Der Bundesverband Suchthilfe e. V. (bus.) trauert um Wolfgang Indlekofer, der am 14.06.2023 völlig unerwartet verstorben ist. Wir möchten allen Angehörigen und Freunden unsere tiefe Anteilnahme und unser herzliches Beileid aussprechen.
Wolfgang Indlekofer hat sich als Psychologischer Psychotherapeut über 40 Jahre der therapeutischen Arbeit mit Menschen mit Suchterkrankungen gewidmet und mehr als 30 Jahre die Rehaklinik Freiolsheim des AGJ-Fachverbands für Prävention und Rehabilitation geleitet.
Im bus. war Herr Indlekofer seit 1999 als höchst engagierte Persönlichkeit bekannt, als Kollege, der seinen Mitmenschen stets offen und vertrauensvoll begegnete und sich mit hoher Fachlichkeit, Herz und Menschlichkeit für die Belange der abhängigkeitskranken Menschen und deren Behandlung einsetzte.
Als Sprecher des bus.-Arbeitskreises Baden-Württemberg war ihm eine gelingende Kooperation der verschiedenen Einrichtungen der Suchthilfe ein großes Anliegen, für das er sich unermüdlich und mit viel Innovation einsetzte. Gleichzeitig war es ihm wichtig, die Zusammenarbeit mit Leistungsträgern und politischen Vertreter:innen zu pflegen und mit ihnen gemeinsam die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass passgenaue therapeutische Angebote entstehen und vorgehalten werden konnten. Herr Indlekofer war mit seinem Pioniergeist und fachlichem Gespür Ideengeber für vielfältige Initiativen in Baden-Württemberg, die die Suchthilfe deutschlandweit bis heute prägen.
Gleichzeitig hat er es als seine Verantwortung angesehen, die Qualität der Suchttherapie, den fachlichen Wissenstransfer und eine interdisziplinäre Zusammenarbeit aller Berufsgruppen der Suchthilfe immer wieder neu anzuregen. So bereicherte er seit 2008 den Qualitätszirkel Drogentherapie des bus. Fast 20 Jahre gehörte er dem Vorbereitungsausschuss der Wissenschaftlichen Jahrestagung des bus. an und brachte seine hohe Expertise sowie seine weitreichende Erfahrung nicht nur in der Planung, sondern auch in der aktiven Durchführung der Tagung mit Vorträgen oder der Gestaltung von Arbeitsgruppen ein.
Gerade in den letzten Jahren trug Herr Indlekofer zur Weiterentwicklung des Verbands bei, indem er sich intensiv für eine Öffnung des bus. für ambulante Einrichtungen einsetzte.
Mit Herrn Indlekofer verlieren wir auch einen Freund, der voller Lebensfreude und Humor genießen konnte und mit dem man gerne in den verschiedenen Kontexten unterwegs war.
Wir werden Herrn Indlekofer im Herzen vermissen und ihm ein ehrendes Andenken bewahren.
Im Namen des bus.: Dr. Wibke Voigt, Vorsitzende, und Corinna Mäder-Linke, Geschäftsführerin
Beschäftigte in Branchen mit Personalnot und Fachkräftemangel haben ein höheres Gesundheitsrisiko: Ein Viertel leidet unter Schmerzen, ein Drittel hat Schlafstörungen, mehr als die Hälfte ist komplett erschöpft. Überall in Deutschland fehlt Personal. Das Institut der deutschen Wirtschaft rechnet bis 2030 mit einer Lücke von rund fünf Millionen Fachkräften. Der Krankenstand in Mangelberufen ist bereits heute mit bis zu 7,0 Prozent überdurchschnittlich hoch. Das zeigt der aktuelle DAK-Gesundheitsreport 2023 „Gesundheitsrisiko Personalmangel – Arbeitswelt unter Druck“.
Für den aktuellen DAK-Gesundheitsreport wurden mehr als 7.000 erwerbstätige Frauen und Männer durch das Forsa-Institut repräsentativ befragt. 45 Prozent berichten von regelmäßigem Personalmangel in ihrem Arbeitsumfeld. In vielen Berufsgruppen ist die Situation noch angespannter: Drei Viertel (74 Prozent) der Krankenpflegekräfte geben zum Beispiel an, ihre Arbeit mit dem vorhandenen Personal nur unter großen Anstrengungen zu schaffen, und die große Mehrheit der Altenpflegerinnen und -pfleger (65 Prozent) bestätigt dies ebenfalls. Dazu kommt: Je extremer die erlebte Personalnot, desto stärker neigen die Beschäftigten zu Präsentismus. So haben 70 Prozent mit regelmäßigem Personalmangel in den vergangenen zwölf Monaten gearbeitet, obwohl sie krank waren, gegenüber 41 Prozent ohne Personalmangel.
Arbeiten, obwohl das Personal nicht ausreicht, ist Arbeit am Limit: Die Betroffenen berichten von starkem Termin- und Leistungsdruck, Überstunden und versäumten Pausen. Wer regelmäßig Personalmangel erlebt, kann in der Freizeit oft nicht abschalten, verzichtet auf Sport und findet wenig Zeit für Hobbys, Familie und Freunde. Stress und Druck einerseits sowie fehlende Erholung und Ausgleich andererseits beeinflussen negativ die Gesundheit: Fast die Hälfte ist häufig oder sehr häufig müde und erschöpft (54 Prozent). Rund ein Drittel (35 Prozent) berichtet von nächtlichen Schlafstörungen oder Beschwerden des Muskel-Skelett-Systems wie Rückenschmerzen, und mehr als ein Fünftel (23 Prozent) leidet unter Kopfschmerz.
Professor Volker Nürnberg hat die Entstehung des neuen DAK-Gesundheitsreports begleitet. Er ist Partner bei BearingPoint, gilt als „BGM-Papst“ und lehrt an verschiedenen Hochschulen. Die Studie zeige, „wie insbesondere in prekären Branchen aus Personalmangel Krankenstand entsteht.“ Tatsächlich weist der Report für die Berufsgruppen mit den größten Fachkräftelücken einen um bis zu 1,5 Prozentpunkte erhöhten Krankenstand gegenüber dem Berufe-Durchschnitt aus (5,5 Prozent). Nur die Mangelberufe im IT-Bereich bilden hier eine Ausnahme. DAK-versicherte Erwerbstätige in der Altenpflege hatten 2022 zum Beispiel den höchsten Krankenstand mit 7,0 Prozent. Bei den Beschäftigten in der Fahrzeugführung, der Kinderbetreuung und im Maschinenbau waren es 6,8 Prozent, die Krankenpflege hatte 6,1 Prozent. „Man kann von einem Teufelskreis sprechen. Hohe Fehlzeiten und Personalmangel bedingen einander und verstärken sich jeweils in den Effekten“, so Nürnberg.
Von den Beschäftigten, die regelmäßig Personalmangel erleben, sagen nur 31 Prozent: „Mein Betrieb engagiert sich für das Wohlergeben seiner Mitarbeiter.“ Kaum mehr als ein Fünftel gibt an, dass in der täglichen Arbeit Gesundheitsaspekte berücksichtigt werden. Bei dem Versuch, die betrieblichen Aufgaben unter den Zwängen des Personalmangels zu meistern, wird aktuell in vielen Unternehmen die gesundheitliche Dimension ausgeblendet. Dabei kann das Potenzial von Betrieblichem Gesundheitsmanagement (BGM) noch viel mehr genutzt werden. „Vorausgesetzt alle Beteiligten sind bereit, sich neuen Wegen zu öffnen“, sagt Andreas Storm, Vorsitzender des Vorstands der DAK-Gesundheit. Die DAK-Gesundheit befürwortet ein nachhaltiges BGM. „Wir unterstützen Unternehmen dabei, Arbeit so zu organisieren, dass sie für Führung und Beschäftigte möglichst gut zu bewältigen ist. Es geht unter anderem um eine Reduktion von Stress und um eine gute Balance von Arbeit, Erholung und privaten wie gesellschaftlichen Aufgaben.“
Für den Gesundheitsreport 2023 hat das IGES Institut in Berlin die Daten von 2,4 Millionen erwerbstätigen DAK-Versicherten analysiert, eine durch das Forsa-Institut durchgeführte Befragung von mehr als 7.000 erwerbstätigen Frauen und Männern im Alter von 18 bis 65 Jahren konzipiert und ausgewertet, sowie zahlreiche Expertinnen und Experten eingebunden.
Pressestelle der DAK-Gesundheit, 19.4.2023
Gesundheitsreport 2023 der DAK-Gesundheit
Analyse der Arbeitsunfähigkeiten. Gesundheitsrisiko Personalmangel: Arbeitswelt unter Druck
medhochzwei Verlag, Heidelberg 2023, 148 Seiten, eBook / PDF, 28,99 €, ISBN 978-3-86216-994-8
Hogrefe Verlag, Bern 2022, 240 Seiten, 29,95 €, ISBN 9783456862170
Das Buch ermöglicht es, Verunsicherung und überschießende Emotionalität eigener Klient:innen oder Patient:innen umfassender zu beurteilen und angemessener damit umzugehen. Gleichzeitig unterstützt es die kritische Selbstreflexion in Bezug auf die eigene Wertorientierung.
Mit Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung, die durch Globalisierung, Klimakrise, Kriege, Terrorismus, Digitalisierung und Pandemie immer schneller, komplexer und widersprüchlicher wird, werden in diesem Buch die Gründe für die steigende Tendenz zur Dramatisierung und Emotionalisierung und das Anwachsen autoritärer Tendenzen wie auch die zunehmende Irritation in Bezug auf demokratisch-freiheitliche Haltungen analysiert und diskutiert. Der Autor bietet zudem Ideen und Lösungsansätze auf Ebene der Politik, des medizinischen Versorgungssystems und mit speziellem Fokus auf die Psychotherapie.
Das Risiko, schon in der Jugend aktiv oder passiv Erfahrungen mit Gewalt in Beziehungen zu machen, ist hoch: rund 20 Prozent für körperliche und rund neun Prozent für sexuelle Gewalt. Ein Forschungsteam hat in einer systematischen Review-Studie erhoben, inwiefern sich diese Erfahrungen langfristig auswirken. Die Ergebnisse zeigen: Jugendliche, die Beziehungsgewalt erleben oder begehen, tragen ein höheres Risiko, über ähnliche Erfahrungen im Erwachsenenalter zu berichten. Außerdem zeigt sich langfristig, dass Betroffene eher zu einem gesteigerten Risikoverhalten (beispielsweise Alkohol- und Marihuanakonsum) neigen und in schlechter psychischer Verfassung sind.
„Muss man schon als Jugendliche:r über Gewalt in der Partnerschaft berichten, kann dies ein Risikofaktor für ein breites Spektrum von Langzeitfolgen sein“, fasst Antonio Piolanti, Postdoc-Assistent an der Abteilung für Gesundheitspsychologie an der Universität Klagenfurt, die Ergebnisse zusammen. Die in der Zeitschrift „Pediatrics“ kürzlich vorgestellte Studie schließt eine wichtige Forschungslücke: Es gab zwar zahlreiche Einzelstudien zu den langfristigen Zusammenhängen zwischen Gewalterfahrungen in Teenagerbeziehungen und späteren Folgen, aber keinen systematischen Überblick.
Für das vorliegende Paper haben Antonio Piolanti, Franziska Waller, Iason E. Schmid und Heather M. Foran 38 Artikel identifiziert und deren Charakteristika und Erkenntnisse einer systematischen Analyse unterzogen. Der überwiegende Teil der Studien wurde nach 2010 und in den USA durchgeführt. Die teilnehmenden Personen waren zwischen 13 und 18 Jahre alt, und die Follow-up-Erhebungen reichen von einem Jahr bis zu 35 Jahren. Untersucht wurden vier Typen von Beziehungsgewalt: physische Gewalt, psychische bzw. emotionale Gewalt, sexuelle Gewalt und Cyber-Missbrauch.
Antonio Piolanti erklärt zu den Erkenntnissen: „Der Zusammenhang zwischen Gewalt in Teenagerbeziehungen und ähnlichen Erfahrungen im Erwachsenenalter war am deutlichsten erkennbar. Das deutet darauf hin, dass Gewalt in Beziehungen Teil eines Kontinuums sein kann, das schon früh beginnt.“
Von den negativen Langzeitfolgen von Gewalt in Teenagerbeziehungen sind laut den Analysen Frauen stärker betroffen als Männer. Darüber hinaus zeigten die Analysen einige Zusammenhänge zwischen früher Beziehungsgewalt und einem gesteigerten Risikoverhalten, wie Piolanti erklärt: „Wir sehen, dass die Mehrheit der Studien zu dem Ergebnis kommt, dass Gewalterfahrungen in Teenagerbeziehungen mit späterem Zigaretten-, Alkohol- und Marihuanakonsum einhergehen.“ Auffällig sei auch die Verbindung zu gesteigertem sexuellen Risikoverhalten, beispielsweise ungeschütztem Sex oder Geschlechtsverkehr unter Alkoholeinfluss. Auch Zusammenhänge mit einer schlechteren psychischen Verfassung lassen sich bei den Personen, die von Gewalterfahrungen berichten, feststellen.
„Die Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass die langfristigen Folgen von Gewalt in Teenagerbeziehungen gravierend sein können. Präventionsprogramme sind also sehr wichtig, zumal diese in anderen Untersuchungen schon unter Beweis stellen konnten, dass sie effizient wirken“, folgert Antonio Piolanti.
Originalpublikation:
Piolanti, A., Waller, F., Schmid, I. E., Foran, H. M. (2023). Long-term Adverse Outcomes Associated with teen dating violence: A Systematic Review. Pediatrics Vol. 151/6, DOI: 10.1542/peds.2022-059654.
Pressestelle der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, 23.5.2023
Das menschliche Gehirn ist voller Falten und Furchen. Das ist normal und eine wichtige Voraussetzung für die Leistungsfähigkeit unseres Denkapparats. Eine aktuelle Studie konnte zeigen, dass das Gehirn von Personen mit einer Kokainabhängigkeit weniger stark gefaltet ist.
Die Großhirnrinde (Cortex) könne man sich vorstellen wie ein dickes Blatt Papier, erklärt der Hirnforscher Wieland Huttner in einem Interview. Damit es in den Schädel passt, muss es sich falten. Die Großhirnrinde gilt als wichtige Instanz für den Verstand und das Bewusstsein. In der Evolution ist die Großhirnrinde als Letztes entstanden und beim Menschen immer weiter gewachsen. So weit, dass sie nur noch gefaltet in den Schädel passt. Mehr Falten bedeutet: mehr geistige Leistung.
Wenn das Gehirn glatt bleibt, also keine Falten hat, ist das eine schwere Fehlbildung, die als „Lissenzenphalie“ bezeichnet wird. Betroffene Kinder leiden meist unter geistigen Entwicklungsstörungen. Aber auch bei Menschen ohne ernsthafte Erkrankungen können sich die Falten unterscheiden. Ein italienisches Forschungsteam hat die Faltungen der Großhirnrinde von Menschen mit und ohne Kokainabhängigkeit verglichen.
Je länger kokainabhängig, desto weniger Falten
Für ihre Studie hat das Forschungsteam auf Daten einer Studie aus Mexiko zurückgreifen können, in der die Gehirne von 88 Männern mit Hilfe der Magnetresonanztomografie „durchleuchtet“ wurden. Die Aufnahmen von 52 Männern mit Kokainabhängigkeit wurden verglichen mit den Hirnscans von 36 Männern, die kein Kokain konsumierten.
Das Hauptergebnis der Studie lautet: Teile der Großhirnrinde waren bei den Kokainabhängigen weniger stark gefaltet als in der Kontrollgruppe. Dieser Effekt war dosisabhängig. Das heißt: Je länger die Personen kokainabhängig waren, desto weniger komplex war die Faltung des Gehirns. Auch das Alter bei der Entstehung der Abhängigkeit spielte eine Rolle. Je jünger die Teilnehmenden waren, als sie abhängig wurden, desto weniger Furchen und Falten konnten gemessen werden.
Die Faltung war vor allem in den Bereichen der Großhirnrinde schwächer ausgeprägt, die mit Suchtverhalten in Verbindung gebracht werden. Eine der betroffenen Hirnregionen ist dafür zuständig, Impulse zu unterdrücken. Ein solcher Impuls könnte zum Beispiel sein, Kokain nehmen zu wollen. Dass dieser Bereich bei Kokainabhängigen weniger stark gefaltet ist, könnte erklären, warum es ihnen schwerer fällt, diesen Impuls zu unterdrücken. Ob dies tatsächlich der Grund ist, kann die Studie jedoch nicht beantworten.
Unklar bleibt auch, ob der Kokainkonsum verantwortlich dafür ist, dass die Großhirnrinde weniger stark gefaltet ist. Eine andere Erklärung wäre, dass die Großhirnrinde von Kokainabhängigen bereits vor dem Kokainkonsum anders gefaltet war. Dies könnte sie anfälliger für die Entwicklung einer Sucht machen. In diesem Zusammenhang ist auch erwähnenswert, dass die kokainabhängigen Männer weniger Bildungsjahre hatten.
Möglicherweise wechselseitige Beeinflussung von Kokainkonsum und Hirnveränderungen
Es gebe aber weitere Hinweise dafür, dass sich das Gehirn durch häufigen Drogenkonsum verändert, argumentieren die Forschenden. So haben frühere Studien gezeigt, dass durch den Konsum von Kokain Gene anders abgelesen werden, was die Struktur und Funktion des Gehirns verändern kann. Auch hätten Tierversuche Belege dafür geliefert, dass chronischer Kokainkonsum die Hirnstruktur verändert.
Die Forschenden favorisieren eine Theorie, der zufolge Hirnveränderungen und Kokainkonsum sich gegenseitig verstärken. Impulsive Person neigen demzufolge eher zum Kokainkonsum. Der Konsum fördert neurologische Veränderungen, die wiederum die Neigung zu impulsivem Verhalten verstärken.
FKBP51 gilt als Risikofaktor für psychiatrische Erkrankungen. Neue Forschungsergebnisse zeigen nun erstmals auch positive Effekte: Statt ängstlich zu machen oder die Denkleistung zu beeinträchtigen, kann das Protein das Gegenteil bewirken und damit Resilienz fördern. Welche Wirkung es entfaltet, hängt davon ab, in welcher Art von Zellen es aktiv wird. Außerdem spielt das Geschlecht eine entscheidende Rolle: Weibliche Modelltiere reagierten ängstlich oder mutig, männliche waren kognitiv geschwächt oder gestärkt. Die Ergebnisse machen die Entwicklung eines Medikaments nicht leichter. Sie zeigen aber umso mehr, wie wichtig Grundlagenforschung und geschlechterspezifische Studien sind.
Dass FKBP51 ein Risikofaktor für das Auftreten stressbedingter psychiatrischer Erkrankungen ist, haben nicht zuletzt umfangreiche Forschungen des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in den vergangenen Jahren immer wieder gezeigt. Die Forschenden gehen immer weiter ins Detail, nun legen sie eine Studie vor, die den Schluss nahelegt, dass FKBP51 in seiner Wirkung komplexer ist als bisher gedacht.
Das Team um Forschungsgruppenleiter Mathias Schmidt hat die Funktion des Proteins in zwei verschiedenen Zellpopulationen untersucht. In glutamatergen Zellen, die exzitatorisch, also anregend, auf Nervenzellen wirken, und in GABAergen Zellen, die sich inhibitorisch, also hemmend, auswirken. Darüber hinaus haben die Neurowissenschaftler:innen auch nach dem Geschlecht der Versuchstiere unterschieden. Denn Erkrankungen wie zum Beispiel Depressionen kommen bei Frauen circa doppelt so häufig vor wie bei Männern. Doch Studien, die geschlechtsspezifische Unterschiede untersuchen, sind selten. Als Modellorganismus für diese Grundlagenforschung diente ihnen die Maus.
Die Ergebnisse sind erstaunlich: Die Effekte sind entgegengesetzt. Das „Risiko-Gen“ FKBP51 manipuliert bei Frauen die Angst, bei Männern wirkt es sich auf die Denkleistung aus. Betrachtet man die unterschiedlichen Zelltypen, so sind auch da die Effekte entgegengesetzt. Wird FKBP51 in GABAergen Zellen blockiert, so reagierten weibliche Mäuse weniger ängstlich, männliche zeigten sich kognitiv besser. In glutamatergen Zellen geschah genau das Gegenteil, die Weibchen waren ängstlicher und Männchen kognitiv stärker beeinträchtigt.
Das „Risiko-Gen“ FKBP51 hat also auch seine positiven Seiten, das weist die Studie erstmals nach. Abhängig von dem Wirkort und dem Geschlecht kann es stressbedingte psychiatrische Erkrankungen hervorrufen, es kann aber eben auch resilienzfördernd wirken. „Das überrascht mich nicht völlig“, gesteht Schmidt, „FKBP51 kommt an so vielen Stellen im Körper vor – wenn es so schädlich wäre, hätte sich das im Laufe der Evolution runterreguliert.“
Neben der Verhaltensebene sahen die Forschenden sich auch die strukturelle Ebene an. Mit Hilfe von bildgebenden Verfahren konnten sie nachweisen, dass bei den weiblichen Mäusen eine Hirnregion verändert war, die ängstliches Verhalten steuert. Bei den männlichen Tieren war der Hippocampus verändert, über den kognitive Fähigkeiten ablaufen. Diese Ergebnisse passen also genau zu den geschlechtsspezifischen Verhaltensveränderungen und wurden zusätzlich durch Befunde auf der Ebene der Genexpression in diesen Regionen gestärkt.
FKBP51 ist also komplizierter als angenommen. Pharmakologen arbeiten bereits an Wirkstoffen, um den Risikofaktor auszuschalten. Vor dem Hintergrund der neuen Studie dürfte dies noch diffiziler werden, ein klassischer Verlauf bei der Entwicklung von Medikamenten. „Unsere Ergebnisse zeigen, wie wichtig es ist, grundsätzliche Effekte vor allem auch geschlechtsspezifisch zu untersuchen“, resümiert Schmidt.
Pressestelle des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie, 2.6.2023
Verlagsgruppe Beltz, Weinheim, erschienen 2020 und 2021, 354 bzw. 319 Seiten mit E-Book inside, je 45,00 €, ISBN 978-3-621-28744-9 und 978-3-621-28746-3
Viele Therapeutinnen und Therapeuten sind zurückhaltend, was Gruppentherapie angeht – zu hoch scheint oft der Aufwand, zu groß ist die Angst vor schwierigen Gruppensituationen oder unübersichtlicher Organisation. Dabei ist Psychotherapie in der Gruppe mindestens ebenso wirksam wie eine Einzeltherapie. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Therapiegruppe haben die Möglichkeit, vielfältige Lern- und Beziehungserfahrungen zu machen, sich auszutauschen sowie Menschen mit ähnlichen Problemen zu treffen. Sie lernen, mit Konflikten umzugehen und eigene Unsicherheiten zu reflektieren.
Die Therapie-Tools-Bände unterstützen bei der Vorbereitung und Durchführung von Gruppentherapie und bieten Materialien zu verschiedenen Störungs- und Problembereichen, die chronologisch durchgearbeitet werden können, aber nicht müssen. Die Bände eignen sich sowohl für klassische Gruppentherapie in geschlossenen Gruppen als auch für halboffene oder offene Gruppen.
Aus dem Inhalt Teil 1:
Alkoholmissbrauch, Alltagsplanung, Ärger und Aggression, Bewerbungstraining, Depression, Ernährung und Gesundheit, Essstörungen, Gehirn-Jogging, Medikamentenabhängigkeit, Schmerzbewältigung, Selbstsicherheit, Trauer, Weibliche Identität
Aus dem Inhalt Teil 2:
Alkoholabhängigkeit, Angststörungen, Arbeitstherapie, Genusstraining, Männliche Sexualität und Partnerschaft, Nachsorge, Partnerseminar, Pathologisches Glücksspiel, Raucherentwöhnung, Stress am Arbeitsplatz
Am 1. September 2020 ist ein neues Psychotherapeutengesetz in Kraft getreten. Seit dem Wintersemester 2020/21 ist es möglich, die Universität nach einem fünfjährigen Studium mit dem Masterabschluss „Klinische Psychologie und Psychotherapie“ und mit Approbation zu verlassen. Daran kann sich eine Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeut:in anschließen (KONTUREN berichtete).
Ab 2024 werden mit steigender Anzahl approbierte Psychotherapeut:innen von den Universitäten abgehen und ihre Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeut:in beginnen. Durch das neue Psychotherapeutengesetzt wird es ihnen u. a. möglich sein, die zweijährige stationäre Weiterbildungsphase komplett in der Suchtrehabilitation zu absolvieren. Wie wird sich die Veränderung in der Aus- und Weiterbildung von Psychotherapeut:innen auf die Einrichtungen der Suchthilfe auswirken? KONTUREN online hat Expert:innen aus der Praxis nach ihren Einschätzungen gefragt und die Antworten im Folgenden zusammengestellt. Die Leitfrage an alle Expert:innen lautete:
Welche Chancen, Risiken und Herausforderungen sehen Sie in der neuen Weiterbildung der Psychotherapeut:innen und wie gehen Sie in der Praxis damit um?
Dr. med. Elke H. Sylvester
Dr. Elke H. Sylvester
Chefärztin, Fachklinik Nettetal, CRT Caritas-Reha und Teilhabe GmbH, Wallenhorst
Nachdem die Ausbildung der Psychotherapeut:innen auf neue gesetzliche Grundlagen gestellt wurde, ist es seit dem Wintersemester 2020/21 möglich, nach einem fünfjährigen Universitätsstudium und erfolgreicher Abschlussprüfung die Approbation als Psychotherapeut:in zu bekommen. Eine nach Landesrecht organisierte Weiterbildung (auf Basis der Muster-Weiterbildungsordnung von Seiten der Bundespsychotherapeutenkammer) soll in stationären und ambulanten Einrichtungen angeschlossen werden. Die Weiterbildung zur Fachpsychotherapeut:in erfolgt damit in Analogie zur ärztlichen Weiterbildung.
Für den großen Bereich der Suchthilfe ergeben sich vielfältige Möglichkeiten der Beschäftigung der zukünftigen Psychotherapeut:innen sowohl in der ambulanten, ganztägig ambulanten und stationären medizinischen Rehabilitation als auch in Übergangseinrichtungen. Damit besteht die Möglichkeit, fundierte Erfahrungen in der multiprofessionellen und interdisziplinären Zusammenarbeit zu sammeln.
Die vergleichsweise langen Therapiezeiten bieten auch angehenden Fachpsychotherapeut:innen eine gute Möglichkeit, entsprechend umfassende Therapie- und Veränderungsprozesse kennenzulernen, im Weiteren selbst zu initiieren und unter Supervision zu gestalten. Der Wirkfaktor der therapeutischen Beziehung kann so umfassend gelernt und erfahren werden. Der hohe Anteil an gruppentherapeutischen Angeboten ergänzt den Weiterbildungsprozess in besonderer Weise. Der Blick über das „eigene“ Setting hinaus wird dabei durch die gute Vernetzung in der Suchthilfe gefördert. Die vorgesehenen Weiterbildungszeiten zum / zur Fachpsychotherapeut:in, die länger sind als die Praktika in der bisherigen Ausbildung, kommen diesem Prozess zugute.
Die neue Psychotherapie-Ausbildung sieht die Möglichkeit einer Qualifizierung in der Sozialmedizin vor. Für die medizinische Rehabilitation ist diese Qualifikation erforderlich. Vor dem Hintergrund des zunehmenden Fachkräftemangels auch im ärztlichen Bereich ergeben sich hier neue Möglichkeiten, den Anforderungen der Kosten- und Leistungsträger gerecht zu werden.
Suchttherapie ist mehr als reine Psychotherapie – es wird für die Weiterbildungsanbietenden notwendig sein, dieses Wissen potenziellen Bewerber:innen zu vermitteln. Auch die in der medizinischen Rehabilitation erforderliche Orientierung nicht nur an Diagnoseklassifikationssystemen (ICD-10, DSM-V), sondern an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) mit der entsprechenden Auswirkung auf die Gestaltung von Therapieprozessen, sollte deutlich kommuniziert werden. Das Therapieziel ist nicht nur eine Symptomreduktion, sondern eine umfassende Verbesserung der Teilhabe.
Eine Herausforderung besteht schon jetzt darin, therapeutisch Tätige mit unterschiedlicher Grundprofession und dementsprechend unterschiedlicher Therapieausbildung gut in ein Team zu integrieren und Grabenkämpfe insbesondere zwischen Suchttherapeut:innen und Psychotherapeut:innen zu vermeiden. Beide sind für eine gelungene Suchttherapie –natürlich neben den anderen notwendigen Berufsgruppen – unverzichtbar.
Eine Substanzkonsumstörung ist eine bio-psycho-soziale Erkrankung. In der Praxis heißt das, dass im Therapieprozess alle Ebenen Berücksichtigung finden müssen. Die Komorbidität weiterer psychischer Störungen ist dabei eher die Regel, denn die Ausnahme. Dementsprechend kann der große Bereich der Suchthilfe eine fundierte Weiterbildung nicht nur hinsichtlich der Substanzkonsumstörung, sondern auch in Bezug auf weitere psychische Störungen wie affektive Störungen, psychotische Erkrankungen, Traumafolgestörungen, Angsterkrankungen, ADHS oder Persönlichkeitsstörungen garantieren.
Je besser dabei das Zusammenspiel zwischen den unterschiedlichen Professionen und den unterschiedlichen therapeutischen Ansätzen, desto besser das Outcome. Eine vorbehaltlose und wertschätzende Zusammenarbeit im multiprofessionellen und interdisziplinären Team ist dafür eine grundlegende Voraussetzung.
Marcus Breuer
Marcus Breuer
Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Klinikleitung und Therapeutische Leitung, Würmtalklinik Gräfelfing, Deutscher Orden – Ordenswerke
Chancen: Durch die Revision der Psychotherapeuten-Approbationsordnung im Jahr 2020 ergibt es sich erstmalig, dass zukünftige Psychotherapeut:innen ihre therapeutische Zusatzausbildung nicht selbst werden bezahlen müssen. Dies ist berufspolitisch ein wesentlicher Fortschritt. Außerdem ist hiermit erstmals sichergestellt, dass auch während der psychotherapeutischen Weiterbildung (bzw. der Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeuten:in) – analog zur Facharztausbildung bei den Ärzt:innen – angemessene Gehälter bezahlt werden. Schließlich verfügen die Betroffenen bereits über einen anerkannten Masterabschluss!
Risiken:
Was für die zukünftigen Master-Absolventen nach dem neuen Psychotherapeutengesetz eine Chance ist (s.o.), ist zugleich ein Risiko. Aktuell ist nämlich keinesfalls sichergestellt, dass ausreichend Plätze für die Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeut:in (das Analogon zur bisherigen Psychotherapie-Zusatzausbildung) zur Verfügung stehen werden. Und anders als bisher kann man sich in die neue Weiterbildung auch nicht selbst „einkaufen“. Es besteht also die reale Gefahr, dass es (ggf. deutlich) mehr Bewerber:innen für die Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeut:in geben wird, als überhaupt Weiterbildungsplätze bestehen. Das größte Problem ist die Frage, wie die Kliniken bzw. Leistungserbringer die einzelnen Weiterbildungsanteile (insbesondere Theorieteil, Supervision sowie Selbsterfahrung) refinanzieren.
Herausforderungen: Die größten Herausforderungen betreffen zwei Aspekte: Erstens gilt es, die Kosten- und Leistungsträger mit ins Boot zu bekommen. Nur wenn es von dieser Seite zu einer realistischen Refinanzierung der zusätzlichen Lasten kommt, werden ausreichend viele Weiterbildungsplätze geschaffen werden. Dies wiederum wäre auch im Interesse der Kostenträger. Die zweite Herausforderung für die Leistungserbringer besteht in der Bewältigung der mit der neuen Weiterbildungsordnung (WBO) verbundenen Logistik und Bürokratie. Dies reicht von den Anträgen zur Anerkennung als Weiterbildungsstätte bei der jeweiligen Landespsychotherapeutenkammer über das Finden geeigneter Weiterbildungsbefugter bis hin zur konkreten Betreuung zukünftiger Kolleg:innen, die sich in der Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeuten:in befinden. Diese müssen deutlich aufwendiger betreut werden als bisher. Auch hierfür werden (z. B. Personal-)Ressourcen benötigt. Schließlich ist auch die zeitliche Befristung der Tätigkeit im Rahmen der Weiterbildung (maximal zwei Jahre stationäre Tätigkeit) ein Problem bzw. eine Herausforderung für die Kliniken als Leistungserbringer. Hier besteht die Gefahr einer häufigen Personalrotation, welche nicht im Interesse der Kliniken und auch nicht der Kostenträger sein kann.
So gehen wir in der Praxis aktuell mit diesem Thema um:
Als kleinere stationäre Suchtrehaklinik werden wir nicht in der Lage sein, die oben genannten Weiterbildungsanteile selbst anzubieten. Wir machen uns daher gerade auf die Suche nach Kooperationspartnern (z. B. bei den Weiterbildungsinstituten). Wir haben uns bisher auch noch nicht final entschieden, ob wir die Anerkennung als Weiterbildungsstätte überhaupt anstreben werden. Neben der Prüfung der für uns in Frage kommenden Optionen beobachten wir aktuell die Entwicklung am Arbeitsmarkt besonders genau.
Zunächst einmal können wir festhalten, dass mit dem neuen Psychotherapeutengesetz der Weg zum/zur „einsatzfähigen“ Psychotherapeuten bzw. Psychotherapeutin kürzer und einfacher wird: Nach dem Bachelor-Studium der Psychologie, dem Master-Studium der Klinischen Psychologie und Psychotherapie sowie der Approbationsprüfung stehen künftig approbierte Psychotherapeut:innen nach gut fünf Jahren für die psychotherapeutische Behandlung in unseren Suchtfachkliniken zur Verfügung. Die bisher für eine Approbation erforderliche Weiterbildung mit einer Dauer von weiteren fünf Jahren ist nicht mehr Voraussetzung für eine Tätigkeit in der medizinischen Rehabilitation.
Falls wir uns als Praktikumsbetriebe engagieren, lernen wir die angehenden Psychotherapeut:innen bereits während ihres Studiums kennen. Das führt günstigstenfalls zu einer vorgezogenen Personalrekrutierung bzw. -bindung. Die erste Herausforderung wird sein, 17- bis 20-jährige Studierende sinnvoll in unseren Fachkliniken einzusetzen. Im Masterstudium sind sie mit vielleicht 21 bis 23 Jahren schon etwas reifer. Nach unseren bisherigen Erfahrungen sind neue Mitarbeiter:innen i.d.R. mit PT1- u. PT2-Erfahrungen deutlich sicherer im Patientenkontakt als noch Studierende und können insofern auch eher selbstständig mit Patient:innen arbeiten. Das bedeutet, dass künftige studentische Praktikant:innen stärker hilfs- oder begleitende Tätigkeiten ausüben werden. Für die Sinnhaftigkeit der Praktika wird es außerdem darauf ankommen, wie lange die Studierenden „am Stück“ in den Kliniken tätig sein werden. Das Fachkrankenhaus Hansenbarg der Alida Schmidt-Stiftung hat bereits eine Kooperation mit einer Hochschule für Praktika im Masterstudium vereinbart. Hierbei sollen die Studierenden die gesamte Praktikumszeit von dreieinhalb Monaten in unserer Fachklinik ableisten. In ländlicher Idylle gelegen, haben wir vorsorglich eine Wohnung im Nachbarort für eine potentielle Studierenden-WG angemietet und möbliert, damit das Praktikum nicht schon am täglichen Anfahrtsweg scheitert. Im Übrigen entstehen offenbar keine Kosten für den Praktikumsgeber. Der Aufwand beschränkt sich auf die Erstellung eines Einsatzkonzepts und die Betreuung der Praktikant:innen.
Wir gehen davon aus, dass die Psychotherapeut:innen nach der neuen Systematik direkt nach der Approbation in unseren Reha-Kliniken der Suchthilfe eingesetzt und voll auf den Stellenplan angerechnet werden können. Diese Fachkräfte könnten für unser Arbeitsfeld langfristig gebunden werden, wenn sie sich mit der Ausbildung bestehend aus Studium und praktischen Einsätzen ausreichend qualifiziert fühlen und keine langjährige Fach-Weiterbildung anstreben.
Ambivalent betrachten wir eine Beteiligung unserer Einrichtungen als Weiterbildungsstätte im Rahmen der Weiterbildung zum/zur Fachpsychotherapeuten bzw. Fachpsychotherapeutin. In der Bewertung fällt positiv ins Gewicht, dass für die Anerkennung als Weiterbildungsstätte bundesweit einheitliche Kriterien bestehen und die Anerkennung zwar nach Landesrecht durchgeführt wird, aber bundesweit gelten soll. Bisher leiden wir nämlich unter einem uneinheitlichen Vorgehen der Länder und sind mit unserer Fachklinik z. B. in Niedersachsen für die Weiterbildung zugelassen, nicht jedoch in Hamburg. Für eine Beteiligung an der Weiterbildung spricht auch, dass die Weiterbildung nicht nur in den Reha-Kliniken, sondern auch in unseren Einrichtungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Suchterkrankungen durchgeführt werden kann. So können die angehenden Fachpsychotherapeut:innen das gesamte Spektrum der Behandlung und Betreuung von Suchtpatient:innen kennenlernen. Und nicht zuletzt: Falls die PiW (Psychotherapeut:innen in Weiterbildung) während ihrer Weiterbildung von Anfang an auf den Stellenplan angerechnet werden können, entstehen auch hier keine zusätzlichen Personalkosten.
Allerdings erscheinen die Anforderungen an die Weiterbildungsstätten auf den ersten Blick sehr anspruchsvoll zu sein. Hier braucht es innerhalb der Klinik eine verantwortliche Person als Weiterbildungsbefugte:n, die für die Antragstellung, die Kooperation mit den Weiterbildungsinstituten, die Qualifizierung der PiW, die Erstellung des Weiterbildungsplans, die Dokumentation, die Fallbesprechungen und die Qualitätssicherung zuständig ist. Dies quasi nebenbei den – ohnehin nicht in der Personalbemessung der DRV enthaltenen – therapeutischen Leitungen aufzubürden, erscheint schwierig. Fraglich ist auch, welche langfristige berufliche Tätigkeit die Fachpsychotherapeut:innen nach Abschluss ihrer Weiterbildung ausüben wollen. Wird eine Zulassung zur ambulanten psychotherapeutischen Versorgung im System der gesetzlichen Krankenversicherung angestrebt, so werden diese Fachkräfte nach ihrer bei uns absolvierten Weiterbildungszeit von zwei bis drei Jahren wieder aus unseren Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe ausscheiden. Wir machen bereits jetzt die Erfahrung, dass die meisten PiAs (Psychotherapeut:innen in Ausbildung nach dem herkömmlichen System) nach Approbation in andere Tätigkeitsbereiche abwandern. Die ohnehin hohe personelle Fluktuation und die damit verbundenen organisatorischen Diskontinuitäten und Erfahrungsverluste werden sich damit weiter erhöhen.
Möglicherweise schotten wir uns jedoch ungewollt von einem großen Personalpool ab, wenn wir den Aufwand für die Weiterbildung scheuen. Denn bisher ist nicht absehbar, wie viele Masterpsychotherapeut:innen in ihrer beruflichen Laufbahn auf die Fach-Weiterbildung verzichten werden.
Gerne beteiligen wir uns weiterhin an einem Meinungs- und Erfahrungsaustausch im Rahmen des bus. e. V., um bei diesen Zukunftsfragen eine fundierte Entscheidung zu treffen.
Mathias Schuch
Mathias Schuch. Foto: Alex Habermehl
Dipl.-Psych., ehem. Leiter der Therapeutischen Einrichtung „Auf der Lenzwiese“, Höchst-Hassenroth/Odw., seit 2000 als Psychologischer Psychotherapeut / Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in eigener Praxis tätig (Psychotherapeutische Praxisgemeinschaft Buchhügel, Offenbach), seit 2020 Geschäftsführer der Main PVZ Offenbach gGmbH
Als Geschäftsführer des Psychotherapeutischen Versorgungszentrums Offenbach ist Mathias Schuch selbst in der Psychotherapie-Ausbildung tätig. Das folgende Statement ist die Zusammenfassung eines Telefon-Interviews mit KONTUREN online.
Mit der neuen universitären Ausbildung zum / zur Psychotherapeut:in, die mit der 1. Approbation abgeschlossen wird, werden die Absolvent:innen jünger und sie bringen mehr Praxiserfahrung aus dem Studium mit. Fraglich ist aber, wie die Universitäten diese Ausbildung werden leisten können. Das bisherige Lehrpersonal kann diese praktischen Kenntnisse kaum vermitteln. Auch werden gewisse Theorieinhalte des bisherigen Grundlagenstudiums außen vor bleiben. Gleichzeitig vergrößert sich der Gestaltungsspielraum der Universitäten im Sinne einer Art Monopolisierung. Sie können mehr Einfluss darauf nehmen, zu bestimmen, was Psychotherapie ist.
Positiv an der neuen Ausbildung ist eine Vereinheitlichung des klinisch ausgerichteten Studiums, problematisch ist, dass sich die Studierenden direkt zu Beginn ihres Studiums, also im Alter von ca. 19 Jahren, für die Fachrichtung Psychotherapie entscheiden müssen.
Die Verlagerung von mehr Praxisausbildung in die Studienzeit wird Auswirkungen auf die Ausbildungsinstitute haben. Davon gibt es momentan um die 200. Sie werden in Zukunft nur noch Angebote für die Weiterbildung durchführen können, nicht mehr für die Ausbildung. Da die approbierten Psychotherapeut:innen nach der neuen gesetzlichen Regelung für ihre Tätigkeit am Ausbildungsinstitut fest angestellt und voll bezahlt werden müssen, werden kleinere Institute möglicherweise Probleme mit der Kostenstruktur bekommen oder sogar schließen müssen. Somit könnten sich die Anzahl und die Kapazitäten der Weiterbildungsinstitute als Flaschenhals entwickeln und zu einer geringeren Anzahl an Fachpsychotherpeut:innen führen.
Sehr zu begrüßen ist, dass die approbierten Psychotherapeut:innen einen arbeits- und sozialrechtlich gesicherten Status haben, der dem von Assistenzärzt:innen bzw. von Fachärzten entspricht. Damit einher geht der Anspruch auf eine angemessene Vergütung einer Kliniktätigkeit. Allerdings ist eine entsprechende Finanzierung durch die Krankenkassen und Kostenträger bis zum heutigen Tage noch nicht gegeben. Zu erwarten ist aber, dass dadurch weniger Psychotherapeutenstellen besetzt werden. Psychotherapeut:innen mit der 1. Approbation können zwar schon vielfältig in den Kliniken eingesetzt werden, es ist aber anzunehmen, dass die DRV für bestimmte Tätigkeiten wie die Erstellung von Behandlungsplänen und Gutachten Psychotherapeut:innen mit Fachkundenachweis, also mit der 2. Approbation, fordert.
Fachpsychotherapeut:innen werden teuer, wenn sie in einer Suchtrehaklinik bleiben sollen. Im ambulanten Bereich können sie ihre Arbeitszeiten flexibler gestalten, haben ein breiteres Spektrum an zu behandelnden Diagnosen und verdienen sehr gut. Ein Vorteil der neuen Aus- und Weiterbildung für die Suchthilfe ist die Öffnung für Präventionsangebote.
Eine positive Vision für die Zukunft ist die enge Kooperation – z. B. in Form von Joint Ventures – zwischen stationären Einrichtungen und den Weiterbildungsinstituten, die Verschränkung zwischen dem stationären und ambulanten Bereich. Eine Schlüsselrolle spielen hierbei die Weiterbildungsbefugten. Für die Kliniken ist es sinnvoll, schon die Praktika während der Studienzeit zu nutzen, um potenzielle Weiterbildungskandidat:innen mit der Einrichtung vertraut und diese als Weiterbildungsstätte attraktiv zu machen.
Um für die Zukunft ihr psychotherapeutisches Fachpersonal zu sichern, müssen die Kliniken flexibel sein und sich für die Zusammenarbeit mit ambulanten Zentren und Praxen öffnen. Es geht nur im Netzwerk und mit Kooperation. Und: Raus aus der Glasglocke!
Seitdem durch den Bundesverband Suchthilfe (bus.) ausführliche Informationen über die neue Weiterbildungsordnung und auch zu den damit verbundenen Möglichkeiten für Rehabilitationseinrichtungen weitergeben wurden, beschäftigen wir uns intensiv mit dem Thema und wollen die Voraussetzungen für die Durchführung der Weiterbildung in unseren Rehabilitationseinrichtungen schaffen.
Aktuell sehen wir die neue Weiterbildung der Psychotherapeut:innen als große Chance, zumindest in dieser Berufsgruppe frühzeitig Fachkräfte als Bezugstherapeuten für die Arbeit in der Rehabilitation und mit Abhängigkeitserkrankungen zu gewinnen. Wir können die Weiterbildung stärker mitgestalten. Durch die Anerkennung der Master-Absolventen mit Approbation haben wir diese als Bezugstherapeuten für mindestens zwei Jahre im Rahmen ihrer Weiterbildung auszubilden und auch im Rahmen des Sollstellenplans zu beschäftigen. Das wertet den Tätigkeitsbereich Rehabilitation sehr auf, und wir können langfristig junge Fachkräfte für dieses Arbeitsgebiet gewinnen. Darin sehen wir nicht nur eine Chance, sondern vielleicht sogar eine „Rettung“ für einige Rehabilitationseinrichtungen, die besonders unter dem Fachkräftemangel leiden.
Auch dass wir uns fachlich mehr in die Weiterbildung einbringen können, ist gut, weil damit die Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen mehr Gewicht in der Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeut:in bekommen könnte. Die Aufwertung der Psychotherapeut:innen, als Weiterbildungsbefugte benannt werden zu können, kann man sehr positiv sehen, weil sie auch die Rolle und Expertise der Psychotherapeuti:innen in der Rehabilitation stärkt.
Risiken sehen wir aber gleichzeitig in der Grundstruktur und Umsetzung. Wir bekommen als Weiterbildungsstätte die Verantwortung für die Erfüllung aller Anforderungen der Weiterbildungsordnung, was nicht nur personelle, sondern auch inhaltliche und finanzielle Aspekte umfasst. Dazu gehören dann auch die Theorievermittlung, Selbsterfahrung und Supervision. Es ist aus unserer Sicht nicht ausreichend geklärt, wie dies neben einer entsprechenden Vergütung der Tätigkeit zusätzlich finanziert und organisiert werden soll. Darunter könnte die Qualität der Ausbildung leiden. Arbeitgeber könnten sich entscheiden, zunächst auf die bereits ausgebildeten Psychotherapeut:innen zurückzugreifen, weil sie mit den neuen Regelungen überfordert sein könnten.
Aber auch hier besteht durch den Zusammenschluss von Rehabilitationseinrichtungen gemeinsam mit dem bus. eine Chance, die Umsetzung der Weiterbildung zu organisieren und damit wiederum eine gute Basis zu schaffen und sich noch mehr zu vernetzen.
In allen unseren Rehabilitationseinrichtungen wollen wir die Vorbereitungen treffen, um uns als Weiterbildungsstätte anerkennen zu lassen. Wir werden Weiterbildungsbefugte benennen, um Psychotherapeut:innen in Weiterbildung anstellen zu können. Ebenso haben wir schon einen Kooperationsvertrag mit einer Universität geschlossen, wollen dies mit weiteren Hochschulen erweitern, um bereits während des Masterstudiums Praktika anzubieten und die angehenden Psychotherapeut:innen mit unserem Arbeitsbereich vertraut zu machen.
Dr. phil. Clemens Veltrup
Dr. Clemens Veltrup
Dipl.-Psych., Leitender Therapeut der Fachklinik Freudenholm-Ruhleben, Schellhorn, Geschäftsbereichsleiter „Suchthilfe“ im Landesverein für Innere Mission in Schleswig-Holstein
Chancen: Endlich! Durch das neue Psychotherapeutengesetzt wird es den approbierten Psychotherapeut:innen möglich sein, die komplette stationäre Weiterbildungsphase in der stationären medizinischen Rehabilitation für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen („Suchtrehabilitation“) zu absolvieren. Bei den Suchthilfeträgern, die auch über ambulante Einrichtungen (z. B. Suchtberatung,) verfügen, können die psychotherapeutischen Kolleg:innen zusätzlich weitere zwölf Monate für ihre Weiterbildung anrechnen lassen.
Die Rentenversicherungsträger werden die „neuen“ Psychotherapeut:innen in vollem Umfang für die psychotherapeutische Arbeit in den Rehabilitationskliniken anerkennen, so dass die Finanzierung der Personalstellen grundlegend gesichert ist. Die neuen Kolleg:innen können u. a. durch ihr aktuelles Fachwissen zur Verbesserung der psychotherapeutischen Arbeit in der Suchthilfe beitragen.
Damit kann es gelingen, dem zunehmenden Fachkräftemangel im psychotherapeutischen Bereich in den nächsten Jahren erfolgreich zu begegnen. Die bisher mit Psychotherapeut:innen in Ausbildung besetzten Stellen werden ja nur unter Auflagen von den Rentenversicherungsträgern anerkannt, die Approbation als Psychotherapeut:innen ist bisher für die stationäre und ambulante Suchtrehabilitation zwingend. Die Psychotherapeut:innen in Weiterbildung (PtW) können helfen, das Angebot der ambulanten Suchtrehabilitation aufrechtzuerhalten bzw. auszubauen.
Auch in der Eingliederungshilfe können die PtW im Rahmen der interdisziplinären Zusammenarbeit zu einer „wirksameren“ Hilfe für die Klient:innen beitragen.
Risiken: In den nächsten Jahren ist damit zu rechnen, dass es mehr Bewerber:innen als Weiterbildungsstellen gibt. Vor dem Hintergrund des erkennbaren zunehmenden Mangels an Suchttherapeut:innen besteht dann die Gefahr, dass die bewährte interdisziplinäre Zusammenarbeit sich verändert und Suchttherapeut:innenstellen mit Psychotherapeut:innen besetzt werden. Damit würde ein tragendes Element einer erfolgreichen Suchtrehabilitation geschwächt werden.
Somit gilt es, engagierte Sozialabeiter:innen/ Sozialpädagog:innen zu finden, die die Weiterbildung zum / zur Suchttherapeut:in beginnen. Auch hier müssen die Rentenversicherungsträger die bisherigen Auflagen für die Anerkennung kritisch überdenken und „bedarfsgerecht“ modifizieren.
Auch die Möglichkeiten von Ärzt:innen in Weiterbildung in der Suchtrehabilitation sollten deutlich verbessert werden. Es ist zu prüfen, ob nicht auch hier (mindestens) zwei Jahre Weiterbildungszeit für verschiedene Fachärzt:innengruppen anerkannt werden könnten (z. B. Fachärzt:in für Innere Medizin, Fachärzt:in für Allgemeinmedizin, Fachärzt:in für Psychiatrie und Psychotherapie).
Herausforderungen: Die Vermittlung von Theorie, Selbsterfahrung und die kontinuierliche Supervision müssen in den Kliniken neu organisiert werden. Es bietet sich aber die Möglichkeit und Chance an, dies z. B. über den bus. bundesweit zu organisieren.
Es gilt, Weiterbildungsbefugte für die PtW zu finden und ihre Tätigkeit entsprechend zu vergüten. Erfahrene approbierte Psychotherapeut:innen können diese Aufgabe grundsätzlich übernehmen.
Die Organisation der Weiterbildung für Psychotherapeut:innen bringt es mit sich, dass diese entweder nach Beendigung der Weiterbildungsphase die Klinik verlassen oder (nach Erhalt der Fachpsychotherapeut:innen-Qualifikation) eine Niederlassung in eigener Praxis anstreben. Diese Personalfluktuation muss im Rahmen der Personalplanung der Klinik angemessen berücksichtigt werden. Es gilt auch, angemessene Positionen für Fachpsychotherapeut:innen zu schaffen, z. B. als Leitende Psychotherapeut:innen für Abteilungen in der Klinik oder als Mitglied der Klinikleitung. Die neue Bereichsweiterbildung für „Sozialmedizin“ eröffnet den Fachpsychotherapeut:innen erweiterte Gestaltungsmöglichkeiten in der medizinischen Rehabilitation.
Vorgehen: So bald wie möglich werden wir die Anerkennung als Weiterbildungsstätte beantragen. Erfahrene Kolleg:innen werden wir motivieren, sich als Weiterbildungsbefugte bei der Psychotherapeutenkammer akkreditieren zu lassen. Und schon kann es losgehen!
Die Lebenserwartung in Deutschland fällt im internationalen Vergleich auffällig niedrig aus, obwohl sich Deutschland eines der teuersten Gesundheitssystem der Welt leistet. Angesichts dieses ernüchternden Ergebnisses fordert die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), den Fokus endlich mehr auf Prävention und Gesundheitskompetenz zu richten. Dazu gehören: Stärkung der Hausarztmedizin, Aufwertung der sprechenden Medizin und damit mehr Gesundheitsberatung, strengere Regeln im Umgang mit Tabak- und Alkoholwerbung, gesundes Schul- und Kita-Essen, mehr Sportangebote etc.
Bei den Ausgaben für das Gesundheitssystem liegt Deutschland auf den vorderen Plätzen, bei der Lebenserwartung gehört es zu den Schlusslichtern. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock, in der die Lebenserwartung in sechs Ländern mit hohem Einkommen verglichen wurden. Es zeigten sich erhebliche Unterschiede: In den bestplatzierten Ländern (Frauen: Spanien, Männer: Schweiz) werden die Menschen im Durchschnitt gleich mehrere Jahre älter als in Deutschland. In Deutschland ist, so die Studie, vor allem die erhöhte Anzahl von Todesfällen aufgrund kardiovaskulärer (Herz-Kreislauf-)Erkrankungen auffällig.
Gerade angesichts der immensen Ressourcen, die hierzulande für die Gesundheit ausgegeben werden, müssen diese Zahlen aufrütteln: In Deutschland arbeiten überdurchschnittlich viele Ärztinnen und Ärzte, gleichzeitig gibt es mehr Krankenhaus- und Intensivbetten als in fast allen anderen verglichenen Ländern. Trotzdem sterben die Menschen in Deutschland früher.
„Wir setzen uns seit Jahren für mehr Prävention ein. Es wäre schon viel gewonnen, wenn die sprechende Medizin aufgewertet wird, so dass den hausärztlichen Kolleginnen und Kollegen endlich mehr Zeit für die Gesundheitsberatung zur Verfügung steht. Anders wird es nicht gelingen, gerade Risikogruppen zu erreichen. Das geht nur im Gespräch“, kommentiert Prof. Martin Scherer, Präsident der DEGAM. „In Deutschland gibt es ein krasses Missverhältnis: Die Anzahl der Arztkontakte pro Person ist extrem hoch – aber die Zeit pro Patient:in, um gesundheitsförderndes Verhalten zu besprechen, viel kürzer als in den verglichenen Ländern.“
Echte Prävention ist zudem viel mehr als rein medizinisch – sie ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe: „Deutschland ist führend im Pro-Kopf-Verbrauch von Zucker, hat immer noch eine überdurchschnittliche Alkohol- und Raucherquote (und als eines von wenigen Ländern weiterhin kein Werbeverbot für Zigaretten) und einen viel zu hohen Anteil an übergewichtigen und adipösen Menschen. Bei der Ernährung fällt die hohe Rate an tierischen Produkten auf. Auch bei der Bewegung gibt es Defizite,“ ergänzt Dr. Thomas Maibaum, stellvertretender Sprecher der DEGAM-Sektion Prävention.
Gleichzeitig warnt die Fachgesellschaft davor, die Verantwortung alleine bei den Betroffenen abzuladen. „Es ist seit Jahren bekannt, dass eine reine Verhaltensprävention in erster Linie die Menschen erreicht, die sowieso schon gesundheitsbewusst leben. Bei der Verhältnisprävention, über die seit Jahren diskutiert wird, kommt Deutschland weder bei der Forschung noch in der Praxis der öffentlichen Gesundheitsfürsorge (Public Health) wirklich voran. Erste und längst überfällige Schritte wären: Einführung Zuckersteuer, Werbeverbot für Tabakprodukte, Raucherentwöhnung als Kassenleistung, Subventionierung von gesunder Ernährung in Kindergarten und Schule und mehr Sportangebote für jede Altersstufe“, fordert Martin Scherer. „Nur so können wir bei der Lebenserwartung zumindest den internationalen Durchschnitt erreichen.“
Hinsichtlich der Konsequenzen der Studie sieht die Autorengruppe insbesondere Defizite in der Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die DEGAM geht davon aus, dass die kardiovaskuläre Krankheitslast auch medikamentös effektiver reduziert werden kann: „Bei Menschen mit hohem absoluten und relativen Herzinfarkt-Risiko sollten verstärkt Statine verschrieben werden“, fasst Dr. Uwe Popert, Sprecher der DEGAM-Sektion Hausärztliche Praxis, den aktuellen Wissensstand zusammen. „In Deutschland liegt die Indikationsgrenze derzeit bei einem 20-prozentigen Risiko, dass innerhalb von zehn Jahren ein kardiovaskuläres Ereignis (zum Beispiel Herzinfarkt) auftritt. Im europäischen Ausland liegt die Indikationsschwelle meist bei 10 Prozent. Auch Deutschland sollte diesen Wert insbesondere für Jüngere bei 10 Prozent ansetzen, um eine problematische Verzögerung der Behandlung zu vermeiden.“