Autor: Simone Schwarzer

  • Bundestagspetition des Kinder- und Jugendrates von SOS-Kinderdorf

    Laut UN-Kinderrechtskonvention haben Kinder das Recht auf das höchst erreichbare Maß an Gesundheit – und auf Beteiligung. Wollen sie jedoch eine Psychotherapie beginnen, hängt ihre mentale Gesundheit oftmals von der Zustimmung ihrer Sorgeberechtigten ab. Dass dies eine große Hürde sein kann, wissen vor allem junge Menschen aus der stationären Jugendhilfe: „Meine Mutter hat selbst schwere psychische Probleme, ich höre oft lange nichts von ihr. Als ich eine Therapie beginnen wollte, war sie einfach nicht erreichbar und ich musste daher lange auf professionelle Hilfe verzichten. Ich weiß, dass ich kein Einzelfall bin“, erklärt Alex*, 14, der in einer Wohngruppe von SOS- Kinderdorf lebt. Der SOS-Kinder- und Jugendrat, der aus aktuellen und ehemaligen SOS-Betreuten besteht, fordert daher in einer Petition beim Deutschen Bundestag, dass einsichtsfähige junge Menschen selbst über den Start einer Therapie entscheiden dürfen. Die Petition „Therapiemöglichkeit für einsichtsfähige Kinder und Jugendliche ohne vorherige Zustimmung der Sorgeberechtigten“ kann bis 30.7.2025 unterzeichnet werden.

    Aktuelle Studien zeigen, dass sich bei etwa der Hälfte der Erwachsenen mit psychischen Erkrankungen erste Symptome schon vor dem 14. Lebensjahr zeigten. Gleichzeitig sind sich Expert:innen einig: Wer schon in jungen Jahren professionelle Hilfe erhält, hat deutlich bessere Chancen auf Stabilisierung und Heilung. „Frühzeitige Hilfe bei psychischen Problemen kann entscheidend sein – für Lebenswege, Bildungschancen und soziale Entwicklung. Daher ist es umso wichtiger, dass junge Menschen, sobald sie einsichtsfähig sind, selbst darüber bestimmen können, Psychotherapie oder kinder- und jugendpsychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen“, bekräftigt Univ.-Prof. Dr. Michael Kölch, der die Petition des SOS-Kinder- und Jugendrates unterstützt. Einsichtsfähig bedeutet, dass junge Menschen in der Lage sind, die Art, Bedeutung und Tragweite der Behandlung zu verstehen und nach dieser Einsicht zu handeln.

    Berufsverband der Deutschen Psycholog:innen unterstützt Petition

    „Wenn ein Kind weiß, dass es dringend Hilfe braucht, sollte dies nicht daran scheitern, dass Erwachsene psychische Probleme nicht ernst nehmen, im Trennungsstreit stecken oder erst klären müssen, wer zuständig ist“, sagt auch Diplom-Psychologe Ralph Schliewenz, Vizepräsident des Berufsverbands Deutscher Psycholog:innen. Auch der Berufsverband weiß um das Problem: Viele Therapeut:innen berichten, dass sie Kinder wieder wegschicken mussten, weil die Zustimmung der Sorgeberechtigten fehlte – obwohl die Kinder einsichtsfähig waren und dringend Hilfe wollten.

    SOS-Kinder- und Jugendrat handelt aus eigener Erfahrung heraus

    Das Problem ist vielschichtig und betrifft vor allem Kinder, die in der stationären Jugendhilfe aufwachsen. Denn bei vielen jungen Menschen, die in Wohngruppen oder Kinderdorffamilien leben, verbleibt das medizinische Sorgerecht bei den leiblichen Eltern. Manche Eltern sind aber schlecht greifbar, überfordert oder sehen die Belastungen ihrer Kinder nicht. Auch staatlich bestellte Vormünder können überlastet sein: Manche sind für sehr viele junge Menschen gleichzeitig verantwortlich und können nicht immer sofort verfügbar sein. So bleiben gerade diese jungen Menschen, die auf Grund ihrer Vorgeschichte oftmals traumatisiert sind, auf der Strecke. Und selbst Jugendlichen ab 15, die einen sozialrechtlichen Anspruch auf Therapie haben, wird ihr Selbstbestimmungsrecht auf Therapie oftmals verwehrt. Aus Vorsicht vor juristischen Konsequenzen stimmen viele Therapeut:innen und Versicherungen auch dann einer Behandlung nicht zu.

    Junge Menschen fordern Orientierung am Kindeswohl – und rechtliche Klarheit

    Daher fordert die Petition des Kinder- und Jugendrates rechtliche Klarheit: „Wir brauchen eine gesetzliche Regelung, die klarstellt, dass alle einsichtsfähigen Kinder und Jugendlichen eine Therapie beginnen dürfen – und zwar unabhängig vom Alter. Wir fordern, dass alle relevanten Rechtsfragen so geklärt werden, dass ein selbstbestimmter Zugang für junge Menschen zur Therapie auch in der Praxis wirklich funktioniert. Wir dürfen nicht vergessen, dass die derzeitige Rechtslage auch für Therapeut:innen eine schwierige Grauzone darstellt“, so Lea aus dem SOS-Kinder- und Jugendrat.

    Die Petition „Therapiemöglichkeit für einsichtsfähige Kinder und Jugendliche ohne vorherige Zustimmung der Sorgeberechtigten“ kann bis 30.7.2025 unterzeichnet werden: https://epetitionen.bundestag.de/content/petitionen/_2025/_05/_19/Petition_181466.html

    Weitere Informationen zur Petition finden Sie hier: https://www.sos-kinderdorf.de/ueber-uns/politische-arbeit/petition-selbstbestimmte-therapie-fuer-jugendliche

    *Name geändert

    Pressestelle von SOS-Kinderdorf e. V., 15.7.2025

  • Bundeskabinett beschließt Lachgasverbot

    Das Bundeskabinett hat am 2. Juli 2025 den Gesetzentwurf zur Änderung des Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetzes (NpSG) beschlossen. Ziel ist die Unterbindung des Lachgas-Missbrauchs – vor allem Kinder und Jugendliche werden vor den gesundheitlichen Risiken geschützt. Unter die neuen Regeln fällt auch das Verbot von sogenannten K.O.-Tropfen. Die Stoffe Gamma-Butyrolacton (GBL) und 1,4-Butandiol (BDO) werden z. B. zur Begehung von Vergewaltigungs- und Raubdelikten missbraucht.

    Die Regelungen im Einzelnen

    Um den Missbrauch von Lachgas, Gamma-Butyrolacton (GBL) und 1,4-Butandiol (BDO) einzuschränken, erhält das Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz (NpSG) eine Anlage II, die diese Stoffe um- und erfasst.

    Lachgas: Lachgas und Zubereitungen dieses Stoffes (jeweils in Kartuschen mit einer Füllmenge von mehr als 8 Gramm) unterfallen zukünftig dem Umgangsverbot des § 3 NpSG. Für Kinder und Jugendliche gilt dann ein Erwerbs- und Besitzverbot, der Verkauf an Kinder und Jugendliche und der Verkauf über Automaten und den Versandhandel wird verboten.

    K.O.-Tropfen: Das gleiche gilt für die Stoffe BDO und GBL (als Reinstoff und Zubereitungen dieser Stoffe mit einem Gehalt von jeweils mehr als 20 Prozent), die von Sexualstraftätern als K.O.-Tropfen missbraucht werden. Durch die Gesetzesänderung sind etwa Inverkehrbringen, Handel und Herstellung verboten.

    Von den Verboten ausgenommen bleibt die nach dem jeweiligen Stand von Wissenschaft und Technik anerkannte Verwendung eines neuen psychoaktiven Stoffes zu gewerblichen, industriellen oder wissenschaftlichen Zwecken sowie die Verwendung als Arzneimittel und Medizinprodukt.

    „Gerade für Kinder und Jugendliche ist der Konsum von Lachgas mit hohen gesundheitlichen Risiken verbunden. Die Folgen können gravierend sein, etwa Gefrierverletzungen oder Bewusstlosigkeit – bis hin zu bleibenden neurologischen Schäden. Deswegen verbieten wir mit diesem Gesetzentwurf die Abgabe von Lachgas an Kinder und Jugendliche sowie den Verkauf über Versandhandel und Automaten. Zudem schränken wir auch den Handel und Vertrieb von K.O.‑Tropfen ein, die von Straftätern für Vergewaltigungs- und Raubdelikte missbraucht werden und das Leben von Unschuldigen in Gefahr bringen. Vermeintlich harmlose Industriechemikalien dürfen nicht länger missbraucht werden.“
    Bundesgesundheitsministerin Nina Warken

    „Der Konsum von Lachgas ist kein harmloser Partygag; es ist eine bedrohliche Gefahr. Ärztliche Kollegen in den Notaufnahmen berichten von immer mehr Fällen von neurologischen Ausfällen oder Rückenmarksschäden ausgelöst durch chronischen Lachgaskonsum. Besonders beunruhigend ist, dass Lachgas zunehmend von Jugendlichen und auch Kindern konsumiert wird. Ein Grund ist die einfache Verfügbarkeit – oft über Automaten – und das Versetzen mit Geschmacksaromen, das zur Verharmlosung dieser Partydroge beigetragen hat. Das Gesetz ist ein absolut notwendiger Schritt für den Kinder- und Jugendschutz und die öffentliche Gesundheit.“
    Sucht- und Drogenbeauftragter Hendrik Streeck

    Pressestelle des Bundesministeriums für Gesundheit, 2.7.2025

  • Jetzt handeln und Drogenkrise verhindern

    Im Jahr 2024 sind in Deutschland 2.137 Menschen an den Folgen ihres Konsums illegaler Drogen verstorben. Das sind nur 90 Fälle weniger als im Vorjahr und daher weiterhin ein sehr hoher Wert. Darin zeichnet sich ein besorgniserregender Anstieg der Todesfälle bei jungen Konsumierenden unter 30 Jahren von 14 Prozent ab, ein sprunghafter Zuwachs an Todesfällen in Verbindung mit synthetischen Opioiden und Neuen Psychoaktiven Stoffen sowie eine wachsende Zahl von Mischkonsumenten. Die Dynamik auf dem Drogenmarkt nehme gefährlich Fahrt auf, sagte der Beauftragte der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen Prof. Hendrik Streeck.

    „Wir erleben eine quasi pandemische Dynamik, die wir schon kennen: einzelne Ausbrüche, neue Substanzen, schnelle Verbreitung, lückenhafte Datenlage – und ein System, das zu träge ist, um rechtzeitig zu reagieren“, erklärt Prof. Dr. Hendrik Streeck, Beauftragter der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen bei der Vorstellung der neuen Drogentotenzahlen im Berliner Vivantes Klinikum „Am Urban“. „Wenn wir nicht aufpassen, verschärft sich diese Entwicklung in wenigen Jahren zu einer Krise mit massiven gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgen.“

    Besonders dramatisch sei: Noch nie wurden bei Verstorbenen so viele unterschiedliche Substanzen toxikologisch nachgewiesen wie im vergangenen Jahr. Noch nie war Mischkonsum so prävalent – und noch nie waren synthetische Opioide wie etwa Fentanyl bei so vielen Todesfällen gefunden worden (342 Fälle, rund 16 Prozent). Die Zahl der Todesfälle, an denen andere Neue Psychoaktive Stoffe beteiligt waren, stieg um mehr als 70 Prozent auf 154. Dies deckt sich mit internationalen Erkenntnissen – insbesondere in Nordamerika.

    „Wir dürfen nicht dieselben Fehler machen wie bei der Pandemie: zu spät Daten erheben, zu spät reagieren, zu lange auf Sicht fahren“, so Streeck. „Wir brauchen ein systematisches, flächendeckendes Monitoring- und Warnsystem, das schnell erkennt, welche Substanzen auf dem Markt zirkulieren und wie ärztliches und sozialdienstliches Personal bestmöglich helfen können.“

    Dass in rund der Hälfte der Todesfälle keine toxikologischen Gutachten oder Obduktionen durchgeführt wurden, zeige, so Streeck weiter: „Das Wissen, auf dem unsere politischen und medizinischen Entscheidungen basieren, ist oft lückenhaft. Eine nachhaltige Strategie gegen Drogenkonsum und -sterblichkeit kann es aber nur auf Basis valider Daten geben.“

    Auch international schlagen Expertinnen und Experten Alarm: Der aktuelle Weltdrogenbericht geht von 316 Millionen Drogenkonsumierenden weltweit aus – ein historischer Höchststand. In der EU haben 2024 rund 2,7 Millionen junge Erwachsene Kokain konsumiert. Die Verfügbarkeit hoch gefährlicher Drogen steigt rasant, insbesondere über neue Online- und Schmuggelkanäle. Das Bundesinnenministerium gehe verstärkt gegen die Organisierte Kriminalität vor. Mit internationalen Partnern werden man dem internationalen illegalen Drogenhandel und der dadurch befeuerten Gewalteskalation in Europa gegensteuern. Die Verfügbarkeit illegaler Drogen soll deutlich reduziert werden, unter anderem durch die Eindämmung der Kokainschwemme aus Südamerika und die Bekämpfung der Gefahren, die von den besonders tödlichen synthetischen Opioiden ausgehen.

    Streeck betont: „Um zu verhindern, dass sich die Lage in fünf oder zehn Jahren verselbständigt, müssen wir gemeinsam handeln – mit klarer politischer Prioritätensetzung. Polizei und Zoll können die Verfügbarkeit eindämmen, aber wir brauchen ebenso dringend eine moderne, professionell ausgestattete Suchthilfe, neue Präventionsformate, niedrigschwellige Angebote und mehr medizinisches Wissen über neue Substanzen. Nur dann können wir das Ruder herumreißen.“

    Pressestelle des Beauftragten der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen, 7.7.2025

    Weitere Informationen bei statista: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/403/umfrage/todesfaelle-durch-den-konsum-illegaler-drogen/ 

    Anzahl der Drogentoten in Deutschland in den Jahren von 2000 bis 2024. Quelle Grafik: Statista

     

  • Erster bundesweiter Recovery Walk

    Liebe Freund:innen,
    wir laden euch herzlich ein, gemeinsam mit uns ein Zeichen zu setzen: für Sichtbarkeit, für Genesung von Suchterkrankungen, für Zusammenhalt. Am 27. September 2025 findet in Leipzig der erste bundesweite Recovery Walk statt – organisiert vom neu gegründeten Verein Recovery Deutschland e. V.

    Recovery Walks sind öffentliche Veranstaltungen, organisiert von Menschen mit Suchtgeschichte, bei denen Betroffene, Angehörige, Fachleute und Interessierte zusammenkommen, um sich zu vernetzen, Genesung zu feiern, Mut zu stiften und Stigmatisierung abzubauen. Ob du in Recovery bist, nüchtern oder clean lebst, neugierig bist oder einfach Lust auf ein alkoholfreies, empowerndes Community-Event hast – du bist willkommen! Bring gerne auch deine Familie oder Freund:innen mit.

    Anmeldung (freiwillig, unverbindlich – für bessere Planbarkeit)

    Unsere kostenlose Online-Anmeldung für die Veranstaltung ist jetzt geöffnet! Um dich selbst oder deine Gruppe anzumelden, nutze bitte den folgenden Link: recoverywalkleipzig.eventbrite.de

    Grober Ablauf (Genaue Infos zu den Zeiten und Orten geben wir noch bekannt)

    Wir starten mittags mit einer Gedenkzeremonie für alle Menschen, die wir durch Substanzen verloren haben. Dann beginnt der Walk (circa drei Kilometer) durch den Park und das Leipziger Stadtgebiet. Im Anschluss findet ein kleines Open Air auf der AOK-Wiese im Clara-Zetkin-Park statt (bis circa 18:30 Uhr). Dort gibt es ein Bühnenprogramm, Informationsangebote und die Möglichkeit, sich auszutauschen. Für die Nachteulen organisiert das Pink Cloud Kollektiv noch einen Rave (natürlich ohne Substanzen).

    Wenn ihr immer auf dem neuesten Stand sein wollt, meldet euch gerne für den Recovery Deutschland Newsletter an.

    Den Walk unterstützen

    Für die Info-Area: Wenn ihr Lust habt, mit eurer Organisation oder Initiative beim Open Air vertreten zu sein, schreibt uns mit einer Idee für einen Stand. Egal, ob Bastel-Ecke, Kinderschminken, Dosenwerfen oder Workshop – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt (solange es sich nicht um Glücksspiel handelt). Ihr kümmert euch selbst um den Aufbau und die Präsentation. Standgebühren erheben wir natürlich nicht.
    Kontakt: kooperation@recovery-deutschland.org

    Spenden und Förderung

    Das Projekt Recovery Walk 2025 wird von der AOK Plus gefördert. Es läuft zusätzlich eine Spendenkampagne auf Betterplace. Wir sind dankbar für jeden Betrag, der den Walk unterstützt. Hier geht’s zu unserem Projekt auf Betterplace: https://www.betterplace.org/de/projects/154460-1-recovery-walk-deutschlands

    Weitere Infos: https://www.recoverydeutschland.org/recovery-walk
    Flyer können gerne bei uns angefragt werden. Wir schicken dann welche rüber.

    Über Recovery Deutschland

    Unsere Mission ist es, Menschen zu stärken, die von einer Suchterkrankung genesen – also „in Recovery“ sind. Deshalb fördern wir positive Bilder von Genesung, bieten Vernetzungsangebote für Menschen mit Suchtgeschichte und setzen uns für gesellschaftliche Rahmenbedingungen ein, die zu einem selbstbestimmten Leben in Recovery beitragen.

    Mitteilung von Recovery Deutschland e. V., 12.6.2025

  • Drogen und ihre Wirkung

    Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2025, 218 Seiten, 30,00 €, ISBN 978-3-17-043612-1

    Sozialarbeiterische, pädagogische und therapeutische Fachkräfte begegnen in nahezu allen Arbeitsfeldern dem Konsum psychoaktiver Substanzen, wobei besonders bei nicht vertrauten Stoffen häufig Handlungsunsicherheit entsteht. Selbst in der Suchthilfe sind die Kenntnisse über Wirkweisen, Risiken und Besonderheiten vieler Substanzen begrenzt. Das erschwert eine akzeptanzorientierte und fachlich fundierte Begleitung. Gleichzeitig verändern sich die Konsummuster: Neue Substanzen, funktionale Konsummotive und polyvalente Konsumformen fordern ein erweitertes Verständnis.

    Als erste Stoffkunde speziell für soziale Berufe bereitet das Buch Wissen über psychoaktive Substanzen für die sozialwissenschaftliche, therapeutische und pädagogische Fachwelt systematisch auf. Die gesellschaftlichen Einflüsse auf die Betrachtung von Drogen sind ebenso wissenschaftlich belegt wie die Klassifizierung psychoaktiver Stoffe und deren Attribute. Mit 60 Substanzsteckbriefen wird das Buch zu einem schnellen Nachschlagewerk für die Praxis.

  • Pflegebedürftigkeit bei Menschen mit Suchterfahrung

    Pflegebedürftigkeit bei Menschen mit Suchterfahrung

    Vorbemerkung Entstigmatisierende Sprache
    Warum ist Sprache wichtig? Sprache prägt die Art und Weise, wie wir über Menschen denken und sprechen und wie diese sich selbst sehen. Vor allem im Kontext von Sucht kann Sprache ausgrenzen, verletzen oder entlasten. Eine entstigmatisierende Sprache trägt dazu bei, das Leben von Menschen mit Suchterfahrung positiv zu verändern und den Umgang miteinander zu verbessern. Die zentralen Werte von Condrobs e.V. – Vielfalt, Offenheit und Akzeptanz – spiegeln sich in einer bewussten, entstigmatisierenden Sprache wider, einer Sprache, die klar, respektvoll und barrierearm ist – sowohl für Fachpersonen als auch für Betroffene.

    Dieser Beitrag orientiert sich an den Empfehlungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS, 2023) sowie dem Leitfaden zu entstigmatisierender Sprache der Deutschen Aidshilfe (DAH, 2023). Die Begriffe „Sucht“, „Abhängigkeit“ und „Störung“ sind medizinisch-psychiatrische Diagnosen, bei welchen den Betroffenen oft die Fähigkeit zur eigenen Krankheitsbeurteilung abgesprochen wird. Im vorliegenden Text werden wertfreie Beschreibungen bevorzugt, z. B.: Person(en) mit Suchterfahrung, hat Suchterfahrung, ist suchterfahren. Zur besseren Lesbarkeit werden auch Begriffe wie „Suchterkrankung“, „Abhängigkeitserkrankung“ oder „Substanzkonsumstörung“ verwendet, stets ohne wertenden oder diskriminierenden Hintergrund.


    1. Einleitung

    Sarah Theres Schütze
    Christiane Hunstein

    Der Anteil älterer Menschen in unserer Gesellschaft nimmt beständig zu. Aufgrund stetiger Verbesserungen der sozialmedizinischen Versorgungslage erreichen immer mehr Menschen aus gesundheitlichen Risikogruppen ein hohes Alter – so auch diejenigen mit einer langjährigen Suchterkrankung.

    1.1 Anzahl der Betroffenen

    Die Zunahme älterer Menschen mit Abhängigkeitserkrankung zeigt sich im Jahresbericht der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS) deutlich: Allein im Bereich der Opiatabhängigkeit verdoppelte sich der Anteil von Menschen über 50 in den vergangenen Jahren von zehn auf 20 Prozent (siehe zum Vergleich die Jahre 2015/Abb. 1 und 2023/Abb. 2). Laut DSHS liegt das Durchschnittsalter opiatabhängiger Menschen nicht mehr (wie noch 2015) bei Mitte 30, sondern zwischen 40 und 50 Jahren.

    Abb. 1: Altersstruktur nach Hauptdiagnosen, ambulant, 2015 (DSHS 2015, S. 14)
    Abb. 2: Altersstruktur nach Hauptdiagnosen, ambulant, 2023 (DSHS 2023, S. 20)

    Ein gut ausgebautes psychosoziales und medizinisches Netzwerk sorgt demnach dafür, dass Menschen mit Substanzgebrauchsstörung immer älter werden. Eine erfreuliche Entwicklung, welche gleichzeitig jedoch mit einer Reihe von Herausforderungen einhergeht – sowohl für die Betroffenen selbst als auch für die Suchthilfeeinrichtungen, an die sie angebunden sind.

    1.2 Charakteristika der Zielgruppe

    Ältere Menschen mit Suchterkrankungen sind in vielerlei Hinsicht besonders: Ihr Suchtverhalten hat sich über Jahrzehnte entwickelt, und der langjährige Substanzgebrauch führt zu frühzeitig einsetzenden kognitiven, psychischen und körperlichen Beeinträchtigungen. Insbesondere Letztere haben zur Folge, dass Menschen mit Suchterfahrung häufig schon im mittleren Lebensalter von zunehmender Pflegebedürftigkeit betroffen sind.

    Der vermehrte Pflegebedarf spiegelt sich auch in den wachsenden Anforderungen an Suchthilfeeinrichtungen, die diese Menschen betreuen. Im „DHS Jahrbuch Sucht 2025“ heißt es:

    Mit zunehmendem Alter stellen sich vermehrt alterstypische gesundheitliche und psychosoziale Probleme ein, die nicht selten mit Mobilitätseinbußen verbunden sind […] Dadurch verschieben sich sowohl die Themen, die für die Beratung und Betreuung […] relevant sind, als auch die Kooperationspartner, die zur Bewältigung dieser Probleme erforderlich sind. Zunehmend werden ambulante und stationäre Pflege- und Altenhilfeeinrichtungen relevant […] (DHS 2025, S. 31–44)

    Der Umgang mit altersbedingten Krankheitsbildern wie Bluthochdruck, Diabetes und Demenz gehört längst zum Arbeitsalltag vieler Sozialpädagog:innen in der Suchthilfe. Neben suchtspezifischem Fachwissen werden immer häufiger Kenntnisse zu kognitiven und somatischen Erkrankungen des Alters benötigt. Insbesondere im Kontext des ambulant betreuten Wohnens ergeben sich zusätzliche Herausforderungen durch die teils stark eingeschränkte Mobilität der Klient:innen, da ein barrierefreies Wohnen nur in wenigen Einrichtungen vollständig gewährleistet werden kann.

    Hinzu kommt, dass Menschen mit Suchterfahrung immer wieder Diskriminierung, Vorurteile und Stigmatisierung erleben, auch in den psychosozialen und medizinischen Hilfesystemen. Interaktionen mit und Behandlungen von Klient:innen werden dadurch zusätzlich erschwert. Die sich daraus ergebende schwierige Versorgungslage älterer Suchterkrankter wurde bereits 1995 von Gaby Gehl treffend zusammengefasst:

    Ältere suchtkranke Menschen werden von vielen Institutionen, die in der Suchttherapie tätig sind, eher abgelehnt bzw. die Betroffenen fühlen sich ausgegrenzt. Hilflosigkeit und Resignation führen dazu, dass Behandlungsansätze für ältere Suchtkranke fehlen. (Gehl 1995, S. 60)

    1.3 Entwicklung der Versorgungsstrukturen

    Zwar hat sich die medizinische, soziotherapeutische und pflegerische Versorgung von älteren Menschen mit Suchterkrankungen in den letzten Jahren weiterentwickelt, vergleicht man jedoch Gehls Aussagen mit den aktuellen Leitlinien der Suchtpolitik der Landeshauptstadt München, zeigt sich, dass die Versorgung immer noch in vielen Bereichen unzureichend bleibt. In den Leitlinien aus dem Jahr 2010 heißt es:

    Suchtkranke ältere Menschen finden immer noch zu wenig Beachtung – sowohl in der Suchthilfe als auch in Suchtforschung und -politik. Deutlich wird dies an den fehlenden Erkenntnissen über diese Gruppe sowie an einem Mangel an spezifischen Hilfsangeboten. Handlungsbedarf besteht insbesondere angesichts der demographischen Entwicklung, in deren Verlauf die Zahl älterer Menschen mit Suchterkrankung steigen wird. (Gorgas et al. 2010, S. 26)

    Diese Leitlinien blieben – wie auch die Versorgungsangebote für ältere Menschen mit Suchterkrankungen – in den vergangenen 15 Jahren weitestgehend unverändert. Laut einer Ankündigung des Münchner Gesundheitsreferats soll eine aktualisierte Gesundheitsstrategie der Stadt München zum Jahresende 2025 beschlossen werden, welche unter anderem Aspekte der Suchtprävention und Suchthilfe umfasst (leitlinie-gesundheit – Landeshauptstadt München, Zugriff am 15.04.25). Es bleibt zu hoffen, dass die geplanten Aktualisierungen bald ihren Weg in den praktischen Alltag sowie in die sozialpädagogische Arbeit finden, denn die Versorgungslücke ist zum derzeitigen Stand nach wie vor spürbar.

    1.4 Versorgungslücken und Handlungsbedarf

    Es besteht ein erhöhter Bedarf an soziotherapeutischer Beratung und Betreuung für ältere Menschen mit Suchterkrankungen, der durch das aktuelle Angebot nur unzureichend gedeckt werden kann. Ebenso ist die Integration von Akteur:innen der Suchthilfe in die Pflege von zentraler Bedeutung, um Wissen auszutauschen und Synergien zu bilden. Viele ambulante Pflegedienste und stationäre Pflegeeinrichtungen sind nicht ausreichend auf diese besondere Zielgruppe vorbereitet. Es fehlt an ausgebildeten Fachkräften, die in der Lage sind, neben den pflegerischen auch suchtspezifische Anforderungen zu berücksichtigen. Um die Lücke zu schließen, ist die Entwicklung innovativer Konzepte erforderlich, die den besonderen Bedürfnissen älterer Menschen mit Suchterkrankungen gerecht werden. Ein Beispiel für ein solches Versorgungskonzept ist das Betreute Wohnen 40+ des Vereins Condrobs e.V.

    Im Folgenden wird das Spannungsfeld zwischen Pflegebedürftigkeit und Suchthilfearbeit konkretisiert sowie als mögliche Lösung ein Pilotprojekt von Condrobs e.V. dargestellt. Dazu gehören auch ein Fallbeispiel und ein Interview mit einer Mitarbeiterin. Diese Beiträge vermitteln praktische Einblicke in den Alltag des ambulant betreuten Wohnens für ältere Menschen mit Suchterfahrung.

    2 Pflegebedürftigkeit und Sucht

    Wie eingangs beschrieben hat die Verbesserung des psychosozialen und medizinischen Netzwerks zur Folge, dass es immer mehr ältere Menschen mit Konsumerfahrung gibt, die pflegebedürftig werden. Ältere Menschen stehen in der Suchthilfe jedoch bislang ebenso wenig im Fokus wie eine suchtbezogene Perspektive in der Altenhilfe. Dies führt dazu, dass riskanter oder abhängiger Substanzkonsum im Alter häufig unerkannt bleibt oder fälschlich als altersbedingt interpretiert wird. In der Folge werden suchtkranke ältere Menschen in Pflegeeinrichtungen oft nicht bedarfsgerecht und suchtspezifisch betreut. Zur Situation in der Suchthilfe schreibt die DHS in ihrer Versorgungsanalyse:

    In der Suchthilfe zeigt sich die Problematik des erhöhten Pflegebedarfs vor allem in Einrichtungen der Eingliederungshilfe, in denen Menschen mit einer Suchtproblematik betreut werden, die häufig zusätzlich erhebliche körperliche und psychische Einschränkungen haben bzw. durch einen langen Substanzkonsum „vorzeitig gealtert“ sind. (DHS 2019)

    2.1 Voralterung und häufige Krankheitsbilder

    Insbesondere in Einrichtungen der Eingliederungshilfe zeigt sich, dass viele Klient:innen aufgrund des langjährigen Konsums bereits vorzeitig gealtert sind und einen deutlich erhöhten Pflegebedarf aufweisen – häufig verbunden mit körperlichen Einschränkungen, kognitiven Beeinträchtigungen oder psychischen Störungen (DHS 2019). Die Krankheitsbilder sind vielfältig und reichen von Gliederamputationen, Lungenerkrankungen, Leberzirrhosen, Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes und Krebs über Zuckerkrankheit mit schlecht heilenden Wunden bis zu allgemein schlechtem körperlichen Zustand nach Schlaganfall. Jeder dritte Patient mit einer Substanzkonsumstörung ist außerdem von mindestens einer weiteren psychischen Störung betroffen (z. B. depressive Störungen, Angststörungen, PTBS, Persönlichkeitsstörungen und ADHS).

    2.2 Pflegebedarf und Versorgungssituation

    Dieser daraus resultierende spezielle Bedarf an persönlicher Unterstützung übersteigt vielerorts die vorhandenen personellen und konzeptionellen Ressourcen. Obwohl zunehmend Pflegegrade festgestellt werden und somit zumindest ein geringer finanzieller Ausgleich über die Pflegekassen erfolgt, bleibt die tatsächliche Umsetzung zusätzlicher Pflegeleistungen stark eingeschränkt – nicht zuletzt durch regionale Unterschiede, begrenzte Ressourcen und fehlende Konzepte.

    Im Hinblick auf stationäre Pflege älterer Menschen mit Substanzkonsum lässt sich berichten, dass eine Aufnahme in der Regel nicht erfolgt, u. a. liegt das biologische Alter hier meist unter der Altersgrenze für die Aufnahme. Die Vernetzung von Einrichtungen der Eingliederungshilfe mit Pflegeheimen gestaltet sich also schwierig: Die Vermittlung läuft häufig ins Leere. Klient:innen mit Bedarf an Kurzzeit- oder Langzeitpflege werden in den meisten Fällen abgelehnt.

    Eine alternative Möglichkeit, den physischen Einschränkungen und frühzeitigen Alterserscheinungen der Klientel in der Eingliederungshilfe zu begegnen, ist eine Kooperation mit ambulanten Pflegediensten. Hierzu meint die Leiterin eines ambulanten Pflegedienstes in München: „Wenn sie da mal drin sind, unterscheiden sich ältere Süchtige eigentlich gar nicht von meinen sonstigen Pflegefällen. Sie sind eher dankbarer für die Unterstützung.“

    2.3 Lösungsansätze

    Projekte einzelner Träger wie z. B. „Betreutes Wohnen 40+“ von Condrobs e.V. zeigen, dass eine zielgruppenorientierte Versorgung grundsätzlich möglich ist, allerdings nur unter bestimmten strukturellen Voraussetzungen wie etwa einem höheren Personalschlüssel, barrierefreien Umgebungen und niedrigschwelligen Betreuungsangeboten. Auf struktureller Ebene eröffnet die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) neue Chancen zur Verzahnung von Altenhilfe und Eingliederungshilfe. Allerdings bleibt die pflegerische Versorgung älterer suchterfahrener Menschen ein komplexes Handlungsfeld, das gezielte konzeptionelle und politische Weiterentwicklungen erfordert. Aufgrund fehlender öffentlicher Gelder sowie des Fachkräftemangels sind oben genannte strukturelle Voraussetzungen schwer zu erreichen.

    3 Betreutes Wohnen für ältere Menschen mit Suchterfahrung bei Condrobs e.V.

    Ältere Menschen mit Suchterfahrung benötigen eine Wohnform, die neben Sicherheit und Unterstützung im Alltag gleichzeitig einen sensiblen Umgang mit ihrer Erkrankung bietet. Das Angebot „Betreutes Wohnen 40+“ (BW40+) von Condrobs e.V. kann hier eine wichtige Brücke schlagen.


    Über Condrobs e.V.
    Condrobs ist ein überkonfessioneller Träger mit vielfältigen sozialen Hilfsangeboten in ganz Bayern, der benachteiligten Menschen und ihren Angehörigen hilft. Aus einer Selbsthilfeinitiative entstanden, arbeiten heute rund 1000 Mitarbeiter:innen in ca. 70 Einrichtungen. Das breit gefächerte Angebot umfasst innovative Projekte und Einrichtungen der Prävention, Sucht- und Wohnungslosenhilfe, Kinder- und Jugendhilfe sowie Migrationsarbeit. Condrobs ist Ausbilder und bietet betreute Beschäftigungsplätze für Frauen* und Männer*, die nach einer schwierigen Lebensphase wieder ins Arbeitsleben zurückkehren wollen. Die Condrobs-Akademie hält Fortbildungen zu aktuellen Themen für die soziale Arbeit bereit.
    Weitere Informationen unter www.condrobs.de


    Der auf ältere Menschen mit Konsumhintergrund spezialisierte Zweig des Trägers zielt darauf ab, die Klientel bei der Alltagsbewältigung und der Entwicklung neuer Perspektiven zu unterstützen. Dies geschieht entweder aus dem vertrauten Umfeld heraus – der eigenen Wohnung – oder in Therapeutischen Wohngemeinschaften (TWGs). Die Mitarbeiter:innen von BW40+ begleiten und unterstützen ihre Klient:innen bei der Stabilisierung ihrer Gesundheit und ihrer Lebens- und Konsumsituation, sie reflektieren gemeinsam mit ihnen die Auswirkungen der Erkrankung, sind Ansprechpartner:innen in einsamen Zeiten, entwickeln gemeinsam Ideen für die Zukunft und bieten ggfs. einen langfristigen Wohnplatz bis zur letzten Lebensphase.

    3.1 Pilotprojekt: „Intensiv Betreutes Wohnen“ in einer therapeutischen Wohngruppe

    Bereits seit 2007 bietet Condrobs speziell Hilfen für ältere Substanzkonsumierende an – insbesondere in der Form des betreuten Wohnens. Das Angebot „Betreutes Wohnen 40+“ bietet derzeit insgesamt 63 Plätze an. Davon fallen 24 Plätze auf Betreutes Einzelwohnen (BEW), bei dem Menschen in Einzelwohnungen Unterstützung erhalten. Zusätzlich stehen 39 Plätze in verschiedenen Therapeutischen Wohngemeinschaften (TWG) zur Verfügung. Neun dieser Plätze befinden sich in der TWG „Intensiv Betreutes Wohnen“, einer barrierefreien Wohnung, in welcher speziell körperlich stärker beeinträchtigte Personen ein Zuhause finden können. Die barrierefreie TWG wurde im Mai 2021 eröffnet. Der Schwerpunkt liegt auf der Versorgung von Menschen mit Polytoxikomanie, Doppeldiagnosen und Polymorbidität. So können Menschen aufgefangen werden, die aufgrund komplexer Problemstellungen sonst häufig durch das soziotherapeutische Versorgungsnetz fallen.

    Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung bis Pflegegrad 2 können in der intensiv betreuten Wohngruppe aufgenommen werden. Insbesondere richtet sich das Angebot an ältere drogenabhängige Menschen mit einer meist über zehn- bis 40-jährigen Substanzkonsumstörung. Die Bewohner:innen sind entweder ehemals konsumierend oder in einer medizinischen Substitutionsbehandlung. Eine Übersicht der relevanten Charakteristika der Bewohner:innen findet sich in Abbildung 3.

    Abb. 3: Charakteristika der Bewohner:innen der TWG „Intensiv Betreutes Wohnen“

    Die Wohnung befindet sich im Erdgeschoss eines Wohngebäudes und ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut zu erreichen. Die Infrastruktur des Quartiers bietet vielfältige Möglichkeiten, den täglichen Bedarf zu decken, welche die Klient:innen nutzen können. Einkaufsmöglichkeiten, Arztpraxen, ambulante Pflege und Nachbarschaftsangebote sind vorhanden.

    Das Team unterstützt die Bewohner:innen bei Bedarf bei der Suche und Inanspruchnahme von geeigneten ambulanten Pflegediensten. Es fördert die Kooperation, auch durch gemeinsame Fallgespräche. Bewohner:innen der TWG haben ihrerseits die Verpflichtung, diesen und anderen externen Angeboten gegenüber aufgeschlossen zu sein.

    Mit diesem Angebot wird eine Lücke im Hilfesystem für ältere suchtkranke Menschen in München geschlossen, eine Lücke, die durch den erschwerten Zugang zu herkömmlichen Angeboten der Altenhilfe und Pflege besteht. Die TWG „Intensiv Betreutes Wohnen“ wird als Teil der Stadtgesellschaft wahrgenommen, fügt sich ein und wirkt mit, sodass Integration praktisch gelebt wird.

    3.3 Bisherige Erfolge des Pilotprojekts

    Seit der Eröffnung der TWG „Intensiv Betreutes Wohnen“ im Jahr 2021 sind die Plätze fast durchgehend belegt, was den Bedarf widerspiegelt. Viele der Bewohner:innen zeigen eine gute Compliance, die sich positiv auf den Verlauf ihres Aufenthalts auswirkt. Bei etwa 70 Prozent der Bewohner:innen kann eine stabile Entwicklung beobachtet werden, die auf die Unterstützung und die Angebote in der Einrichtung zurückzuführen ist.

    Besonders erfreulich sind die gelungenen Freizeitveranstaltungen, die mittlerweile auch von den Bewohner:innen selbst organisiert werden. Dies fördert nicht nur den Gemeinschaftssinn, sondern auch die Verantwortungsübernahme für die Mitbewohner:innen. Ein weiteres Merkmal ist das weitestgehend harmonische Zusammenleben von abstinenzorientierten und substituierten Personen, was zu einem respektvollen und unterstützenden Umfeld beiträgt.

    4 Stimmen der Beteiligten

    In den folgenden Punkten vermitteln ein Fallbeispiel und ein Interview mit einer Mitarbeiterin Eindrücke und Erfahrungen aus der Praxis.

    4.1 Klienten-Beispiel aus der Praxis des Betreuten Wohnens

    Herr M. lebt seit 18 Monaten in der barrierefreien, intensivbetreuten therapeutischen Wohngruppe von Condrobs e.V. Herr M. ist 56 Jahre alt. Über viele Jahre konsumierte er regelmäßig Heroin und Alkohol in großer Menge. Er ist seit drei Jahren stabil substituiert und abstinent von Alkohol. Zudem leidet Herr M. an einer diagnostizierten Depression sowie einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) infolge früherer Gewalterfahrungen.

    Aufgrund des langjährigen Heroin- und Alkoholkonsum entwickelte Herr M. eine Leberzirrhose sowie eine Polyneuropathie, die mit starken Schmerzen in den Beinen und Gefühlsstörungen einhergeht. Zusätzlich leidet er unter chronischem Bluthochdruck und hat ein metabolisches Syndrom entwickelt. Seine Beweglichkeit ist deutlich eingeschränkt, häufig benötigt er zur Fortbewegung einen Rollator. Aufgrund der Polyneuropathie hat er mehrfach offene Wunden an den Füßen, die nur schlecht heilen und ihn regelmäßig zu Krankenhausaufenthalten zwingen.

    Durch seine Mobilitätseinschränkungen fällt es Herrn M. zunehmend schwer, alltägliche Aufgaben wie Zimmerreinigung oder Einkäufe eigenständig zu erledigen. Er benutzt auch für kurze Strecken den Aufzug, da er Treppen nur unter großer Anstrengung und mit Begleitung bewältigen kann. Herr M. leidet unter wiederkehrenden Erschöpfungszuständen, was ihn zusätzlich in seiner Selbstständigkeit einschränkt. Aufgrund seiner Einschränkungen muss Herr M. für alle Tätigkeiten längere Zeiten einplanen, und er hat das Gefühl, „die Tage würden verschwinden“.

    Die therapeutische Einrichtung von Condrobs e.V. bietet Herrn M. eine barrierearme Umgebung sowie Unterstützung im Alltag durch Betreuer:innen und ambulante Pflegekräfte. Therapeutische Angebote wie Ergotherapie, psychotherapeutische Einzelgespräche und Bewegungsangebote helfen ihm, seine Selbstständigkeit schrittweise zu stabilisieren und seine Lebensqualität zu verbessern. Als besonders wertvoll empfindet Herr M. die Möglichkeit, kurzfristig Unterstützung durch Fachpersonal zu erhalten, und den Kontakt zu seinen Mitbewohner:innen. Die regelmäßigen Kontakte helfen ihm nach eigenen Angaben, „Grübelspiralen“ zu durchbrechen und sich weniger einsam zu fühlen.

    In Bezug auf Kontakt mit medizinischem Personal und Pflegekräften berichtet Herr M. von viel Ablehnung und Stigmatisierung: „Solange die nicht wissen, dass du mit illegalen Drogen zu tun hattest, passt alles. Ansonsten wird man gemieden.“

    4.2 Interview mit einer Mitarbeiterin im Betreuten Wohnen

    Eine Mitarbeiterin aus der ambulanten Suchthilfe mit Schwerpunkt auf älteren suchtbelasteten Menschen gibt im Gespräch Einblicke in die besonderen Herausforderungen, die sich an der Schnittstelle zwischen Pflege und Suchthilfe ergeben:

    Welche gesundheitlichen Herausforderungen beobachten Sie bei Ihren Klient:innen?
    Bei älteren Menschen mit langjährigem Substanzkonsum treten häufig komplexe gesundheitliche und pflegerische Bedarfe auf. Zu den häufigsten Herausforderungen zählt die Versorgung offener Wunden. Auch die regelmäßige und richtige Einnahme von Medikamenten ist von besonderer Bedeutung – nicht zuletzt aufgrund verminderter Behandlungsmotivation und mangelnder Krankheitseinsicht, zwei Punkte, welche regelmäßig in den Einzelgesprächen thematisiert werden. Besonders bei Menschen mit Pflegegrad 2 wird auch die Körperpflege zur täglichen Hürde. Hinzu kommen ernährungsbezogene Herausforderungen, etwa bei Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes Typ II, deren Management durch instabile Lebensverhältnisse und mangelndes Gesundheitsbewusstsein zusätzlich erschwert wird.

    Typische Krankheitsbilder bei dieser Zielgruppe sind nicht nur durch Alterungsprozesse, sondern maßgeblich durch den langjährigen Konsum legaler wie illegaler Substanzen bedingt. In manchen Fällen kommt es zu einer Suchtverlagerung – etwa von Alkohol hin zu exzessivem Essen –, was neue gesundheitliche Probleme nach sich ziehen kann. Der Substanzkonsum kann außerdem die Wahrnehmung des eigenen gesundheitlichen Zustands beeinflussen, sodass Symptome zu spät oder Krankheitsverläufe nicht erkannt werden.

    Wie nehmen Sie die Versorgung der Zielgruppe im Hinblick auf die ambulante Pflege wahr?
    Obwohl Kooperationen mit geriatrischen Abteilungen und ambulanten Pflegediensten teilweise möglich sind, sind diese in der Praxis nicht immer einfach umzusetzen. Viele Pflegedienste und ihre Mitarbeiter:innen sind noch unerfahren im Umgang mit Menschen mit Suchterfahrung und Substitutionsmedikamenten, was zu Berührungsängsten führt.

    Die ambulante Pflege stellt eine wichtige Versorgungsstütze dar – vorausgesetzt, es liegt eine ärztliche Verordnung vor. Besonders relevant sind Leistungen wie die Medikamentengabe, die jedoch in der Praxis mit erheblichen Schwierigkeiten behaftet ist. Die Einnahme lebenswichtiger Medikamente muss laut Vorschrift unter Aufsicht der Pflegekräfte erfolgen, doch Zeitmangel aufseiten der Pflegedienste und geringe Kooperationsbereitschaft bei den Klient:innen machen dies oft unmöglich. Problematisch ist auch die Vergabe von Substitutionsmitteln, die viele ambulante Pflegedienste kategorisch ablehnen. Hier zeigen sich deutlich die Grenzen eines Pflegesystems, das für die Bedürfnisse suchtbelasteter Menschen unzureichend vorbereitet ist.

    Eine der häufigsten Herausforderungen sind die oft sehr plötzlichen gesundheitlichen Verschlechterungen, die zu einem vermehrten Wechsel zwischen Krankenhaus und Einrichtung führen. Kurzfristige und nicht abgesprochene Entlassungen aus dem Krankenhaus in die ambulante Versorgung erfolgen in einigen Fällen ohne Klärung der weiteren Pflege.

    Stationäre Pflegeangebote hingegen bleiben von dieser Zielgruppe oft ungenutzt – entweder, weil die Betroffenen frühzeitig versterben oder eine Vermittlung aufgrund komplexer Problemlagen scheitert. Bei Pflegegraden mit Anspruch auf haushaltsnahe Unterstützungsleistungen scheitert die Umsetzung zudem oft am allgemeinen Personalmangel in der Pflege.

    Welche strukturellen und inhaltlichen Verbesserungsbedarfe sehen Sie?
    Aus Sicht der ambulanten Suchthilfe bedarf es grundlegender struktureller Veränderungen, um die Versorgung älterer Menschen mit Suchterfahrung zu verbessern. Dazu gehören ein intensiverer Austausch zwischen Suchthilfe, Pflegeheimen und Hospizdiensten sowie der Aufbau verbindlicher Kooperationsstrukturen. Insbesondere die Substitutionsvergabe in stationären Einrichtungen ist bislang eine Versorgungslücke.

    Wünschenswert wäre außerdem die Sensibilisierung des Pflegepersonals für die besonderen Bedürfnisse älterer Menschen mit Suchterkrankungen. Substanzkonsum wird aufgrund mangelnder Erfahrung häufig nicht mitgedacht – sei es bei der unreflektierten Ausgabe alkoholischer Getränke in Altenheimen oder dem leichtfertigen Einsatz stark abhängig machender Medikamente wie Opioiden. Eine systematische, interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Suchterkrankungen im Alter in der geriatrischen Versorgung erscheint nötig.

    5 Fazit

    Eine zielgruppenorientierte Versorgung älterer Menschen mit Konsumerfahrung ist möglich – wenn bestimmte strukturelle Voraussetzungen erfüllt sind. Die TWG „Intensiv Betreutes Wohnen“ von Condrobs e.V. zeigt, wie ein solches Versorgungsangebot aussehen kann: Die Einrichtung bietet neben einem barrierefreien Wohnraum ein umfassendes Unterstützungsangebot, das körperliche, psychologische und soziale Bedürfnisse der Klientel berücksichtigt.

    Die Erfolge des Pilotprojekts wie eine hohe Platzauslastung, eine stabile Entwicklung bei einem Großteil der Klient:innen und ein unterstützendes, respektvolles Zusammenleben abstinenzorientierter und substituierter Personen illustrieren die Möglichkeiten, die sich durch eine zielgruppenorientierte Versorgung ergeben. Gleichzeitig zeigen sich Herausforderungen: Hoher Pflegebedarf, komplexe Krankheitsbilder, Mobilitätseinschränkungen und die Notwendigkeit intensiver Begleitung bringen auch erfahrene Mitarbeitende an ihre Grenzen. Insbesondere der Umgang mit medizinischer Versorgung, Medikamentenvergabe und die Kooperation mit ambulanten Pflegediensten bleiben anspruchsvolle Aufgaben – nicht zuletzt wegen bestehender Vorurteile und struktureller Hürden im Pflegesystem.

    Gesamtgesellschaftlich wird deutlich, dass ältere Menschen mit langjährigem Substanzkonsum eine wachsende, jedoch vielfach marginalisierte Zielgruppe darstellen. Hier trifft der demografische Wandel auf ein Hilfesystem, das noch zu wenig auf die besonderen Bedürfnisse dieser Gruppe eingestellt ist. Die Versorgungsrealität ist geprägt von Pflegekräftemangel, fehlender interdisziplinärer Zusammenarbeit, starker Stigmatisierung und einem Fehlen geeigneter Konzepte. Trotz steigender Fallzahlen bleibt der Zugang zu angemessener Pflege und Betreuung vielerorts erschwert – sei es durch einen Mangel an Einrichtungen und finanziellen Mitteln oder durch Ausgrenzung innerhalb der klassischen Altenhilfestrukturen.

    Für die Zukunft braucht es einen systematischen Ausbau suchtsensibler Pflegeangebote sowie tragfähige, verbindliche Kooperationsstrukturen zwischen Suchthilfe, Pflege, Medizin und Politik. Neben einer Erhöhung der personellen und finanziellen Ressourcen ist vor allem eine positive Haltung gefragt: Respekt, Offenheit und ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit und Teilhabe. Projekte wie das „Betreute Wohnen 40+“ können als Vorbild dienen – vorausgesetzt, sie werden nicht als Einzellösung, sondern als Teil einer übergeordneten Strategie verstanden. Damit die besonderen Bedarfe der Zielgruppe künftig systematisch erkannt und adressiert werden können, braucht es ein Umdenken im Hilfesystem – hin zu einer Suchthilfe, die das Alter mitdenkt.

    Kontakt:

    Christiane Hunstein
    Condrobs e.V., Betreutes Wohnen 40+
    Westerhamer Straße 11, 81671 München
    christiane.hunstein(at)condrobs.de

    Angaben zu den Autorinnen:

    Christiane Hunstein: Sozialpädagogin (Studium Soziale Arbeit B.A.), seit 2021 Mitarbeiterin im Betreuten Wohnen 40+ von Condrobs e.V., Bezugsbetreuerin im Rahmen der Soziotherapie; Achtsamkeitslehrerin, Heilpraktikerin für Psychotherapie (nach dem Heilpraktikergesetz);
    Sprachwissenschaftlerin (Studium der engl. Sprachwissenschaft), langjährige selbständige Arbeit als Übersetzerin, Redakteurin und Layouterin von Sachbüchern u. a. im Bereich Gesundheit

    Sarah Theres Schütze: Psychologin (M.Sc.), seit 2025 Mitarbeiterin im Betreuten Wohnen 40+ von Condrobs e.V., Bezugsbetreuerin im Rahmen der Soziotherapie; mehrjährige Tätigkeit als freiberufliche Texterin

    Literatur:
    • DAH Deutsche Aidshilfe (Hg.) (2023) – Edbauer, Philine; Kratz, Dirk; Schäffer, Dirk; Schmolke, Rüdiger; Luther, Antonia; Streck, Rebekka: Drogen Sprache. Eine Einladung zum Gespräch. Online verfügbar unter https://www.aidshilfe.de/de/shop/archiv/drogen-sprache-einladung-gesprach, zuletzt geprüft am 16.05.2025.
    • DHS Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (Hg.) (2019): Die Versorgung von Menschen mit Suchtproblemen in Deutschland. Analyse der Hilfen und Angebote & Zukunftsperspektiven. Update 2019. Online verfügbar unter https://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/dhs-stellungnahmen/Die_Versorgung_Suchtkranker_in_Deutschland_Update_2019.pdf, zuletzt geprüft am 16.05.2025.
    • DHS Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (2023) – Bschor, Tom; Bürkle, Stefan; Janßen, Heinz-Josef; Kemper, Ulrich; Mäder-Linke, Corinna; Rumpf, Hans-Jürgen; Streck, Rebekka; Rummel, Christina: Empfehlungen für stigmafreie Bezeichnungen im Bereich substanzbezogener und nicht-substanzbezogener Störungen. Positionspapier der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS). Online verfügbar unter https://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/2023-09-26-Positionspapier_stigmafreie_Begriffe.pdf, zuletzt geprüft am 16.05.2025.
    • DHS Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (2025): DHS Jahrbuch Sucht 2025. Lengerich: Pabst Science Publishers.
    • Gehl, Gaby (1995): Alter und Sucht. Ein aktueller Überblick zu Ursachen, Formen, Erklärungsansätzen und Prävention. 1. Aufl. Freiburg: Sozial-Verlag (Selbständig Altern).
    • Gorgas, Birgit; Gallas, Josef; Steinack, Vreni (2010): Leitlinien der Suchtpolitik der Landeshauptstadt München. Stand November 2010. München: Landeshauptstadt München, Referat für Gesundheit und Umwelt.
    • Krebs, Marcel; Mäder, Roger; Mezzera, Tanya (2021): Soziale Arbeit und Sucht. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.
    • Schmid, Martin; Vogt, Irmgard; Arendt, Ines; Follmann-Muth, Klaudia (2024): Case Management mit älteren Opioidabhängigen. In: SUCHT 70 (1), S. 31–44. DOI: 10.1024/0939-5911/a000845.
    • Vogt, Irmgard; Schmid, Martin (2020): Sucht im Alter. In: Geriatrie up2date 2 (04), S. 323–336. DOI: 10.1055/a-1230-5811.
  • Babypause und Rauchen

    Eine neue Studie der Universität Wien zeigt, dass besonders lange Karenzzeiten um die Geburt eines Kindes langfristig mit einem höheren Risiko für das Rauchverhalten der Mütter verbunden sind. Das Forschungsteam rund um Sonja Spitzer analysierte die Auswirkungen von Karenzzeiten auf das Rauchverhalten von Müttern in 14 europäischen Ländern, darunter auch Österreich. Die Studie wurde aktuell im renommierten Fachmagazin „Journal of Health Economics“ veröffentlicht und basiert auf einer Zusammenarbeit mit der Hertie School Berlin und der TU Wien.

    Die Dauer der beruflichen Auszeit um die Geburt eines Kindes beeinflusst nicht nur das Wohlbefinden und Einkommen von Müttern, sondern wirkt sich auch langfristig auf deren gesundheitliches Verhalten aus. In ihrer neuen Studie zeigen die Wissenschaftler:innen, dass sehr lange Abwesenheiten vom Beruf mit einem höheren Risiko für dauerhaftes Rauchen verbunden sind. Gleichzeitig deuten die Ergebnisse darauf hin, dass kürzere Karenzzeiten tendenziell einen schützenden Effekt haben könnten. „Eigentlich haben wir erwartet, dass längere berufliche Auszeiten dazu führen würden, dass Mütter weniger rauchen. Unsere Ergebnisse zeigen aber eindeutig: Die Wahrscheinlichkeit zum späteren Rauchen steigt mit einer längeren Karenz“, erklärt die Studienautorin Sonja Spitzer, Demografin an der Universität Wien.

    „Prinzipiell ist eine Karenz um die Geburt wichtig für die Gesundheit, und kurzfristig überwiegt auch der gesundheitliche Schutz. Wenn die Karenzzeit aber zu lang ist, können finanzielle Belastung, soziale Isolation und berufliche Nachteile zunehmen – das Rauchen könnte ein Bewältigungsmechanismus für diesen Stress sein. Dass längere Karenzzeiten die Wahrscheinlichkeit zum späteren Rauchen erhöhen, konnten wir eindeutig zeigen. Über die genauen Gründe dahinter können wir derweil erst spekulieren, aber sie passen zu dem, was wir in der Literatur und unseren Daten andeutungsweise sehen“, sagt Spitzer.

    Rauchen gilt als eine der größten vermeidbaren Gesundheitsgefahren. „Unsere Ergebnisse werfen ein neues Licht auf Karenzregelungen: Karenzzeiten sollen Eltern entlasten, sie können jedoch auch unbeabsichtigte Nebeneffekte auf die Gesundheit haben – insbesondere dann, wenn finanzielle Unsicherheit rund um die Geburt besteht“, sagt Spitzer.

    Methode und Ergebnisse

    Das Forschungsteam verknüpfte großflächige Umfragedaten von über 8.500 Müttern aus dem europaweiten SHARE-Datensatz mit historischen Informationen zu gesetzlichen Karenzregelungen in 14 europäischen Ländern zwischen 1960 und 2010. Für Österreich sind die neuen Studienergebnisse besonders relevant: Mit durchschnittlich 27 Monaten Unterbrechung der Erwerbstätigkeit um die Geburt zählt Österreich zu den Ländern mit den weltweit längsten Karenzzeiten von Müttern. Mithilfe eines ökonometrischen Verfahrens – dem Instrumentvariablenansatz – wurde der kausale Effekt der Karenzdauer auf das spätere Rauchverhalten untersucht.

    Ein zusätzlicher Monat Karenz erhöht die Wahrscheinlichkeit, später im Leben zu rauchen, um 1,2 Prozentpunkte. Pro zusätzlichem Karenzmonate steigen auch die Gesamtdauer des Rauchens (+7 Monate), die Anzahl der täglich konsumierten Zigaretten (+0.2 Zigaretten täglich) und die sogenannten Pack Years (+0.6). Besonders betroffen sind Mütter, die um die Geburt keine finanzielle Unterstützung durch einen Partner erhalten haben. „Finanzielle Sorgen in einer ohnehin sensiblen Lebensphase wie rund um die Geburt können den Druck zusätzlich erhöhen – dieser Stress scheint sich langfristig besonders deutlich im Gesundheitsverhalten niederzuschlagen“, so Spitzer. Weniger lange Karenzzeiten scheinen in Bezug auf das Rauchverhalten hingegen potenziell schützend zu wirken. Die Ergebnisse legen nahe, dass die optimale Dauer von Karenzzeiten sorgfältig abgewogen werden sollte.

    Damit liefern die Wissenschaftler:innen eine wichtige Ergänzung zur Debatte um die Ausgestaltung familienpolitischer Maßnahmen: Wie lange ist zu lange? Die Ergebnisse verdeutlichen, dass sorgfältig abgewogen werden sollte zwischen Schutz und Fürsorge, finanziellen Aspekten, Arbeitsmarktintegration, langfristigen Einkommen von Müttern, gesellschaftlichen Zielen wie Geschlechtergerechtigkeit und natürlich der Gesundheit der Mütter.

    Originalpublikation:
    Renner, A.-T., Shaikh, M., Spitzer, S. (2025; forthcoming): Absence from work and lifetime smoking behavior: Evidence from European maternal leave policies. In Journal of Health Economics.
    DOI: 10.1016/j.jhealeco.2025.103004
    https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0167629625000396?via%3Dihub

    Pressemitteilung der Universität Wien, 30.6.2025

  • Cannabisprävention von Studierenden für Studierende

    Ein Forschungsprojekt der Hochschule München klärt auf über Cannabis – auf Augenhöhe, faktenbasiert und ohne zu belehren. Leicht verständliche Inhalte für Social Media, Podcasts oder Aktionstage sollen speziell für Studierende Wissen vermitteln, mit Mythen aufräumen und zum Nachdenken anregen.

    Ein Team um Prof. Dr. Andreas Fraunhofer und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Leila Wanner von der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München (HM) geht mit dem Projekt „CannaPeer“ neue Wege in der Präventionsarbeit für Cannabiskonsum: Studierende leisten die Aufklärung für ihre gleichaltrige Zielgruppe.

    Aufklärung auf Augenhöhe

    Ziel ist es, mit einem Peer-to-Peer-Ansatz Studierende für das Thema Cannabisprävention zu sensibilisieren. Dafür werden Studierende intensiv geschult: Workshops, praxisnahe Übungen und begleitende Materialien vermitteln ihnen das notwendige Wissen und die Methoden, um Präventionsarbeit leisten zu können. Am Ende soll dabei ein Austausch unter Gleichaltrigen entstehen. „Der Peer-to-Peer-Ansatz ist für uns der Schlüssel, um die Zielgruppe authentisch zu erreichen. Wenn Prävention wirken soll, muss sie im Lebensumfeld junger Menschen stattfinden – nahbar, glaubwürdig und dialogorientiert“, unterstreicht HM-Professor und Projektleiter Andreas Fraunhofer.

    Wissensvermittlung online und offline

    Das Projekt setzt vor allem auf Social-Media-Plattformen wie TikTok und Instagram, um die Zielgruppe anzusprechen. Ergänzt wird das Aufklärungsangebot durch einen Podcast, um Themen mit Expertinnen und Experten zu vertiefen. Dabei geht es zum Beispiel um die Wirkung von Cannabis auf den Körper, die Suchgefahr oder den Unterschied zwischen synthetischen und natürlichen Cannabinoiden. Geplant sind darüber hinaus Präsenzformate, um den direkten Austausch zu fördern. Dazu zählen Workshops an Berufsfachschulen sowie eine Vorlesung zum Thema Sucht mit besonderem Fokus auf Cannabis und Alkohol. Ergänzend sind Campusbefragungen und kreative Aktionstage vorgesehen, die zunächst am Hochschulstandort Pasing starten und perspektivisch auch auf die Campus der Innenstadt ausgeweitet werden sollen. „Wir möchten mit unserem Ansatz nicht nur aufklären, sondern echte Gesprächsanlässe schaffen und die Studierenden aktiv in die Gestaltung von Prävention einbeziehen“, erklärt Leila Wanner, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektkoordinatorin.

    Breite Vernetzung und nachhaltige Perspektive

    Das Projekt läuft in enger Zusammenarbeit mit der Universität Bamberg und der Hochschule Kempten. Darüber hinaus sind lokale Netzwerke wie das Münchner Programm zur Suchtprävention und die Aktion Jugendschutz Bayern aktiv eingebunden. Durch die Kooperationen soll der Peer-to-Peer-Ansatz eine nachhaltige und niedrigschwellige Präventionsstruktur im Bereich von Bildungsinstitutionen schaffen. Langfristig verfolgt das Projekt die Vision, ein überregionales Netzwerk von geschulten Peer-Multiplikatorinnen und -Multiplikatoren aufzubauen, durch das sich junge Menschen faktenbasiert, ehrlich und ohne Stigmatisierung über Cannabis austauschen können.

    Projektinformationen: Das Projekt „CannaPeer“ wird durch das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege (StMGP) finanziert und durch das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) gefördert und koordiniert. Die zentrale Konzeption und Steuerung auf Landesebene obliegt dem Zentrum für Prävention und Gesundheitsförderung (ZPG) in Kooperation mit dem Institut für Therapieforschung (IFT).

    Pressemitteilung der Hochschule München, 23.6.2025

  • Geschichte und Systematik der Psychologie

    Beltz Verlag, Weinheim 2024, 510 Seiten, 55,00 €, ISBN 978-3-621-28875-0

    „Psychologie hat eine lange Vergangenheit, doch nur eine kurze Geschichte“ – häufig wird diese Aussage von Hermann Ebbinghaus zur Geschichte der Psychologie zitiert. Erste psychologische Ideen finden sich schon in der Antike, aber wann entsteht der Begriff Psychologie, wann das Fach als eigenständige Disziplin? Wolfgang Schönpflug zeichnet die lange Vergangenheit, die philosophischen Vorläufer der modernen Psychologie nach. Er schlägt den Bogen von den Ursprüngen psychologischer Ideen und Theorien in der Antike bis zu den Entwicklungen der Psychotherapiewissenschaft der Gegenwart und zeigt Traditionslinien, Kontroversen und Umbrüche psychologischer Theorie und Praxis auf.

    Aus der Geschichte der Psychologie erklärt er ihre Systematik – ihre theoretische und methodische Diversität, ihre Gliederung in Teilfächer und ihre Stellung unter den Wissenschaften und Berufen. Psychologie wird dabei in den vielfältigen Zusammenhängen dargestellt, in denen sie sich entwickelt hat – im Kontext anderer Disziplinen, im Kontext von Religion und Kunst, Wirtschaft und Technik, Politik und Gesellschaft.