlung zukommt.

    Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ARS und STR unterschiedliche Personengruppen erreichen und nicht per se individuell austauschbare Behandlungsangebote darstellen. Da es die Aggregatdaten der DSHS nicht erlauben, soziodemographische und störungsbezogene Unterschiede zwischen ARS-Klientel und STR-Klientel statistisch zu berücksichtigen, ist ein Vergleich der „Effektivität“ von ARS und STR grundsätzlich nicht angebracht. Vor dem Hintergrund der komplexeren Problematik der STR-Fälle ist der fehlende Unterschied zwischen beiden Behandlungsansätzen hinsichtlich Haltequote und Anteil an Fällen mit verbesserter Suchtproblematik allerdings positiv zu werten. Anscheinend gelingt es ARS und STR gleichermaßen gut, ihre spezifische Klientel bedarfsgerecht durch die Entwöhnung zu begleiten.

    5 Abkürzungsverzeichnis
    • ARS                Ambulante Medizinische Rehabilitation
    • DSHS             Deutsche Suchthilfestatistik
    • ICD                 International Classification of Diseases
    • IFT                  Institut für Therapieforschung
    • KDS                Kerndatensatz zur Dokumentation in der Suchtkrankenhilfe
    • STR                Stationäre Medizinische Rehabilitation
    6 Literatur
    • Bachmeier, R., Bick-Dresen, S., Daniel, H., Dyba, J., Funke, W., Kemmann, D., Klein, T., Medenwaldt, J., Premper, V., Reger, F., & Wagner, A. (2023). Effektivität der stationären Suchtrehabilitation – FVS+-Katamnese des Entlassjahrgangs 2020 von Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige. Sucht aktuell, 2023(5) 21-36.
    • Becker, A., Bick-Dresen, S., Schneider, B., Bachmeier, R., Bingel-Schmitz, D., Fölsing, B., Funke, W., Klein, T., Kramer, D., Löhnert, B., Steffen, D., Seydlitz, U., & Granowski, M. (2021). Effektivität der ambulanten Suchtrehabilitation–FVS-Katamnese des Entlassjahrgangs 2018 von Ambulanzen für Alkohol-und Medikamentenabhängige. Sucht aktuell, 2021(3) 38-47.
    • Courtney, R. J., Clare, P., Boland, V., Martire, K. A., Bonevski, B., Hall, W., Siahpush, M., Borland, R., Doran, C. M., West, R., Farrell, M., & Mattick, R. P. (2017). Predictors of retention in a randomised trial of smoking cessation in low-socioeconomic status Australian smokers. Addict Behav, 64, 13-20. https://doi.org/10.1016/j.addbeh.2016.07.019
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS). (2022). Deutscher Kerndatensatz zur Dokumentation im Bereich Suchtkrankenhilfe (3.0). Definitionen und Erläuterungen zum Gebrauch. (Stand: 01.01.2022). https://www.suchthilfestatistik.de/fileadmin/user_upload_dshs/methode/KDS/2021-01-01_Manual_Kerndatensatz_3.0.pdf
    • Deutsche Rentenversicherung. (2001). Anlage 3 zur Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“ vom 04.05.2001. Kriterien der Spitzenverbände der Krankenkassen und Rentenversicherungsträger für die Entscheidung zwischen ambulanter und stationärer Rehabilitation (Entwöhnung) bei Abhängigkeitserkrankungen.
    • Deutsche Rentenversicherung. (2008). Gemeinsames Rahmenkonzept der Deutschen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung zur ambulanten medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker vom 3. Dezember 2008.
    • Deutsche Rentenversicherung. (2011). Gemeinsames Rahmenkonzept der Deutschen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung zur ganztägig ambulanten medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker vom 18. August 2011.
    • Deutsche Rentenversicherung. (2015). Rahmenkonzept zur Nachsorge für medizinische Rehabilitation nach § 15 SGB VI der Deutschen Rentenversicherung.
    • Deutsche Rentenversicherung. (2017). Handlungsempfehlungen der Deutschen Rentenversicherung (DRV), der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) für die Verbesserung des Zugangs nach qualifiziertem Entzug in die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker vom 1. August 2017.
    • Dilling, H., Mombour, W., & Schmidt, M. H. (2015). Internationale Klassifikation psychischer Störungen: ICD-10 Kapitel V (F) klinisch-diagnostische Leitlinien. Hogrefe Verlag.
    • Hibbeler, B. (2010). Ambulante Rehabilitation: Trotz Hürden ein Erfolgskonzept. Dtsch Arztebl International, 107(14), A-634. https://www.aerzteblatt.de/int/article.asp?id=73232
    • Hoffmann, L., Schumann, N., & Richter, M. (2018). Zugang zur stationären Rehabilitation bei Methamphetaminabhängigkeit – Barrieren und Optimierungspotenziale aus Expertenperspektive. Die Rehabilitation, 57(06), 364-371. https://doi.org/10.1055/s-0043-121492
    • Kalinka, U. (2003). Rehabilitation: Ambulant und wohnortnah. Dtsch Arztebl International, 100(11), A-671. https://www.aerzteblatt.de/int/article.asp?id=36082
    • Karoff, M. (2003). Rehabilitation: Stationär wo nötig, ambulant wo möglich. Dtsch Arztebl International, 100(17), A-1115. https://www.aerzteblatt.de/int/article.asp?id=36618
    • Kemmann, D., Muhl, C., Funke, W., Erben, C., Fischer, M., Bachmeier, R., Klein, T., Link, S., & Granowski, M. (2023). Effektivität der stationären abstinenz-orientierten Drogenrehabilitation. Suchtaktuell, 2023(05), 37-44.
    • Künzel, J., Murawski, M., Riemerschmid, C., & Schwarzkopf, L. (2023). Patient:innen der Hauptmaßnahmen „Ambulante medizinische Rehabilitation“ und „Stationäre medizinische Rehabilitation, KURZBERICHT NR.1/2023 – DEUTSCHE SUCHTHILFESTATISTIK 2021. München, Institut für Therapieforschung.
    • Pinto, R. M., Campbell, A. N., Hien, D. A., Yu, G., & Gorroochurn, P. (2011). Retention in the National Institute on Drug Abuse Clinical Trials Network Women and Trauma Study: implications for posttrial implementation. Am J Orthopsychiatry, 81(2), 211-217. https://doi.org/10.1111/j.1939-0025.2011.01090.x
    • Preuss, U. W., Zimmermann, J., Schultz, G., Watzke, A., Schmidt, P., Löhnert, B., & Soyka, M. (2012). Risk profiles of treatment noncompletion for inpatients and outpatients undergoing alcohol disorder rehabilitation treatment. Subst Abuse Rehabil, 3, 35-42. https://doi.org/10.2147/sar.S24980
    • Schmidt, P., Küfner, H., Löhnert, B., Kolb, W., Zemlin, U., & Soyka, M. (2009). Effizienz der ambulanten und stationären Alkoholentwöhnung – Prädiktoren des Behandlungserfolgs [Efficiency of Outpatient and Inpatient Alcohol Treatment – Predictors of Outcome]. Fortschr Neurol Psychiatr, 77(08), 451-456. https://doi.org/10.1055/s-0028-1109501
    • Schwarzkopf, L., Braun, B., Specht, S., Dauber, H., Strobl, M., Künzel, J., Klapper, J., Kraus, L., & Pfeiffer-Gerschel, T. (2020). Die Deutsche Suchthilfestatistik – DSHS. Eine Einführung in Datenerfassung, Datensammlung, Datenverarbeitung und Auswertungen. https://dev.konturen.de/fachbeitraege/die-deutsche-suchthilfestatistik-dshs/
    • Seitz, R., Krammling, F., & Lindl, C. (2008). „Ambulant vor stationär“. Gesundheits- und Sozialpolitik, 62, 37-46. https://doi.org/10.5771/1611-5821-2008-2-37
    • Verband der Ersatzkassen (vdek). (2001). Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“ vom 04.05.2001.
    • Vigna-Taglianti, F. D., Burroni, P., Mathis, F., Versino, E., Beccaria, F., Rotelli, M., Garneri, M., Picciolini, A., & Bargagli, A. M. (2016). Gender Differences in Heroin Addiction and Treatment: Results from the VEdeTTE Cohort. Substance Use & Misuse, 51(3), 295-309. https://doi.org/10.3109/10826084.2015.1108339
    Förderhinweis

    Das Projekt Deutsche Suchthilfestatistik wird im Rahmen einer jährlichen Laufzeit vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert.

    Kontakt:

    PD Dr. Larissa Schwarzkopf
    Leiterin Forschungsgruppe Therapie und Versorgung
    IFT Institut für Therapieforschung
    Leopoldstraße 175
    80804 München
    www.ift.de
    schwarzkopf(at)ift.de

    Angaben zu den Autorinnen:

    Die Autorinnen repräsentieren die Forschungsgruppe „Therapie und Versorgung“ am IFT Institut und Therapieforschung. Das IFT ist als selbstständiges, gemeinnütziges Forschungsinstitut auf dem Gebiet der Abhängigkeitserkrankungen tätig und bearbeitet grundlagen- und anwendungsbezogene Fragestellungen zu Ätiologie, Epidemiologie, Prävention, Therapie und Versorgungsforschung. Die Deutsche Suchthilfestatistik (DSHS), die das IFT seit mehr als vierzig Jahren betreut, bildet einen zentralen Grundpfeiler dieser Forschungsaktivitäten. Hierbei koordiniert die Forschungsgruppe Therapie und Versorgung schwerpunktmäßig die inhaltliche und methodische Weiterentwicklung der DSHS.

    • PD Dr. Larissa Schwarzkopf, Dipl.-Ges.ök, MSc. Biostatistics, IFT, Leiterin Forschungsgruppe Therapie und Versorgung
    • Monika Murawski, MPH, Dipl.-Soz., Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Carlotta Riemerschmid, MSc. Psychologie, IFT, Doktorandin Forschungsgruppe Therapie und Versorgung
    • Jutta Künzel, Dipl.-Psych., IFT, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Forschungsgruppe Therapie- und Versorgung
  • Mentalisieren in der systemischen Praxis

    Aus dem Englischen von Christoph Trunk
    Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2023, 295 Seiten, 69,00 €, ISBN 978-3-8497-0469-8

    Was in einem anderen Menschen wirklich vorgeht, lässt sich nur erahnen. Wer dessen Verhalten verstehen will, ist auf Interpretationen angewiesen. Dieses Mentalisieren kann jedoch durch eigene Vorstellungen eingeschränkt sein, was wiederum mögliche Problemlösungen behindert. In einer Beratung oder Therapie geht es deshalb auch darum, diese Hemmnisse bei der Klientin/dem Klienten zu erkennen und auszuräumen und so die Mentalisierungsfähigkeit wiederherzustellen.

    Eia Asen und Peter Fonagy kombinieren mentalisierungsbasiertes Vorgehen mit systemischen Konzepten und Techniken zu einer Verfahrensweise, die sich gut in die therapeutische Praxis integrieren lässt, nahezu unabhängig von ihrer theoretischen Ausrichtung. Abgesehen von der Arbeit mit Individuen, Paaren und Familien haben sie dabei auch Helfersysteme wie Jugendhilfeeinrichtungen sowie Schulen im Blick, und das über kulturelle Grenzen hinweg.

    Neben den theoretischen Konzepten enthält das Buch Anregungen für konkrete Aktivitäten, Übungen und Spiele, die effektives Mentalisieren in der klinischen Arbeit auf spielerische Weise fördern. Sie erhöhen sowohl das Verständnis als auch die Motivation auf Seiten der Klientinnen und Klienten und erleichtern die Überwindung problematischer Muster, z. B. in innerfamiliären Beziehungen.

  • Todesfälle im Zusammenhang mit synthetischen Cannabinoiden

    Die bunt verpackten Kräutermischungen sehen meist harmlos aus. Doch der Konsum der darin enthaltenen synthetischen Cannabinoide kann lebensbedrohliche Folgen haben, wie Autopsien von Todesfällen im Raum München belegen.

    Im Jahr 2008 sorgte die Kräutermischung Spice für Aufsehen. Die Wissenschaft rätselte zunächst, was in den Kräutermischungen enthalten ist. Geraucht wirkte es ähnlich wie Cannabis. Allerdings konnte kein bekannter Cannabiswirkstoff nachgewiesen werden. Ein Labor aus Frankfurt konnte schließlich den Nachweis erbringen, dass die Wirkung von synthetischen Cannabinoiden ausgeht, die auf die Kräuter gesprüht wurden.

    In unserem Körper binden synthetische Cannabinoide an den Rezeptoren des Endocannabinoid-Systems. Das tun sie allerdings bis zu 100-mal stärker als pflanzlicher Cannabis. Synthetische Cannabinoide entfalten dadurch eine deutlich intensivere Wirkung. Damit steigt auch die Gefahr für lebensbedrohliche Folgen, wie eine Forschungsgruppe aus München und Freiburg in einer Studie nachweisen konnte. Für ihre Studie analysierten Studienleiter Olwen Groth und sein Team Todesfälle, bei denen synthetische Cannabinoide als Ursache vermutet wurden.

    98 Todesfälle im Zusammenhang mit synthetischen Cannabinoiden

    Zwischen 2014 und 2020 wurden mehr als 15.000 Autopsien am Institut für Rechtsmedizin an der Medizinischen Fakultät der LMU München durchgeführt. Bei über 800 Todesfällen bestand der Verdacht, dass synthetische Cannabinoide eine Rolle gespielt haben könnten. In 98 Fällen konnte dieser Verdacht durch toxikologische Untersuchungen bestätigt werden. Die Verstorbenen waren im Durchschnitt 36 Jahre alt, 92 Prozent waren männlich.

    Häufigste Todesursache war der Mischkonsum mit anderen Drogen und Alkohol. Nach Einschätzung der Forschenden spielten synthetische Cannabinoide bei mehr als der Hälfte der Todesfälle eine ursächliche Rolle. Bei etwa jedem vierten Fall trugen sie vermutlich zum Todesgeschehen bei. In 14 Prozent der Fälle konnten synthetische Cannabinoide als alleinige Todesursache ausgemacht werden.

    „Wundertüten“ bergen unvorhersehbare Risiken

    Das Gefährliche an synthetischen Cannabinoiden ist: Die Produkte sind wie „Wundertüten“, allerdings mit potenziell lebensgefährlichem Inhalt. So konnten in den toxikologischen Untersuchungen 41 verschiedene synthetische Cannabinoide nachgewiesen werden. Frühere Untersuchungen konnten zudem zeigen, dass auch die Wirkstoffkonzentration innerhalb einer Packung teils unterschiedlich verteilt ist. Konsumierende können sich somit nie sicher sein, was sie konsumieren.

    Ein positives Ergebnis konnte die Studie dennoch liefern: Nachdem im November 2016 das Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz (NpSG) in Kraft getreten ist, ist die Zahl der Todesfälle durch synthetische Cannabinoide deutlich zurückgegangen. Das neue Gesetz bezieht sich, anders als das Betäubungsmittelgesetz, nicht auf einzelne Substanzen, sondern auf Stoffgruppen. Damit soll verhindert werden, dass durch kleine Veränderungen in der chemischen Struktur einer Droge eine neue Substanz entsteht, die nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fällt und damit legal ist. Seitdem ist der Umgang mit jeglichen synthetischen Cannabinoiden verboten.

    Originalpublikation:
    Groth, O., Roider, G., Angerer, V., Schäper, J., Graw, M., Musshoff, F., & Auwärter, V. (2023). „Spice“-related deaths in and around Munich, Germany: A retrospective look at the role of synthetic cannabinoid receptor agonists in our post-mortem cases over a seven-year period (2014-2020). International journal of legal medicine, 137(4), 1059–1069. https://doi.org/10.1007/s00414-023-02995-2

    Quelle: https://www.drugcom.de/, 26.7.2023

  • Bundeskabinett beschließt Cannabisgesetz

    Das Kabinett hat heute, 16.8.2023, den Entwurf eines „Gesetzes zum kontrollierten Umgang mit Cannabis und zur Änderung weiterer Vorschriften“ (CanG) beschlossen. Er basiert auf dem 2-Säulen-Eckpunktepapier und setzt die 1. Säule zum privaten und gemeinschaftlichen, nicht-gewerblichen Eigenanbau für Erwachsene zum Eigenkonsum um. Der Schutz von Kindern und Jugendlichen ist ein zentraler Bestandteil des gesamten Gesetzesvorhabens.

    Mit dem Kabinettsbeschluss hat das Bundesgesundheitsministerium eine Kampagne zur Aufklärung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen gestartet. Schon während des Gesetzgebungsverfahrens wird damit dem Eindruck entgegengetreten, der Konsum von Cannabis sei ungefährlich. Um die Zielgruppe zu erreichen, läuft die Kampagne hauptsächlich über die digitalen Kanäle des Ministeriums. Aufgehängt ist die Kampagne am scheinbaren Widerspruch von Legalisierung und mit dem Konsum verbundenen Risiken. Zentrales Element wird deshalb der Claim „Legal, aber …“ sein.

    Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach: „Das Cannabisgesetz markiert einen Wendepunkt einer leider gescheiterten Cannabisdrogenpolitik. Ziel ist, den Schwarzmarkt und die Drogenkriminalität zurückzudrängen, das Dealen mit gestreckten oder toxischen Substanzen einzudämmen und die Konsumentenzahlen zu drücken. Für Jugendliche bleibt der Konsum verboten, für junge Erwachsene soll er nur bedingt möglich sein. Diese Einschränkung ist notwendig, denn Cannabis schadet besonders dem noch wachsenden Gehirn. Um zu verhindern, dass Heranwachsende trotzdem konsumieren, starten wir bereits jetzt eine Aufklärungskampagne. Niemand darf das Gesetz missverstehen. Cannabiskonsum wird legalisiert. Gefährlich bleibt er trotzdem.“

    Die wesentlichen Regelungen im Einzelnen

    • Erwachsenen ist der private Eigenanbau von bis zu drei Cannabis-Pflanzen zum Eigenkonsum sowie der gemeinschaftliche, nicht-gewerbliche Eigenanbau zum Eigenkonsum in Anbauvereinigungen bzw. Genossenschaften erlaubt.
    • Der Besitz von bis zu 25 Gramm Cannabis ist künftig straffrei.
    • Es gilt ein allgemeines Werbe- und Sponsoringverbot für Konsumcannabis und für Anbauvereinigungen.
    • Konsumverbot von Cannabis in einer Schutzzone von 200 Metern Abstand zum Eingangsbereich von Anbauvereinigungen, Schulen, Kinder- und Jugendeinrichtungen, Kinderspielplätzen sowie in öffentlich zugänglichen Sportstätten.
    • Nicht-gewerbliche Anbauvereinigungen dürfen nur mit behördlicher Erlaubnis Konsumcannabis gemeinschaftlich unter aktiver Mitwirkung der Mitglieder anbauen und zum Eigenkonsum an Mitglieder weitergeben. Enge gesetzliche Rahmenbedingungen müssen eingehalten werden.
    • Anbauvereinigungen dürfen max. 500 Mitglieder haben; Mitglieder müssen erwachsen sein und ihren Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland haben.
    • Einhaltung von strengen Mengen-, Qualitäts- sowie Kinder- und Jugendschutzvorgaben erforderlich, gesichert durch behördliche Kontrolle.
    • Begrenzung der Weitergabe von Konsumcannabis in Anbauvereinigungen: Weitergabe nur an Mitglieder, verbunden mit einer strikten Pflicht zur Überprüfung der Mitgliedschaft und des Alters – max. 25 Gramm pro Tag / 50 Gramm pro Monat.
    • Begrenzung der Weitergabe an Heranwachsende zwischen 18 und 21 Jahren auf 30 Gramm pro Monat mit einer Begrenzung des zulässigen THC-Gehalts auf 10 Prozent.
    • Weitergabe von Konsumcannabis in kontrollierter Qualität und nur in Reinform, d. h. Marihuana oder Haschisch.
    • In begrenztem Umfang zulässiger privater Eigenanbau mit Pflicht zum Schutz des privat angebauten Konsumcannabis vor dem Zugriff durch Kinder und Jugendliche sowie Dritte.
    • Stärkung der Prävention: Präventionsmaßnahmen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) sowie in den Anbauvereinigungen; Information und Beratung durch Präventionsbeauftragte mit nachgewiesenen Sachkenntnissen und Kooperation mit lokalen Suchtberatungsstellen.

    Das Gesetz soll nach vier Jahren auf gesellschaftliche Auswirkungen evaluiert werden.

    Cannabis zu medizinischen und medizinisch-wissenschaftlichen Zwecken wird in ein eigenes Gesetz überführt. Das Gesetz lehnt sich im Wesentlichen an die in der Praxis bewährten Regelungen des Betäubungsmittelgesetzes an. Es bleibt bei der Verschreibungspflicht von Medizinal-Cannabis. Die Versorgung mit Medizinal-Cannabis für diejenigen Patientinnen und Patienten, die aus gesundheitlichen Gründen darauf angewiesen sind, wird weiterhin sichergestellt.

    Pressestelle des Bundesgesundheitsministeriums, 16.8.2023

  • Cannabis-Legalisierung

    Heute, 16.8.2023, berät das Bundeskabinett über den Gesetzentwurf von Gesundheitsminister Lauterbach zur Cannabis-Legalisierung. Es sollen in einem ersten Schritt der private Konsum und der nicht-gewinnorientierte Eigenanbau erlaubt werden. Der Sucht- und Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Burkhard Blienert, nimmt in einem Interview im Deutschlandfunk zum Gesetzentwurf Stellung und bewertet die Pläne der Bundesregierung grundsätzlich positiv. Das Interview ist nachzuhören unter: https://www.deutschlandfunk.de/staat-auf-dem-falschen-trip-interview-m-burkhard-blienert-drogenbeauftr-dlf-ddd46e93-100.html

    Red. KONTUREN, 16.8.2023

  • Neuer Höchststand an Kindeswohlgefährdungen

    Nach einem leichten Rückgang im Corona-Jahr 2021 hat die Zahl der Kindeswohlgefährdungen in Deutschland einen neuen Höchststand erreicht: Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, haben die Jugendämter im Jahr 2022 bei fast 62.300 Kindern oder Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung (akut und latent) durch Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt festgestellt. Das waren rund 2.300 Fälle oder 4 Prozent mehr als im Jahr zuvor.

    In weiteren 68.900 Fällen lag 2022 nach Einschätzung der Behörden zwar keine Kindeswohlgefährdung, aber ein erzieherischer Hilfebedarf vor (+2 Prozent). Geprüft hatten die Jugendämter im Vorfeld insgesamt 203.700 Hinweismeldungen, bei denen der Verdacht auf eine mögliche Gefährdung von Kindern oder Jugendlichen im Raum stand (+3 Prozent).

    Auch langfristig hat sich die Zahl der Kindeswohlgefährdungen erhöht: In den Jahren von 2012 bis 2022 betrug der Anstieg rund 24.000 Fälle beziehungsweise 63 Prozent. Dabei nahmen die Fallzahlen von 2017 bis einschließlich des ersten Corona-Jahres 2020 besonders kräftig zu – und zwar jährlich um 9 bis 10 Prozent. Im zweiten Corona-Jahr 2021 sanken sie dann leicht (‑1 Prozent), um im Jahr 2022 mit 4 Prozent wieder moderat zu wachsen.

    2 Prozent weniger latente, aber 10 Prozent mehr akute Kindeswohlgefährdungen

    Fachleute hatten im Zuge der Pandemie davor gewarnt, dass ein Teil der Kinderschutzfälle durch die Kontaktbeschränkungen unerkannt bleiben oder erst mit Verzögerung nach Ende der Pandemie auffallen könnte. Auch wenn die neuen Ergebnisse zunächst eher nicht auf einen solchen allgemeinen Nachholeffekt hindeuten, gibt es doch Auffälligkeiten: So gingen zwar die latenten Fälle – also jene, bei denen eine gegenwärtig vorliegende Gefahr nicht eindeutig bestätigt werden konnte, aber ein ernster Verdacht verblieb – im Jahr 2022 auf 28.900 zurück (‑2 Prozent). Gleichzeitig sind aber insbesondere die akuten (eindeutigen) Fälle von Kindeswohlgefährdung mit 10 Prozent vergleichsweise stark auf 33.400 Fälle gestiegen.

    Etwa vier von fünf gefährdeten Kindern waren jünger als 14 Jahre

    Etwa vier von fünf (79 Prozent) aller 62.300 von einer Kindeswohlgefährdung betroffenen Kinder und Jugendlichen waren jünger als 14 Jahre, etwa jedes zweite sogar jünger als acht Jahre (47 Prozent). Während Jungen bis zum Alter von elf Jahren etwas häufiger von einer Kindeswohlgefährdung betroffen waren, traf dies ab dem zwölften Lebensjahr auf die Mädchen zu. Die meisten Minderjährigen wuchsen bei alleinerziehenden Müttern oder Vätern (42 Prozent) oder bei beiden Eltern gemeinsam (38 Prozent) auf, 10 Prozent bei einem Elternteil in neuer Partnerschaft und weitere 9 Prozent in einem Heim, bei Verwanden oder in einer anderen Konstellation. Knapp die Hälfte der betroffenen Jungen und Mädchen (47 Prozent) nahm zum Zeitpunkt der Gefährdungseinschätzung bereits eine Leistung der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch, stand also schon in Kontakt zum Hilfesystem.

    In 22 Prozent aller Fälle lagen mehrere Arten von Vernachlässigung und Gewalt vor

    In den meisten Fällen von Kindeswohlgefährdung (59 Prozent) hatten die Behörden Anzeichen von Vernachlässigung festgestellt. In über einem Drittel (35 Prozent) gab es Hinweise auf psychische Misshandlungen. In 27 Prozent der Fälle wurden Indizien für körperliche Misshandlungen und in 5 Prozent Anzeichen für sexuelle Gewalt gefunden. Den Jugendämtern zufolge gab es darunter auch Fälle, bei denen die Betroffenen mehrere dieser Gefährdungsarten – also Vernachlässigungen, psychische Misshandlungen, körperliche Misshandlungen oder sexuelle Gewalt – gleichzeitig erlebt hatten. 2022 traf dies auf 22 Prozent aller Fälle von Kindeswohlgefährdung zu. Dieser Anteil ist seit 2015 kontinuierlich gewachsen, damals hatte er noch bei 16 Prozent gelegen.

    Hinweise von Polizei und Justiz haben sich in zehn Jahren mehr als verdreifacht

    Knapp ein Drittel (30 Prozent) der rund 203.700 Gefährdungseinschätzungen wurden im Jahr 2022 von der Polizei oder den Justizbehörden angeregt. Rund ein Viertel (23 Prozent) der Hinweise auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung kam aus der Bevölkerung – also von Verwandten, Bekannten, Nachbarn oder anonym. Dahinter folgten Einrichtungen und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe, Erziehungshilfe u. a. (13 Prozent). Jeweils etwa ein Zehntel der Hinweise auf die Gefährdungssituation gaben die Schulen (11 Prozent) und die Familien selbst, also die betroffenen Minderjährigen (2 Prozent) oder deren Eltern (7 Prozent).

    Eine abschließende Beurteilung, wie sich die Corona-Pandemie – etwa durch die allgemeinen Kontaktbeschränkungen, Lockdowns oder das Homeschooling – auf die Entwicklung der Kinderschutzfälle ausgewirkt hat, ist zurzeit noch schwierig. Gerade in einer Ausnahmesituationen wie der Pandemie scheint aber das Meldeverhalten der Hinweisgeber eine besondere Rolle zu spielen: Zum Beispiel deuten die bisherigen Ergebnisse darauf hin, dass Schulen und Kitas infolge der Schul- und Kitaschließungen besonders im Jahr 2020 vorübergehend weniger Hinweise auf mögliche Kinderschutzfälle an die Jugendämter gegeben haben als zuvor und danach. Andererseits können Lockdowns und Homeoffice dazu beigetragen haben, dass bei den Behörden zeitweise deutlich mehr Meldungen aus der Bevölkerung eingegangen sind. In der Rückschau fällt auch hier das Jahr 2020 besonders auf.

    Vergleichsweise stabil geblieben ist dagegen auch in Zeiten der Pandemie offensichtlich das Meldeverhalten von Polizei und Justizbehörden. Diese Hinweisgeber weisen auch im längerfristigen Vergleich eine beachtliche Entwicklung auf: 61.300 Gefährdungseinschätzungen wurden 2022 von Polizei und Justiz angeregt – gut dreimal so viele wie im Jahr 2012 (+234 Prozent). Zum Vergleich: Im Durchschnitt hatte sich die Zahl der Gefährdungseinschätzungen im Zehnjahresvergleich in etwa verdoppelt (+91 Prozent).

    Methodische Hinweise:
    Eine Kindeswohlgefährdung liegt vor, wenn eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls eines Kindes droht oder bereits eingetreten ist. In Verdachtsfällen sind die Jugendämter verpflichtet, durch eine Gefährdungseinschätzung (nach § 8a SGB VIII) das Gefährdungsrisiko und den Hilfebedarf abzuschätzen und einer Gefährdung entgegenzuwirken. Dazu zählen in der Regel auch ein Hausbesuch und die Erörterung der Problemsituation mit dem Kind und den Sorgeberechtigten – sofern dies dem Kinderschutz nicht entgegensteht.

    Weiterführende Informationen zum Thema Kinderschutz und Kindeswohl befinden sich auf der Themenseite „Kinderschutz und Kindeswohl“.

    Pressestelle des Statistischen Bundesamtes (Destatis), 2.8.2023

  • Handlungsfelder und Adressierungen der Sozialen Arbeit

    Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2023, 631 Seiten, 69,00 €, ISBN 978-3-17-039846-7

    Das Buch erweitert die bisherigen lebensalter- und lebenslagenbezogenen Systematisierungen der Handlungsfelder Sozialer Arbeit um lebensraum- und lebenskontextbezogene sowie um disziplin- und professionsbezogene Handlungsfelder.

    Gemeinsamer Referenzpunkt der Beiträge ist die Frage der Adressierung unter emanzipatorischer Perspektive. Dabei orientieren sich die Darstellungen der Handlungsfelder an der Selbstbestimmung und Teilhabe der Adressatinnen und Adressaten, ohne deren gesellschaftliche und strukturelle Begrenzungen aus dem Blick zu verlieren. Auf diese Weise entsteht eine besondere Einführung in die Soziale Arbeit: eine umfassende, aktuelle und systematische Darstellung der Handlungsfelder mit Fokus auf das grundlegende emanzipatorische Ziel Sozialer Arbeit – die Förderung von Teilhabe und Selbstbestimmung ihrer Adressatinnen und Adressaten.

  • Häusliche Gewalt im Jahr 2022

    Die Zahl der Opfer von Häuslicher Gewalt lag im Jahr 2022 bei 240.547 und ist damit um 8,5 Prozent im Vergleich zum Jahr 2021 gestiegen. Das zeigt das neue umfassende Lagebild, das am 11.7.2023 von Bundesinnenministerin Nancy Faeser, Bundesfrauenministerin Lisa Paus und dem Präsidenten des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, in Berlin vorgestellt wurde.

    Bundesfrauenministerin Lisa Paus: „Fast alle zwei Minuten wird in Deutschland ein Mensch Opfer von Häuslicher Gewalt. Jede Stunde werden mehr als 14 Frauen Opfer von Partnerschaftsgewalt. Beinahe jeden Tag versucht ein Partner oder Expartner eine Frau zu töten. Die deutlich gestiegenen Zahlen zeigen die traurige Realität: Gewalt gegen Frauen ist ein gesamtgesellschaftliches und alltägliches Problem. Sie wird ausgeübt, um Macht über Frauen aufrechtzuerhalten. Ich setze mich dafür ein, die Lücken im Netz der Frauenhäuser und Beratungsstellen zu schließen. Ich bin sehr froh, dass wir trotz schwieriger Haushaltslage die Finanzierung von Baumaßnahmen von Frauenhäusern und Frauenberatungsstellen in diesem und kommenden Jahr um zusätzliche zehn Millionen Euro stärken können und im kommenden Jahr auf dem Niveau von 30 Millionen Euro fortschreiben.“

    Das neue Lagebild Häusliche Gewalt ist eine Fortschreibung und Ergänzung der früheren Kriminalstatistischen Auswertung Partnerschaftsgewalt, die seit 2015 jährlich durch das Bundeskriminalamt (BKA) veröffentlicht wurde. Neben der Partnerschaftsgewalt werden nun auch die Delikte der sog. innerfamiliären Gewalt von und gegen Eltern, Kinder, Geschwister und sonstige Angehörige mitbetrachtet, so dass es nun eine bundesweite Lageübersicht zur Häuslichen Gewalt insgesamt gibt.

    Im Bereich der Partnerschaftsgewalt stieg die Anzahl der Opfer um 9,1 Prozent auf 157.818 Opfer. Ganz überwiegend trifft Gewalt im häuslichen Kontext Frauen: 80,1 Prozent der Opfer von Partnerschaftsgewalt und 71,1 Prozent der Opfer Häuslicher Gewalt insgesamt sind weiblich. Von den Tatverdächtigen bei Partnerschaftsgewalt sind 78,3 Prozent Männer, im Gesamtbereich der Häuslichen Gewalt 76,3 Prozent.

    Im Bereich der Partnerschaftsgewalt lebte die Hälfte der Opfer mit der tatverdächtigen Person zusammen. Die Mehrheit sowohl der Opfer als auch der Tatverdächtigten waren zwischen 30 und 40 Jahre alt, im Bereich der Innerfamiliären Gewalt waren unter 21-Jährige  am häufigsten betroffen. 133 Frauen und 19 Männer sind im Jahr 2022 durch ihre Partner oder Ex-Partner getötet worden.

    Opfer von Häuslicher Gewalt im Jahr 2022

    Folgende Liste zeigt die Anzahl der Opfer von Häuslicher Gewalt im Jahr 2022 nach Delikten (jeweils vollendete und versuchte Delikte):

    • Opfer von Tötungsdelikten: 702 Opfer (248 männlich und 454 weiblich), davon 239 Opfer von vollendeten Tötungsdelikten (58 männlich und 181 weiblich) und 463 Opfer von versuchten Tötungsdelikten (190 männlich, 273 weiblich)
    • Opfer von vorsätzlicher einfacher Körperverletzung: 135.502 Opfer (39.766 männlich und 95.736 weiblich)
    • Opfer von Bedrohung, Stalking und Nötigung: 57.376 Opfer (13.332 männlich und 44.044 weiblich)
    • Opfer von Freiheitsberaubung: 2.575 Opfer (437 männlich und 2.138 weiblich)
    • Opfer von gefährlicher Körperverletzung: 28.589 Opfer (11.277 männlich und 17.312 weiblich)

    Die Zahlen von polizeilich registrierter Häuslicher Gewalt steigen nahezu kontinuierlich an, in den letzten fünf Jahren um 13 Prozent. Doch viele Taten werden der Polizei nicht gemeldet, etwa aus Angst oder Scham.

    Start einer umfassenden Dunkelfeldstudie

    Wie groß dieses Dunkelfeld ist, soll die Studie „Lebenssituation, Sicherheit und Belastung im Alltag“ (LeSuBiA) herausfinden. Die großangelegte Untersuchung wird vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, dem Bundesministerium des Innern und für Heimat sowie dem Bundeskriminalamt verantwortet. Deutschlandweit sollen 22.000 Menschen befragt werden. Erste Ergebnisse werden 2025 vorliegen.

    Die Teilnehmenden an der Studie werden zufällig aus den Einwohnermelderegistern ausgewählt. Befragt werden sie zur aktuellen Lebenssituation, zu Sicherheit und zu Belastungen im Alltag. Ein Schwerpunkt liegt auf der Erhebung von Gewalterfahrungen in Paarbeziehungen sowie Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt und digitaler Gewalt. Zudem enthält die Studie Fragen zu Erfahrungen mit Polizei, Medizin, Gerichten und Opferhilfeeinrichtungen.

    Zwanzig Jahre nach der letzten Opferbefragung des BMFSFJ liefert die Studie nicht nur aktuelle, repräsentative, bundesweite Daten zur Gewaltbelastung von Frauen, sondern erstmals auch von Männern. Mit der Durchführung von Zusatzstichproben werden zudem repräsentative Aussagen zur Gewaltbelastung in Partnerschaften, sexualisierter und digitaler Gewalt von Menschen mit Migrationshintergrund ermöglicht.

    Für die wissenschaftliche Begleitung des Projekts wurde ein Forschungsbeirat einberufen, dem zehn Expertinnen und Experten aus den Bereichen Gewalt-, Gender- und Umfrageforschung sowie Opferhilfe und Medizin angehören.

    Das Lagebild Häusliche Gewalt zum Berichtjahr 2022 finden Sie hier: www.bmi.bund.de/20336752

    Weitere Informationen zur Studie unter: www.bka.de/lesubia

    Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ bietet Frauen unter der Nummer 116 016 rund um die Uhr kostenlose und anonyme Beratung in 18 Sprachen an. Weitere Informationen unter www.hilfetelefon.de

    Pressemitteilung des Bundesfamilienministeriums,11.7.2023