Autor: Simone Schwarzer

  • DHS Jahrbuch Sucht 2022 erschienen

    Welche Trends gibt es beim Rauchen? Wie viel Alkohol trinkt die Bevölkerung in Deutschland? Was tut sich auf dem Glücksspiel-Markt? Diese und viele weitere Fragen rund um Sucht- & Drogen-Themen beantwortet das DHS Jahrbuch Sucht 2022. Neben der umfassenden Datensammlung, -aufbereitung, -analyse und -interpretation befasst sich die aktuelle Ausgabe des jährlich erscheinenden Standardwerks unter anderem mit Sucht und Suchtmittelkonsum unter Corona-Bedingungen.

    Tabak

    Im Jahr 2020 rauchten in Deutschland 24 Prozent der Frauen und 34 Prozent der Männer ab 18 Jahren. Allein 2018 starben hierzulande 127.000 Menschen an den Folgen des Rauchens. „In der Tabakprävention und Tabakkontrollpolitik bleibt also noch viel zu tun. Die bisher umgesetzten Maßnahmen haben insbesondere bei jungen Menschen zu einem Rückgang des Rauchens geführt. Das ist erfreulich – aber bei weitem nicht genug“, sagt Christina Rummel, Geschäftsführerin der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) anlässlich des Erscheinens des DHS Jahrbuchs Sucht 2022.

    Den Tabakkonsum nachhaltig zu verringern, ist ein wichtiges Ziel der Gesundheitspolitik. Um das zu erreichen, wurde im letzten Jahr die „Strategie für ein tabakfreies Deutschland 2040“ von einem breiten Bündnis von Gesundheits- und zivilgesellschaftlichen Organisationen veröffentlicht.

    Trends beim Zigarettenkonsum

    Der Konsum von Fertigzigaretten sank 2021 auf 71,8 Mrd. Stück (minus 2,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr). Damit liegt der Pro-Kopf-Verbrauch bei 863 Zigaretten (2020: 888 Zigaretten). Das ist der niedrigste Wert seit der Wiedervereinigung. Rückläufig war auch der Feinschnitt-Konsum mit 24.854 Tonnen (minus 5,6 Prozent). Diese Menge entspricht etwa 37,3 Mrd. selbstgedrehten Zigaretten.

    40 Prozent mehr (Wasser-)Pfeifentabak-Verbrauch

    Dahingegen steigerte sich der Verbrauch von Zigarren/Zigarillos um plus 1,4 Prozent auf 2,8 Mrd. Stück im Jahr 2021. Beim (Wasser-)Pfeifentabak setzt sich der Trend der Vorjahre weiter fort: Der Konsum nahm um plus 40 Prozent auf 8.387 Tonnen deutlich zu. Zu begründen ist dies mit der anhaltenden Beliebtheit des speziellen Wasserpfeifentabaks, der vor allem von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Shishas geraucht wird.

    Hohe gesamtwirtschaftliche Kosten

    Im Jahr 2021 erhöhten sich die Konsumausgaben für Tabakprodukte auf 29,4 Mrd. Euro (plus 2,0 Prozent). Die Einnahmen aus der Tabaksteuer stiegen leicht: um plus 0,5 Prozent auf 14,7 Mrd. Euro.

    Die gesamtwirtschaftlichen Kosten, die auf das Rauchen zurückgehen, belaufen sich aktuellen Schätzungen zufolge in Deutschland auf 97,24 Mrd. Euro jährlich. Die direkten Kosten (z. B. für die Behandlung tabakbedingter Krankheiten) betrugen 30,32 Mrd. Euro; die indirekten Kosten (z. B. Produktivitätsausfälle) beliefen sich auf 66,92 Mrd. Euro (in 2018).

    Alkohol

    Deutschland bleibt im internationalen Vergleich weiterhin ein Hochkonsumland für Alkohol – obwohl hierzulande der Verbrauch an alkoholischen Getränken gegenüber dem Vorjahr und auch längerfristig sank: Von 14,4 Litern Reinalkohol im Jahr 1970 auf 10,2 Liter im Jahr 2019 pro Bundesbürger:in ab 15 Jahren.

    In Deutschland wird zu viel Alkohol getrunken

    In einer Statistik der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) nahm Deutschland im Jahr 2019 beim Alkoholkonsum unter 44 Nationen die 13. Position ein. Damit liegt der Verbrauch hierzulande deutlich über dem Durchschnitt der OECD-Länder pro Bürger:in ab 15 Jahren.

    62.000 alkoholbedingte Todesfälle

    In Deutschland starben 19.000 Frauen und 43.000 Männer an einer alkoholbezogenen Todesursache. Das entspricht vier Prozent aller Todesfälle unter Frauen und 9,9 Prozent aller Todesfälle unter Männern (Zahlen für 2016). „Alkohol ist ein Zellgift. Zahlreiche körperliche Erkrankungen, z. B. der Leber und auch Krebserkrankungen, sind auf den Konsum von Alkohol zurückzuführen“, so Prof. Dr. Norbert Scherbaum, Vorstandsvorsitzender der DHS.

    Alkoholkonsum: Weniger ist besser!

    „Forschungsergebnisse belegen: Es gibt keine gesundheitsförderliche Wirkung bestimmter alkoholischer Getränke oder geringer bis moderater Trinkmengen. Daher gilt in puncto Alkohol der Grundsatz: Weniger ist besser!“, erläutert Christina Rummel.

    Glücksspiel

    Die Umsätze (Spieleinsätze) auf dem legalen deutschen Glücksspielmarkt gingen in 2020 auf 38,3 Mrd. Euro zurück (minus 11,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr). Als größtes Marktsegment verzeichneten die rund 220.000 aufgestellten gewerblichen Geldspielautomaten in Spielhallen und gastronomischen Betrieben einen Rückgang des Umsatzes und Bruttospielertrags um 25,5 Prozent auf 17,9 Mrd. Euro bzw. 4,1 Mrd. Euro.

    Bruttospielerträge gesunken

    Die Bruttospielerträge des regulierten deutschen Glücksspielmarktes erreichten im Jahr 2020 ein Volumen von 10,112 Mrd. Euro (minus 8,7 Prozent). Auf dem nicht-regulierten (unerlaubten) Markt wurde ein geschätzter Ertrag von 1,568 Mrd. Euro erzielt (minus 29 %). Die glücksspielbezogenen Einnahmen des Staates aus erlaubten Angeboten lagen 2020 bei 5,341 Mrd. Euro (minus 1,3 Prozent).

    Sucht und Corona

    „Die Corona-Pandemie hat die psychische Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland stark beeinträchtigt. Wir wissen aus anderen Krisensituationen, dass Menschen vermehrt Suchtmittel und süchtiges Verhalten nutzen – mit dem Wunsch, Belastungen in schwierigen Zeiten auszugleichen. Daraus lässt sich allerdings nicht schlussfolgern, die Einwohnerinnen und Einwohner von Deutschland wären durch die Coronakrise süchtiger geworden. Dazu ist die Datenlage aktuell noch zu dünn“, sagt Christine Kreider, Referentin für Prävention bei der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS).

    Weniger Alkohol außer Haus

    Während der Corona-Pandemie waren Gaststätten zeitweilig geschlossen. Zahlreiche Volksfeste und gesellige Veranstaltungen fielen aus. Und damit auch Gelegenheiten, um außer Haus Alkohol zu trinken. Die Zahl der Alkoholunfälle ging im Jahr 2020 besonders stark zurück (minus 6,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr). Dies lässt sich auf das veränderte Mobilitätsverhalten während der COVID-19-Pandemie zurückführen.

    Teile der Bevölkerung besonders betroffen

    Grundsätzlich ist aus der Perspektive der Suchthilfe zu beobachten: Die Corona-Pandemie ist vor allem für jene Menschen eine große Belastung, die bereits zuvor psychosozialen oder gesundheitlichen Problemen ausgesetzt waren. So führte die Krise beispielsweise bei Menschen, deren Alkoholkonsum schon vor der Pandemie problembehaftet war, zu einer Ausweitung des Konsums in Coronazeiten. Prävention, Frühintervention, Beratung, Behandlung und Sucht-Selbsthilfe braucht es daher nun umso mehr, um Suchtgefährdete und Abhängigkeitserkrankte zu unterstützen.

    Entwicklung von Suchterkrankungen

    Aktuell ist es jedoch kaum möglich, Aussagen über einen möglichen Anstieg von Abhängigkeitserkrankungen zu treffen. „Für solche Erkenntnisse ist die Pandemie vergleichsweise ‚jung‘“, erläutert Christine Kreider. „Abhängigkeitserkrankungen entstehen zumeist schleichend über einen längeren Zeitraum. In den Statistiken bilden sie sich daher erst zeitverzögert ab. Fest steht allerdings schon jetzt: Wir müssen uns mehr denn je um besonders verletzliche Bevölkerungsgruppen kümmern, wie beispielsweise Kinder aus Suchtfamilien.“

    Das Jahrbuch Sucht 2022 ist im Verlag Pabst Science Publishers erschienen.

    Pressestelle der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), 26.4.2022

  • Substitution und medizinische Reha

    Substitution und medizinische Reha

    Thomas Hempel

    Die Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger ist eine hochwirksame, etablierte und gut evaluierte medikamentöse Standardbehandlung in der Suchtmedizin. Besonders im Zusammenspiel mit einer suffizienten psychosozialen Betreuung (PSB) stellt sie eine wichtige, auf allen Ebenen der ICF wirksame Behandlungsmethode für opiatabhängige Menschen dar. Diese multiprofessionelle Behandlung sollte, wenn möglich, in eine medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker (ambulant, ganztägig ambulant oder stationär) münden. Das Setting der medizinischen Rehabilitation bietet optimale Kontextfaktoren für die Behandlung komplexer Abhängigkeitserkrankungen und der häufig bestehenden komorbiden psychiatrischen, psychosomatischen und somatischen Erkrankungen. Deshalb ist es unbedingt erforderlich, dass rehabilitative Behandlungen unter Substitution grundsätzlich möglich sind! Die Substitutionsbehandlungen in der Reha sollten auf die individuellen Bedarfe und auf die Verbesserung der Teilhabefähigkeit der Rehabilitand:innen ausgerichtet sein. Ein Zwang zur Abdosierung sollte nicht mehr gefordert werden.

    Ausgangslage

    Diese Erkenntnisse schlagen sich aktuell in der Entwicklung der S3-Leitlinie zur Behandlung Opiatabhängiger nieder. Die Entwicklung dieser Leitlinie stellt einen wichtigen Schritt dahingehend dar, dass die substitutionsgestützte Behandlung zunehmend als gängige und normale Behandlungsmethode wahrgenommen wird. Die Bewertung der Wirksamkeit der Substitutionsbehandlung wurde in den letzten Jahrzehnten oft durch ideologisch geprägte Sichtweisen bestimmt. Dies ist auch heute noch häufig der Fall. Die vertretenen Positionen liegen weit auseinander, dazu gehören zum Beispiel: „Ich bin doch nicht der Dealer meiner Patient:innen“, „Nur die abstinente Lebensführung führt zur Linderung der Sucht“, „Reha ist nur unter abstinenten Bedingungen erfolgreich“, „Abdosierung gleich Tod des Substituierten“, „Substitutionsbehandlung ist der Goldstandard in der Behandlung von Opiatabhängigen“ etc.

    Diese Ideologisierung führte zu Schnittstellenproblemen und Behandlungshemmnissen, die die multiprofessionelle und multifaktorielle Planung und Durchführung einer auf die Verbesserung der Teilhabefähigkeit der Betroffenen abzielende Behandlung erheblich erschweren.

    Eine schwierige Schnittstelle ist z. B. der Zugang für Substituierten in die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker. Die Schwierigkeiten liegen unter anderem darin begründet, dass ein Großteil der niedergelassenen substituierenden Ärzt:innen der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker skeptisch gegenübersteht. Sie gehen davon aus, dass es nur wenige Fachkliniken gibt, die Substituierte behandeln, und dass in der Rehabilitation zwangsläufig eine Abdosierung der Substitutionsmedikation erfolgt, die dann mit einer erheblichen Gefährdung ihrer Patient:innen einhergehen würde. Diese Annahmen finden sich auch bei vielen Zuweisenden, insbesondere aus dem niedrigschwelligen und akzeptierenden Bereich.

    Aber auch, wenn eine Reha angestrebt und beantragt wird, entstehen häufig Probleme, da die Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker nur bedingt bekannt sind. Das Bild der medizinischen Rehabilitation ist häufig noch von der Vorstellung einer „therapeutischen Gemeinschaft“ geprägt. Die Vorstellung, dass ein wesentliches Behandlungsziel der Rehabilitation die Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben ist, ist vielen der substituierenden Ärzt:innen und Zuweisenden eher fremd, da Substitutionsbehandlungen primär als Hilfe zum Überleben und unter Harm Reduktion-Aspekten betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund werden häufig medizinische Rehabilitationen für Menschen beantragt, die noch nicht rehabilitationsfähig sind und eigentlich erst einmal z. B. im BTHG-Bereich betreut werden müssten. Es werden medizinische Rehabilitationen für Patient:innen beantragt, die noch nicht über die notwendige Mitwirkungsfähigkeit verfügen und in der Folge an den Anforderungen der Rehabilitationsbehandlung scheitern. Dieses Muster führte dazu, dass sowohl bei den zuständigen Leitungsträgern als auch bei Leistungserbringern der Reha ein negatives Bild der substituierten Rehabilitand:innen tradiert und Substitution während der Reha sehr kritisch gesehen wurde. In Anlage 4 zur „Vereinbarung Abhängigkeitserkrankungen“ von GKV und DRV wurde z. B. formuliert, dass während der Rehabilitation eine Abdosierung zu erfolgen hat.

    bus.-Umfrage: „Substitution in der Rehabilitation abhängigkeitskranker Menschen“

    Vor dem Hintergrund der Entwicklung der S3-Leitlinie zur Behandlung Opiatabhängiger, der oben beispielhaft skizierten Problemlagen und der Zunahme der Anfragen bezüglich einer medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker unter Substitutionsbehandlung sowie mit dem Wissen um die dynamische Entwicklung im Bereich dieses Behandlungsangebotes führte der bus. im September 2021 eine Online-Abfrage unter seinen Mitgliedseinrichtungen durch. Gefragt wurde, welche ambulanten, ganztägig ambulanten und stationären Einrichtungen der Suchthilfe Substitution während der Rehabilitation anbieten und unter welchen Bedingungen dies geschieht (z. B. mit oder ohne Zwang zur Abdosierung, mit welchem Substitutionsmedikament etc.).

    Umfang des Angebots

    Es haben 66 Einrichtungen unterschiedlicher Einrichtungstypen an der Umfrage teilgenommen: Fachkliniken für Alkohol und Medikamente, Drogenfachkliniken, Adaptionen, Tageskliniken und Beratungsstellen. Von insgesamt 3.454 angegebenen Behandlungsplätzen entfallen 301 Plätze auf Substitution. Die Verteilung der Behandlungsplätze ist in den Bundesländern sehr unterschiedlich. Jedem Behandlungsplatz für Substitution stehen auf Bundesebene rund 11 Behandlungsplätze für die reguläre Behandlung von Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung gegenüber. Die größte Dichte an Behandlungsplätzen für Substitution hat Berlin mit 1:2, gefolgt von Rheinland-Pfalz mit 1:3 Behandlungsplätzen. Schleswig-Holstein bietet 1:6 Behandlungsplätze. Die wenigsten Behandlungsplätze für Substitution (relativ zur Gesamtzahl an Behandlungsplätzen) weisen Baden-Württemberg (1:23) und Nordrhein-Westfalen (1:20) auf.

    Überraschend war die hohe Zahl der teilnehmenden Einrichtungen. Diese hohe Zahl lässt die Interpretation zu, dass das Thema „Substitution und Rehabilitation“ eine hohe Aufmerksamkeit erzeugt und viele Einrichtungen sich diesem Behandlungsangebot zugewandt haben.

    Abdosieren oder Weiterführen der Substitution

    Interessant ist, dass 45,5 Prozent der an der Umfrage beteiligten Einrichtungen medizinische Rehabilitation und Substitution anbieten. 26 dieser 30 Einrichtungen führen keine Abdosierung während der Rehabilitation durch (86,7 Prozent). Lediglich drei Einrichtungen dosieren grundsätzlich während der stationären Behandlung ab.

    Diese Ergebnisse können als überraschend positiv bewertet werden, da es deutlich mehr Behandlungsmöglichkeiten für Substituierte gibt als erwartet. Kritisch anzumerken ist die ungleiche Verteilung der Behandlungsangebote auf die zuständigen DRVen und Bundesländer. Hier zeigt sich ein deutliches Missverhältnis.

    Substitutionsmedikamente

    Ein heterogenes Bild zeigt sich bei den eingesetzten Substitutionsmedikamenten. Dies mag zum einen an den persönlichen Erfahrungen in der Substitutionsbehandlung der zuständigen leitenden Ärzt:innen liegen. Zum anderen zeichnet sich auch eine Individualisierung der medikamentösen Behandlung ab. Dies steht mit Sicherheit auch damit im Zusammenhang, dass in den letzten Jahren weitere Medikamente für die Substitutionsbehandlung zugelassen wurden.

    Ausblick

    Zusammenfassend kann man feststellen, dass die medizinische Rehabilitation die Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger als eine wichtige und normale suchtmedizinische Behandlungsmethode wahrnimmt. Es sind in den letzten Jahren mehr Behandlungsangebote entstanden und individualisiert worden.  Diese positive Entwicklung gilt es zu verstetigen. Insbesondere sollte diese Entwicklung bei den Zuweisenden und den substituierenden Ärzt:innen bekannt gemacht werden.

    Kontakt:

    Thomas Hempel
    Therapiehilfe gGmbH
    Geschäftsstelle Hamburg
    Thomas-Hempel(at)therapiehilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Thomas Hempel gehört zur Geschäftsführung der Therapiehilfe gGmbH und ist Ärztlicher Gesamtleiter des Therapiehilfeverbundes. Er ist Mitglied im Vorstand des Bundesverbandes Suchthilfe e. V.

  • Plädoyer für die Psychoanalyse in der Suchttherapie

    2021 ist der Sammelband „Kontinuität und Wandel psychodynamischer Suchttherapie“, herausgegeben von Dr. Andreas Dieckmann und Corinna Mäder-Linke, im LIT Verlag, Münster, erschienen. Der Titel wurde bereits auf KONTUREN online in der Rubrik „Neue Bücher“ vorgestellt. Eine ausführliche Besprechung hat nun der Psychoanalytiker und Lehrtherapeut Dr. phil. Wolf-Detlef Rost verfasst, in der er unterstreicht, wie aktuell psychoanalytische Konzepte in der Suchttherapie sind.

    Leider ist auch im Bereich der Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen in den vergangenen Jahren die Stimme der Psychoanalyse leise geworden, obwohl gleichzeitig die „Komorbidität“ der Abhängigkeitskranken zum Schlagwort wurde, implizit der alten Erkenntnis der Psychoanalyse folgend, dass die Abhängigkeitserkrankung nur die Spitze des Eisberges ist, meist ein Symptom unter anderen, und tiefer in der „prämorbiden Persönlichkeit“ wurzelt. Auch erlebt man bei Vorträgen und Fortbildungen, etwa in Fachkliniken, immer wieder, dass Suchttherapeuten psychoanalytische Ansätze gerne aufgreifen und in den psychodynamischen Konzepten ihre eigenen Erfahrungen aus der Praxis wiederfinden und tiefergehend reflektieren können. Daher ist es erfreulich, dass Andreas Dieckmann und Corinna Mäder-Linke mit „Kontinuität und Wandel psychodynamischer Suchttherapie“ nun einen Reader publiziert haben, in dem die Aktualität psychoanalytischer Konzepte in der Suchttherapie herausgearbeitet wird, bei Würdigung der historischen Wurzeln und der Einbeziehung neuerer Konzepte, etwa der Bindungstheorie oder der OPD.

    Eingeleitet wird der Band dankenswerterweise mit dem Neuabdruck eines leider wenig bekannten, dabei unverändert aktuellen Artikels von Hartmut Spittler: „Psychodynamik und Therapie der Sucht“ aus den achtziger Jahren.

    Gerald Abl beleuchtet im Beitrag „Sucht als soziale Erkrankung“ die Alkoholabhängigkeit als eine soziale Erkrankung sowohl im historischen als auch im aktuellen gesellschaftlichen Kontext – insbesondere Armut und Arbeitslosigkeit – und bezüglich der unterschiedlichen Lebensphasen und familiären Zusammenhänge.

    Dieckmann und Mäder-Linke erläutern die Entwicklung der Weiterbildung zum analytisch orientierten Suchttherapeuten und seine Fundierung in der psychoanalytisch-interaktionellen Methode und dem christlichen Menschenbild.

    Mit der Stigmatisierung von Abhängigkeitskranken bzw. der mangelnden Toleranz ihnen gegenüber befasst sich Darius Chahmoradi Tabatabai. Leider sind Abhängigkeitskranke auch heute noch eine beliebte Projektionsfläche für Phantasien von „Haltlosigkeit“ und „Genusssucht“ – Gegenübertragungsphantasien, die sich auch unter professionellen Helfern finden lassen und dazu beitragen, dass Suchtbehandlungen einer missverstandenen „Ökonomisierung“ zum Opfer fallen könnten.

    Norbert Radde befasst sich mit dem zentralen Begriff des Kontrollverlustes, dem Rückfall und den damit verbundenen Schamgefühlen sowie mit der Wiedergewinnung der Kontrolle und der Bedeutung der therapeutischen Beziehung.

    Peter Subkowski behandelt die Gender-spezifische Entwicklung in Bezug auf Alkoholabhängigkeit und die therapeutischen Implikationen. In den letzten hundert Jahren hat sich Alkoholabhängigkeit von einer „Männerkrankheit“ zu einem bei beiden Geschlechtern verbreiteten Syndrom entwickelt. Dem müssen auch die einst stark auf Männer zugeschnittenen therapeutischen Konzepte Rechnung tragen.

    Nicola Alcaide und Dieckmann beleuchten das Verhältnis zwischen Selbsthilfe und professioneller Therapie, da letztere viel später auf den Plan trat und auf langjährig gewachsene Selbsthilfesysteme traf. Längst sind diese Gegensätze überwunden, und es ist inzwischen anerkannt, dass die Selbsthilfe ein wichtiger Part des Gesundheitssystems ist. Allerdings, darauf weisen die Autoren hin, leidet gerade die Selbsthilfe in jüngerer Zeit unter dem gesellschaftlichen Wandel, bleibt der Nachwuchs weg, und viele Gruppen schrumpfen. Auch die Selbsthilfe wird sich diesem Wandel und auch den sich verändernden abhängigen Verhaltensweisen – der „reine Alkoholabhängige“ scheint unter der zunehmenden Polytoxikomanie eine aussterbende Spezies zu werden – anpassen müssen.

    Peter Subkowski (oben schon erwähnt), seit Jahrzehnten als Psychoanalytiker Leiter einer Klinik für die Langzeitentwöhnung von Abhängigkeitskranken, behandelt in einem weiteren Aufsatz die schwierigen Grenzen zwischen „psychischer Gesundheit“ und „Krankheit“. Aus psychoanalytischer Sicht setzt er sich mit aktuellen Konzepten zum „kontrollierten Trinken“ auseinander, hält dabei am Prinzip der „Totalabstinenz“ fest, für Abhängigkeitskranke letztlich der leichter gangbare Weg, der m. E. von den meisten Praktikern der Suchttherapie präferiert wird. Ferner behandelt er in diesem Aufsatz die Chancen und Schwierigkeiten analytischer Suchttherapie angesichts von Persönlichkeitsstörungen und Komobidität bei Abhängigkeitskranken im stationären wie im ambulanten Setting.

    Brigitte Boothe befasst sich anhand der Schriften von Freud und Tilman Moser mit dem schwierigen Verhältnis zwischen Psychoanalyse und Religion. Auf der Basis der psychodynamischen Konzepte von Urvertrauen und Bindung sieht sie jedoch eine Gemeinsamkeit zwischen Glauben, Religion und Psychoanalyse, sehen doch alle die Wichtigkeit der vertrauensvollen zwischenmenschlichen Beziehung.

    Thorsten Jakobsen zeigt en einem Fallbeispiel die Möglichkeiten der OPD bei Abhängigkeitskranken auf.

    In einem kürzeren Aufsatz erläutern Dieckmann und Jakobsen die Entwicklung der Suchtspirale auf psychodynamischem Hintergrund.

    In „Beziehungen im Fokus“ stellt Ulrich Streeck klar, dass die gerade in der Suchttherapie so beliebte Diagnose der „Persönlichkeitsstörung“ wenig valide ist. Vielmehr handelt es sich um primäre Beziehungsstörungen und Bindungsstörungen, die zu einem problematischen Beziehungsverhalten im Erwachsenenleben führen. Daher ist die therapeutische Beziehung das wichtigste Instrument der Behandlung, besonders im Prinzip „Antwort“ der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie.

    Frank Beckmann und Dieckmann reflektieren aus zeitlichem Abstand heraus aus der Perspektive des Therapeuten und des Patienten die Komplexität der Übertragungs-Gegenübertragungsbeziehung und wie wichtig es ist, den Patienten nicht als ein Objekt, sondern als einen gleichberechtigten Partner zu behandeln.

    Im Beitrag „Verlaufsorientierung psychoanalytisch-interaktioneller Arbeit mit Suchtkranken“ reflektiert Dieckmann die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie, ein etwas sperriger Begriff dafür, dass der Mensch ein soziales, ein Beziehungswesen ist und seine primären Beziehungen sein Erleben, sein Verhalten, die innere Struktur prägen, sich in ihr als „Objektrepräsentanzen“ niederschlagen. Daher ist die Objektkonstanz, eine beständige und tragfähige Beziehung, das wichtigste Instrument der Behandlung, viel zu oft vernachlässigt und zentrales Element der Psychoanalyse, die bei aller Annäherung der verschiedenen Verfahren als einziges über eine differenzierte Konzeption der therapeutischen Beziehung verfügt.

    Subkowski und Miriam Abram betrachten Kreativität und Kunst auf dem Hintergrund psychoanalytischer Konzepte, besonders der Melanie Kleinschen Theorien. Kreativität schöpft aus frühen Prozessen und Traumata und sucht, diese auszudrücken und zu bewältigen. Ferner liegen Rausch und Kreativität oft dicht beieinander. So ist die Entwicklung künstlerischer Kreativität, hier an einem Fallbeispiel dokumentiert, ein möglicher Ausweg aus der Abhängigkeit, wie auch dieser Rezensent in einigen Aufsätzen Kreativität und Abhängigkeit als zwei Seiten einer Medaille sieht, aus den gleichen Quellen schöpfend, einander aber zumindest zum gleichen Zeitpunkt gegenseitig ausschließend.

    Dieckmann behandelt die Probleme im Umgang mit rechtsextremen süchtigen Patienten, deren aggressiv-destruktives Potenzial in ihren extremen politischen Auffassungen gebunden ist. Die Probleme in der Gegenübertragung des Behandlers exemplifiziert er an einem schon beim Lesen als anstrengend erlebten Fall eines alkoholabhängigen Neonazis. Tatsächlich lassen sich besonders bei abstinenten Abhängigkeitskranken recht extreme politische Ansichten finden. Das betrifft nicht nur den Rechtsextremismus, sondern auch Linksextreme (z. B. RAF-Anhänger) oder in jüngerer Zeit Corona-Verschwörungstheoretiker. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass der Abhängigkeitskranke statt eines „Urvertrauens“ oft durch ein „Ur-Misstrauen“ geprägt ist und sich in der Gesellschaft als ein Außenseiter, als ein Fremder erlebt. Dies kann zu extremen Positionen unterschiedlichster Richtungen führen.

    Im letzten Beitrag des Bandes reflektiert Dieckmann das schwierige Verhältnis zwischen Psychoanalyse und Rehabilitation, dem Anspruch der in Deutschland für die Entwöhnungsbehandlung zuständigen Rentenversicherungsträger. Dieckmann sieht eine Chance, die traditionell emanzipatorischen Ansprüche der Psychoanalyse in Einklang zu bringen mit der Forderung nach Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, und erkennt hier die Notwendigkeit differenzierter Diagnosen etwa über die OPD.

    Am Ende dieser Rezension sollte unbedingt noch auf eine Monographie hingewiesen werden, die wie in diesem Band neben psychologischen, insbesondere psychoanalytischen, Konzepten auch philosophische, soziologische und religiöse Konzepte für ein Modell zum Verständnis und zur Therapie von Abhängigkeitserkrankungen einbezieht: das leider wenig bekannte, sehr komplexe Werk „Philosophie der Sucht. Medizinethische Leitlinien für den Umgang mit Abhängigkeitskranken“ von Andreas Bell. Wer dieses Buch sowie den Sammelband von Dieckmann und Mäder-Linke aufmerksam liest, darf von sich behaupten, auf dem aktuellen Stand der keineswegs veralteten psychoanalytischen Theorie und Therapie von Abhängigkeitserkrankungen zu sein. Den Autorinnen und Autoren ist zu danken, dass sich in diesem Band die Stimme der Psychoanalyse eindrücklich zu Wort meldet und deren Aktualität und Wichtigkeit deutlich gemacht wird.

    Bibliografische Angaben:
    Andreas Dieckmann, Corinna Mäder-Linke (Hg.)
    Kontinuität und Wandel psychodynamischer Suchttherapie
    Orientierung und Diskurs
    LIT Verlag, Münster 2021, 328 Seiten, 34,90 €, ISBN 978-3-643-14696-0

    Rezension: Wolf-Detlef Rost, April 2022
    Dr. phil. Wolf-Detlef Rost
    Psychoanalytiker und Supervisor in freier Praxis, Gießen
    https://www.sucht-und-psychoanalyse.de/ 

  • Achtsamkeitsbasierte Therapie und Beratung

    Mabuse-Verlag, Frankfurt a.  M. 2021, 278 Seiten, 20,00 €, ISBN 978-3-8632-1556-9

    Es gibt in der psychosozialen Welt einen großen Bedarf, Achtsamkeit in die eigene beratende und therapeutische Arbeit zu integrieren, sei es unter stationären oder ambulanten Bedingungen, in Einzel- oder Gruppensettings, in Räumen oder in der Natur. Dies findet auch in breitem Umfang statt, aber oft fehlen sowohl ein ausreichend vielseitiges und praktikables Konzept als auch die Erfahrung.

    Dieses Buch vermittelt das Konzept der Achtsamkeit über Erfahrungsberichte aus der einzel- und gruppentherapeutischen Arbeit mit Menschen, die an Depressionen, Angststörungen, einer psychotischen Symptomatik oder Suchterkrankungen leiden. Es thematisiert die Arbeit mit Paaren, Familien, Kindern, älteren Menschen und onkologischen Patient:innen, in Schulen, in der Natur, in Gefängnissen sowie in der allgemeinen Prävention und Lebenskunst. Die Erfahrungen, praktischen Hinweise und Vorschläge wurden von einer Arbeitsgemeinschaft entwickelt, deren Mitglieder in Therapien, Beratungen und Fortbildungen tätig sind.

  • Abbau von Plätzen für stationäre Entgiftung und Qualifizierten Entzug

    Der Bundesverband Suchthilfe e. V. (bus.) erhielt in den letzten Monaten vermehrt Rückmeldungen von seinen Mitgliedseinrichtungen, dass sich die Wartezeiten für eine Entgiftung oder qualifizierte Entzugsbehandlung vor Antritt einer Entwöhnungsbehandlung deutlich verlängert haben und in kooperierenden Kliniken entsprechende Behandlungsplätze reduziert bzw. Abteilungen geschlossen werden.

    Vor diesem Hintergrund führte der bus. eine Online-Abfrage unter seinen Mitgliedseinrichtungen durch, um zu erfassen, ob es sich um eine lokale Problematik handelt, oder ob sie im gesamten Bundesgebiet besteht. 54 Einrichtungen haben an der Umfrage teilgenommen. Davon gab fast die Hälfte (25 Einrichtungen; 46,3 %) an, dass sie eine Reduzierung der Plätze für Entgiftungs- und qualifizierte Entzugsbehandlungen in ihrem Umfeld beobachten. Als Gründe hierfür wurden sowohl Umstände der Corona-Pandemie als auch systemimmanente Faktoren benannt:

    Infolge notwendiger Hygienevorgaben wurde eine Einzelzimmerunterbringung erforderlich. Entgiftungsplätze wurden für die Behandlung von COVID 19-Patient:innen umgewidmet. Entgiftungsstationen mussten aufgrund von Personalausfällen bzw. Fachkräftemangel vorrübergehend schließen.

    Daneben wird jedoch auch berichtet, dass Entgiftungsplätze im Bereich der Psychiatrie abgebaut werden zu Gunsten von Entgiftungen im somatischen Bereich. Ein deutlicher Abbau ist bei Entgiftungsplätzen für Kinder und Jugendliche zu beobachten!

    Als weitere Problemlagen wurden der Rückgang der Zuweisungen im „Nahtlos-Verfahren“ sowie die deutliche Kürzung der Entgiftungszeiten durch den Medizinischen Dienst benannt. Unklar bleib, inwieweit es sich hier um Auswirkungen des neuen Psychiatrie-Entgeltsystems (PEPP – Entgeltsystem Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, OPS – Operationen- und Prozedurenschlüssel) und des MDK-Reformgesetztes handelt.

    Zumindest für den Bereich der qualifizierten Entgiftung von Kindern und Jugendlichen ist ein solcher Zusammenhang belegbar. Entgiftungsplätze für Kinder von zwölf bis 14 Jahren mussten stillgelegt werden, da in den hierfür gültigen OPS zwingend eine kinder- und jugendpsychiatrische fachliche Leitung gefordert wird.

    Weiterhin ist anzunehmen, dass es infolge der einzuhaltenden Personaluntergrenzen, des hohen Fachkräftebedarfs (durch die unbedingt notwendige Umsetzung der Psychiatriereform) und der damit verbundenen Ambulantisierung zu Verschiebungen von Fachpersonal in Richtung der allgemein psychiatrischen Versorgung kommt.

    Nach dieser ersten Einschätzung der aktuellen Situation der Entgiftungs- und Entzugsbehandlungsplätze wird der bus. die weitere Entwicklung kritisch verfolgen und z. B. über Nachfragen bei der Selbsthilfe, den Krankenhausgesellschaften und den anderen Suchtfachverbänden verifizieren. Zudem wird er die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen informieren. Auch das im Mai anstehende Gespräch der Suchtfachverbände mit dem Beauftragten der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen, Burkhard Blienert, wird der bus. nutzen, um das Thema darzustellen.

    Thomas Hempel, Therapiehilfe gGmbH, Hamburg; Vorstandsmitglied Bundesverband Suchthilfe e. V., 19.4.2022

  • 2021: Neuer Höchststand bei Fehltagen durch psychische Erkrankungen

    Der Arbeitsausfall wegen psychischer Erkrankungen erreichte 2021 einen neuen Höchststand. Das Niveau lag mit 276 Fehltagen je 100 Versicherte um 41 Prozent über dem von vor zehn Jahren. Ein psychischer Krankschreibungsfall dauerte im vergangenen Jahr durchschnittlich 39,2 Tage. Auch dieser Wert war so hoch wie noch nie. Das zeigt der aktuelle Psychreport der DAK-Gesundheit mit einer Datenauswertung des IGES Instituts für 2,4 Millionen DAK-versicherte Erwerbstätige. Während der Pandemie hatten Frauen ab 55 Jahren die mit Abstand höchsten Steigerungsraten unter allen Beschäftigten: Bei den 55- bis 59-Jährigen kamen auf 100 Versicherte 511 Fehltage, 14 Prozent mehr als vor Corona. Der wichtigste Krankschreibungsgrund war eine Depression, den stärksten Zuwachs gab es bei Anpassungs- und Angststörungen. Im Branchenvergleich hatte das Gesundheitswesen mit 397 Psych-Fehltagen je 100 Versicherte die meisten Ausfälle.

    „Unser Report zeigt, dass viele Menschen mit psychischen Erkrankungen extrem unter den anhaltenden Belastungen der Pandemie leiden“, sagt Andreas Storm, Vorstandschef der DAK-Gesundheit. „Die Betroffenen finden aktuell auch schwerer wieder in ihren Berufsalltag zurück.“ Das habe viel mit den besonderen Arbeitsbedingungen unter Corona zu tun, aber auch mit Stigmatisierung. Die Menschen würden in der Familie und der Arztpraxis mittlerweile offener über Depressionen oder Ängste sprechen. „Aber in vielen Firmen sind psychische Probleme weiter ein Tabu“, betont Storm. „Arbeitgeber müssen Stress und mögliche Belastungen mehr in den Fokus rücken. Die DAK-Gesundheit begrüßt deshalb die Pläne der Ampelkoalition und unterstützt ausdrücklich die Aufklärungskampagne zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen.“

    Unter weiblichen Erwerbstätigen gibt es wegen psychischer Erkrankungen seit Jahren mehr Fehlzeiten als unter männlichen. Während der Pandemie zeigten sich bei Frauen ab 55 Jahren die mit Abstand höchsten Steigerungsraten unter allen Beschäftigten: Bei den 55- bis 59-Jährigen erhöhte sich im Vergleich zu 2019 die Anzahl der Fehltage um 14 Prozent, bei den Übersechzigjährigen sogar um 20 Prozent. 2021 entfielen in der oberen Altersgruppe auf 100 Versicherte durchschnittlich 690 Fehltage. Frauen sind von psychischen Erkrankungen auch anders betroffen als Männer: Sie leiden stärker unter Ängsten, während Männer häufiger wegen Störungen in Folge von Alkoholmissbrauch oder anderem Drogenkonsum krankgeschrieben sind.

    Die meisten Ausfalltage in Sachen Psyche gingen bei beiden Geschlechtern auf das Konto von Depressionen. Hier gab es 2021 mit 108 Fehltagen auf 100 Versicherte gegenüber 2019 nur einen geringen Anstieg von 2,7 Prozent. Deutlich zugenommen haben während der Pandemie die Fehlzeiten aufgrund von Anpassungsstörungen: Die Anzahl der Fehltage wegen dieser Diagnose stieg seit 2019 um fast ein Sechstel – auf 69 Fehltage je 100 Versicherte. Angststörungen nahmen unter Corona ebenfalls überdurchschnittlich stark zu. Angst ist eigentlich eine natürliche körperliche Reaktion auf bedrohliche, ungewisse oder unkontrollierbare Situationen. Doch dieser biologische Mechanismus kann aus den Fugen geraten und irgendwann zur Krankheit werden. Angststörungen verursachten im vergangenen Jahr 21 Ausfalltage je 100 Versicherte – 77 Prozent mehr als noch vor zehn Jahren.

    Im Branchenvergleich zeigt sich, dass Beschäftigte im Gesundheitswesen 2021 deutlich häufiger wegen psychischer Erkrankungen fehlten als Beschäftigte etwa im Einzelhandel oder in Banken. Im vergangenen Jahr entfielen im Gesundheitswesen auf 100 Versicherte 397 Fehltage, rund 44 Prozent mehr als im Durchschnitt aller untersuchten Branchen.

    Der Psychreport 2022 beruht auf einer Analyse der Krankschreibungen aller DAK-versicherten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bis zum Jahr 2021. Das Berliner IGES Institut analysierte im Auftrag der DAK-Gesundheit alle Fehlzeiten, für die eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mit einer psychischen Diagnose an die Kasse geschickt wurde.

    Pressestelle der DAK-Gesundheit, 2.3.2022