Ein Totenschädel ziert das Deckblatt. Eine Hälfte des Symbols wird aus den Resten von Zigaretten und anderen Rauchutensilien gebildet. Die andere Hälfte sieht aus wie eine Luftaufnahme eines von Brandrodungen gezeichneten Waldes. Mit eindrücklichen Bildern und deutlichen Worten warnt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in einer aktuellen Publikation vor den gewaltigen Umweltschäden, die vom Tabakrauchen ausgehen.
„Lange bevor diese tödlichen Produkte die Verbraucherinnen und Verbraucher erreichen, hinterlassen sie bereits eine Spur der Verwüstung“, mahnt die WHO. Vom Anbau des Tabaks über die Produktion von Zigaretten bis zur Entsorgung der Kippen verursacht das Rauchen enorme Schäden. Nicht nur an der Gesundheit der Menschen, sondern auch an der unseres Planeten. Damit unterstreicht die WHO ihre Warnung, die sie in einem früheren Bericht veröffentlicht hat.
Tabakproduktion treibt den Klimawandel voran
Jährlich werden etwa 200.000 Hektar Wald für die Tabakproduktion gerodet. Der Tabakanbau wird für rund 5 Prozent des jährlichen Verlusts an Waldflächen verantwortlich gemacht. Die Entwaldung findet zumeist in Regionen statt, die ohnehin gefährdet sind für eine zunehmende Wüstenbildung.
Bei der Produktion von Tabak werden jährlich etwa 22 Milliarden Tonnen Wasser verbraucht. Damit könnten 15 Millionen olympische Schwimmbecken befüllt werden. Und dieser Wert sei laut WHO vermutlich noch unterschätzt. Beim Anbau werden auch jede Menge Pestizide und andere Chemikalien eingesetzt, die Seen, Flüsse und schließlich auch unser Trinkwasser vergiften.
Die Herstellung von Tabak ist zudem besonders energiehungrig. Die grünen Tabakblätter werden getrocknet, bevor aus ihnen Zigaretten hergestellt werden. Die Trocknung erfolgt meist mit warmer Luft. Dafür wird unter anderem Holz und Kohle verbrannt. Neben der enormen Luftverschmutzung in den Produktionsländern werden so insgesamt etwa 84 Megatonnen Kohlendioxid freigesetzt. Das ist etwa so viel, wie beim Start von 280.000 Weltraumraketen in die Atmosphäre gelangt. Die Tabakproduktion ist damit ein bedeutsamer Treiber die Klimakatastrophe.
Jährlich landen 4,5 Milliarden Kippen im Müll
Hinzu kommt der Müll. Jährlich müssen rund 4,5 Milliarden Zigarettenkippen entsorgt werden. Etwa zwei Drittel davon werden achtlos weggeworfen. Die Kippen enthalten Schwermetalle und andere Giftstoffe. Was viele Menschen nicht wissen: Die Filter basieren zwar auf Zellulose, werden aber mit Kunststoffen behandelt. Viele Stummel finden ihren Weg ins Meer, wo sie zu Mikroplastik zerfallen.
Die Beseitigung des Müllbergs falle jedoch zulasten der Steuerzahlenden. Die WHO rechnet vor, dass beispielsweise in Deutschland jährlich über 200 Millionen US-Dollar dafür aufgewendet werden müssen. Die Hersteller müssten stärker in die Pflicht genommen werden, sich an den Müllbeseitigungskosten zu beteiligen, fordert die WHO. In einigen Ländern wie Frankreich oder Spanien sei das auch schon der Fall.
Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgau 2022, 2., aktualisierte Auflage, 294 Seiten, € 27,00, ISBN 978-3-7841-3409-3
Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten Familien und Lebensgemeinschaften weisen ein hohes Risiko auf, selbst eine Abhängigkeitserkrankung und/oder andere psychische Störung zu entwickeln. Um dem entgegenzuwirken, enthält das Methodenhandbuch zahlreiche Arbeitsmaterialien für Einzel-, Gruppen- und Familiensettings zu vielen Themen wie z. B. Kennenlernen, Abschied, Selbstbild und -wahrnehmung, suchtbelastete Elternteile, Suchtprävention usw.
Die 2., aktualisierte Auflage wurde ergänzt um weitere Arbeitsmaterialien, zusätzliche Verweise auf Broschüren, Bücher und Spiele und greift das Thema Fetale Alkoholspektrumstörung (FASD) auf: Sie zeigt Methoden zur Prävention von FASD sowie psychoedukative Herangehensweisen bei Vorliegen eines FASD auf – wie vermittelt man betroffenen Kindern ihre Beeinträchtigung, ohne die leibliche Mutter zu stigmatisieren?
Auf den ersten Blick haben Menschen und Taufliegen nicht viel gemeinsam. Und doch lässt sich anhand der Fliegen viel über den Menschen herausfinden, etwa wenn es um Depressionen geht. So arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) daran, dem Verständnis und damit der Behandlung depressiver Zustände näherzukommen. Die Ergebnisse wurden kürzlich in der renommierten Zeitschrift Current Biology veröffentlicht.
„Anhand der Drosophila-Fliege untersuchen wir unter anderem Naturstoffe aus der traditionellen asiatischen Heilkunde – etwa aus dem Bereich des Ayurveda“, erläutert Prof. Dr. Roland Strauss aus dem Institut für Entwicklungsbiologie und Neurobiologie der JGU. „Einige könnten antidepressiv wirken oder prophylaktisch die Resilienz gegenüber chronischem Stress stärken, es kommt also erst gar nicht zu einem depressionsartigen Zustand.“ Eines der Ziele ist es, die Wirkung der Stoffe nachzuweisen, die optimale Zubereitung herauszufinden und die Reinstoffe zu isolieren, welche die Wirkung innerhalb des Pflanzenmaterials verursachen. Dann könnten diese langfristig als Medikament auf den Markt gebracht werden. Doch der Weg dahin ist noch weit – schließlich handelt es sich um Grundlagenforschung.
„Bei der Drosophila-Fliege können wir genau untersuchen, wo die jeweiligen Stoffe eingreifen, denn wir können die gesamte Signalkette analysieren“, sagt Strauss. „Und: Jeder Schritt im Signalpfad kann auch bewiesen werden.“ Die Forschenden setzen die Fliegen mildem, wiederkehrenden Stress aus – etwa unregelmäßig auftretende Vibrationen der Unterlage. Daraufhin bilden die Drosophila einen depressionsartigen Zustand aus: Sie laufen langsamer, bleiben für zufällig entdeckten Zucker nicht stehen, klettern anders als entspannte Artgenossen nicht über Lücken. Wie ändert sich das Verhalten, wenn die Fliegen die verschiedenen Naturstoffe erhalten? Das Ergebnis: Es kommt entscheidend auf die Zubereitung des Naturstoffes an, z. B. ob dieser mit Wasser oder mit Alkohol extrahiert worden ist.
Abendliche Belohnung verhindert Depressionen
Was die Forschenden außerdem herausfanden: Belohnen sie die Fliegen am Abend eines stressigen Tages für eine halbe Stunde – geben sie ihnen also Futter mit höherem Zuckergehalt als üblich – oder aktivieren sie jeweils den Signalpfad für Belohnung, verhindert dies den depressionsartigen Zustand. Doch was geschieht, wenn die Fliege Zucker bekommt? Bekannt waren die Zuckerrezeptoren an den Tarsen und am Rüssel sowie das Ende des Signalweges, bei dem Serotonin in die Pilzkörper ausgeschüttet wird. Die Pilzkörper sind das Lernzentrum der Fliege, sie entsprechen dem Hippocampus des Menschen.
Doch ist der Weg – wie die Untersuchungen zeigten – wesentlich komplexer als die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen anfangs vermuteten. Drei verschiedene Neurotransmitter-Systeme sind beteiligt, bis der Serotoninmangel – der bei Fliegen in einem depressionsartigen Zustand herrscht – an den Pilzkörpern durch Belohnung ausgeglichen wird: Unter anderem durch Dopamin, das auch beim Menschen Belohnung signalisiert. Diese Erkenntnisse aus der Fliegenforschung sollten allerdings Menschen keinesfalls dazu verleiten, besonders zuckerhaltige Nahrung zu sich zu nehmen. Die Süße wird von der Fliege als Belohnung empfunden, die Menschen auf eine gesündere Art erlangen können.
Resilienz stärken: Wie kann man Depressionen vorbeugen?
Zudem suchen die Forschenden nach Resilienz-Faktoren im Genom. Denn: Genau wie die Menschen haben auch Drosophila eine individuelle genetische Ausstattung – keine zwei Fliegen sind gleich. Wie, so fragen sich die Forschenden, unterscheiden sich die Genome von Fliegen, die Stress besser aushalten, von Genomen derjenigen Fliegen, die auf wiederkehrenden milden Stress mit depressiven Zuständen reagieren? Langfristig könnte es somit möglich sein, die genetische Anfälligkeit von Menschen für depressive Erkrankungen zu untersuchen – und etwa mit den ebenfalls im Projekt untersuchten Naturstoffen vorzubeugen.
Originalpublikation:
Tim Hermanns, Sonja Graf-Boxhorn, Burkhard Poeck, Roland Strauss. Octopamine mediates sugar relief from a chronic-stress-induced depression-like state in Drosophila. Current Biology, 31. Juli 2022. DOI: https://doi.org/10.1016/j.cub.2022.07.016
Pressestelle der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 2.8.2022
In Hutschdorf bei Thurnau (Landkreis Kulmbach – Oberfranken – Bayern) gibt es zukünftig zwei Einrichtungen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen: suchtmittelabhängige Frauen und deren Kinder auf ihrem Weg in eine suchtfreie Zukunft nachhaltig zu unterstützen. Das ist zum einen die DGD Fachklinik Haus Immanuel, eine Rehabilitationseinrichtung zur Behandlung suchtmittelabhängiger Frauen, sowie das derzeit noch im Bau befindliche DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“, das voraussichtlich Ende des Jahres fertiggestellt wird. Den beiden Institutionen angeschlossen ist die Kindertagesstätte „Kindernest“, die sich ebenfalls auf dem Gelände in Hutschdorf befindet.
Die DGD Fachklinik Haus Immanuel – Mit dem Aufhören anfangen
DGD Fachklinik Haus Immanuel
In idyllischer Lage nahe der oberfränkischen Städte Kulmbach, Bayreuth und Bamberg liegt innerhalb eines parkähnlichen Areals die DGD Fachklinik Haus Immanuel. Das Haus behandelt seit 1907 alkoholabhängige Menschen, seit 1961 ausschließlich suchtmittelabhängige Frauen. Heute zählt die Klinik zu den modernsten Suchtkliniken Bayerns. In den letzten Jahren rückten die Mitbetreuung und Förderung von Kindern immer stärker in den Fokus. So wurde 2012 eine heilpädagogische Kindertagesstätte, das Kindernest, eröffnet. Die DGD Fachklinik Haus Immanuel gehört ebenso wie das neue Mutter-Kind-Zentrum zur DGD-Stiftung (DGD steht für Deutscher Gemeinschafts-Diakonieverband) in Marburg. Pro Jahr werden etwa 250 suchtkranke Frauen und ca. 50 Kinder aufgenommen, die ihre Mütter während der Therapie begleiten. Für viele Rehabilitandinnen ist dies ein wichtiger Schritt für die Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft mit ihrem Kind bzw. ihren Kindern.
Wohnen im Haus Immanuel
Der familiäre Charakter der Klinik ist eine ideale Grundlage, um Rehabilitandinnen auf ihrem Weg in eine suchtfreie Zukunft zu unterstützen und nachhaltige Therapieerfolge bei alkohol- und medikamentenabhängigen Frauen zu erreichen.
Der Klinikkomplex verfügt über 60 Therapieplätze für Frauen zwischen 18 und 75 Jahren. Zudem bietet die DGD Fachklinik Haus Immanuel eine gemeinsame Mutter-Kind-Therapie an. Bis zu 12 Kinder können ihre Mütter zur Behandlung nach Hutschdorf begleiten und werden im klinikeigenen Kindernest betreut. Jeder Mensch hat Anspruch auf Privatsphäre, deshalb bewohnen die Rehabilitandinnen moderne Einzelzimmer, die zu Wohngruppen mit max. zwölf Personen gehören. Die Mütter wohnen mit ihren Kindern jeweils in zwei zusammenhängenden Zimmern.
Gemeinsame Mahlzeiten, kreatives Arbeiten, Begegnungen mit anderen, aktive oder stille Entspannung sind wichtige Komponenten einer erfolgreichen Therapie. Für Entspannung und therapeutische Anwendungen stehen zudem ein hauseigenes Schwimmbad, eine Sporthalle mit Kletterwand, ein Beachvolleyballfeld sowie eine Minigolfanlage zur Verfügung. Auch Spaziergänge und Ausflüge gehören zum Programm. Der soziale Gedanke, sich gegenseitig zu helfen und zu stärken, unterstützt nicht nur den Therapieerfolg, sondern hilft auch dabei, wieder auf Menschen zugehen zu können.
Während ihrer Therapie werden die Rehabilitandinnen von einem multiprofessionellen Team aus etwa 70 Kolleg:innen aus verschiedenen Fachbereichen betreut. Die Mitarbeitenden aus den Bereichen Medizin, Sucht- und Psychotherapie, Arbeits- und Ergotherapie, Sporttherapie sowie Pädagogik, Sozialarbeit und Seelsorge begleiten die Frauen während ihres 15-wöchigen Aufenthalts im Haus Immanuel. Dabei werden die suchtkranken Frauen nach einem ganzheitlichen Ansatz behandelt. Neben medizinischen und therapeutischen Maßnahmen wird besonderer Wert auf ein Umfeld gelegt, das Körper und Seele guttut.
Die Behandlung gliedert sich in drei Phasen:
Besinnungsphase
Intensivphase
Belastungsphase
In allen Phasen wird auf die spezifischen Bedürfnisse der Frauen eingegangen. Jede Rehabilitandin wird bereits ab der ersten Woche einem/einer Bezugstherapeut:in zugeordnet. Neben Einzel- und Gruppentherapie werden verschiedene indikative Gruppen sowie eine integrierte Traumatherapie angeboten.
Behandlungsangebot der DGD Fachklinik Haus Immanuel
Medizinische Versorgung
Die medizinische Versorgung der Rehabilitandinnen wird durch erfahrene Ärzt:innen gewährleistet. Zu Beginn der Behandlung wird ein individuelles Behandlungskonzept festgelegt. In diesem Rahmen wird auch der Umfang der begleitenden Maßnahmen wie Schwimmen im Hallenbad, Kneippen, Waldlauf und Gymnastik bestimmt. Zur Linderung des Suchtdrucks wird auch Akupunktur angeboten.
Psycho-/Sozialtherapie
Der/die Bezugstherapeut:in ist Ansprechpartner: in für alle Belange, Fragen und Krisen der Rehabilitandinnen. Eine wesentliche Hilfe bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Vorgeschichte ist die wöchentliche psychotherapeutische Einzeltherapie. In der Gruppentherapie, die dreimal wöchentlich stattfindet, erarbeiten die Rehabilitandinnen gemeinsam ein Verständnis für ihre Abhängigkeitserkrankung und suchen nach Lösungsmöglichkeiten für einen Ausstieg aus der Sucht.
Arbeits- und Ergotherapie
Ein Aufenthalt im Haus Immanuel soll Rehabilitandinnen wieder an einen geregelten Tagesablauf gewöhnen. Ziel ist die Wiedereingliederung in das Erwerbsleben. Hierfür stehen die arbeitstherapeutischen Bereiche Büro, Handwerk, Garten, Hauswirtschaft und Küche zur Verfügung. Bei Bedarf erhalten arbeitssuchende Rehabilitandinnen auch PC- und Bewerbungstraining. Bei der Ergotherapie sollen kreative Fähigkeiten (wieder)entdeckt und gefördert werden. Dies vermittelt Erfolgserlebnisse und stärkt das Selbstwertgefühl.
Physiotherapie
Bewegung und Entspannung sind wichtig, um ein Gefühl für den eigenen Körper und seine Leistungsfähigkeit zu bekommen. Angeboten werden z. B. Lauftraining, Nordic Walking, Rückenschule, Fahrrad fahren, Massagen und Wassergymnastik. Die Physiotherapeut:innen der Klinik entwickeln für jede Frau einen passenden Therapieplan. Darüber hinaus wurde die Behandlung der Rehabilitandinnen um das Angebot des therapeutischen Kletterns erweitert.
Mutter-Kind-Therapie
Es wird oft vergessen, dass Kinder besonders unter der Suchterkrankung eines Elternteils leiden. Die Mutter-Kind-Einrichtung in der DGD Fachklinik Haus Immanuel kümmert sich darum, die oftmals gestörte Mutter-Kind-Beziehung zu verbessern und den Kindern wieder eine tragfähige Beziehung zur Mutter zu ermöglichen. Die Mütter bilden eine eigene Therapiegruppe im Haus, das Programm ist auf ihre spezielle Situation abgestimmt.
Traumatherapie
Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) tritt bei alkohol- oder medikamentenabhängigen Frauen etwa dreimal häufiger auf als bei männlichen Rehabilitanden. Die PTBS-Therapie ist deshalb ein wesentlicher Baustein einer ganzheitlichen und nachhaltigen Behandlung suchtkranker Frauen und damit fester Bestandteil des Therapieangebots. Ziel ist es, dass die Frauen lernen, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten, um so die Heilungschancen für die Suchterkrankung langfristig zu verbessern.
Seelsorge
Auch die Seelsorge wird im Haus Immanuel großgeschrieben. Unabhängig davon, wie die Rehabilitandinnen zur Kirche stehen, nimmt sich eine Seelsorgerin gerne Zeit für sie. Für die persönliche Ruhe steht ein „Raum der Stille“ zur Verfügung, der jederzeit genutzt werden kann. Die Rehabilitandinnen sind auch herzlich zur wöchentlichen Andacht eingeladen. Hier wird gemeinsam gesungen, gebetet oder sich zu einem biblischen Thema ausgetauscht.
Mütter und Kinder profitieren gemeinsam
Die neue Kita „Kindernest“, die im Zuge des Neubaus des Mutter-Kind-Zentrums erweitert wird
In Deutschland leben knapp drei Millionen Kinder mit abhängigkeitskranken Müttern und/oder Vätern zusammen. Dadurch laufen sie ganz besonders Gefahr, in ihrem späteren Leben ebenfalls von Alkoholmissbrauch und psychischen Folgeerkrankungen betroffen zu sein. In der DGD Fachklinik Haus Immanuel können bis zu zwölf Begleitkinder betreut werden, während die Mütter ihre Therapie absolvieren: Säuglinge und Kleinkinder im klinikeigenen Kindernest, die Schulkinder besuchen Bildungseinrichtungen in der Region. Auch schwangere Frauen sind in der DGD Fachklinik Haus Immanuel herzlich willkommen.
Die freundlich und kindgerecht gestalteten Wohn- und Spielbereiche werden Kindern aller Altersgruppen gerecht. Auch die Außenbereiche bieten ideale Bedingungen für eine abwechslungsreiche Gestaltung des Tages. Trampolin, Minigolf, Spielplätze und Kletteranlagen stehen zur Verfügung. Vor allem der neu angelegte Waldspielplatz bietet hervorragende Möglichkeiten für die Kinder, die (häufig wenig bekannte) Natur zu erkunden. Die Kinder spielen vorwiegend mit den Dingen, die sie im Wald oder auf dem Feld vorfinden. Daneben können sie ihren eigenen Garten bepflanzen und bewirtschaften. Und bei schlechtem Wetter bietet der liebevoll gestaltete Bauwagen Unterschlupf zum Geschichten erzählen, Malen, Basteln und Essen.
Wenn Tiere der Seele guttun – tiergestützte Therapie
Neu hinzukommen wird ein Therapieangebot mit Ponys und Alpakas. Dies soll die individuelle Entwicklung der Frauen und Kinder fördern. Durch die tiergestützte Therapie wird z. B. die Sinneswahrnehmung geschärft, das Selbstbewusstsein und die (soziale) Verantwortung werden gestärkt. Gerade Kindern fällt es leichter, über die Betreuung eines Tieres in die Therapie einzusteigen (das Tier als Eisbrecher) oder auch mögliche Einsamkeit zu überwinden (das Tier als Freund). Darüber hinaus werden auf dem weitläufigen Gelände der DGD Fachklinik Haus Immanuel mehrere Bienenvölker angesiedelt. Die Therapeut:innen pflegen gemeinsam mit den Müttern und Kindern die Bienenstöcke, schleudern Honig und ziehen Kerzen, die in der Region vermarktet werden sollen.
Trotzt aller Bemühungen und Therapiemöglichkeiten kann nicht in jedem Behandlungsfall eine positive Prognose gestellt werden. Die Rückfallrate von suchtkranken, rehabilitierten Frauen liegt immerhin bei 50 Prozent. Immer wieder sucht das Haus Immanuel nach Nachsorgeeinrichtungen für Mütter mit ihren Kindern, die es aber leider in der Form nicht gibt. Um den Rehabilitandinnen und ihren Kindern gerecht zu werden, reifte der Entschluss, selbst ein neues Mutter-Kind-Zentrum zu bauen, das derzeit in direkter Nachbarschaft zur DGD Fachklinik Haus Immanuel fertiggestellt wird.
Neues DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ – Zurück in ein eigenverantwortliches Leben
In Deutschland leben knapp drei Millionen Kinder in einem Haushalt mit alkoholmissbrauchenden oder -abhängigen Eltern. Das bedeutet, ca. jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in einer suchtbelasteten Familie auf. Über das Thema Abhängigkeit wird im Allgemeinen nur selten gesprochen, und wenn doch, zumeist nur sehr abwertend. Die Frauen, die in der Fachklinik Haus Immanuel behandelt werden, kommen aus allen Schichten der Gesellschaft. Traumatische Erlebnisse, gestörte Beziehungen oder auch finanzielle Probleme führten in ihre Abhängigkeitserkrankung. Darunter leiden nicht nur die Frauen selbst. Auch Freunde und Familie tragen die Last mit. Besonders schwer haben es die Kinder.
Neues DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“
Die ständige Sorge und Ungewissheit beeinflussen ihre Entwicklung oft negativ und haben langfristige Auswirkungen. So ist das Risiko dieser Kinder, selbst suchtkrank zu werden, im Vergleich zu Kindern aus nicht suchtbelasteten Familien bis zu sechsmal höher. Mit dem Bau des neuen DGD Mutter-Kind-Zentrums „Rückenwind“, an das auch die Kita Kindernest angeschlossen sein wird, sollen vor allem die Kinder unterstützt werden. Sie werden gemeinsam mit ihren meist noch jungen Müttern betreut und begleitet. An oberster Stelle steht dabei das Kindeswohl.
Die neue Einrichtung bietet Platz für zwölf Mütter, die eine Entwöhnungsbehandlung in einer Suchtrehabilitationseinrichtung abgeschlossen haben, und bis zu 16 Kinder. Es sind insgesamt zwölf Wohnungen mit zwei bis vier Zimmern geplant. Durch vielfältige Vernetzungen zu anderen professionellen Hilfswerken (z. B. zur Sprachförderung, Spezialisten für FASD, Sonderschulpädagogik) soll die Rückkehr zur Teilhabe an der Gesellschaft vereinfacht werden. Grundlegend ist hier die Gewöhnung an realitätsnahe und gelingende Alltagsstrukturen, sowohl für die Mütter als auch für die Kinder. Mütter und Kinder sollen auf dem Weg in ein eigenverantwortliches Leben unterstützt werden. Auch die soziale Verantwortung gegenüber unserer Gesellschaft wird gefördert. Mütter und auch Kinder finden wieder ihren Platz im sozialen Umfeld. Im Idealfall gehen Mütter (wieder) einer beruflichen Tätigkeit nach, Kinder können ihre schulischen Leistungen verbessern und weiterführende Schulen besuchen.
Wer wird im Mutter-Kind-Zentrum aufgenommen?
Das Angebot der Mutter-Kind Einrichtung richtet sich an ehemals abhängigkeitskranke Frauen mit Kindern, die nach § 19 SGB VIII einen Hilfebedarf haben. Eine Altersbegrenzung der Mutter ist nicht gegeben. Die Mutter sollte im Regelfall eine Entwöhnungsbehandlung erfolgreich abgeschlossen haben, und die Kinder sollten sie als sog. Begleitkinder in der Therapie begleitet haben. Es sollen auch Mütter aufgenommen werden, die aufgrund einer richterlichen Anordnung die Weisung haben, eine Mutter-Kind-Einrichtung aufzusuchen, da ihnen ansonsten die elterliche Sorge entzogen wird. Nach §§ 113 ff. und 123 ff. SGB IX wird Eingliederungshilfe und Hilfe in besonderen Lebenslagen geleistet. Durch das Hilfsangebot für ehemals abhängigkeitskranke Mütter und Schwangere sollen aktuelle Krisen- und Notfallsituationen im Schutze einer stationären Unterbringung überwunden werden. Bei den Kindern wird der Förderbedarf durch das Jugendamt festgestellt.
Die Problematik FASD
Man kann davon ausgehen, dass mindestens 1/3 der Kinder, die zukünftig im DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ aufgenommen werden, unter dem Syndrom FASD (Fetal Alcohol Spectrum Disorder) leiden. Nach Schätzungen der ehemaligen Bundesdrogenbeauftragten Marlene Mortler werden jedes Jahr in Deutschland ca. 10.000 Kinder mit dieser Behinderung geboren (Mortler, 2018). Diese Beeinträchtigung entsteht, wenn Frauen während der Schwangerschaft Alkohol konsumieren und damit das Kind schädigen.
Kinder mit FASD weisen erhebliche Störungen auf. So kann mütterlicher Alkoholkonsum in der Schwangerschaft zu Wachstumsauffälligkeiten des Kindes führen. Typischerweise sind die Kinder mit FASD bereits bei der Geburt klein und leicht. Sie bleiben dystroph bis mindestens im Grundschulalter. Darüber hinaus führt eine Alkoholschädigung im Mutterleib zu schwerwiegenden und lebenslang andauernden Defiziten im kognitiven Bereich. Kinder mit FASD können eine globale Intelligenzminderung (IQ < 70) haben. Viele Betroffene weisen ein sehr heterogenes Profil mit Stärken in den sprachgebundenen Intelligenzleistungen und deutlichen Schwächen im logischen Denken, in der Arbeitsgeschwindigkeit, der Konzentration und in zahlengebundenen Aufgaben auf.
Viele Kinder mit FASD haben eine auditive und/oder visuelle Gedächtnisstörung. Dadurch müssen Lerninhalte sehr häufig wiederholt werden – unabhängig davon, ob es sich um Alltags- oder Schulaufgaben handelt. Die Geduld und die Resilienz der Bezugsperson werden sehr stark beansprucht.
Die häufigste Begleitstörung bei Kindern mit FASD ist jedoch eine Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Davon betroffene Kinder benötigen eine ständige Begleitung und/oder Unterstützung.
Zu den psychosozialen Entwicklungsrisiken von Kindern mit FASD zählen langfristig frustrierende Lebenserfahrungen wie Schulabbrüche, soziale Isolation, Stigmatisierung, Obdachlosigkeit und ein fehlendes soziales Netz. Laut einer Studie von Spohr & Steinhausen (2008) hatten nur 13 Prozent der untersuchten jungen Erwachsenen wenigstens einmal einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt. 27 Prozent der von FASD betroffenen Erwachsenen lebten in Institutionen, 35 Prozent im betreuten Wohnen, 8 Prozent bei den Eltern, 14 Prozent unabhängig, 8 Prozent mit einem Partner und 8 Prozent mit einer eigenen Familie.
Das Hilfsangebot im Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“
Das individuelle Hilfsangebot richtet sich nach den Stärken bzw. Schwächen der Frau sowie dem Förderbedarf des Kindes. Im interdisziplinären Team werden die verschiedenen Aspekte der Behandlung besprochen, und es wird eine zeitliche Perspektive der Förderung von Mutter und Kind festgelegt.
Beziehungsarbeit
Eine tragfähige und vertrauensvolle professionelle Beziehung zwischen der Mutter und der Bezugstherapeutin bildet die Basis, auf der alle sozialpädagogischen und therapeutischen Interventionen aufbauen.
Soziale Einzelfallhilfe
In der Einzelfallhilfe wird die geplante Maßnahme mit der Mutter besprochen. Dabei werden ihre Vorstellungen berücksichtigt, und es erfolgt die konkrete Umsetzung. Die Einzelfallhilfe beinhaltet:
Krisenintervention
Beratungs- und Informationsgespräche
Planungs-, Organisations- und Strukturierungshilfen (Wochenplan, Haushaltsplan)
Abstinenzsicherung
Motivationsarbeit
Anleitung (bei Bedarf für Versorgung des Kindes, hauswirtschaftliche Tätigkeiten …)
Erweiterung der Erfahrungen und des Lebensraums (Freizeitaktivitäten …)
Reflexion des Erziehungsverhaltens – ggfs. zusammen mit dem Kind/den Kindern
Pädagogische Arbeit mit dem Kind
Die pädagogische Arbeit mit dem Kind findet zu einem großen Teil in der hauseigenen Kita Kindernest mit zwei heilpädagogischen Gruppen statt. Dabei sollen je nach Alter der Kinder folgende Programme durchgeführt werden:
Papilio U3
Papilio (3.–6. Lebensjahr)
Trampolin (6.–12. Lebensjahr)
Papilio ist ein Programm zur Förderung der psychosozialen Gesundheit und zur Prävention von Verhaltensproblemen für Kinder in Kindertagesstätten und Kindergärten. Die Arbeit der Erzieherinnen/Heilpädagoginnen beinhaltet dabei u. a. die Entwicklungsbeobachtung und -förderung, die Sicherstellung der materiellen und der emotionalen Bedürfnisse des Kindes, die Freizeitgestaltung sowie das Netzwerken mit Frühfördereinrichtungen.
Sozialpädagogische Arbeit mit den Müttern
Um die Erziehungskompetenz der Mutter zu fördern, werden folgende Maßnahmen angeboten:
Mutter-Kind-Gruppe
Elterncoaching
Anleitung im Umgang mit dem Kind
Einbeziehung der Kinder in den Alltag
Reflexion der Mutter-Kind-Beziehung
Soziale Gruppenarbeit
Die Gruppe bildet ein lebensnahes Umfeld, in dem sich die Mütter in schwierigen Situationen gegenseitig Hilfestellung geben können, sich in der Kinderbetreuung unterstützen und auch soziale Fähigkeiten ausbauen können. Folgende Gruppenaktivitäten werden in neuen DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ angeboten:
Freizeitgestaltung, Ausflüge
Organisation und Feiern von Festen (private und religiöse)
Kreative Beschäftigungen für Mütter und Kinder wie Malen, Basteln, Töpfern
Sozialpädagogische Arbeit mit dem Umfeld
Das soziale Umfeld der Frauen kann Ressourcen und Unterstützung bereithalten. Dies gilt es zu nutzen. Ebenso können aber auch Konflikte durch die Partner, die Kindsväter oder die Herkunftsfamilie bestehen. Die eigene Biografie zu verstehen, in eine Unabhängigkeit hineinzuwachsen und Beziehungen zu klären, sind Ziele in diesem Bereich. Hierfür besteht folgendes Angebot:
Einbeziehung der Väter und/oder der Partner: Paargespräche, Besuchskontakte
Arbeit mit der Herkunftsfamilie: Angehörigengespräche, Besuchskontakte
Arbeit mit dem Freundeskreis: Klärung von Beziehungen, Abbau von Gefährdungen, Stärkung von Ressourcen, Aufbau von stabilisierenden Sozialkontakten
Psychoedukation: Wie kann ich meine Krankheit besser verstehen und bewältigen?
Umgang mit Depressionen
Vermeidung von Rückfällen
Kooperation mit externen Stellen
Die Zusammenarbeit mit externen Einrichtungen ist wichtig, um den Frauen eine umfassende Nutzung des medizinischen und sozialen Hilfespektrums zu ermöglichen. Mit folgenden Einrichtungen kooperiert das Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“:
Jugendamt
Kinderärzt:innen
Ärzt:innen aller Fachrichtungen, Kliniken
Frühfördereinrichtungen
Schulen, Beratungs- und Förderzentrum (BFZ), Ausbildungs- und Arbeitsstellen
Darüber hinaus findet Vernetzungsarbeit mit anderen Mutter-Kind-Einrichtungen und den verschiedenen Einrichtungen der Jugendhilfe statt.
Insgesamt steht den Müttern und ihren Kindern ein breit gefächertes Angebot pädagogischer, medizinischer, therapeutischer und psychologischer Hilfen zur Verfügung. Das DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ wird an 365 Tagen im Jahr geöffnet sein. Die Präsenz einer pädagogischen Fachkraft ist rund um die Uhr gewährleistet. Die Kita Kindernest mit ihren zwei heilpädagogischen Gruppen für Kinder und Jugendliche im Alter von 0–18 Jahren hat an allen Werktagen im Jahr geöffnet. Die offizielle Eröffnung der neuen Einrichtung ist für Anfang 2023 geplant.
Eine neue Studie belegt Zusammenhänge zwischen emotionaler Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen, so genannten dunklen Persönlichkeitseigenschaften und gesteigerter Gewaltbereitschaft. Dr. Alexander Yendell und Professor Dr. Oliver Decker sehen in den Ergebnissen die Notwendigkeit für einen Ausbau und eine entsprechende Ausrichtung von Präventionsprogrammen.
Kinder und Jugendliche, die emotional vernachlässigt wurden sowie strafende und kontrollierende Eltern hatten, neigen dazu, so genannte dunkle Persönlichkeitseigenschaften wie Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie zu entwickeln. Diese Eigenschaften wiederum erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer hohen Gewaltbereitschaft bei den betroffenen Personen. Das ist das zentrale Ergebnis einer Studie unter 1.366 Leipziger Kindern und Jugendlichen im Alter von 14 bis 16 Jahren, die in Zusammenarbeit von Forscherinnen und Forschern des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts (EFBI), des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ, Teilinstitut Leipzig) und der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm durchgeführt wurde.
Die Ergebnisse sind einerseits als Grundlagenforschung für laufende Projekte zu Radikalisierungsprozessen und Rechtspopulismus an FGZ und EFBI zu begreifen – denn die ausgemachten Persönlichkeitsmerkmale und eine gesteigerte Gewaltbereitschaft sind potenzielle Erklärungsfaktoren für erstarkende autoritäre Dynamiken. Zugleich sollten die Ergebnisse unmittelbar politisches Gehör finden, denn sie zeigen deutlich den Bedarf nach einem Ausbau von Präventionsmaßnahmen und deren notwendige inhaltliche Ausrichtung.
In der Befragung, die in den Jahren 2017 und 2018 durchgeführt wurde, wurden Jugendlichen Fragen zu Persönlichkeitsmerkmalen und zur Gewaltbereitschaft gestellt. Darüber hinaus fragten die Forscherinnen und Forscher der Leipziger Jugendstudie danach, ob die Jugendlichen in den letzten zwölf Monaten Gewalt beobachtet haben. Beides, sowohl negative Eigenschaften, die von Narzissmus, Opportunismus, Empathielosigkeit und Impulsivität geprägt seien, als auch die Beobachtung von Prügeleien unter anderen Jugendlichen bewirke eine hohe Bereitschaft, selbst Gewalt anzuwenden oder die Gewalt durch andere zu befürworten.
Dr. Alexander Yendell und Professor Dr. Oliver Decker fordern vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse, die Erziehung von Kindern- und Jugendlichen auf die politische Agenda zu setzen. Gleichzeitig kritisieren sie, dass sehr viel Geld für Sicherheit und jüngst in Militär investiert wird, dabei werde allerdings vergessen, dass der Nährboden für Gewalt in der frühen Sozialisation liege. „Wir bekommen die Grausamkeit und Gewalt auf dieser Welt nur in den Griff, wenn wir dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche liebevoll und ohne verbale, physische und sexuelle Gewalt aufwachsen“, so Alexander Yendell.
Problematisch ist aus Sicht beider Forscher, dass es nicht nur zu wenig wichtige Projekte zur Gewaltprävention im Kindes- und Jugendalter gibt, sondern diese häufig nur kurzfristig angelegt sind. Anstatt vorwiegend in mehr Sicherheit durch Polizei und Militär zu investieren, müssten sich politische Interventionen auch auf den Bereich konzentrieren, wo Gewalt noch verhindert werden kann, sprich in der frühen Sozialisation von Kindern und Jugendlichen. Hier würde viel zu wenig und zu kurzfristig investiert „Es passiert immer nur etwas, wenn es schon brennt“, so Yendell und Decker. Dabei sei der Bereich der Familie allerdings nicht der einzige wichtige: „Menschen werden nicht nur in Familien unter Zwang gestellt und erfahren dort Gewalt, sondern auch in anderen Bereichen der Gesellschaft“ so Oliver Decker. Aus diesem Grund wollen die Forscher zukünftig auch Bildungsinstitutionen und andere möglicherweise einflussreiche Kontexte in den Blick nehmen. Darüber hinaus forschen Decker und Yendell zur Kriegsbereitschaft und -verherrlichung.
Die Durchführung der Studie zur Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen wurde vom BMFSFJ im Programmpaket „Demokratie leben!“ gefördert. Aktuelle Projekte von Alexander Yendell und Oliver Decker am BMBF-gefördertem FGZ (Teilinstitut Leipzig) beschäftigen sich mit autoritären Dynamiken und Populismus.
Originalpublikation:
Yendell, Alexander; Clemens, Vera; Schuler, Julia; Decker, Oliver (2022): What makes a violent mind? The interplay of parental rearing, dark triad personality traits and propensity for violence in a sample of German adolescents. In: PLOS ONE 17 (6), e0268992. DOI: 10.1371/journal.pone.0268992.
Pressestelle des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt, 2.8.2022
Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgau 2021, 64 Seiten, 9,00 €, ISBN 978-3-7841-3405-5, Sonderpreis für Mitglieder des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 7,50 €
Die im Bundesteilhabegesetz vorgeschriebene Wirkungsorientierung stellt hohe Anforderungen an die Akteure der Eingliederungshilfe. In diesem Band wird die bisherige Praxis kritisiert und ihr ein Verständnis von „Wirkung“ und „Wirksamkeit“ gegenübergestellt, das deren Komplexität angemessenes ist. Anhand von Beispielen aus dem Bereich der Teilhabe an Arbeit werden die Bedingungen einer erfolgreichen Umsetzung erläutert.
Deutsche Schmerzgesellschaft e.V.: BfArM-Begleiterhebung zu Cannabis zeigt Lücken des Wissens über Wirksamkeit der Cannabisprodukte auf
Am 6. Juli 2022 veröffentlichte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) den Abschlussbericht einer Begleiterhebung zur Therapie mit Cannabisarzneimitteln. Zwischen April 2017 und März 2022 waren alle Ärztinnen und Ärzte, die Cannabisarzneimittel außerhalb ihrer Zulassung nach § 31 Absatz 6 SGB V („Cannabisgesetz“) gesetzlich Versicherten verschrieben hatten, zur Beantwortung weniger Fragen zu Indikation, Durchführung und Ergebnissen der Cannabistherapie verpflichtet. Sie sollte nach einem Jahr Behandlung bzw. bei einem vorzeitigen Abbruch erfolgen.
Die Deutsche Schmerzgesellschaft e.V. stellt hierzu fest:
Das Bemühen um mehr Transparenz zum medizinischen Gebrauch von Cannabisprodukten ist zu begrüßen. Bemerkenswert ist, dass über drei Viertel aller Verordnungen mit der Indikation chronische Schmerzen erfolgt sind. Dies verdeutlicht den Bedarf an wirkungsvollen Therapieverfahren in diesem Bereich, unterstreicht andererseits die Notwendigkeit von methodisch belastbaren Studien bei dieser Indikation. Denn: Die Begleiterhebung ist kaum geeignet, Aussagen über eine Wirksamkeit der Cannabisprodukte zu treffen, wie auch deren Autoren anmerken.
Insgesamt wurden nur 21.000 Behandlungsfälle gemeldet, von denen 16.800 ausgewertet werden konnten – gleichzeitig wird geschätzt, dass bis zu 70.000 Patientinnen und Patienten mit Cannabisarzneimitteln behandelt wurden. Und besonders häufig (zu 52 %) haben Anästhesisten Daten erhoben – also auf Schmerzmedizin spezialisierte Ärztinnen und Ärzte. Aus Kassendaten ist jedoch bekannt, dass die Hauptverschreiber von Cannabis Hausärztinnen und Hausärzte sind, deren Behandlungen in der Erhebung also deutlich unterrepräsentiert sind. Durch diese Selektion besonders qualifizierter Ärzte, die auch dokumentieren, ist die Erhebung nicht repräsentativ.
Ferner fällt auf, dass die Nutzer von Cannabisblüten deutlich jünger und häufiger männlich waren als die Patientinnen und Patienten, die Dronabinol oder Cannabisextrakte erhielten. Sie litten häufiger unter neurologischen Erkrankungen und Spastik. Die Behandlung mit Blüten erfolgte in einer sehr viel höheren Dosierung als bei den anderen Substanzen. Die Verordner bescheinigten der Blütentherapie zwar eine gute Effektivität, aber auch dreimal häufiger eine euphorisierende Wirkung. Diese Daten deuten auf eine mögliche positive Wirkung einer Cannabisblütentherapie bei speziellen Erkrankungen hin, es ist aber auch nicht auszuschließen, dass nichtmedizinische Vorerfahrungen einiger Patientinnen und Patienten mit dieser Cannabisform die Verordnung beeinflusst haben könnte. Die Deutsche Schmerzgesellschaft fordert daher eine besondere Sorgfalt bei der Indikationsstellung für Cannabisprodukte.
Die aus Sicht der Deutschen Schmerzgesellschaft wichtigsten Schlussfolgerungen aus der Datenerhebung:
Behandelnde Ärzte und Ärztinnen beschreiben bei Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen und Schmerzen oft einen positiven Effekt von Cannabismedikamenten. Bei ausgewählten Patienten mit chronischen Schmerzen und besonders in der Palliativmedizin sollten sie von spezialisierten Ärztinnen und Ärzten bürokratielos verschrieben werden können.
„Für die zukünftige Entwicklung sollten die Kriterien, nach denen eine Erkrankung für eine Cannabisbehandlung in Frage kommt, besser charakterisiert werden“, so apl. Prof. Dr. Winfried Meißner, Präsident der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V. „Eine Ausweitung der Indikation von Cannabisarzneimitteln mit Erstattung durch die Solidargemeinschaft sollte wie bei allen anderen Medikamenten entsprechend der etablierten Zulassungsverfahren erfolgen“, so der Schmergesellschaftspräsident.
Pressestelle der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V., 8.7.2022
Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V.: Begleiterhebung zu Cannabisarzneimitteln – Ergebnisse entsprechen den Erfahrungen in der Praxis
Im Juli hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) den Abschlussbericht der Begleiterhebung zur Verschreibung und Anwendung von Cannabisarzneimitteln veröffentlicht. In vielen Fällen wurde eine Verbesserung der Symptome und der Lebensqualität bei gutem Sicherheitsprofil berichtet. „Bezogen auf Menschen mit chronischen Schmerzen bestätigen die Ergebnisse unsere Erfahrungen aus der Praxis“, sagt Dr. Johannes Horlemann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. (DGS). Besonders Palliativpatienten können seiner Erfahrung nach von den Cannabis-Wirkungen profitieren.
Nach Ausschöpfung der Standardtherapien kann seit März 2017 Cannabis in bestimmten Fällen nach Genehmigung der Krankenkasse verordnet werden. Verknüpft mit der Einführung von Cannabis als Medizin war der Auftrag an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zu einer Begleiterhebung. Deren Ergebnisse wurden nun veröffentlicht.
Die wichtigsten Ergebnisse der Begleiterhebung im Überblick:
mittlere Tagesdosis an THC bei Verwendung von Dronabinol, Cannabisextrakten und Sativex®: ca. 15 mg
mittlere Tagesdosis an THC bei Verwendung von Cannabisblüten: 249 mg
Nebenwirkungen waren häufig, aber in der Regel nicht schwerwiegend (Müdigkeit und Schwindel)
mit Cannabisblüten Behandelte bewerten den Therapieerfolg höher
DGS-Präsident: Positive Effekte von Cannabis, besonders in der Palliativmedizin
Die wichtigste Nachricht aus dem Abschlussbericht ist für Dr. Johannes Horlemann, dass Cannabinoide schwerkranken Menschen helfen können, wenn Standardtherapien erschöpft sind. „Viele Patienten berichten über positive Effekte und wenig Nebenwirkungen, wenn die Dosis vorsichtig auftitriert wird. Selbst Patienten oberhalb des 70. Lebensjahres berichten von einer guten Verträglichkeit“, so Horlemann. Die Bandbreite der Wirkungen komme seiner Erfahrung nach besonders Palliativpatienten zugute.
So wie die Autoren des Abschlussberichts sieht Horlemann die hohe THC-Dosis bei der Anwendung von Cannabis-Blüten kritisch: „Das Risiko von Missbrauch und Abhängigkeit ist beim Einsatz von Cannabisblüten eindeutig höher als bei anderen Applikationsformen, da häufig übertherapeutische Dosierungen erreicht werden.“
Weitere Evidenz erforderlich
Insgesamt hoffe die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin auf eine Verbesserung der Evidenzlage. Denn: „Cannabinoide können nicht jedem Patienten helfen“, so Horlemann. Außerdem bekräftigt der DGS-Präsident, dass die Verordnung dieser besonderen Substanzen eine Schulung der entsprechenden Fachgruppen erfordert.
Bei der Begleiterhebung zur Anwendung von Cannabisarzneimitteln handelt es sich um eine nicht-interventionelle Untersuchung. BfArM und DGS weisen übereinstimmend darauf hin, dass die Daten klinische Studien nicht ersetzen können und bedauern, dass viele Ärzte die Verordnungen nicht gemeldet hatten. Von etwa 70.000 genehmigten Verordnungen zulasten der gesetzlichen Krankenversicherungen wurden nur 21.000 Fälle an das BfArM gemeldet.
Originalpublikation:
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM): Abschlussbericht der Begleiterhebung nach § 31 Absatz 6 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch zur Verschreibung und Anwendung von Cannabisarzneimitteln. 2022. www.bfarm.de/cannabis-begleiterhebung
Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V., 25.7.2022