Autor: Simone Schwarzer

  • Absetzen von Antidepressiva

    Medikamente sind ein wichtiger Bestandteil der Behandlung von Depressionen. Acht bis zehn Prozent der Deutschen nehmen Antidepressiva [1]. Die meisten Patient:innen könnten diese nach etwa einem Jahr wieder absetzen. Viele haben jedoch Mühe, davon loszukommen. Mehr als jede dritte Person nimmt Antidepressiva länger ein als notwendig [2, 3]. Grund hierfür ist unter anderem eine negative Erwartungshaltung, der so genannte Nocebo-Effekt.

    „Viele Patient:innen sind beim Absetzversuch von rasch vorübergehenden Absetzeffekten wie Schlaflosigkeit, Schwindel oder Reizbarkeit betroffen und missverstehen diese als Rückfall. Die daraus entstehende Angst verstärkt die Beschwerden noch, weshalb die Patient:innen den Absetzversuch oftmals abbrechen, statt durchzuhalten“, erklärt Ulrike Bingel, Professorin für Klinische Neurowissenschaften an der Universitätsmedizin Essen und Sprecherin des Sonderforschungsbereichs (SFB) 289 „Treatment Expectation“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der an der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen koordiniert wird. Darin untersucht ein interdisziplinäres Forschungsteam in 16 Teilprojekten, wie Erwartungen den Behandlungserfolg beeinflussen und wie sich dieser Effekt bei verschiedenen Erkrankungen therapeutisch nutzen lässt.

    „Unsere Studienergebnisse weisen darauf hin, dass bessere Aufklärung und das gezielte Wecken positiver Erwartungen helfen können, den unheilvollen Kreislauf beim Absetzen von Antidepressiva zu durchbrechen“, sagt SFB-Projektleiterin Yvonne Nestoriuc, Professorin für Klinische Psychologie an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Sie plädiert daher für unterstützende psychotherapeutische Elemente, die helfen, Erwartungen beim Antidepressiva-Absetzen zu optimieren und dem Nocebo-Effekt vorzubeugen. Der Nocebo-Effekt ist keine „Einbildung“, sondern in unterschiedlichen medizinischen Studien vielfach nachgewiesen [4–7]: Im Gegensatz zur positiven Wirkung beim Placebo-Effekt (Lat. „Ich werde gefallen“) sorgt beim Nocebo-Effekt (Lat. „Ich werde schaden“) allein die Erwartung negativer Folgen dafür, dass Prozesse im zentralen Nervensystem angestoßen werden, die zu körperlichen Veränderungen führen.

    Hohe Belastung durch unnötige Einnahme von Antidepressiva

    „Es ist ein Missstand, dass viele Patient:nnen Antidepressiva viel zu lange einnehmen. Mit unserer Forschung wollen wir dazu beitragen, die Informations- und Versorgungslücke für Patient:innen mit Absetzwunsch zu schließen“, betont Prof. Nestoriuc. Unerwünschte Nebenwirkungen durch eine nicht mehr indizierte Einnahme seien nicht nur eine Belastung für die Patient:innen, sondern auch für das Gesundheitssystem, so die Psychologin. Bei Jahresgesamtkosten für Antidepressiva von 640 Millionen Euro könne man durch eine bessere Unterstützung der Patient:innen 190 bis 250 Millionen Euro jährlich sparen, so ihre Einschätzung [8]. Prof. Nestoriuc fordert daher erweiterte Behandlungsleitlinien, in denen festgelegt ist, dass verschreibende Ärzt:innen über die Absetzproblematik aufklären.

    Leben ohne Antidepressiva – mit Begleitung den Tiefpunkt überwinden

    Antidepressiva sind nur in seltenen Fällen als lebenslange Therapie sinnvoll, denn sie können zu Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, sexuellen Problemen und einem erhöhten Risiko für Herzrhythmusstörungen führen. Als medizinische Empfehlung gilt: Verbessern sich nach etwa vier Wochen, in denen Antidepressiva ihre volle Wirksamkeit entfalten, die depressiven Symptome, sollte das Medikament noch vier bis neun weitere Monate eingenommen werden, bei mehrfach depressiven Episoden weitere zwei Jahre. Herrscht dann immer noch weitgehende Symptomfreiheit, sollte ein Absetzversuch erfolgen. Dabei können vorübergehende Beschwerden wie Schwindel, Schlaflosigkeit, Schwäche, Reizbarkeit, Übelkeit und Schmerzen auftreten – sie gleichen den Symptomen einer Depression, was bei Patient:innen die Angst vor einem Rückfall auslösen und zu einem Abbruch des Absetzversuchs führen kann.

    „Um zwischen Rückfall und Absetzproblematik zu unterscheiden, ist eine intensive ärztliche Begleitung notwendig, die auch den Nocebo-Effekt berücksichtigt und die Patient:innen darüber aufklärt“, betont Prof. Nestoriuc.

    Forschung zum Nocebo-Effekt unterstützen – Angebot für Patient:innen

    Patient:innen aus dem Großraum Hamburg sowie Marburg, die ihr Antidepressivum mit ärztlicher und psychologischer Begleitung absetzen möchten, können an der aktuellen PHEA-Studie teilnehmen, die am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und an der Philipps-Universität Marburg durchgeführt wird. Informationen unter www.phea-studie.de

    Referenzen

    [1] Grieß, A. (2015). Nutzung von Antidepressiva seit 2000 deutlich angestiegen. Statista Infografiken. Abgerufen am 2. Mai 2022, von https://de.statista.com/infografik/4021/verbrauchte-tagesdosis-antidepressiva-pr…

    [2] Van Leeuwen, E., Driel, M. L., Horowitz, M. A., Kendrick, T., Donald, M., De Sutter, A. I., … & Christiaens, T. (2021). Approaches for discontinuation versus continuation of long?term antidepressant use for depressive and anxiety disorders in adults. Cochrane Database of Systematic Reviews (4).

    [3] Ambresin, G., Palmer, V., Densley, K., Dowrick, C., Gilchrist, G., & Gunn, J. M. (2015). What factors influence long-term antidepressant use in primary care? Findings from the Australian diamond cohort study. Journal of affective disorders, 176, 125-132.

    [4] Jensen, K. B., Kaptchuk, T. J., Kirsch, I., Raicek, J., Lindstrom, K. M., Berna, C., … & Kong, J. (2012). Nonconscious activation of placebo and nocebo pain responses. Proceedings of the National Academy of Sciences, 109(39), 15959-15964.

    [5] Benedetti, F., Durando, J., & Vighetti, S. (2014). Nocebo and placebo modulation of hypobaric hypoxia headache involves the cyclooxygenase-prostaglandins pathway. PAIN®, 155(5), 921-928.

    [6] Bingel, U., Wanigasekera, V., Wiech, K., Ni Mhuircheartaigh, R., Lee, M. C., Ploner, M., & Tracey, I. (2011). The effect of treatment expectation on drug efficacy: imaging the analgesic benefit of the opioid remifentanil. Science translational medicine, 3(70), 70ra14-70ra14.

    [7] Pan, Y., Kinitz, T., Stapic, M., & Nestoriuc, Y. (2019). Minimizing drug adverse events by informing about the nocebo effect – an experimental study. Frontiers in Psychiatry, 10, 504.<

    [8] Ludwig, W.-D., Mühlbauer, B., & Seifert, R. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2021. Springer-Verlag, 2021. Arzneiverordnungs-Report 2021 | SpringerLink

    Der Sonderforschungsbereich Treatment Expectation

    Der überregionale, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Sonderforschungsbereich (SFB/Transregio 289) „Treatment Expectation“ untersucht seit dem Jahr 2020 mit einem interdisziplinären Team den Einfluss der Erwartung von PatientInnen auf die Wirksamkeit medizinischer Behandlungen. Die Forschungsansätze gestalten sich multidimensional, vielschichtig und komplex, um valide Antworten auf die entscheidende Frage zu finden: Welche Effekte haben positive und negative Erwartungen von PatientInnen auf den Erfolg einer Behandlung und das Auftreten von Nebenwirkungen?

    Pressestelle des Universitätsklinikums Essen, 25.5.2022

  • Der Sinn der Sucht

    Psychosozial-Verlag, Gießen 2022, 445 Seiten, 39,90 €, ISBN 978-3-8379-3144-0, auch als E-Book erhältlich

    Die Krankheit „Sucht“ ist ein Massenphänomen in gegenwärtigen Industriegesellschaften. An den Schnittstellen von Therapie, Beratung, Prävention und Politik sind ihre Relevanz und Aktualität – als individuelles Leiden und gesamtgesellschaftliches Phänomen – seit Jahrzehnten ungebrochen.

    Angesichts bisheriger Theorien zu Sucht und Abhängigkeit, die zumeist widersprüchlich und für die Behandlungspraxis nur bedingt geeignet erscheinen, entwickelt Roland Voigtel ein theoretisch klar abgegrenztes und zugleich anwendungsorientiertes Konzept der Krankheit „Sucht“: Unter Einbezug von Neurochemie, Psychiatrie, Lerntheorie und vielfältigen Konzepten der Psychoanalyse sieht er den Anfangspunkt der Sucht in der missglückten Beziehungserfahrung des Kleinkindes mit seiner Bezugsperson. Zwischen der Illusion von Autonomie und der Betäubung unerträglicher Trennungsaffekte wird das Suchtmittel zu Beziehungsersatz und Ich-Stütze. Ausgehend von dieser Grundidee ermöglicht Voigtel Therapeut:innen ein einfühlendes Verständnis, diagnostische Sicherheit und die Wahl der passenden Haltung und Behandlungsform für ihre Patient:innen.

  • Wer hat nie richtig Feierabend?

    Rund ein Zehntel der Erwerbstätigen in Deutschland arbeitet suchthaft – das ergibt eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie auf Basis repräsentativer Daten von 8.000 Erwerbstätigen.

    Menschen, die suchthaft arbeiten, arbeiten nicht nur sehr lang, schnell und parallel an unterschiedlichen Aufgaben, sie können auch nur mit schlechtem Gewissen freinehmen und fühlen sich oft unfähig, am Feierabend abzuschalten und zu entspannen. Führungskräfte zeigen überdurchschnittlich oft Symptome suchthaften Arbeitens. In mitbestimmten Betrieben kommt suchthaftes Arbeiten seltener vor als in solchen ohne Mitbestimmung, so die Untersuchung von Forschenden des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) und der Technischen Universität Braunschweig, die über gut zwei Jahre mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung dem Thema nachgegangen sind. Betriebsräte helfen, Grenzen zu ziehen und könnten Beschäftigte so vor Selbstausbeutung schützen.

    Frühmorgens ins Büro und spätabends wieder raus, zu Hause noch einmal die Mails checken, einfach nicht loslassen können: Suchthaftes Arbeiten ist kein Randphänomen, das nur eine kleine Gruppe von Führungskräften betrifft. Tatsächlich sind exzessives und zwanghaftes Arbeiten in allen Erwerbstätigengruppen verbreitet. Das Forschungsteam hat zu diesem Thema eine Auswertung auf Basis repräsentativer Daten für Erwerbstätige in Deutschland durchgeführt. Einige der Ergebnisse von Beatrice van Berk (BIBB), Prof. Dr. Christian Ebner (TU Braunschweig) und Dr. Daniela Rohrbach-Schmidt (BIBB) mögen auf den ersten Blick überraschen. Wer bei IT-Berufen etwa an Leute denkt, die bis spät in die Nacht beruflich bedingt vor dem Computer hocken und IT-Probleme lösen, sieht sich getäuscht: Tatsächlich ist der Berufsbereich Informatik, Naturwissenschaft, Geografie am wenigsten betroffen. Am häufigsten neigen Menschen in Land-, Forst- und Tierwirtschaft sowie Gartenbau zu suchthaftem Arbeiten. In der ersten Gruppe sind es sechs Prozent, in der zweiten 19 Prozent. In weiteren untersuchten Wirtschaftsbereichen, unter anderem Verkehr/Logistik, Produktion/Fertigung, Kaufmännische Dienstleistungen/Handel/Tourismus oder Gesundheit/Soziales/Erziehung liegen die Werte zwischen acht und elf Prozent.

    Exzessives Arbeiten und Getriebenheit

    Wann werden aus engagierten Erwerbstätigen solche, deren Leben von der Arbeit dominiert wird? Dieser Frage haben sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schon vor Jahrzehnten gewidmet. 1971 prägte der Psychologe Wayne Oates den Begriff Workaholic, um zu beschreiben, dass einige Menschen ein Verhältnis zu ihrer Arbeit haben wie Süchtige zum Alkohol. Heute arbeitet die Forschung mit verschiedenen Kriterienkatalogen. International verbreitet ist etwa die Dutch Work Addiction Scale, die auch van Berk, Ebner und Rohrbach-Schmidt als Befragungsinstrument in ihrer Erhebung genutzt haben. Suchthafte Arbeit lässt sich demnach anhand von zwei Dimensionen bestimmen. Erstens muss die jeweilige Person exzessiv arbeiten, das heißt: lange arbeiten, schnell arbeiten und verschiedene Aufgaben parallel erledigen. Der zweite Faktor als Voraussetzung für suchthaftes Arbeiten ist die „Getriebenheit“ der Erwerbstätigen: hart arbeiten, auch wenn es keinen Spaß macht, nur mit schlechtem Gewissen freinehmen, Unfähigkeit zur Entspannung am Feierabend, also „Entzugserscheinungen“ in der erwerbsarbeitsfreien Zeit.

    Die Auswertung stützt sich auf eine Befragung von rund 8.000 Erwerbstätigen in den Jahren 2017 und 2018. Zu jeder der beiden Dimensionen von Arbeitssucht wurden den Interviewten fünf Aussagen präsentiert, zu denen sie, mit mehreren Abstufungen, Zustimmung oder Ablehnung äußern konnten. Etwa „Ich bin stets beschäftigt und habe mehrere Eisen im Feuer“ oder „Ich spüre, dass mich etwas in mir dazu antreibt, hart zu arbeiten“.

    Der Untersuchung zufolge arbeiten 9,8 Prozent der Erwerbstätigen suchthaft. Weitere 33 Prozent arbeiten exzessiv – aber nicht zwanghaft. 54,9 Prozent der Erwerbstätigen arbeiten dagegen „gelassen“. Und eine kleine Gruppe arbeitet zwar nicht viel, aber zwanghaft.

    Mit rund zehn Prozent Arbeitssüchtigen erreicht Deutschland einen Wert, der nah an den Ergebnissen ähnlicher Studien aus anderen Ländern liegt. So kamen Forschende in den USA ebenfalls auf zahn Prozent und in Norwegen auf gut acht Prozent. Aus dem Rahmen fällt Südkorea, wo eine Untersuchung einen Anteil von fast 40 Prozent ergab, allerdings mit einer etwas weiter gesteckten Definition von Arbeitssucht.

    Nur schwache Unterschiede bezüglich soziodemografischer Merkmale

    In einer weiteren Hinsicht fügen sich die Erkenntnisse von van Berk, Ebner und Rohrbach-Schmidt in den internationalen Forschungsstand: „Insgesamt deutet die Studienlage darauf hin, dass die Verbreitung von suchthaftem Arbeiten unter den Erwerbstätigen – wenn überhaupt – nur schwache Unterschiede bezüglich soziodemografischer Merkmale aufweist.“ So ist es auch in Deutschland. Schulabschluss und Familienstatus zeigen keine Zusammenhänge mit der Neigung zu suchthafter Arbeit. Einen kleinen, aber signifikanten Unterschied gibt es zwischen Frauen und Männern, die zu 10,8 beziehungsweise neun Prozent betroffen sind. Deutlichere Unterschiede bestehen zwischen Altersgruppen: Bei den 15- bis 24-Jährigen beträgt die Quote 12,6 Prozent, bei den 55- bis 64-Jährigen 7,9 Prozent.

    Wer eine lange vertragliche Wochenarbeitszeit hat, neigt leicht überdurchschnittlich zur Arbeitssucht; ob der Vertrag befristet ist oder nicht, spielt dagegen keine Rolle. Auch das Anforderungsniveau erweist sich als neutral. Starke Unterschiede zeigen sich dagegen im Hinblick auf Selbständigkeit und Führungsverantwortung. Unter Selbstständigen liegt die Workaholic-Quote bei 13,9 Prozent. Dies könnte auch einer der Gründe für den hohen Anteil in landwirtschaftlichen Berufen sein, denn in dieser Branche sind viele Erwerbstätige selbstständig.

    Zwischen suchthaftem Arbeiten und Führungsverantwortung besteht „ein statistisch höchst signifikanter Zusammenhang“. Führungskräfte sind zu 12,4 Prozent arbeitssüchtig, andere Erwerbstätige nur zu 8,7 Prozent. „Unter den Führungskräften ist suchthaftes Arbeiten zudem umso stärker ausgeprägt, je höher die Führungsebene ist.“ Die obere Ebene kommt auf einen Anteil von 16,6 Prozent. In vielen Betriebskulturen werden an Führungskräfte wahrscheinlich Anforderungen gestellt, die „Anreize für arbeitssüchtiges Verhalten“ setzen, vermuten die Wissenschaftlerinnen und der Wissenschaftler. Beispielsweise, wenn erwartet wird, dass sie als Erste kommen und als Letzte gehen.

    Einen starken Zusammenhang mit suchthafter Arbeit haben schließlich Betriebsgröße und Mitbestimmung. In Großbetrieben ist Arbeitssucht weniger verbreitet als in kleinen Betrieben. Bei weniger als zehn Beschäftigten „fallen 12,3 Prozent in die Kategorie der suchthaft Arbeitenden“, bei mehr als 250 Beschäftigten 8,3 Prozent. Dies könnte an einer stärkeren Regulierung liegen. Beschäftigte in Großunternehmen bekommen Schwierigkeiten mit der Personalabteilung, wenn das Arbeitszeitkonto überquillt. Ähnliche Unterschiede treten beim Vergleich von Betrieben mit und ohne Betriebsrat zutage: Mit Mitbestimmung arbeiten 8,7 Prozent der Beschäftigten suchthaft, ohne Betriebsrat 11,9 Prozent. Eine besondere Rolle dürften in diesem Kontext Betriebsvereinbarungen spielen – „ein wichtiges Instrument der betrieblichen Regulierung, welches exzessivem und zwanghaftem Arbeiten entgegenwirken kann“, so die Forschenden.

    Originalpublikation:
    Beatrice van Berk, Christian Ebner, Daniela Rohrbach-Schmidt: Wer hat nie richtig Feierabend? Eine Analyse zur Verbreitung von suchthaftem Arbeiten in Deutschland, Zeitschrift Arbeit 3/2022, April 2022. Download: https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/arbeit-2022-0015/html

    Pressestelle der Hans-Böckler-Stiftung, 25.5.2022

  • Anhaltender Cannabiskonsum könnte Intelligenz mindern

    Anhaltender Konsum von Cannabis steht mit einer verringerten geistigen Leistungsfähigkeit in Zusammenhang. Das legen die Ergebnisse einer Langzeitstudie aus Neuseeland nahe.

    Bei der ersten Erhebung waren die Teilnehmenden drei Jahre alt, die letzte fand im Alter von 45 Jahren statt. In regelmäßigen Abständen wird ein repräsentativer Ausschnitt der neuseeländischen Bevölkerung untersucht. Die Teilnehmenden der Kohortenstudie sind zwischen 1972 und 1973 in der Stadt Dunedin zur Welt gekommen. Seit dem Alter von 18 Jahren wird auch der Konsum von Cannabis erhoben. Ein Forschungsteam unter der Leitung von Madeline Meier ist der Frage nachgegangen, wie sich langjähriges Kiffen auf die geistigen Leistungen auswirkt.

    Meier und ihr Team haben bereits in einer früheren Auswertung der Dunedin-Studie für Aufsehen gesorgt. Das zentrale Ergebnis lautete: Wer schon als Jugendlicher in das regelmäßige Kiffen einsteigt, hat im Alter von 38 Jahren einen bis zu 8 Punkte niedrigeren Intelligenzquotienten (IQ). Der mittlere IQ in der Bevölkerung liegt bei 100. Stets abstinente Personen aus der Dunedin-Studie konnten ihren IQ als Erwachsene hingegen etwas verbessern. Allerdings gab es auch Kritik an den Schlussfolgerungen.

    Rückgang des IQ um durchschnittlich 5,5 Punkte

    In der aktuellen Auswertung waren unter den 938 Teilnehmenden 84 Personen, die im Alter von 45 Jahren immer noch regelmäßig, also wöchentlich bis täglich, kifften. Das zentrale Ergebnis der Studie lautet: Bei den langjährig Konsumierenden ist der IQ um durchschnittlich 5,5 Punkte seit der Kindheit gesunken. Die verminderten geistigen Leistungen machen sich unter anderem in einer geringeren Merkfähigkeit und in Problemen mit der Aufmerksamkeit bemerkbar. Dies sei auch Personen aufgefallen, die den Teilnehmenden nahestehen und ebenfalls im Rahmen der Studie befragt wurden.

    Das Forschungsteam betont, dass es eine Vielzahl von weiteren möglichen Einflüssen bei ihrer Auswertung berücksichtigt habe. Beispielsweise seien der Konsum weiterer Drogen und auch Abhängigkeitsprobleme in der Familie einbezogen worden. Darüber hinaus hat das Team Vergleichsgruppen gebildet. Darunter waren Personen, die nur gelegentlich kifften oder aufgehört haben zu konsumieren sowie Personen, die regelmäßig Alkohol tranken oder täglich Tabak rauchten. Im Vergleich zu diesen Gruppen war der IQ-Rückgang der langjährigen Kiffer am stärksten ausgeprägt. Die geistigen Leistungen von Personen, die nur gelegentlich kifften, wichen hingegen nicht bedeutsam vom Durchschnitt ab.

    Kleinerer Hippocampus bei Dauerkiffen

    Der Rückgang der geistigen Leistungen bei den Langzeitkonsumierenden geht bei den Teilnehmenden der Studie einher mit einem kleineren Hippocampus. Das ist ein Areal im Gehirn, das vor allem für das Abspeichern neuer Inhalte im Langzeitgedächtnis zuständig ist. Vertiefte Analysen deuten aber darauf hin, dass der Hippocampus nicht das einzige Hirnareal ist, das mit den Einbußen in der geistigen Leistungsfähigkeit in Verbindung steht.

    Die Kohortenstudie könne laut dem Forschungsteam zwar nicht beweisen, dass Cannabis die Hirnveränderungen und die verminderte geistige Leistungsfähigkeit verursacht hat. Die Studie habe aber „robuste“ Belege dafür vorgelegt, dass langjähriger Cannabiskonsum maßgeblich verantwortlich hierfür ist. Das Forschungsteam gibt zu bedenken, dass milde Einbußen der geistigen Leistungsfähigkeit im mittleren Erwachsenenalter Vorboten von Demenzerkrankungen im höheren Alter sein können. Ob dies so ist, müssten zukünftige Studien untersuchen.

    Originalpublikation:
    Meier, M. H., Caspi, A., Knodt, A. R., Hall, W., Ambler, A., Harrington, H., Hogan, S., Houts, R. M., Poulton, R., Ramrakha, S., Hariri, A. R. & Moffit, T. E. (2022). Long-Term Cannabis Use and Cognitive Reserves and Hippocampal Volume in Midlife. Am J Psychiatry, https://doi.org/10.1176/appi.ajp.2021.21060664.

    Quelle: www.drugcom.de , 18.5.2022

  • Vererbung von Lebenschancen

    Der Vererbung von Lebenschancen lässt sich selbst mit einem Hochschulabschluss nur mit Mühen gegensteuern: Uni-Absolventinnen und -Absolventen aus Familien mit geringem Bildungsniveau haben es beim Berufseinstieg schwerer als Kinder aus begünstigteren Verhältnissen. „Beim Berufseinstieg ist Leistung noch nicht so sichtbar, zugleich zählen Auslandsaufenthalte und Praktika, die sozial selektiv sind, sowie das Netzwerk der Eltern. Junge Akademikerinnen und Akademiker, deren Eltern über wenige Ressourcen verfügen, haben daher eher Probleme beim Jobstart“, sagt LMU-Soziologe Dr. Fabian Kratz. Erst mit zunehmender Berufserfahrung gelingt es ihnen, diesen Nachteil wettzumachen. Kindern aus Familien mit hoher Bildung verhelfe ihre Herkunft dagegen zu einem „Happy Start“.

    Fabian Kratz und Bettina Pettinger vom Lehrstuhl für Quantitative Ungleichheits- und Familienforschung am Institut für Soziologie der LMU haben in Zusammenarbeit mit Professor Michael Grätz von der Universität Lausanne einen innovativen statistischen Ansatz entwickelt. Damit können sie nachzeichnen, welchen Einfluss elterliche Ressourcen je nach Bildungsstand des Kindes auf den Berufsweg haben.

    Bildungsstand der Eltern formt Karrieren

    Die Untersuchung bestätigt, dass in Deutschland Lebenschancen vererbt werden: Bildungschancen der Kinder hängen stark von ihrer familiären Herkunft ab. Die vorliegende Untersuchung zeichnet nun die Auswirkung dieser beiden Variablen auf Prestigeunterschiede bei der Berufswahl nach. Von hohen elterlichen Ressourcen profitieren auch Kinder, die selbst nur einen niedrigen Bildungsabschluss erreichen. Im Laufe ihres Berufslebens zahlt sich ihre Herkunft wieder aus: „Sie sind motiviert, diesen Malus auszugleichen, und haben gute Chancen, im weiteren Karriereverlauf den Prestigeverlust durch ihren niedrigen Abschluss wieder aufzuholen“, so Kratz. Diese Entwicklung lässt sich bei Kindern aus bildungsarmen Haushalten nicht nachzeichnen: Schaffen sie keinen höheren Schulabschluss als ihre Eltern, werden sie das auch später nicht mehr aufholen können.

    Um Uniabsolventen aus bildungsarmen Familien zu unterstützen, schlägt der LMU-Soziologe vor, Informationsveranstaltungen und Vernetzungstreffen zum Berufseinstieg speziell für diese Gruppe anzubieten. Zudem sollten Arbeitgeber sozial selektiven Merkmalen wie teuren Auslandsaufenthalten oder Praktika beim ersten Job weniger Gewicht zumessen und stattdessen die Leistung von Bewerberinnen und Bewerbern anerkennen, wenn es diese gegen die Wahrscheinlichkeit ihrer Herkunft geschafft haben, einen Hochschulabschluss zu erwerben.

    Originalpublikation:
    Fabian Kratz, Bettina Pettinger, Michael Grätz: At Which Age is Education the Great Equalizer? A Causal Mediation Analysis of the (In-)Direct Effects of Social Origin over the Life Course. In: European Sociological Revue 2022; https://doi.org/10.1093/esr/jcac018

    Pressestelle der Ludwig-Maximilians-Universität München, 3.5.2022

  • Suchthilfe-Angebote in NRW für ukrainische Geflüchtete

    Anlässlich des Ukraine-Kriegs und der hohen Zahl an Geflüchteten in Deutschland hat die Geschäftsstelle der Suchtkooperation NRW abgefragt, welche Angebote in der ambulanten Suchthilfe in NRW für ukrainische Geflüchtete bestehen.

    Die Liste mit Angeboten in ukrainischer, russischer und englischer Sprache steht auf der Homepage der Suchtkooperation NRW zum Download bereit und wird regelmäßig aktualisiert.

    Link zur Liste

    Einrichtungen können Ergänzungen für die Liste mithilfe des Abfrageformulars, das ebenfalls auf der Homepage zu finden ist, an die Geschäftsstelle der Suchtkooperation NRW weitergeben. Außerdem bittet die Geschäftsstelle um Rückmeldungen, sofern Einrichtungen in ihren Strukturen bereits eine erhöhte Inanspruchnahme der Suchthilfe-Angebote durch aus der Ukraine geflüchtete Personen wahrnehmen (kontakt@suchtkooperation.nrw).

    Quelle: Suchtkooperation NRW, 11.5.2022

  • Digitaler Wandel in der Suchtprävention

    Digitaler Wandel in der Suchtprävention

    Benjamin Becker

    Digitale Kommunikation ist für die heranwachsende Generation normal. Die Suchtprävention hat hier noch Barrieren zu überwinden. Wie Digitalisierung und Corona-Krise einen Paradigmenwechsel in der Suchtprävention voranbringen könnten, beschreibt dieser Beitrag aus der Fachsicht von blu:prevent, dem Suchtpräventionsangebot des Blauen Kreuzes für Jugendliche.

    Wenn wir uns aktuell auf eine Sache verlassen können, dann ist es der Wandel. Und zwar ein Wandel, der mittlerweile exponentielle Züge annimmt. Befeuert wird dieser Prozess durch die Megatrends Globalisierung, Digitalisierung und Individualisierung. Kommunikation und Mediennutzung der Menschen haben sich so stark verändert, dass bereits von einem Paradigmenwechsel gesprochen wird. Wirtschaft, Politik, Kirchen, Schulen, Jugendarbeit und natürlich auch die Suchthilfe sind herausgefordert, neue Methoden der Wissensvermittlung zu entwickeln, um Jugendliche in ihrer Kommunikations- und Lebenswelt weiterhin erreichen zu können.

    Wir erhalten regelmäßig Anfragen von Fachkräften, Trägern und Landesstellen, die suchtpräventiv mit jungen Menschen arbeiten und nach zeitgemäßen und innovativen Tools suchen. Daher haben wir mit blu:prevent – bereits vor Corona – damit begonnen, neue und unkonventionelle Wege in der Suchtprävention zu gehen, um geeignete digitale Tools für Jugendliche und Multiplikatoren entwickeln zu können.

    Welche Chancen und Herausforderungen beinhalten digitale Angebote in der Suchtprävention?

    Die Chancen und Möglichkeiten der digitalen Suchtprävention sind größer, als viele denken. Über digitale Wege wie Social Media, Apps, Podcasts, Plattformen/Websites, YouTube-Clips, Webinare/Online-Schulungen usw. kann plötzlich eine millionenfache Reichweite generiert werden. So kann es kleinen und bisher unbekannten Projekten oder Personen (selbst mit einem kleinen Budget) gelingen, sich aus dem „Nichts“ mit einer cleveren Idee und einem digitalen Konzept erfolgreich zu positionieren und eine wesentliche Rolle auf dem Markt zu spielen.

    Durch die Verbreitung und Bewerbung (Social Media-Advertising, Google Ads, TV-Wartezimmer, YouTube-Werbung) unserer Tools konnte blu:prevent in wenigen Jahren über acht Millionen Menschen erreichen. Hinzu kommen die Personen, die über unsere Kooperationspartner:innen und Influencer erreicht wurden, die in TV-Sendungen, großen YouTube-Channels und bekannten Podcasts eingeladen waren (1). Dies sind alles Chancen, die erst durch die Digitalisierung möglich geworden sind und unbedingt genutzt werden sollten. Dies erfordert Agilität und einen gewissen Pioniergeist bei den Behörden, Institutionen und Verbänden/Vereinen. Weitere großartige Chancen bestehen darin, dass digitale Tools viele der bisherigen Barrieren nicht kennen: Entfernungen, mangelnde Mobilität, Hemmschwellen, Berührungsängste, schwer zugängliche Milieus usw. Dies bemerken wir bei unserem anonymen Chat-Angebot in der blu:app, mit dem wir milieu- und ortsübergreifend jungen Menschen in Notlagen professionell zur Seite stehen können. Auch bei einem kürzlich durchgeführten Online-Präventions-Event mit über 300 Jugendlichen konnten wir erleben, wie positiv neue Formate angenommen werden (2).

    Neben einer hohen Effizienz, ökonomischen Vorteilen und den hohen Reichweiten gibt es auch Nachteile, die ich aber bewusst „Herausforderungen“ nennen möchte. Hierzu zählt, dass wichtige Elemente des Dialogs und Miteinanders in persönlichen Begegnungen (Gestik, Augenkontakt, Intuition, Übertragungen, Körperkontakt, Emotionalität usw.) durch digitalen Kontakt teilweise nicht zu kompensieren sind. Und: Anonymität kann ein Vor- und Nachteil sein.

    Eine weitere Challenge sind die Barrieren, die wir bei vielen Multiplikator:innen, aber auch eigenen Mitarbeitenden, erleben. Dazu gehören technische Barrieren, Barrieren innerhalb der Organisation (Strukturen, Abläufe, Budgets), Barrieren am Markt (Angebot und Nachfrage, keine Akzeptanz am Markt, Konkurrenzangebote, Markt benötigt etwas anderes) und Akzeptanz-Barrieren. Hier bemerken wir vor allem in den Bereichen „Schule“ und „Suchthilfe“, aber auch in Deutschland insgesamt, viele unterschiedliche Hürden.

    Daher möchten wir mit blu:prevent mutig vorangehen, Pilot- und Best-Practice- (auch Fail-Practice-) Modelle liefern und Menschen und Institutionen für diesen vielversprechenden Weg gewinnen. Denn: Für die heranwachsende und kommende Generation (Digital Natives) wird es „normal“ sein, auf digitale Hilfsangebote zuzugreifen, und es wird „unnormal“ werden, auf analoge Angebote angewiesen zu sein. Wir erleben immer mehr das Phänomen, dass für viele Jugendliche die klassischen Wege zu den Hilfsangeboten mit Barrieren und Vorbehalten verbunden sind. Daher werden hybride Angebote (digital & analog) oder rein digitale Angebote & Tools zukünftig eine bedeutendere Rolle spielen.

    Welche Rolle spielen Influencer:innen in Social Media? 

    Influencer:innen (Beeinflusser:innen) sind meistens Einzelpersonen, die sich im Social Media-Bereich (YouTube, Instagram, TikTok) eine starke Eigenmarke und einen starken eigenen Channel aufgebaut haben und somit zu einer hohen Reichweite gekommen sind. Viele Influencer:innen leben bereits sehr gut von den Einnahmen, die sie von Sponsoren bzw. Firmen, deren Produkte sie bewerben, erhalten.

    Folgende Merkmale werden ihnen von den Usern zugeschrieben: hohes Ansehen, Glaubwürdigkeit, wirken greifbar, geben Orientierung, sind immer da, vertreten Zielgruppe, sind Projektionsfläche für eigene Träume und Vorstellungen. Dadurch üben sie eine hohe Faszination und Überzeugungskraft auf viele Follower aus. Viele Jugendliche suchen die Antworten zu ihren persönlichen Alltagsfragen (Schule, Familie, Pubertät, Stress, Gewalt, Alkohol, Mobbing, Mediennutzung usw.) auf den digitalen Plattformen oder bei „ihren“ Influencer:innen. Das heißt, auch im Bereich Informationsvermittlung, Meinungsbildung, Austausch (Foren) und Hilfestellungen findet ein entsprechender Paradigmenwechsel statt.

    Die „Reiseroute“ von der Fragestellung oder dem Problem der jungen Menschen zum Hilfsangebot hat sich radikal verändert. Nicht mehr die Eltern, Lehrkräfte, Jugendleiter:innen oder Pastor:innen sind die ersten Ansprechpartner:innen, sondern die Influencer:innen ihrer Wahl. Nicht mehr die Lebenserfahrung steht im Vordergrund, sondern das Verhalten der Peergroup, das Maß an Attraktivität und der Reichweite der Influencer:innen und das Entertainment. Daher stellt sich hier die große Frage, wie es den Institutionen gelingen kann, eigene Influencer:innen auf den Weg zu bringen oder neue (unkonventionelle) Kooperationsformen mit etablierten Influencer:innenn einzugehen.

    Was hat die Corona-Krise aufgedeckt und was können wir aus ihr lernen? 

    Aus meiner Sicht hat uns die Corona-Krise einerseits aufgezeigt, wie wichtig die etablierten Anlaufstellen für Jugendliche an den Schulen, in der Jugendarbeit, den Sportvereinen, Kirchen und der Suchthilfe sind und wie Jugendliche – besonders in der Krise – vertraute Bezugspersonen brauchen und suchen. Andererseits hat uns die Corona-Krise aber auch schonungslos aufgezeigt, wie labil das eigentlich gut ausgebaute Hilfesystem in Deutschland sein kann, wenn es zu analog, zu wenig hybrid und somit zu einseitig aufgestellt ist.

    Wir sehen nun sehr klar, wo Entwicklungsmöglichkeiten im Bildungs- und Suchthilfesystem liegen, aber auch, wie wenig sie bisher genutzt wurden. Corona macht zudem deutlich, wie stark dieses System in sich gefangen ist, dass es oft an Agilität und Risikofreudigkeit fehlt und dass zu viel Bürokratie und zu lange Entscheidungswege Entwicklungen lähmen. Viele notwendige Veränderungsprozesse werden seit Jahrzehnten linear-kausal behandelt, und der notwendige Schritt in die Transformation, in den Zustand des „Sich selbst neu Erfindens“, ist offensichtlich noch nicht bewusst genug geworden. Hier scheinen der Leidensdruck oder die erforderliche Expertise (noch) nicht hoch genug zu sein.

    Da hier die Influencer:innen, aber auch die Wirtschaft, um ein Wesentliches agiler agieren, besteht real die Gefahr, dass kommerzielle Plattformen, branchenferne Start-ups oder andere Interessent:innen (und Influencer:innen) wichtige Marktanteile mit ihren Ideen oder Technologien übernehmen (Disruption), und es könnte das Szenario eintreten, dass Google, Facebook, Chatbots (Künstliche Intelligenz) oder Influencer:innen die Aufklärungs- und Beratungstätigkeiten sukzessiv übernehmen. Ob diese Plattformen/Personen die erforderlichen Professionen mitbringen und vernetzt mit dem Suchthilfesystem zusammenarbeiten werden, bleibt fraglich und könnte zu einer enormen Herausforderung bis hin zur Zerreißprobe führen. Noch bietet sich die Chance, gegenzusteuern und auf dem Marktplatz der Player mitzuspielen. Das bedeutet aber, bisherige Denkkategorien, die eigene Komfortzone und festgefahrenen Strukturen zu verlassen und Neuland zu betreten.

    In der Corona-Krise hat es aber auch viele Lichtblicke gegeben: Organisationen haben plötzlich gemerkt, wie schnell Veränderungen und Umstellungen – auch unbürokratisch – an manchen Stellen umgesetzt werden können. Und jede:r einzelne von uns wurde persönlich mit der entscheidenden Frage konfrontiert, ob wir die Krise akzeptieren und als Teil der Wirklichkeit annehmen und an ihr wachsen wollen, oder ob wir stetig gegen sie ankämpfen, Kraft verlieren und gleichzeitig viele Chancen der Neuorientierung und des Wachstums auslassen. 

    Krisen fordern uns oft auf, Dinge/Haltungen/Einstellungen neu zu definieren. Für mich bedeutet das, Traditionen und Werte zu berücksichtigen, bestehende Schätze zu heben und gleichzeitig die Entschlossenheit zur Entwicklung zu zeigen.

    Welche Haltung wird in der Zukunft entscheidend sein? 

    Grundsätzlich wird das Thema „Haltung“ in den nächsten Jahren sehr entscheidend sein! Wir können nicht einfach so weitermachen wie bisher. Genauso, wie es nicht ausreicht, einfach alle bisher analogen Verfahren zu digitalisieren. Fakt ist, dass die Jugendlichen konsequent ihren eigenen Weg gehen werden und wir entweder mit adäquaten Angeboten am Start sind oder nicht. Die – während der Coronazeit – stark besuchten Chat-Angebote, Foren und E-Mail-Beratungen verschiedener Organisationen bestätigen diesen Trend. Es braucht neue Denkweisen (Mindsets) und eine Transformation in vielen Bereichen, damit wir junge Menschen weiterhin gut und nachhaltig erreichen können. Die Haltung „Wer wagt gewinnt“ sollte unsere zukünftige Projektarbeit prägen. Es bedarf einer neuen Form der Risikobereitschaft, Flexibilität und Kreativität.

    Auf Fortbildungen präsentiere ich Thesen, die polarisieren und zum Nachdenken anregen, wie: „Kreativität schlägt Potential!“ oder „Der Rahmen ist wichtiger als der Inhalt!“. Es gilt, „Out of the Box“ zu denken und Neues zu entdecken. Es ist zu beobachten, dass die klassischen Hierarchien, Strukturen und Prozesse oftmals mit den aktuellen Fragestellungen und unterschiedlichen Anspruchsgruppen überfordert sind. Daher sind auch neue Arbeitsformate notwendig. Bekannte Methoden/Formate sind: Think Tanks, Design Thinking, Scrum, Bar Camps, Co-Creation. Eine Anpassung an die Branche bzw. das Projekt ist allerdings immer erforderlich. Der Weg zum Ziel und zu nachhaltigen Lösungen wird immer mehr unter Einbindung des interdisziplinären Teams (multiprofessionelle Kompetenzen) und der Dialoggruppe (Co-Creation) verwirklicht. Vieles wird zukünftig im Prozessverlauf (Work in Progress) gelernt, getestet und neu ausprobiert. Offenheit, Kreativität und die Erlaubnis zum Scheitern sind wichtige Merkmale des zukünftigen Arbeitens.

    Das klingt vielleicht nach großen Hürden, kann aber auch unglaublich viel Spaß machen, da es eine Abenteuerreise ist! Und viele Jugendliche nehmen es mit Begeisterung zur Kenntnis, wenn Hilfsangebote digital sind, ihre Sprache sprechen und in ihre Lebenswelt passen. Das erleben wir in der Praxis bei unserem Chat-Angebot (über 1.300 Anfragen/Jahr), der App (blu:app), den E-Learning-Modulen (blu:interact) und unseren Social-Media-Angeboten (@vollfrei). Für Multiplikatoren bieten wir (Online-)Fortbildungen zu diesem Thema an. Weitere Infos, unsere Tools und unseren Shop (kostenlose Materialen) finden Sie unter www.bluprevent.de

    Anmerkungen:
    (1) Zurzeit kooperieren wir mit Dominik Forster. https://www.youtube.com/channel/UCoMZAJLqlC6WEPV5stind5w

    Mit Samuel Koch haben wir ein gemeinsames Video erstellt.
    https://www.youtube.com/watch?v=TzzENc46PNg

    (2) Suchtpräventionsevent mit Audi und FC Ingolstadt mit dem Namen „Schanzer Pluspunkt“
    https://www.schanzer-pluspunkt.de/

    Der Artikel ist erstmals erschienen in:
    proJugend. Fachzeitschrift der Aktion Jugendschutz Bayern
    Heft 1/2022
    https://projugend.jugendschutz.de/projugend-1-2022/

    Kontakt:

    Benjamin Becker
    blu:prevent
    Blaues Kreuz in Deutschland
    benjamin.becker(at)blaues-kreuz.de

    Angaben zum Autor:

    Benjamin Becker ist Leiter von blu:prevent, Jugend- und Präventionsangebote des Blauen Kreuzes in Deutschland.

  • Alkohol und Drogen in der Familie

    Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2022, 248 Seiten, 34,00 €, ISBN 978-3-17-037659-5, auch als E-Book erhältlich

    Suchtmittel Nummer eins ist der Alkohol. Kinder und Jugendliche kommen entsprechend früh mit Alkohol in Berührung, teilweise auch mit anderen Drogen. Dieses Präventionsbuch für Eltern und pädagogisch Tätige vermittelt, wie sie einem übermäßigen Konsum bzw. dem Konsum überhaupt vorbeugen können. Dabei werden die Vorbildfunktion der Eltern und innerfamiliäre Regeln vorgestellt mit Bezug auf das Kommunikationsverhalten zwischen Eltern und Kindern. Auch Risikogruppen stehen im Fokus: Angehörige von Suchterkrankten und Eltern, die eine Suchterkrankung überwunden haben, finden Hilfe für den Alltag. Das Buch arbeitet mit zahlreichen Beispielen sowie Eltern- und Expert:inneninterviews. So wird das Thema Alkohol und Drogen gerade für Eltern lebensnah veranschaulicht.