Autor: Simone Schwarzer

  • Cannabis als Medizin

    Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat am 6. Juli  den Abschlussbericht für die Begleiterhebung zur Anwendung von Cannabisarzneimitteln veröffentlicht. In die Auswertung sind seit 2017 anonymisierte Daten zu rund 21.000 Behandlungen mit Cannabisblüten und -extrakten sowie mit Dronabinol, Nabilon und Sativex® eingeflossen.

    Mehr als 75 % der ausgewerteten Behandlungen erfolgten aufgrund chronischer Schmerzen. Weitere häufig behandelte Symptome waren Spastik (9,6 %) und Anorexie/Wasting (5,1 %). Bezogen auf alle Cannabisarzneimittel sind die behandelten Personen im Durchschnitt 57 Jahre alt und in der Mehrzahl weiblich.

    Eine Besonderheit stellt die Behandlung mit Cannabisblüten dar. Hier lag das Durchschnittsalter bei 45,5 Jahren und mehr als zwei Drittel der Behandelten waren männlich. Bezogen auf den THC-Gehalt werden diese Patientinnen und Patienten mit einer vielfach höheren Dosis therapiert und berichten dreimal häufiger von einer euphorisierenden Wirkung.

    Die durchgeführte Form der Begleiterhebung, mit der das BfArM vom Gesetzgeber beauftragt wurde, ist keine klinische Studie zur Prüfung der Wirksamkeit und Sicherheit eines Arzneimittels. Es handelt sich vielmehr um anonymisierte Behandlungsdaten, die Hinweise auf mögliche Anwendungsgebiete, Nebenwirkungen und auch Begrenzungen einer Therapie mit Cannabisarzneimitteln liefern. Die Ergebnisse der Begleiterhebung dienen dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) als eine Grundlage für die weitere Regelung zur Versorgung der Patientinnen und Patienten mit Cannabisarzneimitteln und des Näheren zur Erstattungsfähigkeit in der GKV.

    2017 wurden die gesetzlichen Möglichkeiten für eine Verordnungs- und Erstattungsfähigkeit von Cannabisarzneimitteln geschaffen, selbst wenn diese Arzneimittel zur Behandlung der bestehenden Symptomatik nicht als Fertigarzneimittel zugelassen sind. Damit sollten Patientinnen und Patienten, denen zu ihrer Behandlung keine weiteren Arzneimittel zur Verfügung stehen und bei denen die Behandlung mit Cannabisarzneimitteln Aussicht auf Erfolg hat, nicht der Selbsttherapie bzw. dem Selbstanbau von Cannabis überlassen werden. Diese Neuregelung sollte die Versorgung sichern und Anreize für die Erforschung von Cannabisarzneimitteln schaffen, um mittelfristig die arzneimittelrechtliche Zulassung von Fertigarzneimitteln zu erreichen, damit Patientinnen und Patienten sichere und wirksame Arzneimittel zur Verfügung stehen.

    Der Abschlussbericht zur Begleiterhebung ist veröffentlicht unter:
    https://www.bfarm.de/cannabis-begleiterhebung

    Pressestelle des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), 6.7.2022

  • Kindermedikamente gezielt und sicher einsetzen

    Macht das Kind einen kranken Eindruck, ist den Eltern schnell angst und bange: Was hat es bloß? Ist es etwas Schlimmes? Was können wir tun? In solchen Fällen sofort zu einem Medikament zu greifen ist unnötig und häufig sogar falsch, betont die Stiftung Kindergesundheit in einer aktuellen Stellungnahme.

    „Bei harmlosen Beschwerden wie leicht erhöhten Temperaturen sollten Eltern nicht immer sofort zu Fieberzäpfchen, Säften oder Tropfen greifen, sondern der Selbstheilung des kindlichen Organismus eine Chance geben und auch bewährte Hausmittel wie Wadenwickel oder ein Abkühlbad erwägen“, empfiehlt Prof. Dr. Berthold Koletzko, Vorsitzender der in München ansässigen Stiftung Kindergesundheit. Bei Kindern, die trotz erhöhter Temperatur munter sind und normal essen und trinken, müssen keine Maßnahmen ergriffen werden. Steigt die Temperatur aber über 38,5 Grad an, kann der Allgemeinzustand eines Kindes beeinträchtigt werden: Es fühlt sich schlecht, hat Muskel- und Gliederschmerzen, ist appetitlos und quengelig. „Wenn das Kind so offensichtlich leidet, ist es sinnvoll, das Fieber zu senken“, so Prof. Koletzko.

    „Sollen Medikamente bei Kindern eingesetzt werden, so müssen die Eltern mehr beachten als Erwachsene bei der Einnahme von Arzneimitteln“, sagt Prof. Koletzko. „Sie sollten auch bei rezeptfreien Mitteln vorsichtig sein und sich in Zweifelsfällen lieber an ihren Kinder- und Jugendarzt wenden“.

    Mädchen greifen häufiger zu Medikamenten als Jungen

    Aktuelle Daten zeigen, dass für einen beachtlichen Teil der Menschen in Deutschland das Einnehmen von Medikamenten zur Gewohnheit geworden ist:

    • Die Umsätze für Arzneimittel auf Kassenrezept haben sich seit 2005 von 23,6 auf 53,3 Milliarden Euro mehr als verdoppelt.
    • Die große Kindergesundheitsstudie des Robert Koch Instituts KiGGS (Welle 2) untersuchte die Einnahme von Medikamenten bei Kindern und Jugendlichen bis zu 17 Jahren und ermittelte beunruhigende Zahlen: Von 3.462 Kindern und Jugendlichen wendeten 1.292 mindestens ein Präparat in den letzten sieben Tagen an. Das entspricht einer Häufigkeit von 36,4 Prozent und bedeutet, dass im Durchschnitt jedes dritte Kind und Jugendliche im Alter von 3 bis 17 Jahren mindestens ein Arzneimittel und/oder Nahrungsergänzungsmittel in den letzten sieben Tagen angewendet hatte. Mädchen nahmen mit 38,5 Prozent signifikant häufiger Arzneimittel oder Nahrungsergänzungsmittel ein als Jungen mit 34,4 Prozent. Verwendet wurden insgesamt 2.265 Präparate, am häufigsten Mittel gegen Husten und Schnupfen.

    Unter diesen Umständen ist es tröstlich zu wissen, dass viele Medikamente ausgesprochen harmlos oder manche Präparate sogar ohne eine spezifische Wirkung sind. Dass sie dem Patienten dennoch häufig nützliche Dienste erweisen, liegt vermutlich in der sogenannten „Placebo-Wirkung“ dieser Präparate. Als „Placebo“ bezeichnet die Medizin Scheinmedikamente, die im Aussehen und Geschmack einem echten Arzneimittel gleichen, aber keine pharmakologisch wirksamen Substanzen enthalten.

    Auch homöopathische Arzneimittel zählen zu den Medikamenten mit nicht belegbarer Wirksamkeit. Sie wirken nicht über den Placeboeffekt hinaus. Die meisten Homöopathika müssen von den Patienten selbst bezahlt werden. Ihr Apothekenumsatz lag 2021 bei immerhin 535 Millionen Euro.

    „Rezeptfrei“ heißt nicht immer harmlos

    Weil viele Arzneimittel ohne Rezept erhältlich sind, werden ihre Wirkungen und Risiken von Eltern häufig unterschätzt, betont die Stiftung Kindergesundheit. Diese Medikamente werden als OTC-Arzneimittel bezeichnet („Over The Counter“). Zu ihnen gehören auch verschiedene Schmerz- und Fiebermittel, die in Apotheken angeboten werden.

    Sie sind keineswegs immer harmlos: So soll Acetylsalicylsäure (ASS, „Aspirin“) wegen der Gefahr einer zwar seltenen, aber gefährlichen Komplikation („Reye-Syndrom“) bei Kindern erst ab zwölf Jahren eingesetzt werden. Andere Schmerzmittel können die Nierenfunktion beeinflussen. Auch Paracetamol gehört zu den am häufigsten verkauften OTC-Schmerzmitteln in Deutschland. Bei Überdosierung bzw. zu häufiger Gabe kann der Wirkstoff schwere Leberschäden verursachen, aber auch Veränderungen des Blutbildes auslösen.

    Es gibt viele Gründe, weshalb Medikamente gerade bei Kindern generell zurückhaltend eingesetzt werden sollten, sagt die Stiftung Kindergesundheit:

    • Kinder reagieren anders auf Arzneimittel als Erwachsene: So bauen Babys und kleine Kinder ein Arzneimittel weniger schnell ab und scheiden sie auch weniger rasch aus.
    • Der wachsende Organismus von Kindern und Jugendlichen reagiert unter Umständen in jeder Entwicklungsphase unterschiedlich auf die Wirkstoffe von Arzneimitteln. Gerade die Funktionen jener Organe, die entscheidend bei der Aufnahme und Verarbeitung von Medikamenten sind, sind zunächst unvollständig entwickelt. Diese Effekte sind umso ausgeprägter, je jünger das Kind ist. Deshalb ist bei Früh- und Neugeborenen die Gefahr einer Überdosierung besonders hoch. So sind zum Beispiel die Arbeit der Leber und die Nierenfunktion noch nicht vollständig ausgereift.
    • Ebenfalls noch nicht vollständig gereift ist in sehr jungem Alter die Barrierefunktion der Haut. Die Folge: Bestimmte Arzneimittel, die auf der Haut angewendet werden, gelangen durch eine verstärkte Aufnahme (Resorption) durch die Haut auch in andere Teile des Körpers (Mediziner sprechen von einer „systemischen Wirkung“.) Beispiele dafür sind kortisonhaltige Zubereitungen oder jodhaltige Desinfektionsmittel.
    • Es gibt zudem Arzneimittel, die Wachstum und Entwicklung beeinträchtigen können.

    Gewohnheiten der Familie vererben sich leicht

    Eltern sind ihren Kindern manchmal auch in Dingen Vorbild, in denen sie es gar nicht so gern sein möchten, gibt die Stiftung Kindergesundheit zu bedenken: Nicht nur die Tischsitten werden in der Familie erlernt, sondern auch die Trinkgewohnheiten und der Umgang mit Medikamenten.

    Die Kinder beobachten, wie ihre Eltern ihre Alltagsprobleme zu bewältigen versuchen. Wenn die Mutter bei jedem Unwohlsein oder jeder Verstimmung zur Tablette greift oder der Vater zur Flasche, gewinnen die Kinder den Eindruck, dies sei ganz normal – und machen es später genauso. Viele Suchtexperten sind überzeugt, dass weder Zigaretten noch Haschisch die eigentlichen Einstiegsdrogen für härtere Substanzen sind, sondern Medikamente, die in vielen Familien oft so unbekümmert konsumiert werden.

    So können Kindern auch durch den regelmäßigen Einsatz von frei verkäuflichen Arzneimitteln oder Globuli auf die Einnahme einer Tablette konditioniert werden. Sie lernen dann nicht ihrem Körper und sich selbst zuzutrauen, auch allein mit Schmerzen oder negativen Gefühlen fertig zu werden, ohne etwas einzunehmen. Sie verinnerlichen schon früh: „Ich nehme eine Tablette, dann geht es mir besser”.

    Keine Pillen aus der Hausapotheke der Eltern

    Die Stiftung Kindergesundheit empfiehlt den Eltern bei der Selbstbehandlung ihres Kindes mit Medikamenten die Beachtung folgende Punkte:

    • Verwenden Sie nur Präparate, die für Kinder zugelassen sind und bei denen klare Dosierungshinweise auf dem Beipackzettel stehen.
    • Geben Sie Ihrem Kind niemals Medikamente, die von der Behandlung eines Erwachsenen übriggeblieben sind.
    • Lassen Sie sich bei der Dosierung des Mittels von einem Arzt oder einem Apotheker beraten.
    • Halten Sie sich streng an die vorgeschriebene Dosierung und ändern Sie sie niemals eigenmächtig – viel hilft nicht viel, eher im Gegenteil!
    • Seien Sie sparsam mit Cremes und Salben und wenden sie nie großflächig an: Wegen der im Bezug zum Körpergewicht weitaus größeren Hautoberfläche von Babys und kleinen Kindern werden Wirkstoffe, aber auch potentiell schädliche Hilfsstoffe (z. B. Alkohol oder Phenole) in höherem Maße aufgenommen als im späteren Alter.
    • Kinder können farbige Dragees, Tabletten oder Arzneisäfte nicht von Süßigkeiten oder Getränken unterscheiden: Bewahren Sie Arzneimittel deshalb immer außer der Reichweite von Kinderhänden und kindersicher verschlossen auf.

    „Medikamente sollten übrigens auf keinen Fall als ‚Bonbons‘, ‚Guddi‘ oder ‚Zuckerl‘ bezeichnet werden“, betont Prof. Koletzko. „Auch flüssige Medikamente sollten niemals als ‚Fruchtsaft‘ oder ‚süß‘ angepriesen werden, um sie dem Kind schmackhaft zu machen! Solche Verharmlosungen erhöhen die Gefahr, dass unverschlossene Medikamente in einem unbeobachteten Augenblick vom Kind geschluckt oder getrunken werden.“

    Pressestelle der Stiftung Kindergesundheit, 14.7.2022

  • Wie sich Selbstkontrolle im Gehirn entwickelt

    Manchmal können wir einfach nicht widerstehen, die Verlockung ist zu groß. Ehe wir uns versehen, ist die Familienpackung Gummibärchen leer oder unser Warenkorb prall gefüllt. Kleinen Kindern fällt es noch deutlich schwerer als Erwachsenen, diesem Impuls zu widerstehen, zwischen drei und vier Jahren macht diese Fähigkeit zur Selbstkontrolle einen entscheidenden Entwicklungssprung. Bislang war unklar, woran das liegt. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig haben jetzt herausgefunden: In dieser Zeit reift ein zentrales Hirnnetzwerk heran.

    Als Erwachsene besitzen wir die Fähigkeit, unsere eigenen Gedanken, Emotionen und unser Verhalten zu kontrollieren. Wir haben eine Art inneres Stoppschild, das uns Innehalten lässt und uns ermöglicht, auch langfristige Ziele zu erreichen. In der frühen Kindheit, besonders im Alter zwischen drei und vier Jahren, lässt sich bei Kindern ein regelrechter Sprung in der Fähigkeit zur Selbstkontrolle beobachten. Sie lernen, auf bestimmte Dinge zu warten, und können sich bereits für eine Weile auf eine Sache konzentrieren.

    Doch wie kommt es zu diesem Durchbruch im Vorschulalter? Und ist für das Stillsitzen und Konzentrieren die gleiche Fähigkeit nötig wir dafür, dem Impuls zu widerstehen, verlockende Süßigkeiten auf einmal zu essen? Diesen Fragen ist eine neue Studie am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) nachgegangen, die jetzt im Fachmagazin „Journal of Neuroscience“ veröffentlicht wurde.

    Um diese Entwicklungssprünge zu untersuchen, nutzten die Forscher verschiedene Aufgaben, mit denen sie die unterschiedlichen Formen der Selbstkontrolle testeten. Im „Bär-Drachen-Spiel“ erfassten sie die Fähigkeit der Kinder, bestimmte Handlungen zu unterdrücken. Die Kinder werden dabei zunächst mit zwei Kuscheltieren bekannt gemacht: dem „lieben Bär“ und dem „bösen Drachen“. Während des Spiels erhalten die Kinder verschiedene Anweisungen der beiden Figuren, wie „Klatsch in die Hände!“ oder „Berühre deine Nase!“. Diese Anweisungen sollten sie jedoch nur dann umsetzen, wenn der „liebe Bär“ sie aufforderte – nicht aber, wenn der „böse Drache“ die Anweisung gab.

    Eine andere Aufgabe, auch bekannt als „Marshmallow-Test“, erfasste wiederum die Fähigkeit der Kinder, einen emotionalen Impuls über längere Zeit hinweg zu unterdrücken. Die Kinder sitzen dabei an einem Tisch, auf dem Gummibärchen oder Schokoriegel liegen. Eine größere Portion davon befindet sich, für die Kinder sichtbar, in einer verschlossenen Kiste daneben. Die Versuchsleiterin teilt den Kindern mit, sie müsse jetzt für kurze Zeit den Raum verlassen, stellt aber in Aussicht: „Wenn du wartest, bis ich zurückkomme, ohne die Süßigkeit zu essen, bekommst du die große Portion.“

    Es zeigte sich: Die Vierjährigen schnitten in beiden Aufgaben deutlich besser ab als die Dreijährigen, so wie es bereits frühere Studien gezeigt hatten. Anhand von MRT-Untersuchungen stellte sich zudem heraus, im Alter zwischen drei und vier Jahren reift das sogenannte kognitive Kontrollnetzwerk heran. Die Großhirnrinde, der Cortex, wird dicker. Dieses Netzwerk bestimmt bei Erwachsenen darüber, wie gut wir in der Lage sind, unsere Impulse und Handlungen zu kontrollieren. Im ausgereiften Zustand umfasst es vor allem Regionen im Frontal- und Parietallappen des Gehirns, die wiederum durch Nervenfasern miteinander verbunden sind und so Informationen schnell und effizient austauschen können.

    Das Interessante dabei: Die unterschiedlichen Aufgaben zur Selbstkontrolle – der „Bär-Drache“- und der Marshmallow-Test – standen mit unterschiedlichen Regionen innerhalb des kognitiven Kontrollnetzwerks in Verbindung. Schnitten Kinder im „Bär-Drache“-Test gut ab, war der präfrontale Cortex weiter ausgebildet, der bei Erwachsenen insbesondere für die Planung und Steuerung von Handlungen zuständig ist. Machten sich die Kleinen besser im Marshmallow-Test, war der Gyrus supramarginalis im Reifeprozess stärker vorangeschritten, der eher mit der Steuerung von Aufmerksamkeit verbunden ist.

    „Im Kleinkindalter könnte also eine graduelle Entwicklung ihren Anfang nehmen, deren Ergebnis wir in der vollentwickelten Selbstkontrolle im Erwachsenenalter beobachten“, sagt Philipp Berger, Postdoc am MPI CBS und Erstautor der Studie. „Das heißt auch, dass wir möglicherweise bereits in sehr jungen Jahren auf diese wichtige Fähigkeit Einfluss nehmen können.“

    Originalpublikation:
    Philipp Berger, Angela D. Friederici and Charlotte Grosse Wiesmann. Maturational indices of the cognitive control network are associated with inhibitory control in early childhood. Journal of Neuroscience 11 July 2022, DOI: https://doi.org/10.1523/JNEUROSCI.2235-21.2022

    Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, 14.7.2022

  • Dritter Förderaufruf zum Bundesprogramm rehapro gestartet

    Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat im Juli 2022 den dritten Förderaufruf zum Bundesprogramm „Innovative Wege zur Teilhabe am Arbeitsleben – rehapro“ im Bundesanzeiger veröffentlicht. Jobcenter und Träger der gesetzlichen Rentenversicherung können ihre Projektskizzen bis zum 30. September 2022 bei der Fachstelle rehapro einreichen.

    Ziel des Programms rehapro ist es, durch die Erprobung von innovativen Leistungen und organisatorischen Maßnahmen neue Wege zu finden, um die Erwerbsfähigkeit von Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen besser zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Langfristig soll der Bedarf an Erwerbsminderungsrenten und Eingliederungshilfe bzw. Sozialhilfe nachhaltig gesenkt werden. Das BMAS setzt mit dem Programm den Auftrag aus § 11 SGB IX um, Modellvorhaben zur Stärkung der Rehabilitation durchzuführen. Der dritte Förderaufruf baut auf den inhaltlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen des zweiten Förderaufrufs auf und wird um folgende drei inhaltliche Impulse ergänzt:

    • Erprobung innovativer Ansätze der Digitalisierung
    • Erprobung innovativer Ansätze zum besseren Zusammenwirken von Sozialleistungsträgern und Betrieben bzw. Arbeitgebern
    • Erprobung innovativer Ansätze hinsichtlich des niederschwelligen Zugangs zu Prävention und Rehabilitation, z. B. durch aufsuchende Beratung und Betreuung oder Vereinfachung der Verfahren

    Nach der Rückmeldung der Fachstelle rehapro zur Skizze haben die Antragsberechtigten zwei Monate Zeit, ihren Förderantrag einzureichen. Zur Umsetzung des Bundesprogramms  stehen bis 2026 insgesamt rund eine Milliarde Euro zur Verfügung. Die Förderdauer der Projekte des dritten Förderaufrufs beträgt bis zu vier Jahre.

    Zur Website des Bundesprogramms rehapro

    Quelle: Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht, https://www.reha-recht.de, 14.7.2022

  • WIR sind die Kinder!

    Mabuse-Verlag, Frankfurt a. M. 2022, 88 Seiten, 25,00 €, ISBN 9783863216122

    Tango und Ele geht es nicht gut. Ele hat Angst, das Haus zu verlassen, und Tango kann seinen Arm nicht mehr bewegen. Körperliche Ursachen gibt es nicht. Die Therapeutin Sofia Morgentau nimmt beide Kinder mit zu sich aufs Hausboot und findet schnell heraus, was hinter den Beschwerden der Kinder steckt: Sie haben in ihren Familien Eltern-Aufgaben übernommen. Ele sorgt für ihre Geschwister, und Tango hat die Rolle des Beschützers eingenommen, seit sein Vater ausgezogen ist. Sofia hilft den beiden dabei, zu sich selbst zu finden, und nimmt die Eltern in die Pflicht, damit Tango und Ele wieder Kinder sein dürfen. Neben der von Kati Rode liebevoll illustrierten Geschichte über Tango und Ele bieten verschiedene Fachteile von Andrea Hendrich theoretische und praktische Inhalte:

    • Ein Fachteil für Jugendliche: Bin ich selbst betroffen? Was tut mir jetzt gut? Wo finde ich Hilfe?
    • Ein Fachteil für Bezugs- und Betreuungspersonen: Was ist Parentifizierung genau? Welche Ursachen liegen zugrunde? Welche Symptome und Probleme verursacht sie?
    • Ein Serviceteil: Beratungs- und Anlaufstellen, Literaturtipps, Bilder als Download

    Für Kinder ab 8 Jahren.

  • Hilfe für Kinder psychisch und suchterkrankter Eltern

    Hilfe für Kinder psychisch und suchterkrankter Eltern

    Frauke Gebhardt

    Schätzungsweise 2,65 Millionen Kinder und Jugendliche leben mit mindestens einem alkoholkranken Elternteil unter einem Dach, 40.000 bis 60.000 Kinder wachsen in einem Haushalt auf, in dem illegale Drogen konsumiert werden. Und bis zu 150.000 Kinder haben Väter oder Mütter, die glücksspielsüchtig sind.

    Was bedeutet ein Leben im Schatten der elterlichen Sucht für den Alltag der Kinder? Er ist gekennzeichnet von ständiger Angst und Unsicherheit sowie einem Mangel an emotionaler Zuwendung und Geborgenheit. Häufig erfahren diese Kinder auch Gewalt, Vernachlässigung und Missbrauch. Die gravierenden Belastungen in der Kindheit haben vielfach lebenslange negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Betroffenen sowie auf die schulische Bildung und somit auch auf berufliche Erfolge. Überdies sind Kinder suchtkranker Eltern die größte bekannte Risikogruppe für eine eigene Suchterkrankung und hochanfällig für psychische Erkrankungen und soziale Störungen. Gemessen an der Anzahl der betroffenen Kinder gibt es in Deutschland nur wenig Hilfeangebote. So kommen etwa 15.000 Kinder auf jedes der rund 120 bis 200 existierenden Angebote. Die Hilfelandschaft ist zudem von starken regionalen Unterschieden gekennzeichnet.

    Um die Situation der Kinder und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien zu verbessern, wurde 2014 ein Prozess angestoßen, woraus 2019 insgesamt 19 Empfehlungen hervorgingen. Nun sind zweieinhalb Jahre vergangen, da stellen sich die Fragen „Wo stehen wir jetzt? Und wo wollen und müssen wir noch hin?“

    Einige der Empfehlungen wurden bereits umgesetzt oder mit ihrer Umsetzung wurde begonnen. Aber es fehlen an verschiedenen Stellen noch konkrete Aufträge, um notwendige rechtliche Anpassungen sowohl auf Bundesebene als auch in den Bundesländern durchzusetzen, die Vernetzung voranzutreiben und in der Praxis anwendbare Finanzierungswege zu finden. Ebenso offen ist die Ausgestaltung der bereits umgesetzten Empfehlungen, denn erst in der Anwendung wird sich zeigen, ob die Hilfen wirklich vor Ort bei den Betroffenen ankommen.

    Der Weg vom Antrag zum Auftrag

    Die Einsetzung der „Arbeitsgruppe Kinder psychisch- und suchtkranker Eltern“ (KpkE) war ein Meilenstein. Wie kam es dazu?

    2014 schlossen sich 19 Fachverbände zusammen und stellten beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie dem Bundesministerium für Gesundheit einen Antrag auf die Einrichtung einer Sachverständigenkommission zum Thema „Hilfen für Kinder und Familien mit psychisch kranken Eltern“. Diesem Antrag folgten zahlreiche Gespräche mit Politikern und Anhörungen in verschiedenen Ausschüssen, bis schließlich im Juni 2017 mit der einstimmigen Verabschiedung eines interfraktionellen Entschließungsantrages der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN das erste große Ziel erreicht wurde.

    In dem Antrag forderte der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf, eine zeitlich befristete interdisziplinäre Arbeitsgruppe einzurichten, welche einvernehmlich Vorschläge erarbeiten sollte, um die Situation von Kindern und Jugendlichen aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil psychisch erkrankt ist, zu verbessern. Es sollten Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten sowie rechtliche Rahmenbedingungen geklärt und Handlungsbedarfe zu den vorgegebenen Untersuchungsschwerpunkten identifiziert werden. Weiterhin wurden Aufklärungsmaßnahmen für die Bevölkerung, betroffene Kinder und Familien sowie Fachleute wie Ärzt:innen, Lehrer:innen und weitere Schnittstellenakteur:innen beschlossen. Zudem wurde festgelegt, dass das Thema in der Aus- und Weiterbildung von Professionen, die an der Versorgung von Kindern und deren psychisch erkrankten Eltern beteiligt sind, verankert werden soll.

    Im März 2018 tagte die Arbeitsgruppe unter Federführung des Familienministeriums mit Beteiligung des Bundesministeriums für Gesundheit, des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, der Drogenbeauftragten der Bundesregierung sowie 29 Verbänden, Fachgesellschaften und Interessensvereinigungen, sieben Wissenschaftler:innen und zwei Moderatoren zum ersten Mal. Nach vier weiteren Sitzungen, drei Fachgesprächen sowie drei umfangreichen Expertisen (Recht, Forschung und Gute Praxis), in denen die Ist-Situation erfasst wurde, konnten dem Deutschen Bundestag im Dezember 2019 insgesamt 19 Empfehlungen zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien vorgelegt werden.

    Sieben Empfehlungen (Empfehlung 1 bis 6 und 19) zielen auf eine Verbesserung in den Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe. Weitere sieben Empfehlungen (Empfehlung 7 bis 12) beziehen sich auf die Verbesserung der präventiven Leistungen für Kinder und Jugendliche in Hinblick auf die Umsetzung des Präventionsgesetzes. Die verbleibenden sechs Empfehlungen dienen der verbesserten Zusammenarbeit und stärkeren Verzahnung der Hilfen an den Schnittstellen Suchthilfe, Jugendhilfe und Gesundheitswesen (Empfehlung 13 bis 18).

    Nach der Abschlussveranstaltung im März 2020 hofften die Expert:innen, durchstarten zu können, doch dann kam die Corona-Pandemie und verschärfte sowohl die Lage der Kinder und Jugendlichen als auch die Situation der Hilfeangebote, bremste den frischen Schwung aus und lenkte den politischen Fokus auf andere Themen.

    Von den Empfehlungen zur Umsetzung – Wo stehen wir heute?

    Die 19 Empfehlungen lassen sich vier inhaltlich sehr weit reichenden Kernthesen unterordnen, welche die Ziele zusammenfassen, die zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien erreicht werden müssen:

    • Kernthese I
      Die Leistungen sind sowohl individuell als auch am Bedarf der Familie ausgerichtet flächendeckend auf- und auszubauen und für die betroffenen Kinder über alle Altersgruppen hinweg und ihre Eltern zugänglich zu machen.
    • Kernthese II
      Präventive Leistungen sollten für Kinder und Jugendliche aller Altersgruppen sowie für deren Familien zugänglich sein.
    • Kernthese III
      Um komplexen Bedarfslagen eines oder mehrerer Familienmitglieder gerecht zu werden, müssen die bestehenden Hilfs- und Unterstützungsangebote besser ineinandergreifen.
    • Kernthese IV
      In den örtlichen und regionalen Netzwerken müssen Lotsen die Zugänge zu (weiteren) Hilfen und jeweils bedarfsgerechten Unterstützungsmaßnahmen an den Schnittstellen unterschiedlicher Leistungssysteme erleichtern.

    Trotz der neuen Herausforderungen und Einschränkungen, welche die Pandemie mit sich brachte, blieb das Engagement vieler Akteur:innen, die sich für das Wohl der Kinder aus psychisch und suchtbelasteten Familien einsetzen, weiterhin groß. Deshalb konnten Empfehlungen teilweise schon umgesetzt oder mit ihrer Umsetzung konnte begonnen werden.

    Kernthese I

    Im Rahmen der Kernthese I wird unter anderem empfohlen eine flexible, kontinuierliche und bedarfsgerechte Alltagsunterstützung als Leistung der Kinder- und Jugendhilfe mit einem einklagbaren Rechtsanspruch einzuführen (Empfehlung 1). Der ursprünglich als § 28a SGB VIII vorgeschlagene Gesetzestext wurde im Rahmen der Novellierung des SGB VIII an den § 20 SGB VIII angedockt und stärkt nun den Anspruch der Eltern auf Unterstützung bei der Betreuung des im Haushalt lebenden Kindes. Die fachliche Feststellung von Bedarf und Eignung der Hilfe kann durch die Beratungsstelle erfolgen. Weil nun kein Antrag beim Jugendamt mehr gestellt werden muss, ist der Zugang zum Beratungsangebot deutlich leichter möglich.

    Außerdem empfehlen die Expert:innen der Arbeitsgruppe, die Möglichkeit der Kombination mehrerer Hilfen auszubauen, um das bessere Ineinandergreifen voranzutreiben (Empfehlung 1), einen unmittelbaren und flexiblen Zugang zu Angeboten zu gestalten (Empfehlung 2) sowie die Bedarfsgerechtigkeit und die Qualität von Hilfeangeboten mit niedrigschwelligen Hilfezugängen durch entsprechende Maßnahmen zu sichern (Empfehlung 4). Diese Empfehlungen wurden ebenfalls im neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) berücksichtigt. Allerdings gibt es noch viele offene Fragen zur Umsetzung, der Finanzierung und der Gestaltung des Übergangs. Eine ausführliche Stellungnahme zu Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen des § 20 SGB VIII für die Erziehungsberatung wurde im Mai 2022 von der Landesarbeitsgemeinschaft für Erziehungsberatung Bayern e.V. veröffentlicht.

    Die Empfehlung 3 legt die Sicherstellung flexiblerer Hilfen nahe, die an dem Bedarf der Familie im Einzelfall ausgerichtet sind. In der Hilfeart wird noch häufig das vorherrschende Bild der „Einversorger-Familie“ zugrunde gelegt. Das muss aufgebrochen und an die Lebensverhältnisse der Familien angepasst werden. Wünschenswert wäre, dass hier die Flexibilität weitergedacht wird – nicht nur bezogen auf die Familienverhältnisse, sondern auch auf die Erkrankungen.

    Weiterhin sieht die Arbeitsgemeinschaft großen Handlungsbedarf beim Anspruch auf Beratung von Kindern und Jugendlichen ohne Kenntnis ihrer Eltern (Empfehlung 5). Dies ist besonders relevant, wenn Eltern ihre Krankheit nicht einsehen oder sie noch nicht bereit sind, Unterstützung für ihre Kinder anzunehmen. Bisher hatten Kinder und Jugendliche in diesen Fällen zwar das Recht auf Beratung, allerdings nur, wenn eine Not- und Konfliktlage vorlag, welche in einem ersten Beratungskontext nicht unbedingt offensichtlich ist. Mit dem neuen SGB VIII ist 2021 zumindest die gesetzliche Grundlage geschaffen worden, dass Kinder und Jugendliche auch ohne Not- und Konfliktlage und ohne das Wissen und die Einwilligung der Eltern beraten werden dürfen. Dass dann tatsächlich Kinder den Zugang in die Beratungsstelle finden und wie niedrigschwellig dieser sein kann, sind Herausforderungen für die Praxis.

    In Empfehlung 6 werden der „Ausbau und die Förderung einer bundesweit öffentlichkeitswirksam präsentierten, wissenschaftlich evaluierten und umfassend barrierefreien Online-Plattform“ für Kinder und Jugendliche gefordert. Diese soll die Suche nach wohnortnahen Hilfen durch eine Postleitzahlenrecherche vereinfachen.

    Es gibt bereits zwei erfahrene Anbieter, die Schritte zu einer Umsetzung der Empfehlung 6 gegangen sind. Sowohl KidKit, das Hilfesystem der Kölner Drogenhilfe (www.kidkit.de), als auch NACOA Deutschland e.V. (www.nacoa.de) halten seit 2003 bzw. seit 2014 Online-Plattformen vor, auf denen sich Betroffene anonym Rat suchen können. KidKit richtet sich an Kinder, Jugendliche und junge Erwachsenen zwischen zehn und 21 Jahren und bietet Hilfe zu den Themen Sucht, (sexualisierte) Gewalt und psychische Erkrankungen in der Familie. Bei NACOA Deutschland e.V. liegt der Schwerpunkt auf der Online- und Telefonberatung für Kinder, Jugendliche, junge Erwachsenen, Angehörige und Fachkräfte zu den Themen Sucht und Traumatisierung in der Familie. Mittels Recherche über Postleitzahlen bzw. digitale Landkarten können sich Betroffene auch eingeständig wohnortnahe Beratung suchen.

    Durch ihre unterschiedlichen Arbeitsschwerpunkte ergänzen sich die beiden Angebote. In einer gemeinsamen Initiative streben KidKit und NACOA Deutschland e.V. an, sich zusammenzuschließen und ihre bereits etablierten Angebote im Verbund ausbauen.

    Dies ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Um die Strukturen für die Kinder, Jugendliche, Familien und Fachkräfte nachhaltig zu verbessern und die Empfehlung 6 vollständig und qualitätsgesichert umzusetzen, ist es essenziell, dass entsprechende Angebote nicht nur projektfinanziert existieren, sondern in eine Regelfinanzierung überführt werden. Gerade niedrigschwellige Hilfen für (hochtraumatisierte) Kinder und Jugendliche aus stark belasteten Familien dürfen nicht nach Abschluss eines Projektzeitraums wegbrechen oder wegzubrechen drohen, sondern müssen dauerhaft verankert werden und somit eine verlässliche Adresse in der Hilfelandschaft sein.

    Für Fachkräfte hat NACOA Deutschland im Auftrag des Bundesfamilienministeriums eine Kommunikationsplattform geschaffen, die es ihnen kostenfrei ermöglicht, sich praxisnah über verschiedene Probleme und Herausforderungen auszutauschen, eigene Angebote dazustellen, geplante Veranstaltungen zu bewerben sowie Studien und Fachinformationen abzurufen: https://coakom.de/

    Kernthese II

    Die Empfehlungen unter der Kernthese II beziehen sich auf den Bereich der Prävention. Obwohl auch primärpräventive Angebote von Trägern der freien Kinder- und Jugendhilfe sowie der Suchthilfe und der Gesundheitsförderung einen wesentlichen Beitrag zum gesunden Aufwachsen der Kinder und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien leisten, geht es bei diesen Empfehlungen in erster Linie um die Leistungen der Krankenkassen nach SGB V.

    In der Empfehlung 7 der AG KpkE heißt es, dass die Leistungen der Krankenkassen für Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten oder psychisch belasteten Familien an deren spezifischen Bedarfen ausgerichtet werden sollen und dass die Anzahl der entsprechenden Aktivitäten sowie der erreichten Personen gesteigert werden sollen. Aufgrund der Corona-Pandemie lässt sich anhand der verfügbaren Daten aus dem Präventionsbericht 2021 nicht einschätzen, ob die Ziele der Empfehlung erreicht wurden. Jedoch lässt sich an der Anzahl der gestellten Anträge zur Förderung von vulnerablen Zielgruppen im Rahmen des GKV-Bündnisses für Gesundheit ein hoher Bedarf seitens der Kommunen ablesen.

    In Bezug auf das Förderprogramm des GKV-Bündnisses für Gesundheit (ein Zusammenschluss aller Krankenkassen und ihrer Verbände; die Antragsfristen sind mittlerweile abgelaufen) empfahl die Arbeitsgruppe, dass der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen und die BZgA gemeinsam mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden darauf hinwirken, dass Kommunen das Förderprogramm auch in Anspruch nehmen (Empfehlung 8). Anfang 2019, also bereits bevor die Empfehlungen veröffentlicht waren, bewarb der GKV-Spitzenverband den Start des Förderprogramms mit verschiedenen öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen. Aufgrund des komplexen Antragsstellungsprozesses gab es seitens der Nutzer:innen zahlreiche Rückmeldungen und Verbesserungsvorschläge hinsichtlich der Programmorganisation und der Finanzierungslogik. Diese werden in einer externen Evaluation erfasst und fließen in einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess ein. Insgesamt erhalten laut GKV-Spitzenverband mittlerweile 25 Kommunen, die den Schwerpunkt ihres Projektes auf die Zielgruppe Kinder und Jugendliche aus psychisch bzw. suchtbelasteten Familien legen, eine Förderung durch das GKV-Bündnis für Gesundheit.

    Parallel dazu soll gemeinsam mit Akteure:innen aus Kinder- und Jugendhilfe, Suchthilfe und dem Gesundheitswesen ein Qualitätsentwicklungsprozess auf Bundes- und Landesebene angestoßen werden. Dieser soll auch ermitteln, wie der Zugang zu (Gruppen-)Programmen in den Kommunen erleichtert werden kann (Empfehlung 8). Der Prozess wird gegenwärtig auf Bundesebene angegangen, die Länderebene müsste in einem weiteren Schritt noch folgen. Hierfür wurde bereits mit dem Handlungsrahmen für eine Beteiligung der Krankenkassen im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention eine Grundlage geschaffen. Ein Bestandteil des GKV-Handlungsrahmens ist eine Handreichung für die GKV auf Landesebene, in welcher auch die relevanten Handlungsfelder für eine Beteiligung der GKV, einschließlich des in der Empfehlung 8 geforderten Zugangs zu (Gruppen-)Programmen, aufgeführt werden. Wie es in der Praxis tatsächlich flächendeckend gelingt, die bestehenden Projekte aus dem Modus der Projektförderung in den Modus der Regelfinanzierung zu überführen, bleibt jedoch offen. Denn das Bestreben, das Thema Kinder psychisch und suchtbelasteter Eltern in die Präventionsstrategie einzubringen, orientiert sich an den Ergebnissen der Nationalen Präventionskonferenz (NPK), welche erst 2027 finalisiert werden sollen. Bis sich die Strukturen vor Ort ändern und die Hilfe bei den psychisch und suchtbelasteten Familien ankommt, werden wohl noch einige Jahre vergehen.

    Die Träger der nationalen Präventionskonferenz wurden im Rahmen der Empfehlungen aufgerufen, die Zielgruppe Kinder von psychisch und suchtkranken Eltern und deren Familien stärker in den Blick zu nehmen. Das Ziel ist, eine gemeinsame Strategie der Länder, Kommunen, Krankenkassen und Jugendhilfeträger zu Hilfenetzwerken und Gruppenangeboten (Empfehlung 9) zu entwickeln. Im Rahmen des Dialogprozesses brachten Träger und Verbände ihre Positionen und die aus ihrer Sicht erforderlichen Änderungen ein. Ende 2020 beschloss die NPK, die nationale Präventionsstrategie stärker gesamtgesellschaftlich und politikfeldübergreifend auszurichten. Dafür wurden zwei Themen festgelegt, darunter das Thema „Psychische Gesundheit im familiären Kontext“. Eine Gruppe von Verbänden erreichte, dass auch ein Workshop zum Thema Kinder psychisch kranker Eltern durchgeführt werden konnte. Daraus entstand eine Synopse zu Änderungen im SGB V, bezogen auf die psychiatrische Versorgung und Kinder psychisch kranker Eltern, die im Frühjahr 2022 an die Aktion Psychisch Kranke (APK) sowie an Gesundheitspolitiker versendet wurde. Bis heute warten die Verbände gespannt darauf, ob und wie die Änderungsvorschläge angenommen und umgesetzt werden können.

    Die in Empfehlung 10 von der Arbeitsgruppe geforderte Förderung von abgestimmten, koordinierten und vernetzten Vorgehensweisen durch die Sozialversicherungsträger bezieht sich in der Praxis auf die Abstimmungen auf der Landesebene in den Gremien der Landesrahmenvereinbarung. Hier steht die Umsetzung in allen Bundesländern noch am Anfang. Daher wurden auch die Empfehlung 11 „Anpassung und Erweiterung der Landesrahmenvereinbarungen im Sinne der Empfehlung 9“ und die Empfehlung 12 „Weiterentwicklung und Umsetzung der Regelungen und Verfahrensweisen in der Prävention auf Grundlage des Präventionsberichtes“ bisher nicht realisiert.

    Die Empfehlung 13 schlägt eine gesetzliche Klarstellung im SGB V vor, welche die wechselseitige Transparenz zu den Leistungen zwischen GKV und den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe sicherstellen soll. Diese gesetzliche Anpassung ist mittlerweile erfolgt, wenngleich sie in der Praxis noch keine große Rolle spielen dürfte.

    Kernthese III

    Die Empfehlungen unter der Kernthese III zielen auf ein besseres Ineinandergreifen der Hilfs- und Unterstützungsangebote, um den komplexen Bedarfslagen eines oder mehrerer Familienmitglieder gerecht zu werden. Die in Empfehlung 14 geforderte Überwindung der Schnittstellen zwischen Kinder- und Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe, z. B. durch die stärkere Nutzung der Gesamtplankonferenz, ist bereits im Gesetz verankert. Allerdings ist unklar, inwieweit die Praxis die Bestärkung der bestehenden Gesetze durch die Empfehlungen wahrnimmt. Auch die rechtliche und finanzielle Absicherung der Kooperation zwischen Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheitswesen (Empfehlungen 15 und 16) wurde angegangen, jedoch nicht in dem Umfang, den die Expert:innen der Arbeitsgruppe empfehlen, sondern lediglich in Bezug auf die Finanzierung von niedergelassenen Ärzt:innen, die im Rahmen der Gefährdungseinschätzung des Kindeswohls eingesetzt werden (§ 73 c SGB V). Ein guter erster Schritt in die richtige Richtung, der aber noch Luft nach oben lässt, denn wichtige Grundlagen und nächste Umsetzungsschritte fehlen noch. Bis heute sind daher am individuellen Bedarf orientierte, sozialgesetzbuchübergreifende, familienorientierte Hilfen nicht strukturell verortet und kommen bei den Betroffenen auch nicht an.

    Über die in der Empfehlung 17a geforderten Komplexleistungen wird nach wie vor diskutiert. Das Medizinsystem sieht diese ausschließlich innerhalb des SGB V, die AG KpkE meint in ihren Empfehlungen jedoch SGB-übergreifende Komplexleistungen, die den Fokus der bisher vorwiegend individuenzentrierten Behandlung auf das gesamte Familiensystem erweitern. Für die betroffenen Familien ist es äußert mühsam, die verschiedenen Hilfesysteme zu verstehen und die für sie notwendigen Hilfen eigenständig einzufordern. SGB-übergreifende Komplexleistungen würden dies erleichtern und gleichzeitig die Bindungsqualität, die Erziehungskompetenz und die Resilienz von Kindern und Eltern fördern. Und auch für die Fachkräfte in den unterschiedlichen Bereichen würden SGB-übergreifende Komplexleistungen die interdisziplinäre Zusammenarbeit maßgeblich erleichtern, das Entstehen von interdisziplinären Einrichtungen und Diensten für Eltern und ihre Kinder fördern (Empfehlung 17b) und das Nebeneinander-Existieren der Leistungssysteme verhindern.

    Doch bisher ist noch vieles unklar. Es müssen rechtliche Anpassungen in verschiedenen Sozialgesetzbüchern vorgenommen werden, und es braucht eine Regelung der Fallzuständigkeit sowie eine abgestimmte koordinierte Vermittlung zwischen den Systemen. Am wichtigsten scheint aber momentan die Frage: Wer erteilt den rechtlichen Auftrag zur Flexibilisierung der Unterstützung? Im Koalitionsvertrag ist die Hilfe für Kinder psychisch und suchtkranker Eltern im Bereich Familie verortet, im Bereich Gesundheit fehlt dadurch ein klarer Auftrag. Für ein solches Vorhaben (Empfehlungen 17a und b) müssen sich allerdings alle Hilfesysteme, in denen sich die Familien bewegen, an einen Tisch setzen.

    Weiterhin empfiehlt die Arbeitsgruppe, dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern, den Kommunen und den Sozialversicherungsträgern einen Handlungsrahmen für ein kommunales Gesamtkonzept zur Entwicklung, Umsetzung, Evaluation und Verstetigung multiprofessioneller, qualitätsgesicherter und rechtskreisübergreifender Hilfesysteme erstellt (Empfehlung 18). Dies wurde kommunal und in einzelnen Bundesländern bereits aufgegriffen, ein bundespolitischer Auftrag fehlt jedoch noch. Nach Kenntnisstand von NACOA Deutschland e.V. gibt es allerdings gerade politische Bestrebungen, die Umsetzung der Empfehlungen 6 und 18 voranzutreiben, was wir sehr begrüßen. Die kommentierte Übersicht „Modelle guter Praxis für kommunale Gesamtkonzepte zur Verbesserung der Unterstützung von Kindern psychisch und suchterkrankter Eltern“ sowie die Handreichung „Kommunale Gesamtkonzepte zur Verbesserung der Unterstützung von Kindern psychisch und suchterkrankter Eltern“ des Instituts für Sozialpädagogische Forschung Mainz bilden dafür eine wertvolle Grundlage.

    Kernthese IV

    Die letzte Empfehlung (Nr.19) regt die Klarstellung an, dass Hilfe zur Erziehung auch die Unterstützung an den Schnittstellen zu anderen Leistungssystemen umfasst, wenn deren Leistungen erforderlich sind. Die ab 2024 bis 2028 geplanten Verfahrenslotsen (nach § 10b SGB VIII) sind eine Möglichkeit der Umsetzung dieser Empfehlung im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz. Sie sollen sowohl eine unabhängige Unterstützung und Begleitung bei der Antragstellung, Verfolgung und Wahrnehmung der Leistungen der Eingliederungshilfe für Eltern von Kindern mit Behinderung bieten als auch Unterstützung des Jugendamtes bei der Zusammenführung der Leistungen der Eingliederungshilfe. Wie die Umsetzung gelingt und ob die Hilfen auch bei Kindern aus suchtbelasteten Familien ankommen, bleibt zum jetzigen Zeitpunkt noch offen.

    Ausblick

    Alles in allem wird deutlich, dass bereits einige der Empfehlungen aufgegriffen bzw. umgesetzt wurden. Dennoch ist noch viel zu tun: Konkrete Aufträge müssen auf bundes- und landespolitischer Ebene ausgesprochen werden, um notwendige rechtliche Anpassungen durchzusetzen und die Vernetzung voranzutreiben. Für die Praxis und gemeinsam mit den Praktiker:innen müssen praktikable Finanzierungswege und zum Teil kreative Umsetzungswege gefunden werden, damit die Hilfen auch wirklich vor Ort bei den Betroffenen ankommen.

    Um die noch offenen Ziele und Maßnahmen umzusetzen, bedarf es einer stärkeren systematischen, interdisziplinären und politischen Schwerpunktsetzung auf Bundesebene und vor allem einer interministeriellen Begleitung der einzelnen Implementierungsschritte. Deshalb fordert NACOA Deutschland e.V. gemeinsam mit neun anderen Fachverbänden und Organisationen einen abgestimmten Monitoring- und Evaluationsprozess, der system- und rechtsübergreifend sowie unter Berücksichtigung der Länder- und kommunalen Ebene geplant und umgesetzt werden soll. Dabei darf ein klarer Bezug zur Selbsthilfe nicht vergessen werden.

    In Gesprächen mit Politiker:innen, wie z. B. im Rahmen der Podiumsdiskussion zur COA-Aktionswoche 2022, wurde und wird deutlich, dass seitens der Ampel-Koalition weiterhin großes Interesse vorhanden ist, die Situation für suchtbelastete Familien zu verbessern. Durch die Corona-Pandemie, den Cannabis-Legalisierungsprozess, den Ukraine-Krieg und weitere aktuelle Themen, die momentan stark im Vordergrund stehen, ist eine kontinuierlich starke Stimme aus der Fachwelt besonders nötig, um das Thema „Suchtbelastete Familien“ auf der Agenda der Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik zu halten und voranzubringen. Eine eindringliche Empfehlung an alle Fachkräfte, Mitarbeitende an Schnittstellen und Betroffene ist daher: Schließen Sie sich in Netzwerken zusammen, betreiben Sie Lobby- und Advocacyarbeit, sprechen Sie mit Politiker:innen und Entscheidungsträger:innen und werden Sie gemeinsam laut!

    Kontakt:

    Frauke Gebhardt
    NACOA Deutschland – Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien e.V.
    Gierkezeile 39
    10585 Berlin
    gebhardt(at)nacoa.de
    https://nacoa.de/

    Angaben zur Autorin:

    Frauke Gebhardt arbeitet seit August 2020 bei NACOA Deutschland – Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien e.V. Dort leitet sie das Projekt „Bundesweite Vernetzung von Akteuren des Hilfesystems für Kinder suchtkranker Eltern“. Mit diesem Projekt soll aufbauend auf die bestehenden Strukturen ein bundesweites digitales Fachkräfte-Netzwerk geschaffen werden. Des Weiteren ist sie zuständig für Advocacy-Arbeit sowie die COA-Aktionswoche für Kinder aus suchtbelasteten Familien.

    Literatur:
  • Projekt CoV-AZuR

    Die Charité – Universitätsmedizin Berlin führt unter Leitung von Prof. Dr. Karla Spyra im Rahmen des Forschungsprojekts „CoV-AZuR“ eine zweiteilige Online-Befragung von Einrichtungen der Sucht-Rehabilitation und Sucht-Nachsorge durch. Ziel der Befragung ist es, die Folgen der Corona-Pandemie für die Sucht-Rehabilitation zu erfassen und Anhaltspunkte für die Weiterentwicklung der Rehabilitation, beispielsweise im Bereich Digitalisierung, zu entwickeln.

    Die erste Befragungsrunde fand im Herbst 2021 statt, die zweite und zugleich letzte Runde ist am 13. Juli 2022 gestartet und läuft aktuell voraussichtlich bis Ende August 2022. Alle Einrichtungen der Sucht-Rehabilitation und Sucht-Nachsorge in Deutschland sind aufgerufen, an dieser Charité-Befragung teilzunehmen. Hierzu wurden einrichtungsspezifische Einladungen per E-Mail verschickt. Die Charité freut sich über eine rege Beteiligung, um aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten. Sollten Sucht-Einrichtungen irrtümlicherweise keine Einladung erhalten haben, können sich diese gerne an das Charité-Team wenden.

    An der Befragung teilnehmende Einrichtungen haben auch die Möglichkeit, im Fragebogen ihren Wunsch anzugeben, dass ihnen der Abschlussbericht nach Abschluss des Forschungsprojekts zugeschickt wird.

    Die Ergebnisse der Befragung werden sowohl auf wissenschaftlichen Tagungen als auch gegenüber Fachverbänden und Leistungsträgern kommuniziert. Hierzu gehört eine Ergebnispräsentation auf der 29. Fachtagung Management in der Suchttherapie am 28./29. September 2022 in Darmstadt.

    Gefördert wird „CoV-AZuR“ durch die Deutsche Rentenversicherung Bund. Der Bundesverband Suchthilfe (bus.) und der Fachverband Sucht sind offizielle Kooperationspartner der Charité in diesem Forschungsprojekt. Weitere Informationen erhalten Sie hier.

    Kontakt:

    Martin Brünger
    Charité – Universitätsmedizin Berlin
    cov-azur(at)charite.de

    Angaben zum Autor:

    Martin Brünger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin.

  • Cannabis legalisieren, Alkohol verteuern, Hilfsangebote ausbauen

    Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) hält es für notwendig, die Drogen- und Suchtpolitik grundsätzlich neu auszurichten. Statt auf Verbot und Kriminalisierung sollte sie auf Regulierung, Prävention und aufgeklärten, kompetenten und eigenverantwortlichen Gebrauch von Drogen setzen. Das ist der beste Schutz vor Drogenmissbrauch und -abhängigkeit. „Von keiner Drogenpolitik ist zu verhindern, dass Drogen ausprobiert und gebraucht werden. Deshalb sollten Erwachsene wie Jugendliche auch lernen, Drogen so zu nutzen, dass sie ihre Gesundheit nicht gefährden und das Risiko für Missbrauch und Abhängigkeit gering bleibt.“, erklärt Dr. Dietrich Munz, Präsident der BPtK.

    Die BPtK fordert deshalb, Cannabis zu legalisieren, Alkohol deutlich stärker zu besteuern und beide ausschließlich über staatlich lizenzierte Geschäfte abzugeben. Werbung ist für alle legalen Drogen grundsätzlich zu verbieten. Die Abgabe an Minderjährige muss stärker als bislang sanktioniert werden. Unverzichtbar ist außerdem der gezielte Ausbau von Aufklärungsangeboten ebenso wie von professionellen Angeboten zur Früherkennung, Behandlung und Rehabilitation von Suchterkrankungen, insbesondere für Kinder und Jugendliche. Das Ziel bleibt das gleiche wie das der bisherigen Drogenpolitik: Drogenmissbrauch und -abhängigkeit vermeiden.

    Cannabis ist nicht harmlos: Es kann, anders als früher angenommen, auch körperlich abhängig machen und birgt insbesondere das Risiko, an einer Psychose zu erkranken. Alkohol ist deutlich gefährlicher als Cannabis. Alkohol kann tödlich sein. In Deutschland sterben jedes Jahr 14.000 Personen an Alkoholerkrankungen und Leberschäden. Alkohol fördert aggressives und gewalttätiges Verhalten. Jede vierte Gewalttat erfolgt unter Alkoholeinfluss. Alkohol erhöht das Risiko, an einer Psychose zu erkranken, deutlich. Er wird von vielen Expert*innen aufgrund seiner leichten Verfügbarkeiten, seinen massiven gesundheitlichen Schäden und gesellschaftlichen Kosten als „die gefährlichste aller Drogen“ eingeschätzt. Cannabis gilt als eine moderat schädliche Droge.

    Alkohol ist als legale Droge in Deutschland fast überall verfügbar und ausgesprochen preiswert. Fast jede fünfte Deutsche* trinkt Alkohol in riskanten Mengen. Cannabis ist die meistgebrauchte illegale Droge. Mehr als jede vierte Deutsche* hat schon mindestens einmal im Leben Cannabis als Rauschmittel genutzt. Jede zweite junge Erwachsene* (46,4 %) und jede zehnte Jugendliche* (10,4 %) hat dieses Rauschmittel schon einmal ausprobiert. Der Gebrauch von Cannabis nimmt seit Jahrzehnten zu – trotz Verbot und Strafen. Die deutsche Prohibitionspolitik, die den Cannabis-Gebrauch einschränken sollte, ist damit gescheitert.

    Die BPtK fordert deshalb, Cannabis zu legalisieren und ergänzend zu regeln:

    • Mindestalter für den Erwerb aller legalen Drogen auf 18 Jahre festlegen,
    • Verkaufsverbot von Cannabis in Nahrungsmitteln,
    • Cannabis nach seiner stärksten psychoaktiven Substanz (THC-Gehalt) und Menge besteuern, THC-Gehalt auf höchstens 15 Prozent beschränken,
    • Alkoholsteuer auf den europäischen Durchschnitt erhöhen und einen Mindestpreis für Alkohol festlegen,
    • Abgabe aller legalen Drogen ausschließlich über staatlich lizenzierte Geschäfte,
    • Abgabe legaler Drogen an Minderjährige stärker sanktionieren,
    • striktes Werbeverbot für alle legalen Drogen,
    • Aufklärungs- und Anti-Stigma-Kampagnen zu Suchterkrankungen,
    • verpflichtende Aufklärungsprogramme zu Drogen an Schulen ab der sechsten Jahrgangsstufe,
    • Screening zur besseren Früherkennung von Drogenmissbrauch,
    • Suchtberatung als verpflichtendes Leistungsangebot der Kommunen,
    • ambulante Psychotherapie bei Suchterkrankungen ohne Einschränkungen ermöglichen,
    • Rehabilitationseinrichtungen zur Behandlung von Suchterkrankungen besser finanzieren,
    • spezielle Behandlungsangebote für suchtkranke Kinder und Jugendliche schaffen,
    • Therapie- und Versorgungsforschung bei Suchterkrankungen ausbauen.

    Pressestelle der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), 9.6.2022