Autor: Simone Schwarzer

  • Systemische Therapie

    Im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) den Nutzen und Schaden der Systemischen Therapie bei Kindern und Jugendlichen mit einer psychischen Störung bewertet. In folgenden Anwendungsbereichen zeigten sich dabei Vorteile der Systemischen Therapie gegenüber den jeweiligen Vergleichsbehandlungen: Angststörungen und Zwangsstörungen, Essstörungen, hyperkinetische Störungen sowie psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen. Bei gemischten Störungen erwies sie sich als vergleichbar mit einer Richtlinientherapie. Für den Anwendungsbereich affektive Störungen sieht das IQWiG hingegen einen Nachteil gegenüber anderen Therapieoptionen.

    Für Erwachsene ist die Systemische Therapie bereits Kassenleistung

    Die Systemische Therapie ist ein psychtherapeutisches Verfahren zur Behandlung von psychischen Störungen. Leitgedanke der Systemischen Therapie ist, dass soziale Beziehungen – vor allem innerhalb der Familie – eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Behandlung psychischer Störungen spielen.

    Anders als die analytische Psychotherapie, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und die Verhaltenstherapie zählt die Systemische Therapie bislang in Deutschland nicht zu jenen psychotherapeutischen Verfahren, die als ambulante Leistung in der gesetzlichen Krankenversicherung zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen eingesetzt und erstattet werden. Die Systemische Therapie zur Behandlung von Erwachsenen wurde hingegen 2019 in die dafür maßgebliche Psychotherapie-Richtlinie des G-BA aufgenommen und zählt somit zu den sogenannten Richtlinientherapien.

    Vor diesem Hintergrund hat der G-BA das IQWiG im August 2021 mit der Nutzenbewertung der Systemischen Therapie als Psychotherapieverfahren bei Kindern und Jugendlichen mit einer psychischen Störung beauftragt.

    Positive Effekte in fünf Anwendungsbereichen

    Die IQWiG-Bewertung „Systemische Therapie als Psychotherapieverfahren bei Kindern und Jugendlichen“ basiert auf der Auswertung von 42 randomisierten kontrollierten Studien. Gegenüber dem Vorbericht kamen damit fünf ausgewertete Studien hinzu. Die meisten dieser Studien lassen sich sieben Anwendungsbereichen zuordnen. Die anderen Studien hat das IQWiG in einem eigenen zusätzlichen Bereich namens „gemischte Störungen“ betrachtet.

    Die Systemische Therapie wurde in den ausgewerteten Studien nicht nur mit anderen Psychotherapieverfahren und Medikamenten verglichen, sondern auch mit sonstigen unterstützenden Maßnahmen. Über alle Vergleiche hinweg sieht das Institut in fünf Anwendungsbereichen positive Effekte der Systemischen Therapie bei Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen:

    • Im Anwendungsbereich Angststörungen und Zwangsstörungen zeigt die Systemische Therapie in Kombination mit einer Richtlinientherapie Vorteile gegenüber einer alleinigen Richtlinientherapie.
    • Im Anwendungsbereich Essstörungen ergeben sich sowohl beim Vergleich „Systemische Therapie versus Psychotherapie, die keiner Richtlinientherapie entspricht“ als auch beim Vergleich „Systemische Therapie versus sonstige Behandlungen“ Vorteile zugunsten der Systemischen Therapie.
    • Im Anwendungsbereich hyperkinetische Störungen ist die Systemische Therapie in Kombination mit einer medikamentösen Behandlung einer alleinigen medikamentösen Behandlung überlegen.
    • Im Anwendungsbereich psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen hat die Systemische Therapie Vorteile im Vergleich zu einer Richtlinientherapie.
    • Im definierten Bereich gemischte Störungen zeigt sich ein vergleichbarer Nutzen der Systemischen Therapie gegenüber einer Richtlinientherapie.

    In den Anwendungsbereichen Störungen des Sozialverhaltens und seelische Krankheit auf Grund frühkindlicher emotionaler Mangelzustände lässt sich aus den Studien nicht ableiten, ob die Systemische Therapie Vor- oder Nachteile im Vergleich zu anderen Behandlungen hat.

    Im Anwendungsbereich affektive Störungen zeigen Studien Nachteile der Systemischen Therapie im Vergleich zu einer Richtlinientherapie.

    Die Bewertung wurde dadurch erschwert, dass in den beiden wichtigen Vergleichen „Systemische Therapie versus Richtlinientherapie“ und „Systemische Therapie versus medikamentöse Behandlungen“ entweder keine Studien oder nur wenige Studien vorlagen.

    G-BA entscheidet über Systemische Therapie als Kassenleistung auch für Kinder

    „Auch wenn die Datenlage teilweise dünn ist: Wie bei Erwachsenen gibt es auch es bei Kindern und Jugendlichen in mehreren Anwendungsbereichen Anhaltspunkte für einen Nutzen der Systemischen Therapie gegenüber anderen Behandlungen – zum Teil sogar gegenüber einer Richtlinientherapie“, fasst Martina Markes vom Ressort Nichtmedikamentöse Verfahren die IQWiG-Bewertung zusammen.

    Die Entscheidung darüber, ob nun auch die Systemische Therapie bei Kindern und Jugendlichen als Psychotherapieverfahren in die Psychotherapie-Richtlinie aufgenommen wird, obliegt dem G-BA.

    Zum Ablauf der Berichtserstellung

    Die vorläufigen Ergebnisse, den Vorbericht, hatte das IQWiG im August 2022 veröffentlicht und zur Diskussion gestellt. Nach Abschluss des Stellungnahmeverfahrens überarbeitete das Projektteam den Vorbericht und versandte ihn im Januar 2023 als Abschlussbericht an den Auftraggeber, den G-BA. Die eingegangenen schriftlichen Stellungnahmen werden in einem eigenen Dokument zeitgleich mit dem Abschlussbericht publiziert.

    Originalpublikation Abschlussbericht: https://www.iqwig.de/projekte/n21-03.html

    Pressestelle des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), 24.02.2023

  • Medienabhängigkeit bei Kindern und Jugendlichen

    In der Pandemie hat sich die Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen verdoppelt. Inzwischen sind mehr als sechs Prozent der Minderjährigen abhängig von Computerspielen und sozialen Medien. Damit zeigen über 600.000 Jungen und Mädchen ein pathologisches Nutzungsverhalten. Auch die Medien-Nutzungszeiten sind seit 2019 um ein Drittel gestiegen. Das zeigt eine aktuelle gemeinsame Längsschnittstudie der DAK-Gesundheit und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE).

    Der Vergleich der digitalen Mediennutzung von Kindern, Jugendlichen und deren Eltern in bundesweit 1.200 Familien an fünf Messzeitpunkten der vergangenen vier Jahre gilt als weltweit einzigartig. Erstmals wurde jetzt auch das Suchtpotential beim Streaming und körperliche Probleme untersucht. DAK-Vorstandschef Andreas Storm und Mediziner sehen eine alarmierende Entwicklung und fordern mehr Prävention und Hilfsangebote für die Betroffenen.

    Nach der aktuellen Studie von DAK-Gesundheit und UKE Hamburg stieg die Zahl abhängiger Kinder und Jugendlicher bei Computerspielen von 2,7 Prozent im Jahr 2019 auf 6,3 Prozent im Juni 2022. Hochgerechnet haben damit rund 330.000 Jungen und Mädchen nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine krankhafte Gaming-Nutzung mit schweren sozialen Folgen. Die aktuellen Ergebnisse Längsschnittstudie zeigen: Rund 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche nutzen Gaming, Social Media oder Streaming problematisch, das heißt sie sind suchtgefährdet oder bereits betroffen. Im Bereich Social Media verdoppelte sich die Mediensucht von 3,2 auf 6,7 Prozent mit rund 350.000 Betroffenen. Laut Studie zeigen rund 1,8 Millionen Kinder und Jugendliche eine problematische Nutzung bei Computerspielen und oder sozialen Medien.

    „Die aktuellen Zahlen und die Entwicklung in der Pandemie sind alarmierend“, sagt Andreas Storm, Vorstandschef der DAK-Gesundheit. „Wenn jetzt nicht schnell gehandelt wird, rutschen immer Kinder und Jugendliche in die Mediensucht und der negative Trend kann nicht mehr gestoppt werden.“ Als Reaktion müssten Prävention und Hilfsangebote ausgebaut werden und neue Akzente in der Bildungs- und Familienpolitik gesetzt werden.

    Nutzungszeiten von Computerspielen und Social Media weiter angestiegen

    Laut Studie von DAK-Gesundheit und UKE-Hamburg sind Nutzungszeiten von Computerspielen und Social Media weiter angestiegen. Nach einer starken Zunahme im ersten Corona-Lockdown im April 2020 gab es zunächst einen Rückgang. Diese positive Entwicklung setzte sich jedoch nicht fort: Im Juni 2022 lagen die Nutzungszeiten beim Gaming mit 115 Minuten an Werktagen knapp 34 Prozent höher als im September 2019 vor der Pandemie. Einen ebenso deutlichen Anstieg gab es im gleichen Zeitraum bei den sozialen Medien mit 35,5 Prozent von 121 Minuten auf 164 Minuten täglich.

    Erstmals untersuchte die Studie auch die körperlichen Auswirkungen exzessiver Mediennutzung. Das Ergebnis: Ein Drittel der Befragten klagt nach mehrstündiger Nutzung von digitalen Geräten über Nackenschmerzen (32,1 Prozent). 23,4 Prozent haben trockene oder juckende Augen, 16,9 Prozent gaben an, Schmerzen im Unterarm oder der Hand zu haben.

    Streamingzeiten rückläufig

    Seit November 2020 untersucht die Studie auch das Streamingverhalten von Kindern und Jugendlichen. Hier zeigte sich einen Rückgang im Vergleich zum vorherigen Messzeitpunkt: Im Juni 2022 streamten die Befragten an einem durchschnittlichen Werktag 107 Minuten Videos und Serien. Die Zahlen liegen damit auf einem ähnlichen Niveau wie 2020 (104 Minuten) und deutlich niedriger als 2021 (170 Minuten). Insgesamt nutzten rund 733.000 Kinder und Jugendliche Streaming riskant, 2,4 Prozent zeigen ein pathologisches Nutzungsverhalten. Das entspricht rund 126.000 Betroffenen.

    Schnittmengen bei problematischer Nutzung

    Das Ausmaß der Gesamtproblematik wird insbesondere bei der Betrachtung der Schnittmengen deutlich: 5,1 Prozent aller Befragten zeigen eine problematische Nutzung von Gaming und Social Media, was rund 270.000 Betroffenen entspricht. 1,1 Prozent nutzt darüber hinaus auch Streaming-Angebote problematisch – 58.000 Kinder und Jugendliche wären damit von diesem riskanten Dreiklang betroffen.

    „Die Ergebnisse unserer Studie machen erneut deutlich, dass die andauernde Covid-19-Pandemie unseren Umgang mit digitalen Medien nachhaltig verändert hat und dass insbesondere Kinder und Jugendliche unter den Einschränkungen litten“, sagt Prof. Dr. Rainer Thomasius, Ärztlicher Leiter am Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) im UKE. „Trotz zunehmender Lockerungen der Corona-Verordnungen bleiben digitale Medien weiterhin ein wichtiger Bestandteil in der Aufrechterhaltung von Kontakten, der Bekämpfung von Langeweile oder der Beschaffung von Informationen. Sie können bei manchen aber auch dazu dienen, Gefühle von Einsamkeit, sozialer Isolation und Kontrollverlust, aber auch Stress und andere negative Gefühle zu kompensieren. Diese Nutzerinnen und Nutzer sind besonders gefährdet, eine Sucht zu entwickeln.“

    Nach Einschätzung des Suchtexperten Thomasius führt eine exzessive Mediennutzung oft zu Kontrollverlust mit weitreichenden Folgen. „Da persönliche, familiäre und schulische Ziele in den Hintergrund treten, werden alterstypische Entwicklungsaufgaben nicht angemessen gelöst“, erklärt er. „Ein Stillstand in der psychosozialen Reifung ist die Folge. Die Ergebnisse unserer Studie machen einmal mehr deutlich, wie wichtig Präventions- und Therapieangebote für Kinder und Eltern sind.“

    Geschlechterunterschiede und Altersstruktur

    Insgesamt sind Jungen häufiger suchtgefährdet oder bereits von einer Sucht betroffen als Mädchen – insbesondere beim Gaming. So zeigen 18,1 Prozent der Kinder und Jugendlichen eine problematische Nutzung digitaler Spiele. Davon sind 68,4 Prozent Jungen. Bei den sozialen Medien, die 23,1 Prozent aller Befragten problematisch nutzen, ist die Verteilung mit 52,1 Prozent (Jungen) bzw. 47,9 Prozent (Mädchen) hingegen etwas ausgewogener. Im Hinblick auf die Altersstruktur zeigt sich, dass besonders ältere Jugendliche deutlich häufiger eine Abhängigkeit von digitalen Medien zeigen.

    „Auch nach der Corona-Pandemie ist eine riskante Mediennutzung bei vielen Kindern und Jugendlichen Alltag“, sagt Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte e.V. (BVKJ). „Jetzt ist es wichtiger denn je, die Prävention zu stärken, allen voran im schulischen Bereich. Ebenso wichtig ist aber auch die Früherkennung von Mediensucht, beispielsweise durch ein Mediensuchtscreening in der Kinder- und Jugendarztpraxis.“

    Über die Studie

    Die repräsentative DAK-Längsschnittstudie zur Mediennutzung im Verlauf der Corona-Pandemie untersucht die Häufigkeiten pathologischer und riskanter Nutzung von Spielen, sozialen Medien und Streamingdiensten bei Kindern und Jugendlichen basierend auf den neuen ICD-11-Kriterien der WHO. Bundesweit wurden rund 1.200 Familien nach ihrem Medienverhalten befragt. Die DAK-Gesundheit führt dazu gemeinsam mit dem Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf in mehreren Wellen Befragungen durch das Meinungsforschungsinstitut Forsa durch. Dafür wird eine repräsentative Gruppe von Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen zehn und 17 Jahren mit je einem Elternteil zu ihrem Umgang mit digitalen Medien an bisher fünf Messzeitpunkten befragt. Nach den Befragungen im September 2019, im April 2020, im November 2020 und im Mai 2021 spiegeln die aktuellen Erkenntnisse die Ergebnisse der jüngsten Befragung im Juni 2022 wider. Die Studie, die Zusammenhänge zwischen Nutzungsmustern, Nutzungsmotiven und familiären Nutzungsregeln über den Verlauf der Pandemie hinweg untersucht, ist weltweit einmalig.

    Aktuelle Angebote

    Für Kinder und Jugendliche, die ein problematisches Mediennutzungsverhalten haben, sowie für deren Eltern hat die DAK-Gesundheit gemeinsam mit dem DZSKJ eine Online-Anlaufstelle Mediensucht entwickelt: Auf www.mediensuchthilfe.info erhalten Betroffene und deren Angehörige Informationen und Hilfestellungen rund um die Themen Gaming-, Social-Media- und Streaming-Sucht. Am Mittwoch, den 29. März, stellt das DZSKJ darüber hinaus eine Hotline für betroffene Kinder und Jugendliche sowie deren Angehörige bereit. Unter der Telefonnummer 0800 2 800 200 geben Suchtexpertinnen und -experten des UKE von 9 bis 16 Uhr Antworten auf Fragen rund um das Thema Mediensucht. Das Serviceangebot ist kostenlos und steht Versicherten aller Kassen offen.

    Pressestelle der DAK-Gesundheit, 14.3.2023

  • Vermittlung in der Suchtberatung – eine Aufgabe für sozialarbeiterische Fachkräfte

    Vermittlung in der Suchtberatung – eine Aufgabe für sozialarbeiterische Fachkräfte

    Prof. Dr. Rita Hansjürgens

    Bei Menschen mit einer Substanzkonsumstörung oder einer verhaltensbezogenen Störung findet sich häufig eine „Multiproblemlage“ (z. B. Giersberg et al. 2015). Diese Konstellation erfordert es, Hilfe in verschiedenen Hilfekontexten anzubieten. Dafür stehen in einem konkreten regionalen Sozialraum in der Regel verschiedene Angebote bereit, die in der Lage sind bzw. extra dafür eingerichtet wurden, Menschen mit süchtigem Substanzkonsum oder einer Verhaltenssucht zu unterstützen (s. Abb. 1).

    Abb. 1: Suchthilfebezogene Angebote im kommunalen Raum (eigene Darstellung)

    Die in Abb. 1 genannten Unterstützungsangebote sind eine idealtypische Beschreibung. Sie agieren in Bezug auf die oben angesprochenen „Multiproblemlagen“ als (Sucht-)Hilfenetzwerk, zu dem auch die Angebote der Suchtselbsthilfe gehören. Die Fokussierung auf die Substanzkonsumstörung ist dabei mehr oder weniger explizit.

    Häufig stellen Angebote mit verschiedenen sozialrechtlichen Kontexten in einem regionalen Suchthilfesystem eine Sonderform für Menschen mit Suchterfahrungen – gemeint sind Menschen mit substanz- und verhaltensbezogenen Störungen und Beeinträchtigungen sowie ihr soziales Umfeld – dar. Zu den unterschiedlichen sozialrechtlichen Kontexten gehören z. B. der versicherungsrechtliche Leistungsanspruch, Eingliederungshilfe, Jugendhilfe oder Jobcenter. Diese Vielfalt führt dazu, dass je nach sozialrechtlichem Hintergrund die Logiken und Ressourcen, mit denen Menschen mit Substanzkonsumstörung erreicht werden sollen, recht unterschiedlich sind und dass häufig erstmal ein gemeinsames Fallverständnis konstruiert werden muss, um Unterstützungsleistungen tatsächlich, und nicht nur prinzipiell, zu ermöglichen (vgl. Blankenburg und Hansjürgens 2022) (dies gilt auch für andere Personengruppen mit interprofessionellem Unterstützungsbedarf, z. B. Krebspatient:innen). So besteht z. B. im sozialversicherungsrechtlichen Kontext der medizinisch orientierten Suchthilfe seit 1968 ein Rechtsanspruch auf Behandlung explizit für Personen mit einer Substanzkonsumstörung. Dies gilt jedoch nicht in allen Bereichen. So ist z. B. im Kontext der Eingliederungshilfe, insbesondere nach der Neuordnung durch das BTHG, der Status von suchterfahrenen Menschen noch nicht in allen Bereichen geklärt und bringt für die unterstützende Organisation, z. B. beim Stellen notwendiger Anträge für die Leistungsgewährung, Unsicherheiten. Der Leistungsanspruch muss hier über ein spezifisches Konstrukt, z. B. Behinderung, begründet werden (vgl. Tranel und Hansjürgens 2022).

    Darüber hinaus gibt es weitere professionelle Hilfeangebote, für die zwar kein Antrag nötig ist, deren Mitarbeitende aber Menschen mit süchtigem Substanzkonsum oder einer Verhaltenssucht nicht immer ohne Misstrauen begegnen (z. B. Jugendhilfe, komplementäre Hilfen, Jobcenter etc.). Nicht zu vergessen sind die Angebote der Selbsthilfe, die einer weiteren Logik folgen, nämlich der der Peer-Unterstützung und Genesungsbegleitung. Hier sind häufig informelle Zugänge und Logiken des Zugangs zu beachten.

    Funktion Suchtberatung als zentrale Schnittstelle für Vermittlung

    Um in dieser Komplexität eine passgenaue Hilfe für Betroffene und ihr soziales Umfeld zu ermöglichen, fungiert die Suchtberatung als sektorenübergreifende Schnittstelle. Darin hat sie sich bis heute als unverzichtbar erwiesen (Hansjürgens und Schulte-Derne 2021). Eine ihrer in diesem Zusammenhang als zentral angesehenen Tätigkeiten ist die „Vermittlung“. Diese Vermittlung soll einerseits dazu dienen, passende Hilfeangebote für Personen zu finden bzw. Fehlallokationen (= falsche Zuordnungen) zu vermeiden (Gatekeeperfunktion), andererseits soll sie – bei einer grundsätzlich angenommenen Ambivalenz zur Annahme von Hilfen – die Motivation zur Annahme von Hilfen, insbesondere im medizinischen Kontext (Entzug und medizinische Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen), herstellen (Brückenfunktion und Motivierung) (Hansjürgens 2018).

    Dass dieses Unterfangen nicht trivial zu sein scheint, zeigt sich in bisher gescheiterten Versuchen, diese „Vermittlung“ aus administrativer Sicht weniger aufwendig zu gestalten, indem sogenannte bürokratische Hürden gesenkt wurden. Konzipiert wurde ein Verfahren mit der Bezeichnung „Direkt- oder Nahtlosvermittlungen“ aus dem medizinischen Sektor (z. B. Arztpraxen oder Krankenhäuser) in die medizinische Rehabilitation. Empirisch untersucht wurde der Versuch, Hausärzt:innen mit Hilfe evidenzbasierter Screening- und Kurzinterventionsverfahren und der Möglichkeit einer Direktvermittlung in stationäre Rehabilitation zu ermutigen, hier aktiver vorzugehen und einen neuen Behandlungspfad zu etablieren (Fankhänel et al. 2014). Dieser Versuch wurde im Rahmen der Studie als grundlegend gescheitert beurteilt (ebd.).

    Darüber hinaus zeigt die Deutsche Suchthilfestatistik, dass über alle Substanzen hinweg nur ein Prozent der Vermittlungen in stationäre Rehabilitation aus ärztlichen und psychotherapeutischen Praxen erfolgt, und 16,8 Prozent erfolgen aus psychiatrischen Krankenhäusern (möglicherweise aus dem Entzug) (IFT Institut für Therapieforschung 2022b, Tab. 2.11). Demgegenüber wurden aus Einrichtungen der ambulanten Suchtberatung 54,3 Prozent der Personen, die eine Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen antraten, vermittelt (ebd.).

    Diese Datenlage gibt Anlass zu fragen, welche Plausibilitäten die gute Funktionalität der Leistung „Vermittlung“ der Suchtberatung gegenüber anderen Instanzen erklären können. Da Vermittlung in diesem Kontext zu einem weit überwiegenden Teil innerhalb der Leistung „Sucht- und Drogenberatung“ (IFT Institut für Therapieforschung 2022a, Tab. E 6) durch Fachkräfte der Sozialen Arbeit angeboten wird, soll für den nachfolgenden Plausibilisierungsversuch die handlungstheoretische Perspektive Sozialer Arbeit eingenommen werden.

    Vermittlung als sozialarbeiterische Tätigkeit im Kontext von Suchtberatung

    Aus der Perspektive von Leistungsträgern wird Vermittlung häufig als formaler administrativer Akt verstanden, bei dem Klient:innen sowohl über prinzipiell zur Verfügung stehende Hilfeangebote informiert werden als auch handlungspraktische Unterstützung beim Erstellen der dafür notwendigen Anträge erhalten. Aus dieser Perspektive ist Vermittlung eine Art „Clearing- und Durchgangsstation“ mit vorbereitendem bzw. zuarbeitendem Charakter auf dem Weg zu einer „eigentlichen Leistung“. Die oben dargestellte empirische Datenlage zeigt jedoch, dass sich die Performanz von Vermittlung in der Suchtberatung allein über diese Sichtweise nicht plausibilisieren lässt. Um etwas handlungstheoretisches Licht in diese Blackbox zu bringen, soll hier eine Perspektivenerweiterung aus sozialarbeiterischer Sicht vorgenommen werden.

    Will man die oben beschriebene empirisch sichtbare Performanz von Suchtberatung in Bezug auf Vermittlung in stationäre Rehabilitation besser verstehen – was zu einer Erklärung des Erfolges durch die fachliche Leistung Sozialarbeitender führt –, kommen neben der administrativen Dimension mindestens noch drei weitere Dimensionen dazu (s. Abb. 2):

    Abb. 2: Multiperspektivischer Blick auf Vermittlung (eigene Darstellung)

    Suchtberatung zeichnet sich demnach durch folgende vier Dimensionen aus:

    • die administrative Perspektive: Information über bestehende Hilfeangebote, Unterstützung bei Antragstellung
    • die inhaltliche Perspektive: Themen, die zum Inhalt gemacht und verhandelt werden
    • die Beziehungsperspektive: das Geschehen zwischen den Akteur:innen (Klient:in und Sozialarbeiter:in)
    • die theoretische Perspektive: die Frage, wie sich das Geschehen im Rahmen der Vermittlung aus system- bzw. sozialarbeitstheoretischer Sicht erklären lässt

    Weiter ist zu fragen, in welchen Wechselwirkungen diese Perspektiven zueinanderstehen und was dies für die Handlungsebene (Inhalt und Interaktion) einer sozialarbeiterischen Fachkraft bedeuten kann.

    Vermittlung als inhaltliches Geschehen

    Betrachtet man Vermittlung aus einer inhaltlichen Perspektive, stellt sich die Frage, welche Themen mit welcher Priorisierung verhandelt werden. Zunächst einmal wäre hier – mit Blick auf empirische Rekonstruktionen in der Suchtberatung (Hansjürgens 2014, 2018) und eine darauf Bezug nehmende handlungstheoretische Konzeptionalisierung – die sozialarbeiterische Fallkonstruktion (Hansjürgens 2022) zu nennen. Kernelement dieser Konstruktion ist, dass Klient:innen Raum gegeben wird bzw. gegeben werden sollte, sich und ihre aktuelle Situation klarer wahrzunehmen, zu verstehen und darüber sprechen zu können. Dadurch soll Klient:innen die Erfahrung ermöglicht werden, dass sie sich verständlich machen können und gehört werden. Dies hat häufig den Effekt, dass Klient:innen in einer möglicherweise für sie unübersichtlich gewordenen Situation wieder selbstwirksam agieren und das Gefühl von Kontrolle über Geschehnisse zurückbekommen und sich für Reflexionen öffnen können.

    Gleichzeitig werden in diesem erstmal primär auf die Darstellungen der Klient:innen ausgerichteten und manchmal wenig formal geordneten Verständigungsprozess häufig wichtige Detailinformationen gegeben (z. B. in Bezug auf die berufliche Situation, die familiäre Situation, die Wohnsituation). Diese Details mögen zwar in einem als administrativ verstandenen Vermittlungsprozess eine untergeordnete Rolle spielen, sind aber für die Klient:innen persönlich von hoher Bedeutung. Nicht selten geben diese Details wichtige Hinweise darauf, wie ein Angebot gestaltet sein müsste, damit es für den oder die spezifische:n Klient:in annehmbar ist. Darüber hinaus können diese Informationen Erklärungen für eine möglicherweise bisher ambivalente Haltung gegenüber der Inanspruchnahme von Hilfen liefern. Eine ambivalente Haltung beruht nicht selten auf der oben erwähnten Multiproblemlage (existenzbedrohende materielle und soziale Umstände) und eher weniger darauf, dass der/die Klient:in die Hilfe nicht annehmen will.

    Diese prekäre Multiproblemlage drückt sich auch dadurch aus, dass die Klient:innen häufig nur (noch) wenig Wahlmöglichkeiten in Bezug auf ihre soziale Situation haben (z. B. Partner:in droht mit Verlassen; Jugendamt, Jobcenter oder Gericht haben eine Suchthilfemaßnahme zur Auflage gemacht; Vermieter:in droht mit Kündigung usw.). Diese sehr eingeschränkten Wahlmöglichkeiten in Bezug auf die eigene soziale Situation deuten neuere Konzeptionen als Mangel an Teilhabe (Bartelheimer et al. 2022, S. 26). Der Konsum psychoaktiver Substanzen wirkt in dieser Situation (genau wie bei psychischen Komorbiditäten) als kurzfristige Entlastung. Mittel- bzw. langfristig jedoch verstärkt sich die mangelnde Teilhabe durch das Konsumverhalten und es entwickelt sich eine Sucht.

    Diese Deutung und die Anerkennung, dass die soziale Situation als Belastung und akute Bedrohung erlebt wird, ermöglichen es, eine ambivalente oder ablehnende Haltung als Ausdruck der mangelnden Teilhabe zu verstehen, und nicht als Teil der Krankheit Sucht. Dies verändert die Perspektive auf den Fall insofern, als nicht die Substanzkonsumstörung oder Verhaltenssucht zuerst behandelt werden muss, um Teilhabe zu ermöglichen. Vielmehr kann durch die Erarbeitung von Wahloptionen im Rahmen des Vermittlungsprozesses, die sich auf verschiedene Bereiche und nicht nur auf ein Mitspracherecht bei der Einrichtungswahl beziehen können, erst ein Zugang zu subjektiv bedeutsamen Zielebenen in Bezug auf soziale Teilhabe geschaffen werden. Dies geht über eine Entwicklung von smarten Therapiezielen weit hinaus.

    Der Fokus auf die Selbstwahrnehmungen und Priorisierungen der Klient:innen ermöglicht es, die Situation des/der Klient:in noch genauer zu verstehen und im Dialog zu verdeutlichen, welche professionelle Unterstützung (z. B. durch eine Rehabilitation oder eine andere Maßnahme) Teilhabe wieder ermöglichen kann (vgl. Abb. 3). Hier ist es besonders wichtig, keine falschen Versprechungen zu machen, sondern eine realistische subjektiv bedeutsame Zukunftsvision zu entwickeln, die mit Hilfe professioneller Unterstützung realisiert werden könnte. Empirische Untersuchen zeigen, dass diese Zukunftsvision im Rahmen eines professionellen Prozessbogens Sozialer Arbeit eine zentrale Grundlage für „Motivation“ darstellt (Sommerfeld et al. 2018, S. 79).

    Abb. 3: Perspektive auf den Fall aus Sicht Sozialer Arbeit in der Suchtberatung (eigene Darstellung)

    Ein weiteres wichtiges Thema auf der inhaltlichen Ebene, das entscheidend ist für eine Passung von Bedarfen, Wünschen und Angebot, ist die Synchronisation von bisheriger Lebensführung und Veränderung. Die Lebensführung von Klient:innen zeigt sich aufgrund der Multiproblemlage und der daraus entstandenen mangelnden Teilhabe oft ressourcenarm und damit wenig flexibel. Klient:innen haben sich an diese häufig lang andauernde Situation gewöhnt und deshalb nicht selten eine wenig flexible, eigensinnig wirkende Haltung entwickelt, die als Widerstand gegen Veränderung oder auch als Überforderung gedeutet werden könnte. Durch die Erzählung des/der Klient:in können sich wichtige Hinweise auf eine für ihn/sie als angemessen erlebte Synchronisation (Timing) ergeben.

    Synchronisation bedeutet hier, das richtige Zeitfenster für mögliche Veränderungen zu finden bzw. nicht zu verpassen – nicht nur in Bezug auf das Antrittsdatum einer weiterführenden Maßnahme, sondern auch in Bezug auf Veränderungen in der Lebensführung (z. B. Verlust des Arbeitsplatzes, Auszug des/der Partner:in, andere bedeutsame Ereignisse im Leben des/der Klient:in). Synchronisation bedeutet, achtsam zu sein und jedes Mal im Vermittlungsprozess gemeinsam zu überlegen, was die mögliche Veränderung für die Annahme einer weiterführenden Hilfe bedeuten könnte. Grundsätzliche Optionen könnten sein, eine Beschleunigung oder eine Verlangsamung anzuregen oder ein passives Zuwarten auszuhalten, aber den /die Klient:in im Prozess zu halten. Dies erfordert eine achtsame, verstehensorientierte und geduldige Haltung der beratenden Person und bietet gleichzeitig für Klient:innen die erforderliche Sicherheit, in einer unsicheren Situation nicht aus dem Kontakt zu gehen.

    Aus der inhaltlichen Perspektive betrachtet entsteht die Motivierung bzw. die Ermutigung zum Wahrnehmen einer professionellen Unterstützung, z. B. einer Behandlung, dann, wenn für Klient:innen deutlich wird, dass sie in ihrer ganz persönlichen Situation gesehen werden, sich verständlich machen können, eine konkrete, für sie wahrnehmbare Unterstützung in der Bewältigung der aus ihrer Perspektive bedeutsamen Probleme erfahren und tatsächliche Wahlmöglichkeiten erhalten. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass die Diskussion einer gemeinsam getroffenen Auswahl von Handlungsoptionen, die aus der Perspektive der Klient:innen machbar erscheinen, wozu auch Bemühungen um ein gutes Timing (Synchronisation) gehören, eine (manchmal sehr langsam) wachsende Zuversicht stärken kann. Dieses Vorgehen sorgt zugleich dafür, dass Teilhabe ermöglicht und erfahren werden kann.

    Ein solches partizipatives, dialogisches Vorgehen verlangsamt den Vorgang einer Vermittlung mit zwei Zielen. Das erste Ziel besteht in der Stabilisierung und Selbstvergewisserung des/der Klient:in bezüglich einer häufig unter äußerem Druck getroffenen Entscheidung. Das zweite Ziel besteht darin, dass der/die Klient:in genug Zeit bekommt, um eine selbstverantwortete gute Wahl in Bezug auf Zeit und Ort einer weiterführenden Hilfe zu treffen. Letzteres erhöht die intrinsische Motivation, weil die eigene bewusst getroffene Entscheidung im Vordergrund steht, und nicht die Erfahrung des Getriebenseins. Zudem schränkt es die Gefahr einer Fehlallokation ein.

    Vermittlung als beziehungsorientiertes Geschehen

    Wie im vorausgehenden Abschnitt schon angedeutet, geht es im Rahmen von Vermittlung neben inhaltlichen Aspekten auch um Beziehungsaspekte, denn diese lassen sich nur analytisch, aber nicht in der Realität voneinander trennen. Eine Beziehung entwickelt sich immer, unabhängig davon, ob wir bewusst darauf Einfluss nehmen (wollen) oder nicht. Eine Erfahrung des Scheiterns oder des „Nicht-Funktionierens“ einer Beziehung ist verbunden mit der Entwicklung von Misstrauen. Dies gilt ebenso für Erfahrungen des Überprüft-Werdens (z. B. in der Frage, ob eine Person für eine bestimmte Maßnahme geeignet scheint), denn Menschen mit einer Substanzkonsumstörung waren solchen Erfahrungen in der Vergangenheit häufig ausgesetzt. Ob dies seine Berechtigung hatte oder nicht, spielt keine Rolle, denn die Erfahrung und Bewertung einer Situation ist davon unabhängig.

    Hinzu kommt, wie die Stigma-Forschung aus dem medizinischen und alltagsweltlichen Kontext zeigt, dass Menschen mit einer Substanzkonsumstörung mit Misstrauen und Ablehnung begegnet wird (Schmidt et al. 2022; Schomerus 2011; Schomerus et al. 2010). Auch im Kontext von Familien- und Jugendberatung konnte gezeigt werden, dass die Kommunikation im Zusammenhang mit einem als süchtig konnotierten Verhalten von Jugendlichen durch eine „Hermeneutik des Misstrauens“ (Cleppien 2012) geprägt ist. Das bedeutet, dass Schilderungen von Personen mit substanzbezogenen Störungen nicht selten als nicht wahrheitsgemäß oder verlässlich gedeutet werden.

    Für den Kontext von Vermittlung als beziehungsorientiertem Geschehen bedeutet dies, dass davon auszugehen ist, dass Klient:innen eher nicht mit einem generalisierten Vertrauen oder mit einer neutralen Einstellung in die vermittelnde Institution, z. B. die Suchtberatung, kommen, sondern eher mit der Erfahrung des Misstrauens – es sei denn, sie hätten z. B. im Rahmen der Organisation oder Institution von Suchthilfe schon einmal vertrauensfördernde Erfahrungen gemacht. Eine misstrauisch bewertete Beziehung hat jedoch die Tendenz, dass sich das Misstrauen der Beteiligten gegenseitig verstärkt, wenn nicht aktiv dagegen gearbeitet wird. Misstrauen in der Beziehung hat Auswirkungen auf die Qualität der inhaltlichen Aussagen. Dabei geht es nicht darum, dass Klient:innen bewusst falsche oder unzureichende Angaben machen, sondern darum, dass eine mit Vertrauen bewertete Beziehung sich darin zeigt, dass Klient:innen proaktiv mitarbeiten und benötigte Informationen auch geben (sich öffnen) und nicht zurückhalten oder sich gehemmt fühlen, sie zu geben, wie Arnold (2009, S. 182 f.) in einer Studie im Rahmen von stationärer Jugendhilfe herausgearbeitet hat. Vertrauen oder Misstrauen stellt sich nicht explizit, sondern eher subtil, als „interpersonelle Atmosphäre“ oder „wechselseitige leibliche Resonanz und Affektabstimmung“ her (Fuchs 2015, S. 104). Vertrauen kann also nicht erzwungen oder rationalisiert werden, sondern muss in der Interaktion erfahren werden, sozusagen als Gegenerfahrung zu bisher Erlebtem. Erschwerend kommt hinzu, dass Klient:innen mit einer Substanzkonsumstörung nicht selten unter zusätzlichen Störungen wie z. B. einer komplexen Traumatisierung, einer Borderlinestörung, einer Depression oder Angststörung leiden. Auch dieser Umstand wirkt sich aus, und es kann sich eine eher misstrauische als eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung entwickeln.

    So wird plausibel, dass der Akt der Vermittlung nicht nur ein rationaler Prozess, ausgehend von objektivierbaren Bedarfen und Hemmnissen, ist, sondern auch zentraler Dreh- und Angelpunkt der Entwicklung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung (Hansjürgens 2019). Die Unterstützung der Entwicklung in Richtung Vertrauen vor dem Hintergrund einer eher misstrauischen Alltags- und medizinischen/sozialen Fachwelt sowie einer psychischen Beeinträchtigung, die sich ebenfalls auswirkt, kann daher als explizit fachliche Leistung von Sozialarbeitenden beschrieben werden.

    Gelingt es den Fachkräften in den Beratungsstellen nicht, das bei den suchterfahrenen Personen in ihrer Vorgeschichte entstandene Misstrauen durch die sog. Beziehungsarbeit im Rahmen von Vermittlung zu wandeln, und entwickelt sich eine eher misstrauische Arbeitsbeziehung, führt dies zur gegenseitigen Ausübung von Macht. Klient:innen üben z. B. Macht aus, indem sie nicht die benötigten Informationen geben, sich nicht motiviert verhalten und letztlich nicht kooperieren, indem sie z. B. nicht zu Terminen erscheinen oder den Kontakt abbrechen. Dieses Verhalten wiederum bestärkt Fachkräfte in ihrer ebenfalls misstrauischen Einstellung gegenüber Klient:innen, sodass letztlich ein gegenseitiges Misstrauen entsteht.

    Folglich ist die oben angesprochene Teilhabe (siehe „Vermittlung als inhaltliches Geschehen“) kein ausschließlich normativer Aspekt, der sich administrativ auf ein „Wunsch- und Wahlrecht“ reduzieren ließe, sondern ein funktionaler: Teilhabe (in Form von ermöglichten und reflektierten Wahloptionen) stärkt Vertrauen, Vertrauen fördert Vermittlung. Vertrauensfördernd wirkt, wenn sich Klient:innen und Berater:innen verständigen zu können, wenn sie realistische Möglichkeiten miteinander erarbeiten, wenn ein transparenter Umgang mit administrativen Herausforderungen herrscht, wenn Klient:innen konkrete Unterstützung, Zeit, emotionalen Rückhalt und Sicherheit in Krisenphasen erfahren, wenn ein „Ankommen“ zunächst in der vermittelnden Organisation und dann in der Organisation, in die vermittelt wurde, möglich wird. Misstrauen wird erzeugt durch für Klient:innen intransparente administrative Überprüfungen, personellen Wechsel, unklare Verständigungsprozesse, die Erwartung einer einseitigen Anpassung und durch Versprechungen, die (gefühlt) nicht eingehalten werden. Organisationsinterne Abläufe im Kontext von Vermittlung sollten diesbezüglich reflektiert werden.

    Die Entwicklung gegenseitigen Vertrauens vor dem Hintergrund der häufig durch Misstrauen geprägten Erfahrungen der Klient:innen ist eine wichtige Prämisse dafür, dass sich Klient:innen auf unbekanntes Terrain begeben, dass sie sich für professionelle Unterstützung entscheiden und der Übergang in eine andere oder erweiterte Hilfeform gelingen kann.

    Vermittlung aus system- und sozialarbeitstheoretischer Perspektive

    In einer empirischen Untersuchung beschreiben Sommerfeld et al. (2011) die Integration von Klient:innen in eine stationäre (psychiatrische) Einrichtung und auch das Heraustreten aus dieser zurück in das „normale“ Leben aus einer systemtheoretischen Perspektive als „Phasenübergang“ zwischen zwei sozialen Ordnungen. Weiter konzipieren sie aus einer sozialarbeitstheoretischen Perspektive die Rolle Sozialer Arbeit in diesem Kontext als Begleitung und Unterstützung eines solchen Phasenübergangs. Sie konnten empirisch zeigen, dass in Fällen, in denen es gelingt, diese Übergänge gut durch eine Fachkraft zu begleiten, Veränderungsprozesse von Klient:innen stabilisiert werden und daher besser gelingen können. Dieser Effekt erklärt sich dadurch, dass Phasenübergänge viel Energie benötigen und die Menschen im Vorfeld und auch noch einige Zeit nach dem erfolgten Übergang besonders krisenanfällig sind. Die Krisenanfälligkeit nach dem Übergang kann dazu führen, dass Menschen in alte Verhaltensweisen „zurückfallen“, was gerade im Kontext einer Suchterkrankung ein bekanntes Phänomen nicht nur in Bezug auf den Konsum darstellt.

    Weiter konnten die Forschenden beobachten, dass sich Krisen im Zusammenhang mit Phasenübergängen ankündigen und auch noch nach dem erfolgten Übergang, den sie als „Sprung“ bezeichnen, eine Weile beobachtbar sind, z. B. durch stärkere Unruhe und Erregungszustand der Patient:innen. Gerade in der Phase des Übergangs entscheidet sich, ob die anvisierten Veränderungen auch unter anderen Kontextbedingungen aufrechterhalten werden können. Dieses Phänomen des Phasenübergangs ist aus posttherapeutischen Kontexten bekannt und wird in Suchtberatungsstellen strukturell durch z. B. Nachsorge aufgefangen. Neu wäre, diese theoretischen Erkenntnisse auch für eine prätherapeutische oder sonst wie geartete Veränderung im Rahmen von Vermittlung zu nutzen und konzeptionell einzubinden.

    Aus sozialarbeitstheoretischer Perspektive kann Vermittlung als Ermöglichung von Teilhabe an professionellen Hilfen betrachtet werden (Sommerfeld et al. 2016), die spezifische Voraussetzungen benötigen, um ihre Wirkung entfalten zu können. Erst dadurch, dass Klient:innen in einer für sie schwierigen Lage zunächst stabilisiert werden, um weitere Eskalationen zu verhindern, und dann auf eine Neujustierung ihrer psychosozialen und manchmal auch biologischen Situation (falls schon irreparable Schäden eingetreten sind) vorbereitet werden, können suchttherapeutische Hilfen wirken. Hierfür muss es gelingen, dass Klient:innen wieder Vertrauen in die Hilfe, aber auch in sich selbst, gewinnen und eine Idee davon entwickelt haben, was die Zukunft für sie bereithalten könnte, wenn sie sich auf das Angebot einlassen. Bei Menschen mit noch starken Ressourcen gelingt dies einfacher. Menschen, deren Teilhabe am sozialen Leben schon sehr eingeschränkt ist, brauchen dafür mehr und intensivere Unterstützung durch Sozialarbeitende in der Suchtberatung.

    Konzeptionelle und praktische Implikationen

    Phasenübergänge sind eine krisenanfällig Zeit und erfordern bei den Klient:innen viel Energie, um den „Sprung“ in eine neue soziale Ordnung zu vollziehen und diese auch aufrechtzuerhalten. Daher sollten diese Übergänge schon im Vorfeld engmaschig beobachtet und so lange begleitet werden, bis sich ein neues Ordnungsmuster (z. B. in einer suchtbezogenen Hilfe ankommen und diese nutzen) stabil etabliert hat. Vermittelt werden kann in verschiedenste professionelle Unterstützungsangebote und in Selbsthilfe. Damit Vermittlung erfolgreich ist, kann es notwendig werden, Klient:innen im Vorfeld der Nutzung weitergehender Unterstützungsmaßnahmen zu stabilisieren und auch ggf. Verhaltensänderungen zu erarbeiten, die notwendig sind, um dort „ankommen“ zu können (z. B. Termine verlässlich wahrnehmen, Konsum kontrollieren / Abstinenz einhalten). Die beidseitige Entwicklung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung spielt dabei eine wichtige Rolle. Darüber hinaus werden im Rahmen von Vermittlung zentrale inhaltliche Daten generiert, die es erst ermöglichen, dass eine weitergehende Maßnahme personenzentriert dialogisch mit dem / der Klient:in ausgewählt werden kann und somit Fehlallokationen mindestens eingeschränkt werden können.

    Auf der inhaltlichen Verfahrensebene bieten Instrumente sozialer Diagnostik erste Möglichkeiten eines angeleiteten (selbst-)reflexiven Umgangs mit der Situation (Hansjürgens 2020). Die in diesem Zusammenhang gemeinsam erhobenen Daten liefern wichtige Informationen für Therapieplanung und können auch in die administrativ vorgegebenen Formulare eingespeist werden. Mit diesen Informationen kann eine Übergangssituation so gestaltet werden, dass Klient:innen in weiterführenden Hilfen „ankommen“ können: Sie erfahren, dass dort inhaltlich an bereits Berichtetes angeknüpft wird und nicht „alles von vorn“ beginnt. Zentral ist auch hier, Klient:innen echte Wahlmöglichkeiten in Bezug auf Form und Ort der Behandlung zu lassen, ohne dass ihre Entscheidung von Leistungsträgern aufgrund ökonomischer Aspekte in Frage gestellt werden kann.

    Sollten sich die äußeren Umstände so gestalten, dass tatsächlich Eile bei der Vermittlung in Rehabilitation geboten ist, z. B. aufgrund drohender Wohnungslosigkeit oder drohender Entlassung aus dem geschützten Setting eines Entzugs in eine unklare Situation, kann der Sozialbericht und die gezielte Nutzung seiner Kategorien eine Strukturhilfe für die Umsetzung der inhaltlichen Perspektive darstellen und den oben beschriebenen Prozess beschleunigen. Gleichzeitig werden so die formal-administrativen Anforderungen erfüllt, da der Bericht eine Voraussetzung für die Hilfegewährung ist.

    Bedeutsam ist aber auch hier, dass der Sozialbericht nicht ausschließlich als Formular zu begreifen ist, sondern auch unter Druck versucht werden sollte, die Beziehungs- und Reflexionspotenziale der dort angegebenen Kategorien im Gespräch zu nutzen. In der Praxis hat es sich darüber hinaus als hilfreich erwiesen, im Rahmen fallübergreifender Netzwerkarbeit im sozialen Raum „kurze Wege“ zu schaffen, um im Krisenmodus agieren zu können und Klient:innen die (erneute) Erfahrung eines Scheiterns an strukturellen Barrieren zu ersparen.

    Vermittlung sollte als fachliche, qualitativ aufwendige, beziehungsorientierte Tätigkeit Sozialarbeitender innerhalb der Funktion Suchtberatung betrachtet werden und nicht als vorrangig administratives Geschehen. Dies sollte in den Ressourcenplanungen und im Erfolgscontrolling mitberücksichtigt werden. Darüber hinaus sollte implizites Wissen der Fachkräfte zu der erfolgreichen Vermittlungsarbeit wissenschaftlich gebündelt und systematisiert werden. Dabei können für komplexe Vermittlungsprozesse auch bereits erprobte Mittel wie z. B. ein instrumentengesteuertes, digital unterstütztes Realtime Monitoring, wie es im benannten Forschungsprojekt (Sommerfeld et al. 2011), aber auch im Kontext sozialer Diagnostik, zum Einsatz gekommen ist (Calzaferri 2020), eingesetzt werden. Entsprechende Infrastruktur und ein entsprechendes fachliches Können im Kontext Sozialer Arbeit in der Suchtberatung wären aufzubauen.

    Anmerkung der Autorin: Für wichtige inhaltliche Hinweise danke ich Katrin Blankenburg sehr herzlich.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Rita Hansjürgens
    Alice Salomon-Hochschule Berlin
    hansjuergens(at)ash-berlin.eu

    Angaben zur Autorin:

    Prof. Dr. Rita Hansjürgens ist Inhaberin der Professur für Handlungstheorien und Methoden Sozialer Arbeit und Allgemeiner Pädagogik an der Alice Salomon-Hochschule in Berlin.

    Literatur:
    • Arnold, Susan (2009): Vertrauen als Konstrukt. Sozialarbeiter und Klient in Beziehung. 1. Aufl. Marburg: Tectum-Verl.
    • Bartelheimer, Peter; Behrisch, Birgit; Daßler, Henning; Dobslaw, Gudrun; Henke, Jutta; Schäfers, Markus (2022): Teilhabe – Versuch einer Begriffsbestimmung. In: Gudrun Wansing, Markus Schäfers und Swantje Köbsell (Hg.): Teilhabeforschung – Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bd. 55. 1st ed. 2022. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden; Imprint Springer VS (Springer eBook Collection), S. 13–34.
    • Blankenburg, Katrin; Hansjürgens, Rita (2022): Multiprofessionelle Teamleistung im sozialen Raum – Überlegungen zu Chancen und Herausforderungen für Soziale Arbeit im Gesundheits- und Sozialwesen. In: Nina Weimann-Sandig (Hg.): Multiprofessionelle Teamarbeit in Sozialen Dienstleistungsberufen, Bd. 4. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 103–114.
    • Calzaferri, Raphael (2020): Realtime-Monitoring als Verfahren der systemisch biografischen Fallarbeit. Ein Gewinn für die Soziale Arbeit in der Suchthilfe. In: Rita Hansjürgens und Frank Schulte-Derne (Hg.): Soziale Diagnostik in der Suchthilfe. Leitlinien und Instrumente für Soziale Arbeit, S. 107–124.
    • Cleppien, Georg (2012): Über die Schwierigkeiten Klient/innen zu vertrauen. In: Sandra Tiefel und Maren Zeller (Hg.): Vertrauensprozesse in der Sozialen Arbeit. Baltmannsweiler: Schneider-Verl. Hohengehren (Soziale Arbeit aktuell, 20), S. 49–66.
    • Fankhänel, Thomas; Klement, Andreas; Forschner, Lukas (2014): Hausärztliche Intervention für eine Entwöhnungs- Langzeitbehandlung bei Patienten mit einer Suchterkrankung (HELPS). In: Sucht Aktuell (2), S. 55–59.
    • Fuchs, Thomas (2015): Vertrautheit und Vertrauen als Grundlage der Lebenswelt. In: Phänomenologische Forschungen, S. 100–118.
    • Giersberg, Steffi; Touil, Elina; Kästner, Denise; Büchtmann, Dorothea; Moock, Jörn; Kawohl, Wolfram; Rössler, Wulf (2015): Alkoholabhängigkeit. 1. Auflage. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
    • Hansjürgens, Rita (2014): Auf dem Weg zu mehr Klarheit. Optionen zur Professionalisierung Sozialer Arbeit in der ambulanten Suchthilfe. Masterthesis. Hochschule, Koblenz.
    • Hansjürgens, Rita (2018): „In Kontakt kommen“. Analyse der Entstehung von Arbeitsbeziehungen in Suchtberatungsstellen. Baden-Baden: Tectum-Verl.
    • Hansjürgens, Rita (2019): Zur Entstehung und Bedeutung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung in der Suchtberatung. In: Suchtmagazin (3), S. 34–37.
    • Hansjürgens, Rita (2020): Der Sozialbericht als Instrument Sozialer Diagnostik in der Suchtberatung? In: Rita Hansjürgens und Frank Schulte-Derne (Hg.): Soziale Diagnostik in der Suchthilfe. Leitlinien und Instrumente für Soziale Arbeit, S. 93–106.
    • Hansjürgens, Rita (2022): Ein Fall für Soziale Arbeit. Handlungstheoretische Überlegungen zu einer sozialarbeiterischen Fallkonstruktion. In: Soziale Arbeit 71 (5), S. 162–170.
    • Hansjürgens, Rita; Schulte-Derne, Frank (2021): Suchtberatungsstellen heute. Gemischtwarenladen oder funktional differenzierte Hilfe aus einer Hand? Lengerich: Pabst Science Publishers (Jahrbuch Sucht, 2021).
    • IFT Institut für Therapieforschung (2022a): Deutsche Suchthilfestatistik 2021. Tabellenband für ambulante Beratungs- oder Behandlungsstellen. Unter Mitarbeit von Jutta Künzel, Monika Murawski, Larissa Schwarzkopf und Sara Specht. Forschungsgruppe Therapie und Versorgung. München.
    • IFT Institut für Therapieforschung (2022b): Deutsche Suchthilfestatistik 2021. Tabellenband für stationäre Rehabilitationseinrichtungen. Unter Mitarbeit von Jutta Künzel, Monika Murawski, Larissa Schwarzkopf und Sara Specht. Forschungsgruppe Therapie und Versorgung. München.
    • Schmidt, Hannah; Koschinowski, Julie; Bischof, Gallus; Schomerus, Georg; Borgwardt, Stefan; Rumpf, Hans-Jürgen (2022): Einstellungen von Medizinstudierenden gegenüber alkoholbezogenen Störungen: Abhängig von der angestrebten medizinischen Fachrichtung? In: Psychiatrische Praxis 49(08): S. 428-435. DOI: 10.1055/a-1690-5902.
    • Schomerus, Georg (2011): Warum werden Menschen mit Alkoholabhängigkeit in besonderer Weise stigmatisiert, und was kann man dagegen tun? In: Psychiatrische Praxis 38 (03), S. 109-110. DOI: 10.1055/s-0030-1266094.
    • Schomerus, Georg; Holzinger, Anita; Matschinger, Herbert; Lucht, Michael; Angermeyer, Matthias C. (2010): Einstellung der Bevölkerung zu Alkoholkranken. In: Psychiatrische Praxis 37 (3), S. 111–118. DOI: 10.1055/s-0029-1223438.
    • Sommerfeld, Peter; Dällenbach, Regula; Rüegger, Cornelia (2016): Klinische Soziale Arbeit und Psychiatrie. Entwicklungslinien einer handlungstheoretischen Wissensbasis. Wiesbaden: Springer.
    • Sommerfeld, Peter; Hollenstein, Lea; Calzaferri, Raphael (2011): Integration und Lebensführung. Ein forschungsgestützter Beitrag zur Theoriebildung der Sozialen Arbeit. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss.
    • Sommerfeld, Peter; Solèr, Maria; Süsstrunk, Simon (2018): Lebensverlauf, Kontext, Zeit und Wirkung sozialarbeiterischer Intervention. DOI: 10.5169/seals-855350.
    • Tranel, Martina; Hansjürgens, Rita (2022): Ermöglichungsraum für soziale Teilhabe und Gesundheit für Menschen mit chronischer Suchterkrankung. In: Sozialmagazin Heft 01-02, S. 33–40.
  • Die Hungerwolke

    Autor:innen: Milena Tebiri, Anna-Charlotte Lörzer, Paula Kuitunen, Stefan Hetterich
    Mabuse-Verlag, Frankfurt a. M. 2022, 71 Seiten, 24,00 €, ISBN 9783863216245

    Weil Mona etwas mollig ist, wird sie in der Schule gemobbt, und zu Hause hört sie ständig, dass sie abnehmen soll. Um ihre Verzweiflung zu vergessen, stopft Mona sich heimlich mit Süßem voll. Während eines ihrer Essanfälle zieht eine dunkle Wolke heran. Doch wo am Anfang angenehmer Nebel war, drückt die Wolke bald schwer und kalt auf Monas Schultern. Regentropfen prasseln auf ihren Kopf und der ganze Schmerz bricht über sie herein. Wie kann sie diese Wolke bloß wieder loswerden?

    Dieses Kinderfachbuch hilft betroffenen Kindern und Bezugspersonen, regelmäßige Essattacken besser zu verstehen, darüber zu sprechen und mit der Binge-Eating-Störung umzugehen. Im Fachteil informieren die Expertin Paula Kuitunen und der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Stefan Hetterich über diese Essstörung und geben hilfreiche Ratschläge. Für Kinder ab 6 Jahren.

  • Behandlung von traumatisierten Kindern und Jugendlichen

    Bei Kindern und Jugendlichen, die mehrfache traumatische Ereignisse wie sexuellen Missbrauch, körperliche Misshandlungen oder psychische Gewalterfahrungen erlitten haben, ist die psychotherapeutische Behandlung mit einer traumafokussierten Therapie sehr wirksam. Zu diesem Ergebnis kommt ein Forschungsteam um Prof. Dr. Nexhmedin Morina und Dr. Thole Hoppen von der Arbeitseinheit Klinische Psychologie und Psychotherapie der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster. Die Studie ist in der Fachzeitschrift „British Journal of Psychiatry“ erschienen.

    Infolge einer Traumatisierung entwickeln etwa 25 Prozent der betroffenen Kinder und Jugendlichen eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Insbesondere zwischenmenschliche und wiederholte Traumatisierungen bergen ein hohes PTBS-Risiko. Zu den Traumatisierungen zählen neben Gewalterfahrungen auch Erfahrungen körperlicher beziehungsweise emotionaler Vernachlässigung in der Kindheit. Der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche und der russische Angriffskrieg auf die Ukraine sind zwei aktuelle Beispiele für die gesellschaftliche Relevanz. „Die PTBS ist eine schwere, meist chronisch verlaufende psychische Erkrankung, die die Lebensqualität der Betroffenen im Alltag stark einschränkt“, erklärt Erstautor Thole Hoppen, der die Studie mit Psychologinnen und Psychologen der Universitäten von East Anglia in England und Oslo in Norwegen erstellt hat.

    Bislang bestehen in der klinischen Praxis große Vorbehalte, mehrfach traumatisierte Kinder und Jugendliche, die unter einer PTBS leiden, mit einer traumafokussierten Psychotherapie zu behandeln. Bei der Therapieform geht es darum, Denk- und Verhaltensmuster der Patient:innen, die durch das Trauma entstanden sind, zu verändern. Ziel ist es, durch eine von einem Therapeuten/ einer Therapeutin begleitete Konfrontation mit dem traumatischen Erlebten die Erinnerungen und deren Konsequenzen zu verarbeiten. „Es wird vielerorts argumentiert, dass die Therapie überfordernd, wenig vielversprechend, unangemessen oder gar gefährlich sei“, so Thole Hoppen. „Mit unserer Analyse belegen wir das Gegenteil.“

    In einer sogenannten Metaanalyse haben die Forscher die Ergebnisse aller bislang publizierten Psychotherapiestudien zum Thema PTBS bei Kindern und Jugendlichen ausgewertet. Dabei wird erstmals in einer Metaanalyse zwischen einzelnen und multiplen Traumatisierungen von Kindern und Jugendlichen unterschieden. „Nicht nur nach singulärer Traumatisierung ist die Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen mit PTBS sehr wirksam“, erläutert Thole Hoppen. „Wir zeigen, dass dies auch nach einer multiplen Traumatisierung der Fall ist.“ Die Studienergebnisse sind sowohl für die ambulante Psychotherapie als auch für die stationäre Behandlung in Psychiatrien sowie für die Ausbildung von Psychotherapeut:innen von Bedeutung.

    Originalpublikation:
    Thole H. Hoppen, Richard Meiser-Stedman, Tine K. Jensen, Marianne Skogbrott Birkeland and Nexhmedin Morina (2023): The efficacy of psychological interventions for PTSD in children and adolescents exposed to single vs. multiple traumas. Meta-analysis of randomized controlled trials. British Journal of Psychiatry; DOI: 10.1192/bjp.2023.24

    Pressestelle der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, 1.3.2023

  • Mehr Unterstützung für Kinder und Jugendliche nach der Pandemie

    Die Bundesregierung hat im Februar den Abschlussbericht der Interministeriellen Arbeitsgruppe „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“ (IMA) beschlossen. Vorgelegt haben diesen Bericht Bundesfamilienministerin Lisa Paus und Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach. Ein zentrales Ergebnis des Berichts: Die Folgen der Pandemie auf Kinder und Jugendliche halten bis heute an. Derzeit sind immer noch 73 Prozent psychisch belastet. Die Arbeitsgruppe empfiehlt daher konkrete Maßnahmen, die Kinder und Jugendliche bei der Bewältigung der psychischen und psychosozialen Belastungen durch die COVID-19-Pandemie bestmöglich unterstützen und ihre Gesundheit und Resilienz stärken.

    Die IMA hatte im November 2022 gemeinsam mit Vertreterinnen der Länder sowie mit Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft über Maßnahmen zur Unterstützung eines gesunden Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen beraten. Im Mittelpunkt standen dabei die psychosozialen Folgen der Pandemie mit besonderem Fokus auf benachteiligte junge Menschen.

    Empfehlungen für fünf Handlungsfelder erarbeitet

    Insgesamt hat die IMA fünf Handlungsfelder identifiziert und dafür jeweils Empfehlungen erarbeitet. Der Abschlussbericht benennt in den Handlungsfeldern zudem konkrete Maßnahmen des Bundes, die geplant sind oder bereits umgesetzt werden. Die entsprechenden Maßnahmen sollen dort verortet werden, wo sie Kinder und Jugendliche im Alltag erreichen: in den Schulen, in der Kindertagesbetreuung, bei Kinderärztinnen und -ärzten sowie in der Jugend- und Familienhilfe.

    • Im Handlungsfeld Frühe Hilfen erweitert der Bund in diesem Jahr die Angebote. Insgesamt stehen dafür 56 Millionen Euro zur Verfügung, unter anderem, um Familien mit Belastungen direkt nach der Geburt über Willkommensbesuche oder Lotsendienste zu erreichen und z. B. durch Familienhebammen zu unterstützen. Gleichzeitig werden Eltern zum Beispiel über den Instagram-Kanal „elternsein info“ gezielt über die kommunalen Angebote für junge Familien informiert. Wir stärken Fachkräfte mit digitalen Sprechstunden zu den Themen Flucht, psychische Gesundheit und Ernährung.
    • Im Handlungsfeld Kindertagesbetreuung tragen das Kita-Qualitätsgesetz, Investitionsprogramme des Bundes zum Kita-Ausbau und eine Fachkräftestrategie zu mehr Qualität bei und stärken damit die Krisenresilienz der Kindertagesbetreuung. Der Bund unterstützt die Länder in den Jahren 2023 und 2024 mit rund vier Milliarden Euro, auch für Maßnahmen in den Bereichen Gesundheit, Ernährung und Bewegung.
    • Im Handlungsfeld Schule unterstützen ab dem Schuljahr 2023/24 Mental Health Coaches an Schulen im Rahmen eines Modellprogramms des BMFSFJ bei Fragen zur mentalen Gesundheit und bei akuten psychischen Krisen. Sie stehen Kindern und Jugendlichen bei Sorgen und Problemen zur Seite, leisten in akuten Krisen eine „Erste Psychische Hilfe“ und vermitteln in weitere Unterstützungsangebote. Die Schulboxenaktion mit der „Nummer gegen Kummer“ läuft weiter, und auch beim Ganztagsausbau spielt die Gesundheitsförderung eine wichtige Rolle.
    • Im Handlungsfeld Gesundheitswesen setzt sich der Bund für eine bessere medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen und für die Beseitigung von Engpässen bei Kinderarzneimitteln ein. Das BMG hat bereits verschiedene kurzfristige Maßnahmen auf den Weg gebracht, beispielsweise für die Jahre 2023 und 2024 eine Erlösgarantie für die pädiatrische Versorgung in Krankenhäusern und zusätzliche finanzielle Mittel für die stationäre Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Höhe von jeweils 300 Millionen Euro. Auch Prävention und Gesundheitsförderung sollen gestärkt und für Kinder und Jugendliche mit stärkeren psychischen Belastungen und psychischen Erkrankungen – in Abstimmung mit den maßgeblichen Akteuren – mehr Therapieplätze geschaffen werden. Somit sollen Wartezeiten vor allem im ländlichen Raum reduziert werden.
    • Im Handlungsfeld Jugend- und Familienhilfe geht es unter anderem darum, vom Bund mit dem Jugendstärkungsgesetz geschaffene neue Rechtsansprüche für Kinder, Jugendliche und Familien auf Beratung und Unterstützung umzusetzen. Kinder können nun beim Jugendamt psychosoziale Beratung in Anspruch nehmen, ohne dass ihre Eltern darüber informiert werden. Psychisch kranke Eltern erhalten niedrigschwellig Hilfe von den Erziehungsberatungsstellen.

    Pressestelle des Bundesministeriums für Gesundheit, 8.2.2023

  • Warnmeldung zu ungestrecktem Heroin

    Das NEWS-Projekt hat eine Warnmeldung zu ungestrecktem und deshalb ungewohnt stark wirkenden Heroin herausgegeben. Es wurde im Dezember 2022 / Januar 2023 in Bremen erworben und hat zu Erbrechen und starker Bewusstseinstrübung geführt.

    NEWS (National Early Warning System) ist ein Projekt des IFT München. Ziel des Projektes ist, gesundheitsgefährdende Entwicklungen im Bereich psychoaktiver Substanzen und Medikamentenmissbrauch frühzeitig zu erkennen und darüber zu informieren.

    Quelle: NEWS-Projekt, 1.3.2023

  • Gedanken zur Zukunft der Suchtberatung – Kommentar zum Artikel von Daniel Zeis

    Gedanken zur Zukunft der Suchtberatung – Kommentar zum Artikel von Daniel Zeis

    Prof. Dr. Andreas Koch

    Der Beitrag von Daniel Zeis über die Zukunft der Suchtberatung, der auf KONTUREN online am 7. Februar 2023 publiziert wurde, greift ein sehr wichtiges Thema auf. Grundsätzlich kann man den Kernaussagen des Textes nicht widersprechen: Suchtberatung ist eine sehr wichtige Aufgabe im Rahmen der kommunalen Daseinsvorsorge und als solche muss diese Leistung angemessen finanziert werden. Dass die Wirklichkeit in vielen Städten und Landkreisen anders aussieht und dass die Lage nicht besser wird, braucht nicht diskutiert zu werden. Aus meiner Sicht hat das Vergabebrecht für die Suchtberatung aber nicht nur negative Auswirkungen bzw. eine Verschärfung der Probleme zur Folge.  Es bedarf einer differenzierteren Analyse, um sinnvolle Handlungsoptionen für die Absicherung der Suchtberatung in den kommenden Jahren entwickeln zu können.

    Leistungsanbieter haben meistens die schlechtere Verhandlungsposition

    Im Netzwerk des Therapiehilfeverbundes arbeiten in vier norddeutschen Bundesländern rund 30 Suchtberatungsstellen, und wir haben im Hinblick auf die Finanzierung dieser Leistungsangebote in den letzten Jahren viele und teilweise sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Vertragsverhandlungen und Ausschreibungsverfahren gemacht. Dabei ist selbstverständlich zu berücksichtigen, dass die „Gesetzte des Quasi-Marktes“ im Bereich sozialer Dienstleistungen für uns als Leistungsanbieter meistens nicht einfach sind und wir einem Monopolisten oder einem „Nachfrage-Oligopol“ gegenüberstehen. Das ist aber nicht nur bei der Suchtberatung so, auch in der medizinischen Reha, in der Akutbehandlung, in der Eingliederungshilfe oder in der Kinder- und Jugendhilfe sind wir in einem ähnlichen Abhängigkeitsverhältnis. Dabei spielt es i. d. R. keine Rolle, ob der Leistungsanbieter frei-gemeinnützig oder privatwirtschaftlich organisiert ist, die Zuwendungsgeber bzw. Kosten- und Leistungsträger haben eigentlich immer die stärkere Verhandlungsposition. Es gibt zwar vereinzelt normative Rahmenbedingungen, die so etwas wie „Augenhöhe“ bei Verhandlungen schaffen sollen (bspw. die Möglichkeit der Einschaltung von Schiedsstellen), aber mit Blick auf die Machtverteilung und Abhängigkeiten muss es wohlüberlegt sein, ob man solche Möglichkeiten nutzen will.

    Diesen Zustand kann man beklagen, und es ist auf jeden Fall sinnvoll, an Verbesserungen der Rahmenbedingungen zu arbeiten. Die laufenden Verhandlungen der Reha-Verbände mit der Deutschen Rentenversicherung im Zusammenhang mit der notwendigen Neuregelung des „Reha-Marktes“ zeigen, dass das sehr mühsam ist und viel Geduld erfordert. Aber wenn man in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft unternehmerisch verantwortlich ist, dann muss man sich über die Spielregeln im Klaren sein. Auch wenn unser Verhandlungsspielraum nicht sehr groß ist, so gibt es doch viele Möglichkeiten, ihn intelligent nutzen.

    Rahmenbedingungen haben sich deutlich verändert

    Im Bereich der Suchtberatung und niedrigschwelligen Suchtarbeit ist es in der Tat so, dass sich die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren deutlich verändert haben. Langfristige oder gar unbefristete Verträge sind selten geworden und die Finanzmittel für die kommunale Förderung bzw. Zuwendung sind knapper geworden. Das führt zu Veränderungsdruck bei den Leistungserbringern, den spüren wir auch in den Suchtberatungsstellen des Therapiehilfeverbundes. Der Hintergrund für diese Entwicklungen ist auch allgemein bekannt:

    1. Zum einen wird die Finanzlage der Kommunen insgesamt schwieriger, wenn auch mit teilweise deutlichen regionalen Unterschieden. Dass Suchthilfe eher nach Kassenlage und nicht nach den Bedarfen organisiert und finanziert wird, ist ungeheuerlich, und wir bemühen uns über die Suchtverbände um Einflussnahme auf die entsprechenden sozial- und finanzpolitischen Entscheidungen.
    2. Zum anderen werden in nahezu allen öffentlichen Bereichen die staatlichen Auftraggeber dazu aufgefordert, wirtschaftlich mit Steuergeldern und Sozialversicherungsbeiträgen umzugehen. Das kann aus meiner Sicht nur begrüßt werden, denn Deutschland steht leider nicht ganz so gut da im Ranking von „Transparency International“ (2021 auf Platz 10). Öffentliche Vergabeverfahren sollen so transparent wie möglich sein, und dabei sind Ausschreibungen eine von mehreren Optionen.

    Diskussion der Umfrageergebnisse

    Ein Ergebnis der Umfrage von Daniel Zeis ist, dass 17,5 Prozent der Beratungsstellen, die geantwortet haben, sich bereits an Ausschreibungen beteiligt haben. Das ist eine interessante Zahl, ich hätte einen deutlich höheren Anteil erwartet, denn der o. g. Handlungsdruck im Hinblick auf Transparenz und Wirtschaftlichkeit ist nach meiner Erfahrung hoch. Ich finde nicht, dass man hier von einem quantitativ großen Problem sprechen kann. Im Übrigen würde mich interessieren, wie viele der über 1.000 Suchtberatungsstellen in Deutschland an der Umfrage teilgenommen haben.

    Außerdem finde ich es schwierig, eine qualitative Bewertung zu diesem Thema vorzunehmen, indem man nur eine beteiligte Seite befragt. Ich fühle mich ein wenig an den Spruch erinnert „Wenn man den Sumpf austrocknen will, sollte man nicht die Frösche fragen“. Aber bleiben wir sachlich: Dass Ausschreibungsverfahren für alle Beteiligten aufwendig sind und nicht automatisch zu den besten Ergebnissen führen, kann als gesichert angesehen werden. Aber die von Daniel Zeis aufgeführten Gründe, warum Ausschreibungen grundsätzlich ungeeignet für den Bereich der Suchtberatung sein sollen, sind aus meiner Sicht nicht zwingend. Wie so oft ist die Welt nicht schwarz oder weiß, sondern es gibt Graubereich, die man sich genauer anschauen sollte, wenn man gute Lösungen finden will.

    Dazu möchte ich nur einige Aspekte exemplarisch aufführen:

    • In den mir bekannten Ausschreibungen waren Merkmale wie „bestehende regionale Vernetzung“ oder „nachgewiesene Erfahrungen mit den Zielgruppen“ wesentliche Bewertungskriterien, d. h., neue Bewerber ohne diese qualitativen Merkmale haben weniger Erfolgschancen als etablierte Leistungsanbieter.
    • Für diese etablierten Leistungsanbieter entsteht aber die Notwendigkeit, das eigene Leistungsspektrum und die Finanzstruktur im Rahmen des Bewerbungsverfahrens zu hinterfragen. Das kann durchaus zu positiven konzeptionellen Entwicklungen, der Nutzung von Wirtschaftlichkeitsreserven und der Veränderung von ineffizienten Organisationsstrukturen führen.
    • Eingespielte Kooperationsstrukturen bei der Erbringung von Leistungen der Suchthilfe in einer Region könnten sicherlich Vorteile haben. Institutionen und Personen sind einander bekannt, Vertrauen und Verlässlichkeit können über Jahre wachsen, und das erleichtert i. d. R. die Zusammenarbeit. Doch gleichzeitig kann dabei auch eine gewisse Bequemlichkeit entstehen, die die Innovationsfähigkeit im Hinblick auf fachliche Entwicklungen oder Strukturen und Prozesse behindert.
    • Man wird im Rahmen des Ausschreibungsverfahrens versuchen, Kontakt zu potenziellen Mitbewerbern aufzunehmen. Ich finde es eher förderlich, sich mal anzuschauen, „wie es andere machen würden“, das kann man auch als sportliche Herausforderung sehen. Ich glaube fest daran, dass Wettbewerb jedes Geschäft belebt, auch das soziale!
    • Auch wenn es eigentlich nicht sein soll: Man wird auch versuchen, beim Auftraggeber mehr über Hintergründe zu erfahren, die nicht in den Ausschreibungsunterlagen zu finden sind. Dadurch kann eine sinnvolle Neuausrichtung und Klärung von Kooperationsbeziehungen erfolgen.
    • Die Ausschreibungen, an denen wir uns bisher beteiligt haben, führten nicht zu „Preisdumping“. Im Gegenteil wurde von uns i. d. R. gefordert, dass wir Tarifgehälter zahlen oder angelehnte Vergütungssysteme nachweisen können, und es waren seriöse Sachkostenkalkulationen vorzulegen. Den Zuschlag soll ja das wirtschaftlichste und nicht das billigste Angebot bekommen.

    Entscheidender Faktor ist die Laufzeit der Leistungsvereinbarung

    Letztlich ist es bei diesem Thema wie bei vielen anderen auch: Es geht nicht nur um das „ob“, sondern vor allem um das „wie“! Wenn Ausschreibungen sachgerecht durchgeführt werden, dann können sie ein sinnvolles Instrument sein, die Leistungserbringung in der Suchtberatung innovativ und leistungsorientiert zu gestalten. Ein entscheidender Faktor ist dabei die Laufzeit der ausgeschriebenen Leistung, denn die Arbeitsverträge mit dem erforderlichen Fachpersonal hängen natürlich eng mit den Zuwendungsverträgen zusammen. Es ist kaum noch möglich, Stellen für zwei oder drei Jahre befristet zu besetzen, und es ist den Trägern der Suchtberatung nicht zuzumuten, unbefristete Arbeitsverträge auf eigenes Risiko abzuschließen. Aus meiner Sicht sollte die Laufzeit von Zuwendungsverträgen mindestens fünf Jahre umfassen, um die Personalstruktur und den Leistungsumfang einigermaßen seriös planen zu können. Sinnvoll wären auch transparente Kriterien und Regelungen für die Verlängerung der Vereinbarungen. Um die möglichen positiven Effekte von Ausschreibungen wirksam werden zu lassen, ist es aus meiner Sicht ausreichend, erst nach acht bis zehn Jahren ein neues Verfahren einzuleiten.

    Nachweis für Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit der Leistungen

    Wir werden uns in der Suchtberatung wie in nahezu allen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesen immer mehr mit der Forderung auseinandersetzen müssen, einen Nachweis für die Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit unserer Leistungen erbringen zu müssen. Ich halte es für nicht zielführend, solche Anforderungen abzulehnen und auf die Besonderheiten unserer Arbeit und unserer Zielgruppen zu verweisen. Das ist der üblicherweise nicht fachkundigen Öffentlichkeit bzw. Politik kaum vermittelbar. Ich bin ganz im Gegenteil der Meinung, dass wir offensiv darstellen sollten, welchen ethischen und ökonomischen Nutzen unsere Arbeit bringt. Die aktuell diskutierten Überlegungen und Berechnungen zum „Social Return on Investment“ (SROI) sind eine ausgezeichnete Basis dafür.

    Abschließend und um der Transparenz willen noch einige Angaben zu meinen möglichen Interessenkonflikten: Dieser Beitrag wurde weder in Abstimmung noch im Auftrag oder gar mit finanzieller Förderung der öffentlichen Vertragspartner verfasst, mit denen der Therapiehilfeverbund im Bereich der Suchtberatung zusammenarbeitet. Natürlich verhandeln wir mit Zuwendungsgebern so hart wie möglich, letztlich muss auch bei uns als gemeinnützigem Unternehmen eine schwarze Null im Jahresabschluss stehen. Wir bemühen uns dabei einerseits um Fairness und Offenheit und versuchen andererseits, unsere Spielräume bei Verhandlungen und bei der Ausgestaltung der Leistungserbringung konsequent zu nutzen.

    Angaben zum Autor:

    Prof. Dr. Andreas Koch ist seit rund 20 Jahren in der Suchthilfe tätig. Er ist Geschäftsführer des Therapiehilfeverbundes Hamburg/Bremen und Vorsitzender der Hamburgischen Landesstelle für Suchtfragen e. V. An der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Hennef, hat er eine Honorarprofessur im Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung.

    Kontakt:

    Andreas-Koch(at)therapiehilfe.de