Beltz Verlag, Weinheim 2022, 180 Seiten mit E-Book inside und Arbeitsmaterial, 44,95 €, ISBN 978-3-621-28787-6
Fetale Alkoholspektrumstörungen (FASD) entstehen durch Alkoholkonsum der Mutter in der Schwangerschaft und betreffen vorsichtig geschätzt ca. zwei von hundert Menschen in Deutschland. Die durch den Alkohol ausgelösten Schäden des Gehirns verursachen gravierende psychische Behinderungen, die jedoch häufig nicht sichtbar sind – daher passen die Erwartungen der Umwelt oft nicht zu den Fähigkeiten der Betroffenen, und es kommt zu vorschnellen Bewertungen des auffälligen Verhaltens als ‚faul‘ oder ‚oppositionell‘ mit entsprechenden Empfehlungen („Du musst dich mehr anstrengen“).
Mit der neurobehavioralen Perspektive auf diese Störungsbilder gelingt Jörg Liesegang ein neuer Zugang: Was ist, wenn die Kinder aufgrund ihrer Funktionsbeeinträchtigung wirklich nicht anders können? Welche Unterstützung brauchen sie, wie kann eine faire Hilfestellung aussehen? Orientiert an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO gelingt hier ein ressourcenorientierter Brückenschlag – von der Diagnostik über die Stellungnahme der Beratung gegenüber Jugendamt oder Schule bis hin zur Psychoedukation der Betroffenen selbst.
Bei den breit genutzten sozialen Netzwerken setzen Mädchen die Trends. Sie steigen früher auf neue soziale Netzwerke ein als Jungen, wie die JAMES-Studie 2022 der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und Swisscom zeigt. Jungs gamen dafür häufiger, besonders beliebt sind Gratis-Games. Jugendliche pflegen zudem weniger, jedoch qualitativ hochwertigere Freundschaften als vor zehn Jahren. Problematisch ist, dass sie beim Datenschutz nachlässiger werden und sexuelle Belästigungen weiter zugenommen haben.
Mädchen steigen früher auf neuen Netzwerken ein als Jungen und werden damit zu Trendsetterinnen. So nutzen sie aktuell TikTok und Pinterest deutlich stärker, 2014 war dies auch schon bei Instagram der Fall. Dies zeigt die aktuelle JAMES-Studie, für die alle zwei Jahre rund 1.000 Jugendliche im Alter von zwölf bis 19 Jahren befragt werden. „Wenn sich dieser Trend fortsetzt, können wir die weibliche Nutzung von sozialen Netzwerken in Zukunft als Indikator für alle Jugendlichen heranziehen“, sagt ZHAW-Forscher und Co-Studienleiter Gregor Waller.
TikTok weiter auf dem Vormarsch
Soziale Netzwerke zählen weiterhin zu den wichtigsten medialen Elementen des Alltags von Jugendlichen in der Schweiz. Fast alle nutzen WhatsApp zur Kommunikation (97 Prozent der Nutzer:innen mind. mehrmals pro Woche). Zudem werden Instagram (81 Prozent) und Snapchat (76 Prozent) weiterhin am häufigsten genutzt und sind über die Jahre stabil geblieben. Eine rasante Zunahme zeigt sich bei TikTok: 67 Prozent der Jugendlichen nutzen die Plattform regelmäßig (2018: acht Prozent), wobei Mädchen die App häufiger nutzen als Jungen. Dafür sind die Jugendlichen praktisch von Facebook verschwunden: Nur noch fünf Prozent nutzen das Netzwerk täglich oder mehrmals pro Woche (2014: 79 Prozent).
Die Tätigkeiten in sozialen Netzwerken sind konstant geblieben. Am häufigsten werden regelmäßig Beiträge anderer angeschaut (56 Prozent) und gelikt (55 Prozent), oder es werden per Chat persönliche Nachrichten geschrieben (57 Prozent). Deutlich seltener posten die Jugendlichen eigene Beiträge, und wenn, dann eher zeitlich limitierte Stories oder Snaps.
Grafik: ZHAW
Gratis-Games sind beliebt
Videogames sind weiterhin beliebt: 79 Prozent spielen zumindest ab und zu, wobei Jungen deutlich häufiger gamen (93 Prozent) als Mädchen (65 Prozent). Im Vergleich zu den Vorjahren hat die Anzahl der gamenden Mädchen jedoch zugenommen. Zudem vergnügen sich die jüngeren mehr damit als die älteren Jugendlichen. Am häufigsten werden Gratis-Games gespielt (60 Prozent). Kostenpflichtige Videospiele nutzen hingegen nur 35 Prozent.
Für ZHAW-Forscherin und Mitautorin Lilian Suter ist dies problematisch: „Free-to-play-Games sind oft nicht wirklich kostenlos, denn entweder werden die Gamer:innen mit Werbung eingedeckt oder sie bezahlen mit ihren Daten“. Oft seien In-Game-Käufe sogar unerlässlich für den weiteren Spiel-Fortschritt. Die Anzahl Jugendlicher, die regelmäßig In-Game-Käufe tätigen, hat sich denn auch in zwei Jahren von drei Prozent auf aktuell acht Prozent mehr als verdoppelt. 23 Prozent der jugendlichen Gamer:innen geben an, Altersempfehlungen regelmäßig zu ignorieren.
Vielfältigere Freizeitbeschäftigungen
Ein großer Teil der Jugendlichen in der Schweiz trifft sich in der Freizeit regelmäßig mit Freund:innen (70 Prozent). Im Vergleich zu den Vorjahren zeigt sich jedoch, dass die Anzahl der Freundschaften abgenommen hat. Trafen sich die befragten Jugendlichen 2012 mit sieben Freund:innen regelmäßig, sind es 2022 noch fünf. Für Gregor Waller setzt sich damit der Trend des ‚Social Cocooning‘ weiter fort. „Die Jugendlichen treffen weniger Freundinnen und Freunde als noch vor ein paar Jahren. Wenn die Heranwachsenden im Sinne von ‚Beziehungsminimalismus‘ vorgehen, also Qualität vor Quantität stellen, sind die Freundschaften aber insgesamt hochwertiger.“
Generell werden die Freizeitaktivitäten der Jugendlichen von Jahr zu Jahr vielfältiger und individueller. Die Bandbreite der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen ist sehr groß und reicht von TV oder Filme schauen, über Sport treiben, Musik hören und gamen bis zu handwerklichen und kreativen Tätigkeiten wie Zeichnen oder Malen oder draußen und in der Natur sein. Die Lieblingsmusik der Jugendlichen ist ebenfalls sehr vielfältig. Die ZHAW-Forschenden haben zum ersten Mal die beliebtesten Songs der Top 20 Musiker:innen und Bands in einer Playlist für die Deutschschweiz, die Romandie und das Tessin zusammengestellt und damit die Bandbreite hörbar gemacht.
Grafik: ZHAW
Handlungsbedarf beim Jugendmedienschutz
Sexuelle Belästigung im Internet und auch Cybermobbing haben weiter zugenommen: Fast die Hälfte der Jugendlichen wurde bereits mindestens einmal online sexuell belästigt. 2014 waren es noch 19 Prozent. Auch Beleidigungen im Internet haben über die Jahre um fast zehn Prozentpunkte zugenommen. Mädchen sind von sexuellen Belästigungen deutlich häufiger betroffen als Jungen (60 Prozent vs. 33 Prozent). Knapp die Hälfte der Mädchen wurde schon einmal von einer fremden Person aufgefordert, erotische Fotos von sich selbst zu verschicken.
Die ZHAW-Forschenden sehen dringenden Handlungsbedarf. „Sexuelle Belästigung und Cybermobbing bei Jugendlichen sind Grenzüberschreitungen, die in einer sensiblen Phase der persönlichen und sexuellen Entwicklung passieren“, sagt Co-Studienleiter Daniel Süss. Es brauche deshalb weiterhin ein breites und vertieftes Angebot an medienpädagogischen Maßnahmen und Angeboten zur Stärkung der digitalen Selbstverteidigung.
Datenschutz und Privatsphäre werden komplexer
Beim Schutz der Privatsphäre im Netz werden Jugendliche nachlässiger: Gaben vor zehn Jahren noch 84 Prozent an, entsprechende Einstellungen in sozialen Netzwerken aktiviert zu haben, sind es aktuell nur noch 60 Prozent. Sorgen darüber, dass andere online persönliche Informationen sehen könnten, haben weiter abgenommen (2012: 38 Prozent; 2022: 28 Prozent). Gleichzeitig verhält sich die Mehrheit der Jugendlichen auf sozialen Netzwerken aber eher zurückhaltend und gibt öffentlich wenig von sich preis.
„Das Thema Datenschutz und Privatsphäre im Netz hat sich verändert und wird zunehmend komplexer“, sagt Lilian Suter. Während zu Anfangszeiten der sozialen Netzwerke darauf fokussiert wurde, welche Informationen oder Fotos man nicht öffentlich teilen sollte, werde das Thema heutzutage von Aspekten wie Cookies, Algorithmen oder Ende-zu-Ende-Verschlüsselung dominiert und stelle Jugendliche vor zusätzliche Herausforderungen.
Nationale Studie zur Jugendmediennutzung
Die JAMES-Studie bildet den Umgang mit Medien von Jugendlichen in der Schweiz ab. JAMES steht für „Jugend, Aktivitäten, Medien – Erhebung Schweiz“ und wird alle zwei Jahre durchgeführt. In der repräsentativen Studie werden seit 2010 von der ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften im Auftrag von Swisscom über 1.000 Jugendliche im Alter von zwölf bis 19 Jahren in den drei großen Sprachregionen der Schweiz zu ihrem Medien- und Freizeitverhalten befragt.
Die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland ist auch im dritten Jahr der Corona-Pandemie noch spürbar beeinträchtigt: Zwar sind die Belastungen nicht mehr so hoch wie während des ersten und zweiten Lockdowns, aber sie liegen durchgehend über den Werten vor der Pandemie. Das gilt für Sorgen und Ängste ebenso wie für psychosomatische Beschwerden. Immer noch leidet jedes vierte Kind unter psychischen Auffälligkeiten. Erneut sind insbesondere Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Verhältnissen betroffen. Während die Auswirkungen der Pandemie auf die psychische Gesundheit abgenommen haben, rücken neue Krisen in den Vordergrund.
Das sind die Ergebnisse der fünften Befragung der sogenannten COPSY-Studie (Corona und Psyche) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). Die COPSY-Studie ist die erste bevölkerungsbasierte Längsschnittstudie bundesweit und gehört auch international zu den wenigen Längsschnittstudien.
„Auch, wenn die psychischen Beschwerden langsam zurückgehen, sind sie immer noch häufiger als vor der Corona-Pandemie. Daher brauchen wir jetzt niedrigschwellige, nachhaltige und langfristige Konzepte und Strukturen, um Kinder und Jugendliche mit psychischen Belastungen aufzufangen und ihnen Hilfen anzubieten. Das ist wichtig, um für zukünftige Krisen gewappnet zu sein“, sagt Prof. Dr. Ulrike Ravens-Sieberer, Leiterin der COPSY-Studie und Forschungsdirektorin der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik des UKE. „Es besteht dringender Handlungsbedarf, den belasteten Kindern und Jugendlichen zu helfen, damit sie psychisch wieder gesunden und im späteren Erwachsenenleben keine Langzeitschäden entwickeln. Unser besonderes Augenmerk benötigen benachteiligte Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Verhältnissen, die überdurchschnittlich betroffen sind.“
Lebensqualität, psychische und psychosomatische Auffälligkeiten in der fünften Befragung
Gaben bei den ersten beiden Befragungen der COPSY-Studie während der Lockdowns im Jahr 2020 fast 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen an, eine geminderte Lebensqualität zu haben, sind es aktuell noch rund 27 Prozent. Auch der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten nimmt langsam ab und liegt bei etwa 23 Prozent – gegenüber einem Spitzenwert von rund 31 Prozent während des zweiten Lockdowns zum Jahreswechsel 2020/2021.
Insgesamt hat sich die allgemeine psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen bis Herbst 2022 verbessert, doch die Werte für psychische Auffälligkeiten liegen noch immer deutlich über denen vor der Corona-Pandemie. Dies gilt ebenso für Symptome von Ängstlichkeit sowie psychosomatische Beschwerden. Reizbarkeit, Schlafprobleme, Niedergeschlagenheit und Nervosität sind immer noch deutlich stärker ausgeprägt als vor der Pandemie. Jedes zweite Kind ist mindestens einmal wöchentlich von Kopf- oder Bauchschmerzen betroffen. Allein die Symptome für Depressivität sind wieder auf das Niveau vor der Pandemie gesunken.
Neue Auslöser für psychische Probleme
Die Auswirkungen der Pandemie auf die psychische Gesundheit scheinen nach drei Jahren etwas abgenommen zu haben. Die Kinder und Jugendlichen machen sich mittlerweile weniger Sorgen um Corona – noch zehn Prozent gaben an, dass sie die Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen als besorgniserregend und seelisch belastend empfinden. Etwa die Hälfte der Kinder machen sich wegen anderer Krisen Sorgen. Zunehmend scheinen Ukraine-Krieg, Inflation sowie Energie- und Klimakrise die Kinder und Jugendlichen psychisch zu belasten: Zwischen 32 bis 44 Prozent von ihnen äußerten Ängste und Zukunftssorgen im Zusammenhang mit anderen aktuellen Krisen.
Risiken und Ressourcen von Kindern und Jugendlichen bei der psychischen Gesundheit
Kinder und Jugendliche, deren Eltern stark belastet sind, eine geringere Bildung haben, über beengten Wohnraum verfügen und/oder einen Migrationshintergrund aufweisen, gehören der Risikogruppe an. Diese Kinder und Jugendlichen hatten in allen fünf Befragungswellen über die drei Jahre der Pandemie ein höheres Risiko für eine geringe Lebensqualität, für mehr psychische Gesundheitsprobleme, Angstsymptome und Anzeichen von Depressivität. Demgegenüber haben Kinder und Jugendliche, die über ein gutes Familienklima und gute soziale Unterstützung berichten, ein deutlich geringeres Risiko für eine niedrigere Lebensqualität sowie psychische und psychosomatische Auffälligkeiten.
Über die Studie
Die COPSY-Längsschnittstudie erfasst die seelische Gesundheit, Lebensqualität, psychosomatischen Beschwerden sowie Ressourcen und Risikofaktoren von Kindern und Jugendlichen seit Beginn der Pandemie in bisher fünf Befragungswellen von 2020 bis 2022. Die 11- bis 17-Jährigen haben ihre Fragebögen selbst ausgefüllt, außerdem wurden Eltern von 7- bis 17-Jährigen zu Familien- und Kindergesundheit befragt. Die Stichprobe entspricht der Struktur der bundesdeutschen Grundgesamtheit laut aktuellem Mikrozensus (2018). Die fünfte Befragungswelle wurde im September und Oktober 2022 durchgeführt und mit präpandemischen Referenzwerten der „Befragung zum seelischen Wohlbefinden und Verhalten“ (BELLA) verglichen. Bei BELLA handelt es sich um ein Zusatzmodul der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KIGGS) im Rahmen der Bundesgesundheitsberichterstattung am Robert Koch-Institut (RKI).
Kinder- und Jugendärzt:innen müssen besser auf die Untersuchung misshandelter Kinder vorbereitet werden. Zu diesem Ergebnis kommt Louisa Thiekötter, Promovendin der Uni Witten/Herdecke. Ihre Ergebnisse wurden nun im internationalen Journal „Children“ veröffentlicht.
Kinder- und Jugendärzt:innen spielen als primäre Ansprechpartner:innen zu Gesundheitsthemen eine Schlüsselrolle bei der Aufdeckung von Kindesmisshandlung. Jedoch sind sie oftmals enorm emotional gestresst und in der Folge unsicher, wenn sie erste Anzeichen dafür bemerken. Auffallend ist, dass dieses Phänomen bei jungen wie erfahrenen Ärzt:innen auftritt.
Louisa Thiekötter ist selbst Kinder- und Jugendärztin in Weiterbildung an der Vestischen Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in Datteln, einem Kooperationskrankenhaus der Universität Witten/Herdecke (UW/H). In ihrer Promotionsarbeit sammelte sie Daten dazu, wie gestresst Kinderärzt:innen sind, wenn sie womöglich misshandelte Kinder oder Jugendliche untersuchen. „Der Stressgrad, den die befragten Ärztinnen und Ärzte angeben, übersteigt deutlich klassische Notfallsituationen in der Primärversorgung. Das ist ein Zeichen dafür, dass es hier in der Ausbildung, aber auch in der Bereitstellung von Ressourcen, Verbesserungsbedarf gibt“, fasst Thiekötter die Ergebnisse zusammen.
„Zwar sind Ärzt:innen grundsätzlich vertraut mit der Kinderschutzleitlinie, doch nicht immer sind die Anzeichen einer Kindeswohlgefährdung eindeutig als solche einzuordnen“, ergänzt Prof. Dr. med. Oliver Fricke, Co-Autor der Publikation. „Auch in der Kommunikation mit Eltern oder Behörden fehlen häufig konkrete, praxistaugliche Prozesse und Informationen zur Umsetzung der Gespräche. Zudem ist der fachliche sowie interdisziplinäre Austausch – zum Beispiel zum eng benachbarten Gebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie und zur Psychotherapie – ausbaufähig.“
Die Untersuchung wurde vom Berufsverband der Kinder- Jugendärzte unterstützt. Die nun vorliegenden Ergebnisse sollen dazu genutzt werden, die notwendigen Verbesserungen im Umgang mit Stressoren im Kinderschutz anzustoßen und dadurch die fachliche Versorgung in diesem Gebiet weiterzuentwickeln. Insbesondere könnten gesundheitspolitisch veranlasste Änderungen in der Ausbildung der Kinder- und Jugendärzte dazu beitragen, dass die Ärzt:innen für solch belastende Situationen besser ausgebildet werden. Dann könnten auch die bereits bestehenden Gesetze und Leitlinien effektiver greifen.
Alle Ergebnisse sind als Publikation im internationalen Journal „Children“ im Open Access erschienen: https://www.mdpi.com/1892938
Titel der Originalpublikation:
How Stressful Is Examining Children with Symptoms of Child Abuse?—Measurement of Stress Appraisal (SAM) in German Physicians with Key Expertise in Pediatrics
Pressestelle der Universität Witten/Herdecke, 17.11.2022
Das Institut für sozialwissenschaftliche Forschung und Weiterbildung (IFW) an der Hochschule Koblenz hat gemeinsam mit den Klärwerken Koblenz und Neuwied I und mit der Bundesanstalt für Gewässerkunde das kriminologische Forschungsprojekt „Drogen in Koblenz und Umgebung – Abwasseranalyse auf Rückstände von Kokain-Konsum“ durchgeführt. Die Ergebnisse lassen Rückschlüsse auf die Menge und Qualität des konsumierten Kokains sowie auf die weiteren Umstände des Konsums zu.
Das Forschungsteam entnahm die Proben während einer Trocken-Wetter-Periode vom 8. bis 14. März 2022. Die Bundesanstalt für Gewässerkunde untersuchte die Abwässer auf Kokain, Bezoylecgonin (BE, ein Humanmetabolit des Kokains), Cocaethylen und Levamisol. Die Analyse erfolgte anhand der Standards des European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction (EMCDDA, Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht), welches seit einigen Jahren in vielen Städten Europas Abwasseruntersuchungen auf Drogenrückstände durchführen lässt.
Auf der Grundlage der Messergebnisse führte das Forschungsteam eine kriminologische Auswertung durch. Nach dem Kokaingenuss scheidet der menschliche Körper im Urin das Abbauprodukt Benzoylecgonin aus. Im Untersuchungszeitraum wurde für den Raum Koblenz/Neuwied eine durchschnittliche Benzoylecgonin-Tagesfracht von etwa 276 Gramm/Tag/1000 Einwohner detektiert. Daraus errechnet sich unter Berücksichtigung von Unsicherheitsfaktoren wie etwa dem Aufkommen von Tagestourismus für den Beprobungszeitraum ein Kokainkonsum zwischen 0,4 und 1,6 Gramm pro Tag auf 1000 Einwohner.
Cocaethylen wird bei gleichzeitigem Konsum von Kokain und Alkohol ausgeschieden. Hierbei zeigte sich, dass die Verhältnisse von Cocaethylen zu Benzoylecgonin am Wochenende höher sind als an Werktagen. Dies lässt sich durch einen verstärkten gemeinsamen Konsum von Kokain und Alkohol am Wochenende erklären.
Bei der Analyse trat auch die zuweilen schlechte Qualität des in Koblenz und Umgebung konsumierten Kokains zu Tage, wie Projektleiter Prof. Dr. jur. Winfried Hetger erklärt: „Das Auffinden von Levamisol als Streckmittel von Kokain in einer Konzentration von durchschnittlich 14 Prozent ist besorgniserregend.“ Bei Levamisol handelt es sich um ein Entwurmungsmittel aus der Veterinärmedizin, welches in Deutschland nicht zugelassen ist. Der Konsum von mit Levamisol gestrecktem Kokain bedeutet ein erhebliches Gesundheitsrisiko für die Konsumierenden.
Der Forschungsbericht empfiehlt die Einrichtung eines Drug-Checking-Programms in Deutschland, wie dies beispielsweise schon in der Schweiz, Österreich, den Niederlanden, Frankreich, Belgien, Großbritannien und Luxemburg seit Jahren etabliert ist. Hierbei können Kokainkäufer und -käuferinnen ihre Drogen auf gefährliche Überdosierungen und andere medizinisch bedenkliche Stoffe untersuchen lassen. Des Weiteren befürwortet der Bericht, in der Zukunft erneute Abwasseruntersuchungen zur weiteren Beobachtung des Drogenkonsums durchzuführen. „Auch wäre eine Drogenpräventions- und Aufklärungskampagne über Risiken des Drogenkonsums angezeigt. Hierbei sollten auch die genannten Gesundheitsgefahren deutlich herausgestellt werden“, betont Hetger.
Der Forschungsbericht ist auf der Homepage des Instituts für sozialwissenschaftliche Forschung und Weiterbildung des Fachbereichs Sozialwissenschaften der Hochschule Koblenz www.hs-koblenz.de/ifw unter dem Menüpunkt „Forschung“ abrufbar.
Pressestelle der Hochschule Koblenz – University of Applied Sciences, 6.12.2022
Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2022, 222 Seiten, 36,00 €, ISBN 978-3-17-042112-7, auch als E-Book erhältlich
Kindeswohlgefährdungen gehören bedauerlicherweise zur gesellschaftlichen Realität. Im Buch wird das Thema Kindeswohl mit seinen möglichen täglichen Bedrohungen beschrieben, und es werden die gesetzlichen Grundlagen behandelt, die Kinder in Deutschland vor Gefährdungen schützen sollen. In 30 auf wahren Begebenheiten basierenden Therapiegeschichten werden die Facetten und diversen Szenarien von Gewalt, deren kumulierende Wirkung und auch deren Tarnung dargestellt und theoretisch erläutert.
Die Therapieverläufe offenbaren unglaubliche Kinderschicksale. Die Geschichten sind letztlich Erzählungen über unsere verletzte Gesellschaft und ein Plädoyer für die Pflicht zum präventiven Handeln und zur Rekonstruktion der kindlichen Würde. Im Anschluss an die Geschichten gibt die Autorin konkrete Hinweise, wie Professionelle und Angehörige bzw. das soziale Umfeld im Falle eines Verdachts oder des tatsächlichen Vorliegens von Kindeswohlgefährdung reagieren sollten.
Kinder mit einem psychisch oder suchtkranken Elternteil sind vielfältigen, oft chronischen Belastungen und kumulierenden Risikofaktoren ausgesetzt. Sie gelten als Hochrisikogruppe für die Entstehung einer eigenen psychischen und/oder Suchterkrankung und tragen ein großes Risiko, vernachlässigt oder misshandelt zu werden. Hierbei bilden die Kinder, die bereits durch Exposition von Alkohol oder anderen Substanzen in der Schwangerschaft pränatal geschädigt wurden, eine vulnerable Gruppe mit besonderer Gefährdung. Die Vermittlung von Hilfen sowie der Schutz von Kindern in sogenannten Hochrisikofamilien stellen für die beteiligten Systeme eine besondere Herausforderung dar. Bei hoher Komorbidität von Sucht- und psychischen Erkrankungen – bei 40 bis 50 Prozent der Suchterkrankten bestehen zusätzlich psychische Erkrankungen (Jacobi et al., 2010) – und aufgrund fehlender Möglichkeiten, alle Betroffenen zu erfassen, gehen konservative Schätzungen von ca. fünf Millionen Kindern mit einem psychisch oder suchtkranken Elternteil in Deutschland aus (Lenz & Wiegand-Grefe, 2017). Es ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen.
Fachkräfte im Gesundheitssystem orientieren sich bei ihrer täglichen Arbeit an Empfehlungen von Leitlinien. Im Folgenden stellen wir die für die Thematik relevanten Leitlinien kurz vor und werden auf den Leitfaden „Präventiver Kinderschutz bei Kindern psychisch und suchtkranker Eltern“ der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) gezielt eingehen.
Übersicht aktueller Leitlinien
Im Februar 2019 wurde unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) die AWMF S3+ Leitlinie Kindesmisshandlung, -missbrauch und -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinienbüro, 2019), kurz AWMF S3+ Kinderschutzleitlinie veröffentlicht. Sie beruht auf höchstem wissenschaftlichem Niveau, und alle Empfehlungen wurden durch ein repräsentatives Gremium aus 82 Fachgesellschaften und Organisationen aus Medizin, Psychologie, Sozialer Arbeit und Pädagogik erstellt und verabschiedet.
Die Kinderschutzleitlinie soll Fachkräfte im Gesundheitssystem dabei unterstützen, eine Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und einen sexuellen Missbrauch frühzeitig zu erkennen, festzustellen und mit den erkannten Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung fachgerecht und kompetent umzugehen. Außerdem soll die Leitlinie Fachkräften aus anderen Versorgungsbereichen wie z. B. der Kinder- und Jugendhilfe die Arbeit im Gesundheitssystem transparent darstellen. Alle Informationen und Veröffentlichungen zur Kinderschutzleitlinie sind abrufbar auf den Homepages der AWMF oder DGKiM.
Eine der Handlungsempfehlungen der Kinderschutzleitlinie besagt, dass bei allen Erwachsenen, die aufgrund einer Intoxikation, eines (versuchten) Suizids oder einer akuten psychischen Dekompensation in der Notaufnahme behandelt werden, danach gefragt werden soll, ob diese Erwachsenen für Minderjährige verantwortlich sind. Wenn diese Frage bejaht wird, soll der Sozialdienst der Klinik informiert werden, um in Erfahrung zu bringen, inwieweit es einen Hilfebedarf in der Familie gibt.
Weitere aktuelle Leitlinien:
AWMF S3-Leitlinie Metamphetamin-bezogene Störungen (Drogenbeauftragte der Bundesregierung et al., 2017)
Fokus: DGKiM-Leitfaden „Präventiver Kinderschutz bei Kindern psychisch und suchtkranker Eltern“
ezüglich der Thematik Kinder psychisch und suchtkranker Eltern veröffentlichte der Arbeitskreis Prävention der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin im Dezember 2020 einen Leitfaden für Präventiven Kinderschutz bei Kindern psychisch und suchtkranker Eltern. Dieser Leitfaden informiert Fachkräfte im Gesundheitssystem über Prävention und Intervention bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen. Er beruht auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen in Anlehnung an die AWMF S3+ Kinderschutzleitlinie und auf in der Praxis bewährten Vorgehensweisen. Nach einer Einführung in die Thematik werden Empfehlungen für präventives Handeln bezogen auf die unterschiedlichen Entwicklungsstufen der Kinder gegeben.
Auswirkungen der elterlichen Erkrankung auf das Fürsorgeverhalten und das familiäre System
Nicht jede psychische Störung oder Suchterkrankung eines Elternteils führt zwangsläufig zu einer eingeschränkten Erziehungskompetenz oder einer Gefährdung des Kindeswohls. Eine zentrale Rolle bei der Beurteilung der elterlichen Erziehungsfähigkeit spielen die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung und die Kompetenz der Eltern, einfühlsam die Bedürfnisse der Kinder wahrzunehmen und diese angemessen zu befriedigen (Plattner, 2017). Psychisch oder suchterkrankte Eltern zeigen jedoch in erhöhtem Maße eine eingeschränkte emotionale Bindungs- und Empathiefähigkeit. Die Auswirkungen auf die Co-Regulation und die Eltern-Kind-Interaktion verdeutlicht Abbildung 1.
Abbildung 1: Entstehung von Risikokonstellationen – frühe Hinweise bei den Eltern und Auswirkungen auf elterliche Co-Regulation und Interaktion
Häufig ist der Familienalltag wenig strukturiert und bietet unzureichende kognitive und soziale Anregung, Explorationsmöglichkeiten und Regulationshilfen für die Kinder. Diese erleben ihre Eltern immer wieder als instabil und schlecht berechenbar. Weitere Problemfelder sind die häufige soziale Isolation sowie das hohe Risiko, dass die Eltern sich durch die Kinder persönlich eingeschränkt fühlen und den Kindern negative Emotionen (Ärger, Feindseligkeit, Wut, Hass) entgegenbringen. Betroffene Eltern zweifeln häufig an der eigenen elterlichen Kompetenz mit daraus folgenden Gefühlen von Enttäuschung, Unzulänglichkeit, Versagen und Hilflosigkeit.
Außerdem zeigt sich eine erhöhte Prävalenz von familiärer Disharmonie (Trennung/ Scheidung), Arbeitslosigkeit, finanziellen Problemen, problematischen Wohnverhältnissen und kritischen Lebensereignissen (z. B. schwere Erkrankung oder Tod eines Elternteils, Krankenhausaufenthalte, Polizeieinsätze, Inhaftierung). Das Risiko für Unfälle und Verletzungen ist erhöht. In manchen Familien herrscht eine Atmosphäre ständiger Angst und Unsicherheit. Häusliche Gewalt sowie Vernachlässigung und Misshandlung treten häufiger auf und bedeuten damit ein hohes Entwicklungsrisiko für die Kinder (Klein, 2008).
Direkte altersbezogene Folgen für die Kinder
Eine Gefährdung der kindlichen Entwicklung kann bereits durch eine intrauterine Substanzexposition – sowohl von legalen (Nikotin, Alkohol, Medikamente) als auch illegalen Substanzen (häufig auch in Kombination) – und durch pränatale Stressbelastung der Mutter entstehen. Neurobiologische Forschungen zeigen Zusammenhänge zwischen dem Belastungserleben der Schwangeren und Veränderungen der Hirnmorphologie und Neuroendokrinologie des ungeborenen Kindes. Die stressbezogenen Umwelteinflüsse ab dem frühen Kindesalter stellen einen Hauptrisikofaktor für die Entstehung späterer psychopathologischer Erkrankungen dar (Albermann et al., 2019).
Zum breiten Spektrum potenzieller Komplikationen und Erkrankungen des Kindes in der Neonatalzeit nach intrauteriner Substanzexposition gehören u. a. Frühgeburtlichkeit, intrauterine Wachstumsretardierung, Mikrozephalie (deutlich zu kleiner Kopfumfang), Fehlbildungen, Hyperexzitabilität (Übererregbarkeit des Zentralen Nervensystems), Trink- und Ernährungsschwierigkeiten sowie zerebrale Erkrankungen mit z. T. langfristigen Konsequenzen und erheblichen kognitiven Einschränkungen.
Nach der Geburt manifestieren sich bei ca. 50 bis 90 Prozent der Neugeborenen nach (legalem oder illegalem) Substanzkonsum in der Schwangerschaft (auch nach Substitution) Entzugssymptome, die unter dem Begriff Neugeborenen-Abstinenz-Syndrom (NAS) zusammengefasst werden. Klinische Symptome zeigen sich in der Regel innerhalb der ersten 24 bis 36 Lebensstunden, allerdings bei mütterlichem Zusatzkonsum von Benzodiazepinen häufig auch zeitverzögert (nach sieben Tagen bis zu vier Wochen). Deshalb sollten neben Geburtshelfern, Neonatologen, medizinischem Pflegepersonal und Hebammen auch Kinder- und Jugendärzt:innen mit der Symptomatik vertraut sein (Rohrmeister & Weninger, 2006).
Zumindest in den USA haben sowohl die Inzidenz als auch die Behandlungsdauer für das NAS in den letzten Jahren zugenommen. Aus Europa liegen keine systematisch erhobenen Daten vor (Gortner & Dudenhausen, 2017). Nach Schätzungen werden jährlich bundesweit ca. 2.000 Kinder drogenabhängiger Mütter geboren. Das entspricht einer Inzidenz von 1:3000 (Hüsemann, Nagel & Obladen, 2008). Prävalenzdaten zum Konsum illegaler Substanzen in der Schwangerschaft sind nicht verfügbar. Auch eine annähernde Schätzung des illegalen Substanzkonsums ist aufgrund häufiger Verschweigungstendenzen und geringerer Inanspruchnahme von vor- und nachgeburtlichen Hilfen betroffener Schwangerer sehr schwierig.
Aufgrund des häufigen Mischkonsums von illegalen und legalen Drogen können direkte substanzbezogene Langzeiteffekte auf die Kinder (z. B. auf Regulationsfähigkeit, Lernverhalten und Gedächtnisleistungen) nur eingeschränkt wissenschaftlich belegt werden. Aussagen über Wirkungseffekte, die auf eine einzelne Substanz zurückgeführt werden können, sind bei der derzeitigen Forschungslage nicht möglich. Insbesondere werden jedoch nach wie vor die Langzeitschädigungen durch Nikotin und Cannabinoide erheblich unterschätzt. Generell steigt das Risiko für das Ungeborene mit der Häufigkeit der Einnahme, der Dosis und der Vielfalt der konsumierten Substanzen.
Exkurs: Fetale Alkoholspektrum-Störungen (FASD)
Eine zahlenmäßig sehr bedeutsame Gruppe sind die Kinder, die durch mütterlichen Alkoholkonsum in der Schwangerschaft geschädigt wurden. Die im Zusammenhang mit intrauteriner Alkoholexposition auftretenden kindlichen Folgeschädigungen, Entwicklungsstörungen und Behinderungen werden unter dem Oberbegriff Fetale Alkoholspektrum-Störungen (FASD/Fetal alcohol spectrum disorder) zusammengefasst. Bundesweit trinken ca. 28 Prozent der Schwangeren Alkohol in der Schwangerschaft, ca. 16 Prozent zeigen ein binge-drinking-Verhalten (mind. fünf Getränke zu einer Gelegenheit) (Landgraf & Hoff, 2018).
Nach jetzigem Kenntnisstand muss davon ausgegangen werden, dass jeglicher Alkoholkonsum in der Schwangerschaft den Embryo gefährden kann. Statistische Schätzungen von Kraus et. al, die die Häufigkeit von mütterlichem Alkoholkonsum während der Schwangerschaft und das Risiko für eine FASD bei intrauteriner Alkoholexposition mit einbeziehen, zeigen eine Inzidenz der FASD von 1,77 Prozent in Deutschland. Eine zuverlässige Prävalenzstudie zu FASD existiert in Deutschland bisher nicht (Kraus et al., 2019). Die aktuell vorliegenden Daten beruhen auf Hochrechnungen oder Schätzungen. Expertenschätzungen gehen von einer einprozentigen FASD-Prävalenz der Gesamtbevölkerung aus. Bezogen auf Deutschland wären somit ca. 0,8 Millionen Menschen, davon 130.000 Kinder, von FASD betroffen (Landgraf & Heinen, 2016; Landgraf & Hoff, 2018).
Die routinemäßige Erfassung des Alkohol- und Drogenkonsums gehört in Deutschland zum Standard in der Schwangerenvorsorgeuntersuchung. Allerdings wird eine offene Ansprache des Konsums oft vermieden bzw. aufgrund struktureller und zeitlicher Belastungen nur unzureichend nachgefragt (Landgraf & Heinen, 2016; Nagel & Siedentopf, 2017). Hinzu kommt, dass die Frauen die tatsächliche Konsummenge möglicherweise nicht angeben bzw. aus Scham und Angst vor sozialer Stigmatisierung häufig alkoholverneinende Angaben machen. Aufgrund dessen ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Daher sollte bei Screening-Verfahren in der Schwangerschaft auf jeglichen Alkoholkonsum und nicht nur auf riskante Konsummuster geachtet werden. Angestrebtes Ziel der Aufklärung und Beratung sollte die Prävention einer Alkohol-exponierten Schwangerschaft sein.
Mögliche Folgen der teratogenen und neurotoxischen Wirkungen bei Alkoholexposition in der Schwangerschaft sind Wachstumsstörungen, typische Gesichtsdysmorphien, Hirnschädigungen und Beeinträchtigungen der geistigen und seelischen Entwicklung, Verhaltensauffälligkeiten sowie Funktions- und Alltagsbeeinträchtigungen des Kindes, die bis ins Erwachsenenalter persistieren. Die Störungen können in unterschiedlicher Ausprägung auftreten (Vollbild Fetales Alkoholsyndrom = FAS; nur einzelne Bereiche betreffend = partielles FAS/pFAS; auf entwicklungs-neurologische Störungen beschränkt = Alkoholbedingte Entwicklungsneurologische Störung/ARND), was aber nicht gleichzeitig eine geringere Schwere der Erkrankung impliziert. Für die Diagnostik der FASD steht seit 2016 eine evidenz- und konsensbasierte S3-Leitlinie zur Verfügung (Landgraf & Heinen, 2016). Empfohlen wird eine vernetzte, multimodale, interdisziplinäre Diagnostik und Therapie, wie sie in einigen wenigen spezialisierten Zentren bundesweit oder in sozialpädiatrischen Zentren vorgehalten wird. Dabei sollen die individuelle Problemlage und Alltagseinschränkungen des Kindes immer im Fokus stehen (Landgraf & Hoff, 2018).
Neben biologischen und (epi)genetischen Faktoren müssen auch die Umgebungs- und Sozialisationsbedingungen, unter denen die Kinder nach intrauteriner Substanzexposition aufwachsen, berücksichtigt werden. Das Aufwachsen mit suchtkranken Eltern stellt für die Kinder und Jugendlichen eine enorme Belastung dar. Sie fühlen sich nicht gesehen und erfahren häufig nur unzureichende elterliche emotionale und erzieherische Unterstützung und Fürsorge. Damit sind sie einem entwicklungsgefährdenden, dysfunktionalen elterlichen Verhalten ausgesetzt, in kritischen Fällen auch dem Risiko von Vernachlässigung und Misshandlung. Die Folgen für die Kinder sind umso gravierender, je früher und länger sie mit der elterlichen psychischen und Suchterkrankung konfrontiert sind, je schwerer ausgeprägt die Erkrankung ist und je mehr zusätzliche familiäre Belastungen vorliegen, die nicht durch vorhandene Schutzfaktoren kompensiert werden können. Ein weiteres Problem stellt die „Parentifizierung“, d. h. die Sorge um die Eltern, die Fürsorge für jüngere Geschwister, die Erledigung des Haushalts und das Wahren der Fassade durch die betroffenen Kinder, dar.
Empfehlungen für präventives Handeln
Bei Unterstützungsmaßnahmen für Kinder psychisch und suchtkranker Eltern spielen neben der Beratung und Unterstützung der Eltern insbesondere Angebote für die Kinder und Jugendlichen selbst entlang ihrer Entwicklungsphasen eine wichtige Rolle. Diese sollten möglichst frühzeitig erfolgen. Wichtig ist die Ermöglichung eigener Zugangswege für Kinder, die es ihnen erlauben, im Bedarfsfall auch eigenständig und ohne Einverständnis der Eltern nach Hilfe zu fragen, insbesondere bei mangelnder oder fehlender Krankheitseinsicht der Eltern. Diese Empfehlung, die die Arbeitsgruppe Kinder psychisch und suchtkranker Eltern in ihrem Abschlussbericht formuliert (Arbeitsgruppe Kinder psychisch und suchtkranker Eltern, 2019, Empfehlung Nr. 2; siehe auch Artikel auf KONTUREN online), wurde inzwischen im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz berücksichtigt. In § 8 SGB VIII wurde das Vorliegen einer „Not- und Konfliktlage“ als Voraussetzung für einen Beratungsanspruch gestrichen. Somit haben Kinder und Jugendliche nun auch ohne ihre Eltern einen uneingeschränkten eigenen Anspruch auf Beratung durch die Kinder- und Jugendhilfe. Die Beratung kann auch durch einen Träger der freien Jugendhilfe erbracht werden (Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen – Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG, 2021).
Ein zentrales Thema stellt die Psychoedukation der Kinder dar. Folgende Informationen und Botschaften sollten Kindern psychisch und suchtkranker Eltern gegeben werden (Moesgen et al., 2017):
Sucht ist eine psychische Erkrankung und somit eine Krankheit.
Die Eltern sind wegen ihrer psychischen Erkrankung keine schlechten Menschen.
Das Kind hat keine Schuld an psychischen und Suchtproblemen von Vater oder Mutter.
Es kann den Eltern nicht helfen und es ist auch nicht seine Aufgabe, deren Sucht zu kontrollieren oder die Erkrankung zu heilen.
Das Kind hat trotz der Krankheit im Elternhaus das Recht, Kind zu sein, zu spielen, die Welt zu entdecken, Freundschaften zu entwickeln, die eigenen Fähigkeiten zu erproben und sich selbst zu lieben und zu achten.
Präventiver Kinderschutz in Familien mit einem psychisch oder suchtkranken Elternteil bedeutet oft eine Gratwanderung. Es gilt, gefährdete Kinder frühzeitig zu identifizieren und ihnen und den Eltern angemessene Unterstützung anzubieten, dabei gleichzeitig die elterliche Autonomie zu respektieren und schließlich Gefährdungssituationen deutlich abzugrenzen und ggf. geeignete Kinderschutzmaßnahmen einzuleiten (Albermann et al., 2019). Bei Hinweisen auf eine Gefährdung des Wohles oder der Entwicklung des Kindes bei fehlender Mitwirkung der Eltern sollten immer Maßnahmen unter Berücksichtigung des § 4 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) Anwendung finden (Kinderschutzleitlinienbüro, 2019). Wichtig sind in multidisziplinären und multiinstitutionellen Settings ein regelmäßiger (auch fallbezogener) Austausch, z. B. in Netzwerktreffen, Qualitätszirkeln, Helferkonferenzen usw., sowie eine eindeutige Festlegung der Verantwortlichkeiten der einzelnen Akteure.
Exkurs: Gesetzliche Grundlage zum Vorgehen bei Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung (§ 4 KKG)
Das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) regelt im § 4 die Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger an das zuständige Jugendamt beim Auftreten von Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung. Unter dem Begriff Geheimnisträger:in sind verschiedene Berufsgruppen aufgeführt, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Fachkräfte des Gesundheitssystems sind dabei explizit benannt.
Werden diesen Berufsgruppen im Rahmen ihrer Tätigkeit Hinweise für eine Kindeswohlgefährdung bekannt, so ist ein stufenweises Vorgehen geregelt (s. Abbildung 2).
Abbildung 2: Vorgehen bei Bekanntwerden von gewichtigen Anhaltspunkten für Kindeswohlgefährdung (Material entnommen aus Kinderschutzleitlinie 2021)
Präkonzeptionelle Prävention
Unter dem Aspekt des präventiven Kinderschutzes ist im Kontext der Betreuung von psychisch und suchtkranken Frauen die Frage zu klären, ob ein aktueller oder zukünftiger Kinderwunsch besteht. Ebenso bedeutsam ist die Berücksichtigung des Risikos einer ungeplanten Schwangerschaft. Diesbezüglich ist eine frühe Anbindung an eine gynäkologische Praxis sowie eine psychiatrische, ggf. suchtmedizinische, Betreuung der Frauen notwendig. Im Rahmen der medizinischen Betreuung sind mögliche Risiken einer Schwangerschaft aufgrund der Schwere der Erkrankung, der Medikation oder eines Substanzkonsums zu prüfen. Ebenso muss die psychopharmakologische Medikation bezüglich eines erhöhten Fehlbildungsrisikos (Embryotoxizität) überprüft werden. Im Bedarfsfall sollte eine Umstellung der Medikation erwogen werden (Kittel-Schneider, 2019).
Als Leitlinien liegen die AWMF S3-Leitlinien für Unipolare Depression (BÄK, KBV, AWMF, no date), Bipolare Störungen (DGBS & DGPPN, 2019) und Schizophrenie (DGPPN, no date) vor. Im Rahmen der ärztlichen Aufklärung/Psychoedukation über die jeweilige Erkrankung sollten psychisch und suchtkranke Frauen auch über die Auswirkungen einer möglichen Schwangerschaft auf die Erkrankung informiert werden.
Schwangerschaft
Schwangerschaften von psychisch und suchtkranken Frauen gelten als Risikoschwangerschaften. Viele dieser Schwangerschaften sind ungeplant, bei suchtkranken Frauen ca. 85 Prozent. Sie werden oft spät bemerkt oder sich spät eingestanden. Kontakte mit Gynäkolog:innen finden oft erst weit nach dem ersten Trimenon statt. Ängste, Schuld- und Schamgefühle hindern viele Frauen daran, Vorsorge- und Unterstützungsangebote in Anspruch zu nehmen. Es bestehen oft multikomplexe Problemlagen. Diese aggravierenden Begleitfaktoren erklären das breite Spektrum potenzieller Komplikationen und Erkrankungen des Kindes in der Neonatalzeit und die mögliche Beeinträchtigung nach der Geburt. Zudem ist die körperliche Situation von suchtkranken schwangeren Frauen oft von Mangel- und Fehlernährung und von Begleiterkrankungen wie Hepatitiden und HIV-Infektionen gekennzeichnet. Häufig wird ein zurückliegender oder aktueller Konsum gegenüber Gynäkolog:innen, Kliniken, Hebammen oder Beratungsstellen verheimlicht, wodurch erforderliche Vorbereitungen auf die Geburt und eine fachlich kompetente Betreuung unterbleiben (Tödte & Bernhard, 2016).
Die bedarfsgerechte Substitutionstherapie mit langwirksamen Opiaten oder Opioiden stellt die Standardtherapie von opiatabhängigen Schwangeren dar (Bundesärztekammer, 2017). Die suchtmedizinische Behandlung ist eine notwendige Initialmaßnahme, der weitere Behandlungen und Interventionsmaßnahmen folgen müssen, um die Risiken für das Kind zu senken. In Kooperation mit weiteren Fachdisziplinen, u. a. der Psychosozialen Betreuung (PSB) und optimalerweise der Jugendhilfe, sollte der umfassende medizinische Behandlungsprozess begleitet und abgesichert werden (Nagel & Siedentopf, 2017). Dies beinhaltet eine frühzeitige Zusammenarbeit von Sozialen Diensten, Kinder- und Jugendheilkunde, Gynäkologie und Suchtmedizin. Die Standards in der Betreuung suchtkranker Schwangerer zeigt Abbildung 3.
Abbildung 3: Standards in der Betreuung suchtgefährdeter und suchtkranker schwangerer Frauen, modifiziert nach Nagel & Siedentopf 2017; Landgraf & Hoff 2018
Geburt und frühe Kindheit
Im Gegensatz zu der vor- und nachgeburtlichen Phase werden in der Geburtsklinik in einem begrenzten Zeitraum (ein bis drei Tage) nahezu alle entbindenden Frauen (98 Prozent) mit ihren Kindern, darunter auch Mütter mit psychosozialen und gesundheitlichen Belastungen, erreicht. Die Mütter sind insbesondere am Tag nach der Entbindung offen für Gespräche. Sie nehmen während der kurzzeitigen stationären Behandlung in der Geburtsklinik Unterstützungsangebote leichter an als später.
Aufgrund der Häufigkeit von Entzugssymptomen bei Neugeborenen nach mütterlichem Substanzkonsum in der Schwangerschaft (Neugeborenen-Abstinenz-Syndrom, NAS) sollten Geburtshelfer, Neonatolog:innen, medizinisches Pflegepersonal, Hebammen und Kinder- und Jugendärzt:innen mit der Symptomatik vertraut sein. Entwickelt das Neugeborene Entzugssymptome, wird nach der aktuellen AWMF-S3-Leitlinie Kinderschutz (Kinderschutzleitlinienbüro, 2019) eine Verlegung in eine neonatologische Abteilung empfohlen, die ein strukturiertes Vorgehen zur Erkennung, Überwachung und Behandlung eines NAS vorhält und anwendet. Die Behandlung sollte auch ein strukturiertes Besuchs- und Interaktionsprotokoll und ein multiprofessionelles Vorgehen, einschließlich einer Fallkonferenz mit den Eltern und den unterstützenden Helfersystemen, beinhalten, um möglichst bereits vor der Entlassung erforderliche Unterstützungsmaßnahmen einleiten zu können. Optimalerweise sollte die stationäre Versorgung in enger Kooperation mit der klinikinternen Kinderschutzgruppe erfolgen.
Vorrangige Ziele sind die Förderung einer sicheren Eltern-Kind-Bindung, die Gewährleistung einer zuverlässigen und stabilen sozialen Umwelt, die Vermeidung traumatisierender familiärer Beziehungsmuster und die Sicherung der sozialen und wirtschaftlichen Situation. Für die Kinder sollten routinemäßig folgende Leistungen durchgeführt werden:
eine engmaschige Entwicklungsbeobachtung – oft auch über die regelhaften Vorsorgeuntersuchungen hinaus,
die Initiierung von erforderlichen therapeutischen, sozial- und heilpädagogischen oder rehabilitativen Maßnahmen und
eine kontinuierliche Betreuung bis ins Adoleszenten-Alter. Dies ist zum Beispiel durch die Anbindung an ein Sozialpädiatrisches Zentrum möglich.
Vorschulkinder (3–6 Jahre)
Nur ein prozentual sehr kleiner Anteil der betroffenen Kinder findet den Weg in spezielle präventive Angebote, von denen allerdings bundesweit (noch) viel zu wenige existieren. Ein sehr viel größerer Teil der Kinder – insbesondere bei mangelnder oder fehlender Krankheitseinsicht der Eltern – ist ausschließlich in den Settings zu erreichen, in denen sich Kinder und Jugendliche sowieso aufhalten: in Kindertagesstätten, Schulen und Horteinrichtungen sowie in ärztlichen oder therapeutischen Praxen oder in Kliniken. Damit die dortigen Mitarbeitenden mögliche Anzeichen einer familiären Suchterkrankung besser erkennen und adäquat darauf reagieren können, sollten entsprechende Inhalte in die pädagogischen, psychologischen und medizinischen Ausbildungen aufgenommen werden. Kinder- und Jugendärzt:innen nehmen in den ersten fünf Lebensjahren eines Kindes eine zentrale Stellung ein. Sie sehen nahezu alle Kinder zu den gesetzlich vorgesehenen Früherkennungsuntersuchungen U2/U3 bis U9 (1. Lebenswoche bis 64. Lebensmonat) und führen bei ihnen regelmäßig Untersuchungen zur Gesundheit und zur kindlichen Entwicklung durch. In Arztpraxen sollten Materialien zum Thema Suchthilfe und Suchtprävention sowie zu psychisch kranken Eltern zur Verfügung stehen. Bei allen Mitarbeitenden sollten Kenntnisse über lokal verfügbare Unterstützungs- und Beratungsangebote sowie die jeweiligen Zugangswege vorhanden sein.
Auffälligkeiten im kindlichen Verhalten sowie in der Eltern-Kind-Interaktion und relevante soziale Risikofaktoren sollen im Rahmen der Früherkennungsuntersuchungen im Früherkennungsheft sowie in der Patientenakte dokumentiert werden. Das Vorsorgeheft stellt sowohl für die behandelnden Ärzt:innen als auch für Bildungseinrichtungen und den Öffentlichen Gesundheitsdienst – mit Einverständnis der Eltern – eine wichtige Informationsquelle über den Entwicklungsverlauf des Kindes, stattgehabte schwere Erkrankungen und psychosoziale Risiken dar.
Der Öffentliche Gesundheitsdienst führt spätestens im sechsten Lebensjahr vor der Einschulung die Schuleingangsuntersuchung durch. In diesem Rahmen sollten alle Kinder eines Jahrgangs gesehen werden. Außerdem finden in vielen Kommunen weitere (freiwillige) Untersuchungen der Kindergartenkinder durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst und kinder- und jugendzahnärztliche Untersuchungen statt.
Der Besuch von Kindertageseinrichtungen und anderen Bildungsinstitutionen ist ein wichtiger Schutzfaktor für die Entwicklung von Kindern, die mit psychisch oder suchtkranken Eltern aufwachsen. Die Kinder erfahren dort: klare, transparente und konsistente Regeln und Strukturen, wertschätzendes Klima (Wärme, Respekt und Akzeptanz gegenüber dem Kind), positive Verstärkung der Leistungen und Anstrengungsbereitschaft des Kindes, positive Peerkontakte/Freundschaftsbeziehungen, Förderung von Selbstwahrnehmung, Selbstwirksamkeit, Selbststeuerung und sozialer Kompetenz, Förderung im Umgang mit Stress und von Problemlösefähigkeiten usw. (Schaich, 2017). Dies bedeutet natürlich auch, dass in ausreichendender Zahl entsprechend ausgebildetes Personal zur Verfügung stehen muss.
Entwicklungs- oder verhaltensauffällige Kinder im Kindergartenalter bedürfen einer differenzierten fachlichen Diagnostik und Therapie. Hierbei müssen auch bei belasteten familiären Bedingungen mögliche Differentialdiagnosen wie genetisch bedingte Entwicklungsstörungen, umschriebene Entwicklungsstörungen, Störungen aus dem Autismus-Spektrum oder somatische Erkrankungen ausgeschlossen werden. Somit ist in vielen Fällen die Anbindung an eine interdisziplinäre Frühförderstelle, ein Sozialpädiatrisches Zentrum oder eine Praxis/Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie sinnvoll.
Schulkinder (6–12 Jahre)
Durch die psychische und Suchterkrankung der Eltern können bei Schulkindern und Jugendlichen Schulleistungsstörungen bzw. Verhaltensauffälligkeiten auftreten, wobei die Schwierigkeiten im schulischen Alltag besonders sichtbar werden. Hier ist eine enge Vernetzung von Lehrer:innen, Schulsozialarbeitenden, Schulpsycholog:innen, Kinder- und Jugendärzt:innen und dem Kinder- und Jugendärztlichen Dienst notwendig. Besteht der Verdacht, dass das Kind belastet ist, oder stehen Schulprobleme im Vordergrund, ist eine ausführliche Diagnostik zu empfehlen, z. B. in Schulberatungsstellen/im Schulpsychologischen Dienst, in kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen oder Sozialpädiatrischen Zentren. Je nach Diagnose bzw. Ursachen der Problematik können verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten wie Hilfen zur Erziehung, schulische Förderung, Lerntherapien oder psychotherapeutische Interventionen initiiert werden.
Für Schulkinder kann auch der Besuch einer Gruppe speziell für Kinder psychisch und suchtkranker Eltern sehr hilfreich sein. Ein Ziel in diesen Gruppen ist es, das Krankheitsverständnis und die Problemlösekompetenz der Kinder im Umgang mit alltäglichen Belastungssituationen zu fördern. Insbesondere der Kontakt mit gleichaltrigen Betroffenen ist für viele Kinder eine wichtige Erfahrung, die ihnen zeigt, in ihrer Situation nicht alleine zu sein (Jungbauer, 2019).
Adoleszente (ab 12 Jahren)
Da zu den Hauptrisiken von Kindern psychisch und suchtkranker Eltern die Entwicklung einer eigenen psychischen oder Abhängigkeitserkrankung gehört, ist eine Hauptanlaufstelle im Gesundheitssystem in diesem Alter die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Circa 50 Prozent der dort behandelten Patient:innen haben psychisch und suchtkranke Eltern. Das Angebot der Kinder- und Jugendpsychiatrie reicht von ambulanten Terminen über eine tagesklinische Diagnostik und Therapie bis zur vollstationären Behandlung, ggf. auch geschlossen bei stark fremd- und eigengefährdendem Verhalten. Beratung und Hilfen für Jugendliche bieten bei Fragen zu Sucht und Abhängigkeitserkrankungen auch Drogenberatungsstellen vor Ort an. In der Regel ist aber eine Behandlung ohne längerfristig angelegte Jugendhilfemaßnahmen mit Hilfen zur Erziehung (z. B. Familienhilfe, Erziehungsbeistandschaft, teil- oder vollstationäre Unterbringung) oder Eingliederungshilfe (z. B. Integrationshilfe, Lerntherapie) nicht ausreichend. Eine enge Vernetzung von Gesundheitssystem, Suchthilfe und Jugendhilfe ist daher unabdingbar.
Die Peer-Group und die Beziehung zu Gleichaltrigen nehmen einen immer größeren Stellenwert ein. Wünschenswert wäre daher neben der Aufklärung der Lehrer:innen auch die Aufklärung der Jugendlichen durch Akteure des Gesundheitssystems (z. B. im Biologie-Unterricht oder im Rahmen der Jugendsprechstunde) über Auswirkungen psychischer und Suchterkrankungen und Unterstützungsmöglichkeiten mit Bekanntmachung örtlicher und bundesweiter Anlaufstellen.
Verstärkt sollten für Jugendliche auch digitale Beratungsformate (z. B. anonyme Onlineberatung, Foren, Gruppenchats usw.) genutzt werden, da die Nutzung des Internets ein selbstverständlicher Bestandteil jugendlicher Lebenswelten ist und einen niedrigschwelligen Zugang ermöglicht (Jungbauer, 2019). Diese Angebote und Formate haben sich auch in der Corona-Pandemie als hilfreich erwiesen.
Vernetzung, Kooperation und Fallverantwortung
Die psychische und Suchterkrankung eines oder beider Elternteile hat Auswirkungen auf die gesamte Familie. Von daher müssen die Unterstützungs- und Hilfeangebote auch das gesamte Familiensystem in den Blick nehmen. In die adäquate und umfassende familienorientierte und individuelle Versorgung ist eine Vielzahl von Institutionen und Fachkräften mit unterschiedlichen Aufträgen, Herangehensweisen und Möglichkeiten eingebunden. Dazu gehören Einrichtungen des Gesundheitssystems, der Jugendhilfe, der Suchthilfe u.a.m., deren Leistungen in unterschiedlichen Sozialgesetzbüchern verankert sind. Dies beinhaltet u. a. eine unterschiedliche Finanzierung der für die Familie vorgesehenen Leistungen. Betroffen sind neben dem SGB VIII und dem SGB V auch Leistungen aus anderen Sozialgesetzbüchern wie dem SGB II, dem SGB IX oder dem SGB XII. Von daher müssen die Hilfen interprofessionell entwickelt, gesteuert und miteinander abgestimmt umgesetzt werden.
Bestehende Angebote können nur dann genutzt werden, wenn sie den Familien und Fachkräften bekannt sind. Dieses setzt eine Vernetzung der beteiligten Institutionen und Professionen auch Einzelfall übergreifend voraus. Erforderlich sind Kenntnisse über Aufgaben und Aufträge der einzelnen Anbieter, über Angebotsprofile, Zuständigkeiten und Handlungsmöglichkeiten, interne Organisationsabläufe und Arbeitsgrundlagen der jeweiligen Institutionen. Dadurch können falsche Erwartungen abgebaut, gegenseitige Wertschätzung und Akzeptanz aufgebaut und eine realistische Basis für Kooperation geschaffen werden. Raum dazu bieten regelmäßige interprofessionelle Arbeitskreise, Netzwerktreffen, Qualitätszirkel oder Runde Tische. Bei diesen kommunikativen Verständigungsprozessen auf Expertenebene dürfen allerdings die Bedürfnisse der Familien nicht aus dem Blick geraten (Lenz, 2020).
Bei der fallbezogenen Zusammenarbeit sind Fachkräfte unterschiedlicher Berufsgruppen, Institutionen und Versorgungssektoren beteiligt. Das Fallmanagement beinhaltet Absprachen sowie Regelungen bezüglich der gemeinsamen Verantwortung für die Familie und der eigenen Zuständigkeit für zu übernehmende Aufgaben sowie die Festlegung der Fallverantwortung.
Zusammenfassung
Kinder aus psychisch oder suchtbelasteten Familien tragen ein großes Risiko für Entwicklungs- und gesundheitliche Gefährdungen. Sie gelten als Hochrisikogruppe für eine eigene psychische und/oder Suchterkrankung sowie für Misshandlung und Vernachlässigung.
Präventiver Kinderschutz muss früh einsetzen – idealerweise bereits vor der Schwangerschaft. Belastungen und Gefährdungen bei Kindern und ihren Familien können im Gesundheitssystem erkannt werden, von daher stellt dieses einen wichtigen Zugangsweg dar. Entsprechende Hilfen können anhand der vorhandenen Ressourcen angeboten und vermittelt werden. Notwendig sind frühzeitig zur Verfügung stehende individuell angepasste Hilfen bis hin zu differenzierten Versorgungsangeboten bei hohem Unterstützungsbedarf. Adäquate Hilfen erfordern einen ganzheitlichen Blick auf das gesamte Familiensystem und eine engmaschige Beobachtung der Entwicklung des Kindes. Damit kann wesentlich zu einer Verbesserung der kindlichen Entwicklungsbedingungen, der Lebensqualität der Kinder und zu einer Reduktion späterer körperlicher und psychischer Störungen beigetragen werden.
Wirksame Prävention, Unterstützung und Schutz der betroffenen Kinder und ihrer psychisch und suchtkranken Eltern sind nur interdisziplinär in Kooperation mit anderen Professionen und Systemen fachlich adäquat und erfolgreich zu bewältigen. Notwendige Voraussetzungen sind entsprechendes Fachwissen, geeignete Screening-Instrumente, systematisches und strukturiertes Vorgehen, verbindliche Absprachen, gemeinsame Verantwortungsübernahme mit einer eindeutig definierten Fallverantwortung sowie eine ausreichende personelle und finanzielle Ausstattung.
Interessenkonflikt Die Autor:innen erklären, dass bei der Erstellung des Beitrags kein Interessenkonflikt im Sinne der Empfehlung des International Committee of Medical Journal Editors bestand.
Kontakt:
Dr. med. Lieselotte Simon-Stolz
Kinder- und Jugendärztin
Zertifizierte Kinderschutzmedizinerin (DGKiM)
Leiterin des DGKiM Arbeitskreises Prävention
E-Mail: info@dgkim.de https://www.dgkim.de/
Angaben zu den Autor:innen:
Dr. med. Lieselotte Simon-Stolz, Kinder- und Jugendärztin, Zertifizierte Kinderschutzmedizinerin (DGKiM), Leiterin des DGKiM Arbeitskreises Prävention Dr. med. Hauke Duckwitz, Kinder- und Jugendarzt, Schwerpunkt Neuropädiatrie, Zertifizierter Kinderschutzmediziner (DGKiM), Sana Krankenhaus Gerresheim Frauke Schwier, Kinderchirurgin, Zertifizierte Kinderschutzmedizinerin (DGKiM), Geschäftsführerin Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin
Literatur:
Albermann, K., Wiegand-Grefe, S. & Winter, S.M. (2019) Kinderschutz in Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil, Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie.
Jungbauer, J. (2019) Kinder psychisch erkrankter Eltern – Belastungen, Entwicklungsrisiken und Unterstützungsmöglichkeiten, Sozialpsychiatrische Informationen, 3/2019 (49), S. 37–40.
Klein, M. (2008) Kinder und Suchtgefahren. Risiken, Prävention, Hilfen. Stuttgart: Schattauer.
Kraus, L. et al. (2019) Quantifying harms to others due to alcohol consumption in Germany: A register-based study, BMC Medicine, 17. Available at: https://doi.org/10.1186/s12916-019-1290-0, letzter Zugriff 25.11.2022
Landgraf, M.N. & Heinen, F. (2016) Fetale Alkoholspektrumstörungen: S3-Leitlinie zur Diagnostik. Stuttgart: Kohlhammer.
Lenz A. (2020). Versorgung von Kindern psychisch erkrankter Eltern – Herausforderungen und neue Entwicklungen. Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 69: 399-404.
Lenz, A. & Wiegand-Grefe, S. (2017) Kinder psychisch kranker Eltern. Göttingen: Hogrefe Verlag.
Moesgen, D. & Klein, M. und Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e.V. (Hg.) (2017) Kinder aus suchtbelasteten Familien, BAG Dossier, überarbeitet Auflage 1/2017, Public Health Forum, 18 (2), pp. 18–19.