Autor: Simone Schwarzer

  • Angehörigenarbeit in der Suchthilfe – Warum Verbesserungen in der Praxis notwendig sind

    Anlass

    Die negativen Auswirkungen von Substanzgebrauchsstörungen (SGS) auf die Gesundheit von Angehörigen wurden in verschiedenen Studien vielfach und eindeutig belegt (u. a. Fals-Stewart et al. 2004). Auch gibt es einen wissenschaftlich-fachlichen Konsens darüber, dass es sich bei Substanzgebrauchsstörungen gleichermaßen um Störungen im Familiensystem handelt und die Familiendynamik von den oftmals massiven psycho-sozialen Auswirkungen der SGS mitbetroffen ist (Lander et al. 2013). Angehörige stellen folglich eine wichtige Zielgruppe für die Suchthilfe dar, für die es gilt, ein flächendeckendes und bedarfsorientiertes Unterstützungsangebot zu schaffen.

    In der Praxis sind Unterstützungsmöglichkeiten für diese Zielgruppe jedoch nach wie vor nicht flächendeckend implementiert. Auch nutzt ein großer Teil der Angehörigen von Menschen mit SGS die bestehenden Angebote im Suchthilfesystem nicht oder nur selten (Bischof et al. 2018a), und die Abbruchquote von Angehörigen bei der Inanspruchnahme von Hilfeangeboten fällt hoch aus (Berndt et al. 2017). Das von Larissa Hornig (Institut für Suchtforschung/ISFF, Frankfurt a. M.) verfasste und von akzept e. V. herausgegebene Positionspapier gibt einen Überblick über die gegenwärtigen Problemlagen und die hieraus resultierenden Empfehlungen und Möglichkeiten einer Weiterentwicklung in der Angehörigenarbeit. Sehr deutlich wird in dem Papier, wie wichtig und groß der Handlungs- und Forschungsbedarf im Hinblick auf die Gruppe der Angehörigen von Menschen mit Substanzgebrauchsstörungen ist.

    Problembereiche

    Die Angehörigenarbeit wird mittlerweile als fester Bestandteil der Behandlung von Substanzgebrauchsstörungen im Rahmen der medizinischen Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen aufgeführt (DRV o. J.). Der Einbezug von Angehörigen in den Therapieverlauf der Betroffenen findet somit statt und stellt einen günstigen Prognosefaktor dar. Eine einheitliche und konzeptionelle Verortung der Angehörigenarbeit mit eigenständigem Beratungs- und Behandlungsanspruch für diese Zielgruppe gibt es bislang jedoch nicht. Für Menschen mit einer SGS besteht ein flächendeckendes breites Spektrum an Angeboten, die Angebotsstruktur für Angehörige dagegen ist deutlich geringer ausgebaut (DHS 2019). Folglich werden die Auswirkungen von SGS auf das soziale Umfeld in Behandlungsleitlinien und der deutschen Suchtpolitik bislang nur eingeschränkt benannt, und Verweise auf evidenzbasierte Behandlungsangebote fehlen durchgängig (Bischof et al. 2018b).

    Was muss passieren?

    Um Angebote für Angehörige zu gestalten, die deren Bedürfnissen und Wünschen entsprechen, sollten folgende Empfehlungen umgesetzt werden:

    • Forschung im Hinblick auf soziodemographische Merkmale (Alter, Geschlecht, Bildungsstatus etc.), aber auch auf suchtspezifische Belastungsfaktoren (je nach Suchtmittel) von Angehörigen; auch sollten spezifische Bedarfe von bestimmten Angehörigengruppen wie Eltern, Kindern oder Partner:innen erforscht werden.
    • Entwicklung und Erprobung familientherapeutischer Konzeptionen sowie deren Integration in rehabilitative Behandlungskonzepte
    • Sensibilisierung von Kostenträgern zur Schaffung einer Regelfinanzierung von Angeboten für Angehörige im Rahmen der ambulanten und stationären Rehabilitation
    • Flächendeckender Aufbau von systemisch-familientherapeutischen Weiterbildungen in der Suchttherapie
    • Interdisziplinäre Vernetzung und Kooperation an Schnittstellen zwischen Einrichtungen der Suchthilfe und Institutionen außerhalb des Suchthilfesystems wie Hausärzt:innen, Jugendhilfe, Polizei oder Gerichtsbarkeit
    • Schaffung niedrigschwelliger Zugänge durch beispielsweise die Anonymisierung von Unterstützungsangeboten oder die Etablierung von Chatfunktionen
    • Abbau von Stigmata und Enttabuisierung der Thematik der Mit-Betroffenheit von Angehörigen durch weitere Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit (Entstigmatisierungskampagnen, Werbung von Einrichtungen der Suchthilfe für Unterstützungsangebote, themenspezifische Fachtagungen/Kongresse etc.)

    Das vollständige Positionspapier steht auf der Website von akzept e. V. (Drogenpolitik National) zum Download zur Verfügung.

    Text: Larissa Hornig, Institut für Suchtforschung/ISFF, Frankfurt a. M., 28.6.2023

    Literatur:

    Berndt J, Bischof A, Besser B. et al. Abschlussbericht. Belastungen und Perspektiven Angehöriger Suchtkranker: ein multi-modaler Ansatz (BEPAS). Lübeck; 2017. Im Internet: www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Drogen_und_Sucht/Berichte/Abschlussbericht/171109_Abschlussbericht_BEPAS.pdf; Stand: 20.03.2023.

    Bischof G, Meyer C, Batra A et al. Angehörige Suchtkranker: Prävalenz, Gesundheitsverhalten und Depressivität. SUCHT 2018a, 64:2, 63-72. https://doi.org/10.1024/0939-5911/a000530.

    Bischof G, Besser B, Bischof A et al. Positionspapiere und Leitbilder zu Angehörigen Suchtkranker POLAS. Abschlussbericht an das Bundesministerium für Gesundheit. Lübeck; 2018b. Im Internet: www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Drogen_und_Sucht/Berichte/Abschlussbericht/2018-07-18POLAS-Abschlussbericht.pdf; Stand: 20.03.2023.

    Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS). Die Versorgung von Menschen mit Suchtproblemen in Deutschland – Analysen der Hilfen und Angebote & Zukunftsperspektiven. Update 2019. Im Internet: https://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/suchthilfe/Versorgungssystem/Die_Versorgung_Suchtkranker_in_Deutschland_Update_2019.pdf; Stand: 20.03.2023.

    Deutsche Rentenversicherung. Die Rolle der Angehörigen in der medizinischen Rehabilitation. Aufgaben, Erwartungen, Empfehlungen; o.J. Im Internet: file://///fsa/share/home/uas0023819/Downloads/download_angehoerige_reha-1.pdf; Stand: 20.03.2023.

    Fals-Stewart W, O’Farrell TJ, Birchler GR. Behavioral couples therapy for substance abuse: rationale, methods, and findings. Sci Pract Perspect. 2004 Aug; 2(2): 30-41. doi: 10.1151/spp042230.

    Lander L, Howsare J, Byrne M. The Impact of Substance Use Disorders on Families and Children: From Theory to Practice. Soc Work Public Health 2013; 28(0): 194–205. Im Internet: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/23731414/; Stand: 30.03.2023. DOI:10.1080/19371918.2013.759005.

  • Neue Auflage der Beurteilungskriterien zur Fahreignungsbegutachtung

    Die Deutsche Gesellschaft für Verkehrsmedizin (DGVM) und die Deutsche Gesellschaft für Verkehrspsychologie (DGVP) haben Ende 2022 die 4. Auflage der Beurteilungskriterien zur Urteilsbildung in der Fahreignungsbegutachtung veröffentlicht. TÜV NORD stellt die seit 1. Juli 2023 geltenden neuen Bewertungsgrundlagen vor.

    Wenn Fahrerinnen und Fahrer mit schweren oder wiederholten Verkehrsverstößen auffallen, ordnet das Straßenverkehrsamt in der Regel eine Medizinisch-Psychologische Untersuchung (MPU) an. Hierbei wird geprüft, ob von dem/der Fahrenden zukünftig keine Gefahr mehr für den Straßenverkehr zu erwarten ist. TÜV NORD ist seit vielen Jahrzehnten als vertrauensvoller Partner an bundesweit über 50 Standorten im Bereich der MPU tätig und unterstützt Fahrende bei der Wiedererlangung der Fahrerlaubnis.

    Die nun vorgestellte 4. Auflage der Beurteilungskriterien zur Urteilsbildung in der Fahreignungsbegutachtung behält die bekannte Unterteilung in Hypothesen und Kriterien bei den genannten Bereichen (Alkohol, Drogen, Verkehrsauffälligkeit und Straftaten) bei und führt zudem neue Hypothesen für Dauermedikation und Medikamentenmissbrauch ein. Eine weitere bedeutende Ergänzung in dieser Auflage ist die Aufnahme von PEth (Phosphatidylethanol) als zusätzlicher Marker für den Nachweis eines chronischen Alkoholkonsums. PEth ermöglicht, ähnlich wie das bereits etablierte EtG (Ethylglucuronid), durch seine Halbwertszeit von vier bis zehn Tagen Rückschlüsse auf das Konsumverhalten. Die Bestimmung von PEth erfordert nur eine geringe Blutmenge, die aus der Fingerbeere oder dem Ohrläppchen entnommen werden kann.

    Bisher wurde PEth bereits zur Untersuchung erhöhter Leberwerte im Rahmen medizinisch-psychologischer Untersuchungen eingesetzt, wenn eine Haaranalyse nicht möglich war. Mit der neuen Auflage der Beurteilungskriterien ist nun auch der Einsatz von PEth im Rahmen von Alkohol-Abstinenzkontrollprogrammen möglich. Kundinnen und Kunden haben so die Möglichkeit, PEth als dritte Alternative zur Bestätigung von Alkoholabstinenz oder moderatem Alkoholkonsum zu nutzen, falls sie keine Haarproben abgeben möchten oder eine Urinkontrolle unter Aufsicht als unangenehm empfinden. Über das Online-Portal „meinMPI“ von TÜV NORD können sich Klientinnen und Klienten über diese Alternative informieren. Das Unternehmen bietet zudem Informationen und Unterstützung bei PEth-Untersuchungen und Alkoholabstinenz-Kontrollprogrammen durch seine deutschlandweiten Untersuchungsstellen.

    „Die neue Auflage der Beurteilungskriterien schafft auf vielen Ebenen der Fahreignungsbegutachtungen deutlich mehr Klarheit und bietet unseren Gutachterinnen und Gutachtern einen transparenten Leitfaden bei Ihren Untersuchungen“, unterstreicht Svenja Schroerschwarz, Bereichsleiterin des Medizinisch-Psychologisches Instituts bei TÜV NORD.

    Pressestelle von TÜV NORD, 3.7.2023

    Urteilsbildung in der Fahreignungsbegutachtung – Beurteilungskriterien, 4. Auflage
    Deutsche Gesellschaft für Verkehrspsychologie (DGVP)
    Deutsche Gesellschaft für Verkehrsmedizin (DGVM)
    Kirschbaum Verlag, Bonn 2022, 470 Seiten, 174 €, ISBN 978-3-7812-2047-8

  • Soziale Arbeit über Grenzen hinweg – Hilfe für Kinder und Familien

    Ausgabe 1/2023 – Archiv für Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit
    Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgau 2023, 80 Seiten, 16,00 €, ISBN 978-3-7841-3583-0

    Fachkräfte der Sozialen Arbeit sind immer häufiger mit grenzüberschreitenden Fällen konfrontiert. In diesem Heft werden die konkreten Anforderungen solcher Konstellationen erläutert:

    • Spannungsfeld Familien- und ­Aufenthaltsrecht
    • Ermittlung des Kindeswohls
    • Kindesentführung
    • unbegleitete minderjährige ­Geflüchtete
    • Leihmutterschaft
    • Kinderhandel
    • interkulturelle Kontexte in der ­Beratung
    • Erziehungshilfen im Ausland
    • Kindesanhörung in internationalen Fällen
  • Mitten unter uns? – Populismus wird mehrheitsfähig

    In aktuellen Debatten zum Umfrage-Hoch der AfD gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze. Wenig wird dabei bislang betrachtet, wie sich die Wählerinnen und Wähler der AfD soziokulturell zusammensetzen, d. h. mit Blick auf ihre Werteorientierung.

    Die Gesellschaftstypologie der Sinus-Milieus zeigt, in welchen gesellschaftlichen Gruppen populistische Narrative und Parteien Resonanz finden. Die Sinus-Milieus fassen Menschen mit ähnlichen Werten und einer vergleichbaren sozialen Lage zusammen. Demnach besteht die deutsche Gesellschaft derzeit aus zehn Milieus mit jeweils ähnlichen Werten, Lebensstilen oder Konsumverhalten. Die Sinus-Milieus sind Ergebnis der jahrzehntelangen soziokulturellen Forschung des SINUS-Instituts.

    Bürgerliches Segment wächst unter AfD-Wähler:innen

    In der Zusammensetzung der AfD-Wähler:innen zeigen sich deutliche Gewichtsverschiebungen in den letzten zwei Jahren. Laut repräsentativen Eigenforschungen des SINUS-Instituts gehörten 2021 43 Prozent der AfD-Wähler:innen dem bürgerlichen Segment an (Sinus-Milieus der Nostalgisch-Bürgerlichen, Adaptiv-Pragmatischen Mitte und Konservativ-Gehobenen). 2022 stieg dieser Anteil auf 50 Prozent, 2023 sind es 56 Prozent.

    Dr. Silke Borgstedt, Geschäftsführerin des SINUS-Instituts, erläutert: „Die Milieus der Mitte, also das bürgerliche Segment, definieren in hohem Maß, was in einer Gesellschaft als normal gilt. Daher sind die Ergebnisse insbesondere mit Blick auf mögliche Kipp-Punkte in den politischen Mehrheitsverhältnissen von Bedeutung.“

    Insbesondere steigt der Anteil der modernen Adaptiv-Pragmatischen Mitte (von zwölf Prozent auf 19 Prozent) und der Anteil der Konservativ-Gehobenen (von acht Prozent auf zwölf Prozent). Verglichen mit früheren Erhebungen des SINUS-Instituts zeigen diese beiden bürgerlichen Milieus derzeit ein stärkeres Interesse an der AfD.

    Dem Milieu der Adaptiv-Pragmatische Mitte (zwölf Prozent der Gesellschaft) kommt eine besondere Rolle zu, denn sie ist eine wichtige Brücke zwischen progressiven und traditionellen Gruppen in der Gesellschaft. Sie bildet den modernen Mainstream, der sich stets im Spagat zwischen Spaß, Risiko und Aufbrechen sowie Sicherheit, Verankerung und Zugehörigkeit befindet.

    In diesem Milieu findet sich ein großer Anteil an Wechselwähler:innen, die sich stark an tagesaktuellen Themenkonjunkturen orientieren. In jüngster Zeit sieht sich dieses eigentlich veränderungsbereite und zukunftsorientierte Milieu erheblichen transformativen Zumutungen gegenüber, die die Verwirklichung einer angestrebten bürgerlichen Normalbiografie von Haus, Kinder, Auto gefährden. Sie sind verunsichert und frustriert von der mangelnden Lösungsfähigkeit von Regierung und politischem System.

    In diesem modernen Teil des bürgerlichen Segmentes ist diese Verunsicherung eine neue Entwicklung. Das Milieu der Nostalgisch-Bürgerlichen (elf Prozent der Bevölkerung) befürchtet schon seit Jahren Verluste. Die harmonieorientierte (untere) Mitte wünscht sich gesicherte Verhältnisse und einen angemessenen Status. Milieuangehörige empfinden starke Angriffe auf ihre Werte und Lebensstil, die bisher als „normal“ galten. Je stärker diese Entwertung empfunden wird, desto größer sind Frust und starke Nostalgiegefühle, also der Wunsch, dass alles so bleibt, wie es womöglich aber nie war.

    Dr. Silke Borgstedt fasst zusammen: „Je mehr der Zukunftsoptimismus schwindet, desto mehr wächst der Anteil des bürgerlichen Segmentes unter AfD-Wähler:innen. Das bedeutet aber auch: Die gesellschaftliche Mitte ist für die Politik weiterhin erreichbar. Gewünscht ist eine konstruktive und zukunftsorientierte Politik. Die Mitte braucht eine Perspektive mit Zielorientierung und eine Roadmap, wie dies gelingen kann. Wir sehen auch: Bei der Frage nach langfristigen Parteibindungen, also welche Partei einem am nächsten steht, schneidet die AfD deutlich schlechter ab als in aktuellen Umfragen. Das heißt, die anderen Parteien können die Wählerinnen und Wähler zurückgewinnen.“

    Populistische Haltungen sind mehrheitsfähig in Deutschland und Österreich

    Eine aktuelle Befragung des SINUS-Instituts zeigt insgesamt eine hohe Zustimmung zu populistischen Narrativen in Deutschland. Das Grundvertrauen in den institutionalisierten Politikbetrieb scheint gestört, aber der Glaube an die Demokratie wankt (noch) nicht.

    So erreichen einige populistische Narrative (vgl. Andreas Zick, Beate Küpper (Hg.): Die geforderte Mitte. 2021) mittlerweile Mehrheiten in Deutschland:

    • 68 Prozent stimmen zu, dass sich Politiker mehr Rechte herausnehmen als normale Bürger.
    • 56 Prozent stimmen zu, dass Parteien nur die Stimmen der Wähler wollen, sich aber nicht für ihre Ansichten interessieren.
    • Jeweils 53 Prozent stimmen zu, dass demokratische Parteien alles zerreden und keine Probleme lösen bzw. wichtige Fragen nicht in Parlamenten, sondern in Volksabstimmungen entschieden werden sollen.
    • Die Aussage „Politiker und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten dahinter stehender Mächte“ erreicht 49 Prozent

    Gleichzeitig setzt ein großer Teil der Befragten weiterhin Vertrauen in die Demokratie. Es sind weiterhin nur Minderheiten, die demokratische Grundprinzipien in Frage stellen:

    • 64 Prozent lehnen die Aussage ab, dass Demokratie eher zu faulen Kompromissen führt als zu sachgerechten Entscheidungen.
    • 69 Prozent bestreiten, dass zu viel Rücksicht auf Minderheiten genommen wird.
    • 62 Prozent sind der Meinung, dass wir in einem gerechten Land leben, in dem es jeder zu etwas bringen kann, der sich anstrengt.

    Eine wenige Monate vorher mit identischen Fragen durchgeführte Befragung des SINUS-Partners INTEGRAL in Österreich zeigt, dass die Zustimmung zu populistischen Narrativen in Deutschland mittlerweile kaum von denen in Österreich abweicht. Zudem zeigen Befragungen in Österreich, dass die FPÖ die Adaptiv-Pragmatische Mitte schon seit langem erreicht.

    Methodischer Hinweis

    Anlass:

    Eigenforschung von SINUS-Institut (DE) und INTEGRAL (AT); ergänzt um Vergleiche zu vorangegangen Studien mit SINUS-Kooperationspartnern (2021 und 2022). Für die Abfrage zum Populismus wurde u .a. die Itembatterie aus der „Mitte“-Studie von Zick und Küpper (2021) verwendet.

    Befragung Deutschland:

    Die verwendeten Daten beruhen auf einer Online-Umfrage (CAWI) des SINUS-Instituts im Online-Access-Panel der GapFish GmbH, an der 1.049 Personen zwischen 22.05. und 31.05.2023 teilnahmen. Die Ergebnisse wurden gewichtet und sind repräsentativ für die deutsche Bevölkerung ab 18 bis 69 Jahren.

    Befragung Österreich:

    Die verwendeten Daten beruhen auf einer Online-Umfrage (CAWI) von INTEGRAL unter Mitgliedern des AUSTRIAN ONLINEPOOL, an der 1.000 Personen zwischen 26.01. und 31.01.2023 teilnahmen. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die österreichische Bevölkerung ab 16 bis 75 Jahren.

    Über das SINUS-Institut

    Die SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH mit Standorten in Heidelberg und Berlin ist seit über 40 Jahren Spezialist für psychologische und sozialwissenschaftliche Forschung und Beratung. Das Institut entwickelt Strategien für Unternehmen und Institutionen, die den soziokulturellen Wandel als Erfolgsfaktor nutzen. Ein zentrales Tool dafür sind die Sinus-Milieus – ein Gesellschafts- und Zielgruppenmodell, das Menschen nach ihren Lebenswelten in „Gruppen Gleichgesinnter“ zusammenfasst. Die Sinus-Milieus zählen seit Jahrzehnten zu den bekanntesten und einflussreichsten Segmentationsansätzen und sind mittlerweile für über 48 Länder verfügbar. SINUS kooperiert eng mit den Schwesterunternehmen INTEGRAL Markt- und Meinungsforschung in Wien und OPINION Market Research & Consulting, Nürnberg (INTEGRAL-SINUS-OPINION Gruppe).

    Pressestelle des SINUS-Instituts, 29.06.2023

  • Wie weiter mit der Cannabis-Legalisierung?

    In der neuen Folge des „TUCscicast“ sprechen Prof. Dr. Stephan Mühlig von der TU Chemnitz und Dr. Ingo Ilja Michels vom Institut für Suchtforschung der Frankfurt University of Applied Sciences über das Eckpunktepapier der Bundesregierung und neue Erkenntnisse aus der Suchtforschung und Suchttherapie.

    Im Frühjahr 2023 hat die Bundesregierung ein überarbeitetes Eckpunktepapier zur Legalisierung von Cannabis vorgelegt, nun konkretisieren sich langsam auch die Pläne für das Cannabisgesetz. Der aktuelle Vorschlag basiert auf einem Zwei-Säulen-Modell, bei dem der Erwerb über Cannabis-Vereinigungen, sogenannte Cannabis Social Clubs, oder nach Abschluss einer Testphase auch in lizenzierten Fachgeschäften möglich werden soll.

    Inwieweit der Vorschlag offene Fragen im Zusammenhang mit Drogenerwerb, Drogenkonsum und Drogentherapie adressiert und wie der Stand der Diskussion dazu ist, darum geht es in der aktuellen Folge des Wissenschaftspodcasts TUCscicast der Technischen Universität Chemnitz (TUC). Dafür spricht Moderator Wieland Mikolajczyk mit Prof. Dr. Stephan Mühlig, Inhaber der Professur Klinische Psychologie und Psychotherapie sowie Leiter der Hochschulambulanz und psychosozialen Beratungsstelle in Chemnitz, und Dr. Ingo Ilja Michels vom Institut für Suchtforschung der Frankfurt University of Applied Sciences und langjähriger Leiter des Arbeitsstabs der Drogenbeauftragten der Bundesregierung.

    Der Podcast (Dauer 59 min.) kann auf verschiedenen Wegen gehört werden:

    Pressestelle der Technischen Universität Chemnitz, 23.6.2023

  • Regierung verabschiedet bundesweite Rechtsgrundlage für Drug-Checking

    Der Bundestag hat am 23.6.2023 ein wegweisendes Gesetz zur Freigabe des Drug-Checkings verabschiedet, um die Suchtmittelprävention in Deutschland zu stärken. Mit der Entscheidung hat die Regierung die Rechtsgrundlage geschaffen, um die Vereinbarungen des Koalitionsvertrags bundesweit verwirklichen zu können. In einigen Bundesländern, darunter Bayern, kündigen sich jedoch bereits Widerstände an.

    „Ich habe viele Gespräche in Fachkreisen und auf politischer Ebene zum Thema geführt. Ich freue mich sehr, dass der Bundestag jetzt eine Lösung für die Länder beschlossen hat“, so Burkhard Blienert, Bundesbeauftragter für Sucht- und Drogenfragen, zu dem kürzlich erfolgten Beschluss. Kern der Drug-Checking-Modelle seien Aufklärung und Sensibilisierung für Risiken des Drogenkonsums.

    Das Drug-Checking ermöglicht es Menschen unter strenger Einhaltung der Datenschutzbestimmungen, anonym und sicher ihre Substanzen testen lassen, um potenzielle Gesundheitsrisiken zu minimieren. Diese Option könne Leben retten, so Blienert.

    Präventiv wirksam

    Eine Gesetzesänderung wird von einer breiten Koalition von Experten, darunter Gesundheitsexperten, Strafverfolgungsbehörden und zivilgesellschaftliche Organisationen, darunter Condrobs, unterstützt. Doch wie schon bei der Cannabislegalisierung wird sich in einigen Bundesländern Widerstand breitmachen, vor allem in Bayern. Drug Checking sei für die Staatsregierung „keine geeignete Maßnahme der Schadensminderung für Konsumierende illegaler Drogen“, wie das bayerische Gesundheitsministerium mitteilte.

    Eindeutige Gesetze notwendig

    „Auch in Bayern sollte die Politik nicht länger die Realität ignorieren: Drug-Checking reduziert den Drogenkonsum und rettet dadurch Menschenleben. Dieser Beweis wurde in vielen Ländern erbracht. Wir fordern eine klare und eindeutige gesetzliche Entscheidung, um Drug-Checking flächendeckend in Deutschland umzusetzen“, so Condrobs-Vorständin Katrin Bahr.

    Der Paradigmenwechsel in der deutschen Suchtmittelpolitik, statt ausschließlich auf Strafverfolgung verstärkt auf Prävention und Gesundheitsfürsorge zu setzen, werde in Bayern von der Regierung zu wenig beachtet und umgesetzt.

    Kampf für Konsumräume

    Für das Drug-Checking sprechen folgende Argumente:

    • die einfache Kontaktaufnahme zu Konsument:innen, die durch das bestehende Präventions- und Hilfesystem bisher kaum erreichbar sind, sowie
    • die Verhinderung von Überdosierungen.

    Diese Argumente gelten gleichermaßen für ein weiteres kritisches Thema in der bayerischen Suchtmittelpolitik: Konsumräume. „Es ist aus unserer Sicht seitens der bayerischen Staatsregierung grob fahrlässig, Drogenkonsumräume zu verweigern“, so Bahr. Drug-Checking und Konsumräume würden gemeinsam für besonders hohen Schutz von Konsument:innen sorgen.

    „Kein Mensch sollte an den Folgen seiner Erkrankung versterben müssen, wenn unser Hilfesystem dies verhindern könnte. Das bayerische Suchthilfesystem ist zum Glück bisher gut aufgestellt, aber nicht ausreichend“, erläutert Katrin Bahr. „Drug-Checking und Drogenkonsumräume sind wichtige Schritte, um die Leben vieler Menschen zu retten.“

    Pressestelle von Condrobs e.V., 26.6.2023

  • Praxishandbuch FASD in der Jugendhilfe

    Ernst Reinhardt Verlag, München 2022, 189 Seiten, 29,90 €, ISBN 978-3-497-03105-4

    Welchen Hilfebedarf haben Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Fetaler Alkoholspektrumstörung (FASD)? Wo bekommen (Pflege-)Familien von Kindern mit FASD Unterstützung? Welche Kenntnisse sollten Fachkräfte in Einrichtungen mitbringen, um Menschen mit FASD gut betreuen zu können? Es gibt keine einfachen Antworten auf diese Fragen, da das Spektrum der Beeinträchtigung sehr heterogen und häufig mit Komorbiditäten verbunden ist. Dieses Buch gibt Fachkräften in der Jugendhilfe Orientierung, wie man Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit FASD sowie ihre Familien gut begleitet. Anhand von Best-Practice-Beispielen wird gezeigt, welche konzeptionellen, pädagogischen und therapeutischen Maßnahmen besonders hilfreich sind. Dabei werden auch sozialrechtliche Potenziale beleuchtet.

  • Hoher Cannabiskonsum, große Wissenslücken!

    In der kontroversen Debatte um die Regulierung von Cannabis rückt der Konsum junger Menschen vermehrt in den Fokus. Die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung zum Cannabisgebrauch junger Menschen in Berlin zeichnen ein deutliches Bild: In der Hauptstadt wird mehr und riskanter gekifft als im Bundesdurchschnitt, und es besteht viel Bedarf hinsichtlich Aufklärung, Wissensvermittlung sowie Kompetenz- und Ressourcenstärkung. 

    In einer repräsentativen Befragung von 2.410 Berliner:innen im Alter von 16 bis 27 Jahren untersuchte die Fachstelle für Suchtprävention im Land Berlin gemeinsam mit dem Institut für interdisziplinäre Sucht- und Drogenforschung (ISD) den Konsum, die Belastungen durch die Corona-Pandemie sowie das Wissen und die Einstellungen zu Cannabis. Finanziert wurde die Umfrage von der Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege. Die wichtigsten Ergebnisse sind:

    • 15,8 Prozent der Befragten haben Cannabis in den letzten 30 Tagen konsumiert, 29 Prozent in den letzten zwölf Monaten. Diese Zahlen liegen über dem bundesweiten Durchschnitt.
    • 84,2 Prozent konsumieren Cannabis im Joint gemischt mit Tabak, 45,2 Prozent im Joint
    • 13,7 Prozent derjenigen, die in den letzten 30 Tagen konsumiert haben, taten dies an mehr als 20 Tagen.
    • Konsumiert wird häufig gemeinsam mit anderen (75,5 Prozent), aber auch um die Stimmung aufzuhellen (53,2 Prozent), zum Einschlafen (51,5 Prozent) und gegen Langeweile (49,8 Prozent).
    • Berechnungen nach dem international verwendeten Screeninginstrument CAST (Cannabis Abuse Screening Test zur 12-Monatsprävalenz) ergeben, dass fast jede:r zweite Cannabis-Konsumierende problematische Konsummuster zeigt. Männliche Personen sind mit 51,6 Prozent deutlich häufiger betroffen als weibliche Personen (36,9 Prozent).
    • Bei 38,8 Prozent ist der Cannabiskonsum während der Corona-Pandemie gestiegen; diese Personen zeigten insgesamt eine höhere Belastung in Bezug auf Privatleben, Schule/Beruf, körperliche und psychische Gesundheit.
    • Große Lücken beim Wissen über Cannabis: Nur 62,6 Prozent konnten benennen, dass THC der berauschende Wirkstoff in Cannabis ist, 18,6 Prozent schätzten die Konsumrisiken für Jugendliche nicht höher ein als für Erwachsene.

    Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die Aufklärung über Substanz, risikoarmen Konsum und mögliche Folgen zentrale Herausforderungen darstellen.

    Dr. Ina Czyborra, Gesundheitssenatorin:
    „Suchtprävention heißt, über die Auswirkungen des Konsums zielgruppengerecht aufzuklären und riskantes Konsumverhalten früh zu erkennen und diesem entgegenzuwirken. Berlin verfügt hier bereits über ein großes Angebot entsprechender Projekte. Diese gilt es weiterzuführen und zu stärken.“

    Kerstin Jüngling, Geschäftsführerin der Fachstelle für Suchtprävention Berlin:
    „Ein signifikant hoher Teil der Jugendlichen weist einen problematischen Cannabiskonsum auf. Hier müssen wir Cannabis verharmlosende Haltungen im Kontakt mit jungen Menschen überdenken und mehr Verantwortung übernehmen. Was sind Ursachen für diese Entwicklungen, was brauchen Jugendliche in Berlin, wie können Eltern und Fachkräfte fit gemacht werden? Dafür braucht es in Berlin mehr Ressourcen in der Prävention.“

    Anke Timm, Geschäftsführerin der Fachstelle für Suchtprävention Berlin:
    „Jugendliche müssen in ihrem Wissen und ihren Ressourcen gestärkt werden, damit sie kompetent Entscheidungen für ein gesundes Leben treffen können. Dies ist Aufgabe der Suchtprävention und kann in hoher Qualität nur durch eine politische Stärkung und gesicherte Finanzierung ermöglicht werden.“

    Der Ergebnisbericht und die Zusammenfassung der Schlussfolgerungen für die Prävention stehen auf der Website der Landesstelle zum Download bereit.

    Cannabiskonsum bei Jugendlichen (bundesweit):

    • Fast jede:r zehnte 12- bis 17-Jährige hat schon einmal Cannabis konsumiert (9,3 Prozent)(Orth, B. & Merkel, C. (2022): Der Cannabiskonsum Jugendlicher und junger Erwachsener in Deutsch- land. Ergebnisse des Alkoholsurveys 2021 zu Alkohol, Rauchen, Cannabis und Trends. BZgA-For- schungsbericht. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung)
    • Bundesweit haben 25 Prozent der jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 25 Jahren in den letzten zwölf Monaten Cannabis konsumiert, zwölf Prozent in den letzten 30 Tagen.(Orth, B. & Merkel, C. 2022)
    • 1,6 Prozent der Jugendlichen und 8,6 Prozent der jungen Erwachsenen konsumieren regelmäßig (d. h. häufiger als zehnmal in den letzten zwölf Monaten).(Orth, B. & Merkel, C. 2022)Medienmitteilung der Fachstelle für Suchtprävention im Land Berlin, 19.6.2023

    Medienmitteilung der Fachstelle für Suchtprävention im Land Berlin, 19.6.2023

  • Europäischer Drogenbericht 2023

    Online-Veröffentlichung Europäischer Drogenbericht 2023 der EMCDDA

    Die größere Vielfalt bei Drogenangebot und -konsum stellt die Drogenpolitik und das Gesundheitswesen in Europa vor neue Herausforderungen. Dies ist eines der Themen, die die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) am 16. Juni bei der Vorstellung ihres „Europäischen Drogenberichts 2023: Trends und Entwicklungen“ in Brüssel hervorhebt. Der Bericht gibt einen aktuellen Überblick über die Drogensituation in Europa und untersucht die wichtigsten Trends und aufkommenden Bedrohungen. Er basiert auf Daten aus dem Jahr 2021 und, soweit verfügbar, aus dem Jahr 2022. Die konkreten Daten im Detail sind für die verschiedenen europäischen Länder im Statistischen Bulletin zu finden.

    Die Verfügbarkeit ist bei allen Drogen nach wie vor hoch, und der Umfang und die Komplexität der illegalen Drogenproduktion in Europa nehmen weiter zu. Menschen, die Drogen konsumieren, sind heute einer breiteren Palette psychoaktiver Substanzen ausgesetzt, die oft eine hohe Potenz und Reinheit aufweisen. Da diese in Form von ähnlich aussehenden Pulvern oder Pillen verkauft werden können, wissen die Konsumierenden möglicherweise nicht, was sie einnehmen. Der Bericht unterstreicht die Notwendigkeit wirksamer Risikokommunikationsstrategien, um die Konsumierenden auf die gesundheitlichen Schäden im Zusammenhang mit neuen Substanzen, Drogenwechselwirkungen und hochpotenten Produkten hinzuweisen.

    Die Analyse deckt ein breites Spektrum an illegalen Drogen ab, von Opioiden und Stimulanzien bis hin zu neuen Cannabisprodukten und dissoziativen Drogen (z. B. Ketamin). Darüber hinaus bietet sie einen aktuellen Überblick über neue psychoaktive Substanzen (NPS), die weiterhin eine Herausforderung für die öffentliche Gesundheit in Europa darstellen. Allein im Jahr 2022 wurden dem Frühwarnsystem der EU (EWS) 41 neue Substanzen gemeldet, sodass die EMCDDA nun insgesamt 930 neue Drogen beobachtet.

    Der Bericht unterstreicht den Bedarf an verbesserten forensischen und toxikologischen Daten, um die Bedrohung durch neue und starke synthetische Substanzen, Drogenmischungen, gepanschte Substanzen, sich verändernde Drogenmärkte und Konsummuster besser zu verstehen. Im Rahmen ihres neuen 2024 in Kraft tretenden Mandats – im Jahr 2024 wird die EMCDDA zur Drogenagentur der Europäischen Union (EUDA) – wird die Agentur ein europäisches Netz der forensischen und toxikologischen Laboratorien einrichten, um die Kapazitäten in diesem Bereich zu stärken.

    Neue Entwicklungen in der Cannabispolitik auf einem komplexen Markt

    Das Feld der Cannabispolitik in Europa wird allmählich ausgeweitet und umfasst nun nicht nur die Kontrolle von illegalem Cannabis, sondern auch die Regulierung von Cannabis und Cannabinoiden für therapeutische und andere Zwecke (z. B. Kosmetik, Lebensmittel).

    Bislang haben fünf EU-Mitgliedstaaten (Deutschland, Luxemburg, Malta, die Niederlande und die Tschechische Republik) sowie die Schweiz neue Konzepte zur Regulierung des Angebots von Cannabis für den Freizeitkonsum eingeführt bzw. planen dies. Diese in dem Bericht dargelegten Änderungen machen deutlich, dass in die Überwachung und Bewertung investiert werden muss, um Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit und Sicherheit vollständig zu verstehen (vgl. hierzu die EMCDDA-Veröffentlichung „Cannabis laws in Europe: questions and answers for policymaking‟).

    Cannabis ist nach wie vor die am häufigsten verbreitete illegale Droge in Europa. Schätzungen zufolge haben etwa acht Prozent (22,6 Millionen) der europäischen Erwachsenen (15–64 Jahre) im letzten Jahr Cannabis konsumiert. Im Jahr 2021 erreichten die in der EU beschlagnahmten Mengen an Cannabisharz (816 Tonnen) und Cannabiskraut (256 Tonnen) den höchsten Stand seit einem Jahrzehnt, was auf eine hohe Verfügbarkeit dieser Droge schließen lässt. In Europa begaben sich im Jahr 2021 schätzungsweise 97.000 Personen wegen Problemen im Zusammenhang mit dem Cannabiskonsum in eine Form der Drogenbehandlung.

    Neue Cannabisprodukte stellen eine Herausforderung für die öffentliche Gesundheit dar. Einige Produkte, die auf dem illegalen Markt als natürliches Cannabis verkauft werden, können mit starken synthetischen Cannabinoiden versetzt sein, was die Gefahr von Vergiftungen birgt. Hochwirksame Extrakte und Edibles wurden in den Notaufnahmen der Krankenhäuser mit akuten Vergiftungen in Verbindung gebracht.

    Im Jahr 2022 wurde mit Hexahydrocannabinol (HHC) das erste halbsynthetische Cannabinoid in der EU gemeldet. Es wurde in zwei Dritteln der Mitgliedstaaten festgestellt und wird in einigen EU-Ländern als „legale“ Alternative zu Cannabis verkauft. Seit Oktober 2022 wird HHC im Rahmen des EU- Frühwarnsystems (EWS) intensiv überwacht, um die potenziellen Risiken für Europa besser zu verstehen.

    Rekordbeschlagnahmungen von Kokain und wachsende Besorgnis über den Konsum synthetischer Stimulanzien

    Der Handel mit großen Mengen Kokain in handelsüblichen Containern über europäische Seehäfen ist der Grund für die hohe Verfügbarkeit dieser Droge. Es wird befürchtet, dass diese Situation zu erhöhtem Kokainkonsum, Gesundheitsschäden und Drogenkriminalität beitragen könnte.

    Im Jahr 2021 wurde in den EU-Mitgliedstaaten die Rekordmenge von 303 Tonnen Kokain beschlagnahmt. Auf Belgien (96 Tonnen), die Niederlande (72 Tonnen) und Spanien (49 Tonnen) entfielen zusammen 75 Prozent der sichergestellten Gesamtmenge. Vorläufige Daten für 2022 zeigen, dass die Menge des in Antwerpen, dem zweitgrößten Seehafen Europas, beschlagnahmten Kokains von 91 Tonnen im Jahr 2021 auf 110 Tonnen gestiegen ist. Es gibt Hinweise darauf, dass die organisierte Kriminalität zunehmend auch kleinere Häfen in anderen EU-Ländern sowie in den an die EU angrenzenden Ländern ins Visier nimmt.

    Die illegale Kokainherstellung in der EU gewinnt immer mehr an Bedeutung. 2021 wurden 34 Kokainlaboratorien ausgehoben (23 im Jahr 2020), von denen einige in großem Maßstab betrieben wurden. Kokain ist in Europa die am häufigsten konsumierte illegale Stimulanzdroge, die im letzten Jahr von etwa 1,3 Prozent (3,7 Millionen) der europäischen Erwachsenen (15–64 Jahre) konsumiert wurde. Es war im Jahr 2021 die häufigste Substanz im Zusammenhang mit akuten Vergiftungen in den Notaufnahmen der Krankenhäuser und wurde in 27 Prozent der Fälle genannt. Es gibt auch Anzeichen dafür, dass der injizierende Kokainkonsum und der Crack-Konsum in einigen Ländern in Randgruppen zunehmen, so dass die Maßnahmen zur Schadensbegrenzung ausgeweitet werden müssen. Im Jahr 2021 haben schätzungsweise 7 500 Personen eine Behandlung in Zusammenhang mit Crack begonnen.

    Die größere Vielfalt an synthetischen Stimulanzien, die jetzt auf dem illegalen Markt erhältlich sind, erhöht die Risiken für die öffentliche Gesundheit. In der Vergangenheit war Amphetamin das am häufigsten verwendete synthetische Stimulanz in Europa. Es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass sowohl Methamphetamin als auch synthetische Cathinone heute stärker als in der Vergangenheit zu den Problemen in Europa im Zusammenhang mit Stimulanzien beitragen.

    In dem Bericht heißt es auch, dass Stimulanzien jetzt häufiger injiziert werden, manchmal in Kombination mit Heroin oder anderen Opioiden. Hierzu müssen Maßnahmen entwickelt werden, die die mit diesem Verhalten verbundenen Schäden verringern.

    Potenzielle Gesundheitsrisiken durch nicht so bekannte Stoffe

    Ketamin, das in der Medizin als Narkosemittel und Schmerzmittel verwendet wird, hat sich in einigen Bereichen als Freizeitdroge etabliert. Es wird häufig geschnupft und manchmal auch anderen Drogenmischungen, einschließlich MDMA-Pulvern und -Tabletten, beigemischt. Bei Langzeitkonsumenten von Ketamin können gesundheitliche Probleme auftreten (z. B. Blasenschäden).

    Der zunehmende Freizeitkonsum von Distickstoffoxid (Lachgas) in einigen Teilen Europas gibt Anlass zur Sorge. In einer kürzlich durchgeführten EMCDDA-Studie wurde auf die mit der Droge verbundenen Risiken hingewiesen. Die Droge ist nun offenbar leichter zugänglich, billiger und bei einigen jungen Menschen beliebt. Zu den Risiken gehören Vergiftungen, Verbrennungen und Lungenverletzungen sowie in einigen Fällen bei längerem Gebrauch auch Nervenschäden. Es spricht viel dafür, dass sich die Angebote für Drogenprävention und Schadensbegrenzung in ihrer Arbeit mit dieser Substanz befassen. Die Vorschriften für den Verkauf und die Verwendung dieser Substanz sind von Land zu Land unterschiedlich.

    Der Bericht geht auch auf das wachsende Interesse am therapeutischen Potenzial psychedelischer Drogen ein. Zwar liegen vielversprechende Forschungsergebnisse über das Potenzial dieser Substanzen zur Behandlung verschiedener psychischer Erkrankungen vor, doch wird in dem Bericht auf die Gefahr hingewiesen, dass in und außerhalb der EU unkontrollierte Programme betrieben werden. Das wachsende Interesse an diesem Thema könnte zu einem verstärkten experimentellen Konsum dieser Substanzen ohne medizinische Unterstützung führen, wodurch vulnerable Personen in Gefahr geraten könnten.

    Europas Opioidprobleme entwickeln sich weiter

    Heroin ist nach wie vor das am häufigsten konsumierte illegale Opioid in Europa, aber in einigen Regionen wächst auch die Besorgnis über den Konsum synthetischer Opioide. Viele synthetische Opioide sind hochwirksam und bergen die Gefahr von Vergiftungen und Tod. Es werden nur geringe Mengen benötigt, um Tausende von Dosen herzustellen, was sie zu einer potenziell lukrativeren Substanz für organisierte kriminelle Banden macht.

    Auf dem europäischen Drogenmarkt tauchen immer wieder neue unkontrollierte synthetische Opioide auf; seit 2009 wurden insgesamt 74 davon identifiziert. In den letzten Jahren handelte es sich bei den meisten der neu identifizierten Opioide, die dem EWS gemeldet wurden, um hochwirksame Benzimidazol- (Nitazen-)Opioide. Im Vergleich zu Nordamerika spielen neue synthetische Opioide (z. B. Fentanyl-Derivate und Nitazene) derzeit auf dem europäischen Drogenmarkt insgesamt eine relativ geringe Rolle, obwohl sie in einigen Ländern ein großes Problem darstellen.

    Neue synthetische Opioide (einschließlich Benzimidazole und Fentanyl-Derivate) wurden in den baltischen Ländern mit einem Anstieg der Todesfälle durch Überdosierung in Verbindung gebracht. In Estland wurden neue synthetische Opioide in Mischungen gefunden, die ein Benzodiazepin und das Beruhigungsmittel Xylazin für Tiere enthalten. Diese Kombinationen, die als „Benzo-Dope“ bzw. „Tranq-Dope“ bekannt sind, wurden in Nordamerika mit Todesfällen durch Überdosierung in Verbindung gebracht. In dem Bericht heißt es: „… auch wenn die Probleme in diesem Bereich derzeit relativ begrenzt sind, stellt diese Gruppe von Substanzen eine Bedrohung dar, die sich in Zukunft stärker auf die Gesundheit und die Sicherheit in Europa auswirken kann.“

    Die Verfügbarkeit von Heroin scheint derzeit weiterhin hoch zu sein. Die von den EU-Mitgliedstaaten beschlagnahmte Menge an Heroin hat sich im Jahr 2021 mit 9,5 Tonnen mehr als verdoppelt, während in der Türkei eine Rekordmenge von 22,2 Tonnen beschlagnahmt wurde. Fast das gesamte in Europa konsumierte Heroin stammt aus Afghanistan, wo die Taliban im April 2022 ein Verbot des Anbaus von Schlafmohn verkündet haben. Es ist zwar noch zu früh, um zu sagen, wie sich das Verbot auf den europäischen Heroinmarkt auswirken wird, aber es wird befürchtet, dass eine Verknappung der Droge mit einem Anstieg von Angebot und Nachfrage bezüglich synthetischer Opioide einhergehen könnte.

    Pressestelle der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA), 16.6.2023