Autor: Simone Schwarzer

  • Stress schädigt die Bewegungszentren im Gehirn

    Stress scheint sich negativ auf das Erlernen von Bewegungen auszuwirken – zumindest bei Mäusen. Zu diesem Schluss kommt eine aktuelle Studie der Universität Bonn. Demnach verlieren die Neurone von Nagern nach Stress einen Teil ihrer Kontakte zu anderen Nervenzellen. Die Tiere entwickelten zudem motorische Defizite. Die Ergebnisse lassen sich vielleicht für eine frühzeitigere Diagnostik und verbesserte Therapie stressbedingter Erkrankungen wie der Depression nutzen. Sie dokumentieren zudem, dass Stress im Gehirn Spuren hinterlässt – möglicherweise auch dauerhafte. Die Studie ist in der Zeitschrift „Translational Psychiatry“ erschienen.

    Chronisch gestresste Menschen zeigen oft Auffälligkeiten in ihrem Bewegungsvermögen, etwa eine schlechtere feinmotorische Kontrolle. Wie es zu diesen Symptomen kommt, wurde bislang aber noch kaum untersucht. „Wir sind dieser Frage in unserer Studie nachgegangen“, erklärt Prof. Dr. Valentin Stein vom Institut für Physiologie II der Universität Bonn.

    Als Versuchstiere nutzten die Forschenden Mäuse, von denen sie einen Teil für einige Tage einer stressigen Situation aussetzten. Mit einer speziellen Mikroskopie-Methode fertigten sie derweil Aufnahmen vom Gehirn der Nager an. Dabei konzentrierten sie sich auf Teile der Hirnrinde, die für die motorische Steuerung und das Erlernen neuer Bewegungen zuständig sind.

    „Mit unserem Verfahren ist es möglich, ein und dasselbe Neuron zu verschiedenen Zeitpunkten zu beobachten“, sagt Dr. Anne-Kathrin Gellner, die als Ärztin in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Bonn arbeitet. „Wir können daher sehen, ob und wie es sich durch den Stress verändert.“

    Gestresste Mäuse verlieren Synapsen

    Tatsächlich stießen die Forschenden dabei auf eine Auffälligkeit: Nach der stressigen Situation verloren die untersuchten Neurone einen Teil ihrer Synapsen – das sind die Kontakte zu anderen Nervenzellen. Bei Lernvorgängen bilden sich in der Regel neue Synapsen oder bestehende werden gestärkt. Die gestressten Nager büßten stattdessen aber bis zu 15 Prozent ihrer Kontakte ein.

    Gleichzeitig entwickelten die Tiere motorische Lerndefizite. So sollten sie versuchen, mit einer Pfote ein Futterkügelchen zu greifen und in ihr Maul zu befördern. In freier Wildbahn nutzen Mäuse dazu beide Pfoten; sie mussten diese Fähigkeit also neu lernen. Die nicht gestressten Kontrollgruppe kam nach fünf Tagen auf eine Erfolgsquote von 30 Prozent. Die gestressten Nager schafften es aber nur bei jedem zehnten Versuch, das Futter zu nehmen.

    Mäuse sind gegenüber Belastungen unterschiedlich empfindlich. Manche von ihnen entwickeln nach einigen Tagen Stress kaum Auffälligkeiten – sie gelten als resilient. Erstaunlicherweise hatten diese robusten Tiere ähnlich große Schwierigkeiten wie ihre empfindlicheren Artgenossen, das einhändige Greifen zu lernen. „Möglicherweise eignen sich motorische Tests daher sehr gut, um stressbedingte Störungen wie etwa eine Depression zu erkennen, bevor sich andere Symptome zeigen“, hofft Prof. Valentin Stein.

    Auch resiliente Tiere sind nicht gefeit

    Auch bei resilienten Tieren ging zudem die Zahl der Synapsen nach dem Stressereignis zurück. Anders als bei ihren stressempfindlichen Artgenossen erholten sich die betroffenen Neurone jedoch wieder: Nach anderthalb Wochen war die Zahl der Synapsen wieder ähnlich hoch wie vor dem Stressereignis und vergleichbar mit der in nicht gestressten Kontrolltieren. „Dennoch kann es gut sein, dass psychische Belastungen auch bei ihnen dauerhafte Spuren hinterlassen, wenn sie zu lang oder zu häufig erfolgen“, befürchtet Stein, der auch Mitglied im Transdisziplinären Forschungsbereich (TRA) „Leben und Gesundheit“ ist.

    Die Forschenden haben auch Anhaltspunkte darauf, wodurch der Verlust der Synapsen ausgelöst wird: Im Gehirn der Nager waren bestimmte Immunzellen aktiviert, die Mikroglia. Sie zählen zu den sogenannten Fresszellen und können zum Beispiel Krankheitserreger oder defekte Zellen verdauen. Möglicherweise werden sie durch Stress „scharf geschaltet“ und machen sich dann über die Kontaktstellen her.

    Die Arbeitsgruppe untersuchte zudem die Flüssigkeit, die Gehirn und Rückenmark umspült. Dabei fand sie bestimmte Proteine, die sich dort normalerweise bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Parkinson oder Alzheimer nachweisen lassen. „Wir glauben daher, dass stressbedingte psychiatrische Erkrankungen wie die Depression auch mit dem Abbau von Nervenzellen einhergehen“, sagt Dr. Gellner. „Dauerhafter Stress – dem zunehmend auch Kinder ausgesetzt sind – kann demnach möglicherweise gravierende Schäden im Gehirn anrichten.“

    Beteiligte Institutionen und Förderung:
    An der Studie waren die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Bonn, das Institut für Ernährungswissenschaft der Universität Potsdam, das Institut für Biochemie und Molekularbiologie, das Institut für Molekulare Psychiatrie und das Institut für Physiologie II (alle Universität Bonn) beteiligt. Dr. Anne-Kathrin Gellner wurde durch das BONFOR Programm der Medizinischen Fakultät gefördert.

    Originalpublikation:
    Anne-Kathrin Gellner, Aileen Sitter, Michal Rackiewicz, Marc Sylvester, Alexandra Philipsen, Andreas Zimmer und Valentin Stein: Stress vulnerability shapes disruption of motor cortical neuroplasticity. Translational Psychiatry, DOI: 10.1038/s41398-022-01855-8

    Pressestelle der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 8.3.2022

  • Wie gelingt es, mit dem Rauchen aufzuhören?

    Rauchen ist nach wie vor eines der größten vermeidbaren Gesundheitsrisiken unserer Zeit. Zwar sinken die Konsumraten bei deutschen Jugendlichen seit Jahren nahezu kontinuierlich, bei den Erwachsenen sind sie während der Corona-Pandemie nach Jahren der Stagnation sogar wieder gestiegen. „Es wäre also dringend nötig, mehr Menschen zu motivieren, mit dem Rauchen aufzuhören“, sagt Prof. Dr. Heino Stöver, geschäftsführender Direktor des Instituts für Suchtforschung (ISFF) an der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS). Gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Centre for Drug Research an der Goethe-Universität Frankfurt (CDR) und des Zentrums für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg (ZIS) ist er an einem neuen Forschungsprojekt beteiligt, das Versuche, mit dem Rauchen aufzuhören, näher untersucht. „Mindestens jeder fünfte Raucher bzw. jede fünfte Raucherin in Deutschland versucht einmal im Jahr, das Rauchen aufzugeben, das zeigen repräsentative Studien. Dabei wurden evidenzbasierte Rauchentwöhnungsmethoden eher selten genutzt“, sagt Kirsten Lehmann vom ZIS in Hamburg.

    Die Rauchstopp-Studie (RauS) betrachtet Erfolg und Misserfolg unterschiedlicher Methoden, mit dem Rauchen aufzuhören. Von den vielen Möglichkeiten, mit denen man Rauchstopp-Versuche unterstützen kann, gelten nur einige – Nikotinersatzpräparate, medikamentöse Therapie, medizinische Beratung und Verhaltenstherapie – als medizinisch evidenzbasiert. In der Studie werden auch Bedingungen mit einbezogen, die einem erfolgreichen Rauchstopp im Wege stehen oder den Ausstiegsprozess unterstützen. Zentrales Element der Studie ist eine Online-Befragung, an der alle Interessierten teilnehmen können, die aktuell rauchen oder ehemals regelmäßig geraucht haben.

    „Uns interessiert dabei nicht nur, welche Rauchstopp-Methoden mit welchem Erfolg genutzt werden, sondern auch, welche weiteren Faktoren für Erfolg oder Misserfolg maßgeblich sein können“, so Dr. Bernd Werse vom CDR an der Goethe-Universität Frankfurt, der hauptverantwortlich für die Konzeption des Fragebogens ist. Entscheidend für die Aussagekraft der Erhebung ist eine möglichst große Zahl an Teilnehmenden. „Möglichst viele aktuell und ehemals Rauchende sollten sich ein paar Minuten Zeit nehmen, den Online-Fragebogen auszufüllen“, so Dr. Werse. „Mit den Ergebnissen kann auch denjenigen geholfen werden, die bislang erfolglos versucht haben, mit dem Rauchen aufzuhören.“

    Studienleiter Prof. Dr. Stöver von der Frankfurt UAS betont: „Wir wissen immer noch zu wenig über die entscheidenden Faktoren, die letztlich Menschen motivieren, das Rauchen aufzugeben“. Dr. Silke Kuhn vom ZIS in Hamburg ergänzt: „Das Rauchen aufzugeben, ist in der Regel ein längerer Prozess mit vorangehenden mehreren erfolglosen Versuchen. Zentrale Forschungsfrage ist deshalb, wie Menschen Rückschläge überwinden und erneut Mut fassen können, einen Ausstiegsversuch zu unternehmen.“

    Die RauS-Studie ist unabhängig und wird nicht von Stiftungen, Behörden oder gar der Industrie gefördert. Prof. Dr. Stöver: „Es ist uns ein besonderes Anliegen, näher zu beleuchten, welche Faktoren wirklich hilfreich für den Rauchstopp sind, und zwar aus unabhängiger Perspektive. Deshalb wird die Erhebung ausschließlich aus Eigenmitteln der Hochschule finanziert.“

    Pressestelle der Frankfurt UAS, 6.4.2022

  • Alkohol: Erfolgreiche Frauen und die Sucht

    Am 7. März 2022 wurde im NDR-Fernsehen eine 45-minütige Dokumentation über alkoholabhängige Frauen gezeigt. Sie ist aktuell in der NDR Mediathek abrufbar:

    NDR Doku „Alkohol: Erfolgreiche Frauen und die Sucht“

    Es sind Frauen, die beruflich erfolgreich sind und mitten im Leben stehen. Und doch haben sie ein Geheimnis in sich getragen: Sie sind oder waren alkoholabhängig. So wie die Schauspielerin Mimi Fiedler, die Geschäftsfrau Sandra Fricke, die Journalistin Nathalie Stüben oder die dreifache Mutter Gaby Guzek. Die überwiegende Zahl der Betroffenen sind nicht gesellschaftliche Außenseiterinnen, sondern Berufstätige und Mütter. Und das Problem gewinnt an Dringlichkeit: Während der gesundheitlich riskante Alkoholkonsum bei Männern in den vergangenen Jahren abgenommen hat, bleibt er bei Frauen gleich oder steigt sogar.

    Warum werden so viele erfolgreiche Frauen alkoholsüchtig?

    Alkoholismus wird in der Gesellschaft mit Randgruppen assoziiert und die Betroffenen werden oft stigmatisiert. Wissenschaftsjournalistin Antje Büll trifft Frauen, die offen über dieses Tabuthema sprechen.

    Suchtforscher: Führungspositionen verführen zum Alkohol

    Je mehr Frauen in führende Positionen aufsteigen, desto mehr übernehmen sie auch den ungesunden Alkoholkonsum der Männer, so der Suchtforscher Professor Falk Kiefer vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit: „Die Rollenerwartung gleicht sich an. Dazu gehört auch, wie man mit Suchtmitteln wie Alkohol umgeht.“ Er gehört zu den wenigen Wissenschaftler:innen, die sich in Deutschland überhaupt mit dem Thema Alkohol beschäftigen.

    Alkoholkonsum in Deutschland einer der höchsten weltweit

    Deutschland liegt laut WHO europaweit auf Platz vier, was den Pro-Kopf-Verbrauch an reinem Alkohol betrifft. Während andere Länder mit Steuererhöhungen, Werbeeinschränkungen oder Preiserhöhungen den Alkoholkonsum reduzieren konnten, hat sich in Deutschland in den vergangenen 30 Jahren nicht viel getan. Europaweit ist Deutschland auf den hinteren Plätzen, was die Alkoholsteuer betrifft.

    „Man muss den Politikern die Dringlichkeit, denke ich, noch mal vor Augen führen. Es wird zu viel in Deutschland getrunken. Und wir müssen auch an der Steuerschraube drehen“, fordert der Ökonom Tobias Effertz von der Universität Hamburg. Die volkswirtschaftlichen Kosten für den Alkoholkonsum belaufen sich nach seinen Berechnungen auf 57 Milliarden Euro. Alkoholiker:innen verursachen damit weit mehr volkswirtschaftliche Kosten als Raucher:innen.

    Gründe für und Wege aus der Sucht

    Die Autorin Antje Büll trifft für diese 45 Min-Dokumentation bemerkenswerte Frauen, die sich trauen, mit ihren Problemen an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie wollen das Problembewusstsein schärfen für das große gesellschaftliche Thema Alkoholsucht, das Aufmerksamkeit benötigt.

    Außerdem spricht die Autorin mit Wissenschaftlern, Suchttherapeuten, Ökonomen und Präventionsmedizinern darüber, was gerade erfolgreiche Frauen süchtig werden lässt und welche Lösungen es gibt.

    Quelle: NDR Mediathek:

  • Wolfram-Keup-Förderpreis 2022 verliehen

    Lukas Andreas Basedow, Förderpreisträger 2022

    Wie hängt der Konsum bestimmter psychotroper Substanzen bei Jugendlichen mit traumatischen Erfahrungen zusammen? Dieser Frage ging Lukas Andreas Basedow (TU Dresden) in seiner Forschungsarbeit „Self-reported PTSD is associated with increased use of MDMA in adolescents with substance use disorders“ nach, für die er mit dem Wolfram-Keup-Förderpreis 2022 ausgezeichnet wurde. Im Rahmen der bus.-Jahrestagung am 22./23. März in Berlin wurde Basedow als Preisträger 2022 geehrt und stellte in einem Kurzvortrag seine Studie vor. Die Ehrung übernahm Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai, Vorstandsmitglied im bus.

    Basedow untersuchte drei Gruppen von Jugendlichen mit einer Substanzabhängigkeit (Abhängigkeiten durch Alkohol, Cannabis, MDMA, Amphetamine, Methamphetamin):

    Jugendliche mit der Doppelbelastung Substanzabhängigkeit und Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), Jugendliche mit Substanzabhängigkeit und traumatischen Erlebnissen, aber ohne PTBS, sowie Jugendliche mit Substanzabhängigkeit ohne traumatische Erlebnisse. Er konnte zeigen, dass spezifisch der MDMA-Konsum mit einer bei Beginn der Abhängigkeit bereits vorhandenen PTBS zusammenhängt, nicht aber der Konsum anderer Substanzen. Die doppelt belastete Gruppe konsumierte MDMA häufiger und in größeren Mengen als die beiden anderen Gruppen. Der Konsum psychotroper Substanzen generell begann in dieser Gruppe früher. Jugendliche mit Vermeidungssymptomen wiesen einen höheren MDMA-Konsum auf.

    Ehrung des Preisträgers 2020

    Prof. Dr. Wolfgang Sommer, Förderpreisträger 2020

    Nachgeholt wurde auch die Ehrung des Preisträgers 2020. Prof. Dr. Wolfgang Sommer (ZI Mannheim) hatte die Auszeichnung für seine Studie „Microstructural White Matter Alterations in Men With Alcohol Use Disorder and Rats with Excessive Alcohol Consumption During Early Abstinence“ erhalten. Aufgrund der Corona-Pandemie musste die Preisverleihung mehrfach verschoben werden. Bei der diesjährigen Jahrestagung war es dann so weit, und er konnte seine Urkunde persönlich entgegennehmen. Prof. Sommer stellte ebenfalls in einem Kurzvortrag seine neuesten Forschungsergebnisse zu Hirnschädigungen durch Alkohol vor.

    Der Wolfram-Keup-Förderpreis wird alle zwei Jahre vom Bundesverband Suchthilfe (bus.) für eine wegweisende wissenschaftliche oder praxisorientierte Arbeit aus der Suchthilfe vergeben und ist mit einem Preisgeld von 2.000 Euro ausgestattet. Er wurde dieses Jahr zum siebten Mal verliehen.

    Zur Jury des Wolfram-Keup-Förderpreises 2022 gehörten die bus.-Vorstandsmitglieder
    Dr. Wibke Voigt (Vorsitzende), Ulrike Dickenhorst (stellv. Vorsitzende), Dr. Clemens Veltrup und Sebastian Winkelnkemper sowie folgende externe Gutachterinnen:

    • Dr. Rita Hansjürgens, Professorin für Handlungstheorien und Methoden Sozialer Arbeit und Allgemeiner Pädagogik, Alice-Salomon-Hochschule, Berlin
    • PD Dr. Larissa Schwarzkopf, Leiterin der Arbeitsgruppe Therapie- & Versorgungsforschung und der Landesstelle Glücksspielsucht am IFT Institut für Therapieforschung, München

     Informationen über den Preis, die bisherigen Preisträger:innen und die prämierten Arbeiten finden Sie auf www.suchthilfe.de > Unser Verband > Förderpreis.

    Bundesverband Suchthilfe (bus.), 31.3.2022

  • Ein „s“ verloren und die Ambulanten gewonnen

    Dr. Wibke Voigt eröffnet die bus.-Jahrestagung 2022 in Berlin.

    Am 22. und 23. März 2022 fand in Berlin die 106. Wissenschaftliche Jahrestagung des bus. statt. Unter dem Titel „Teilnehmen und teilhaben – Bio-psycho-soziale Suchthilfe in Deutschland“ stellte die Tagung die Suchthilfe als Ganzes in den Mittelpunkt und beleuchtete, ob und wie der Komplexität von Abhängigkeitserkrankungen in unserem multiprofessionell aufgestellten Versorgungssystem Rechnung getragen wird.

    Eröffnung

    Ein Highlight im Programm war das Grußwort von Burkhard Blienert. Der neue Beauftragte der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen hatte kurzfristig zugesagt. Es war sein erstes Grußwort, das er seit seinem Amtsantritt am 12. Januar in Präsenz vortrug.

    Für den bus. war es die erste Jahrestagung unter neuer Firmierung nach seiner Öffnung für ambulante Einrichtungen und die erste Jahrestagung nach zwei Jahren Pandemie. Neben diesen guten Nachrichten erinnerte die Vorstandsvorsitzende Dr. Wibke Voigt in ihrer Eröffnungsrede auch an die Kriegsregionen dieser Welt und bat um eine Schweigeminute für die Opfer des Krieges in der Ukraine und der Krisenherde weltweit sowie für die Verstorbenen der Corona-Pandemie.

    Burkhard Blienert, Beauftragter der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen

    „Wir haben ein ‚s‘ verloren und die ambulanten Einrichtungen gewonnen“, führte Dr. Voigt aus. Passend zum neuen Verbandsnamen verglich sie Suchthilfe mit Busfahren: Die Menschen werden abgeholt, wo sie gerade stehen, jede:r kann nach Bedarf und Haltung ein- und aussteigen. Diesen Vergleich griff Burkhard Blienert in seinem Grußwort spontan auf und bot an, „mit dem bus. über die Brücke zu fahren“, eine Brücke zu Politik und Leistungsträgern zu schlagen und die Interessen der Suchthilfe gemeinsam mit ihr zu vertreten. Sein Ziel sei es, mehr Abhängigkeitskranke dazu zu befähigen, die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen. Dazu müsse man auch neue Wege finden und vom Abstinenzgebot abrücken. Außerdem möchte er sich für eine nachhaltige Finanzierung der Suchthilfe einsetzen und appellierte an die Suchthilfe, sich aktiv einzubringen.

    Anschließend fand die Verleihung des Wolfram-Keup-Förderpreises statt. Geehrt wurden gleich zwei Preisträger: Prof. Dr. Wolfgang Sommer (ZI Mannheim) erhielt den Förderpreis 2020, Lukas Basedow (TU Dresden) den Förderpreis 2022.

    Es folgten zwei anregende halbe Tage mit spannenden Themen und lebhaften Diskussionen im Plenum und in den Arbeitsgruppen. Die Teilnehmer:innen genossen den fachlichen und kollegialen Austausch im direkten Kontakt.

    Programm 1. Tag

    Den Eröffnungsvortrag hielt Prof. Dr. Thorsten Meyer (Universität Bielefeld). Er sprach über die Bedeutung des bio-psycho-sozialen Modells der ICF für die Gesundheitsversorgung und beleuchtete den zentralen Begriff der Teilhabe. In einem versierten und kommentierten Überblick stellte Dr. Clemens Veltrup in seinem Vortrag „Teilnehmen und Teilhaben. Suchthilfe in Deutschland“ sämtliche Faktoren dar, die das Suchthilfesystem in Deutschland ausmachen (Angebot, Inanspruchnahme, Häufigkeit von Suchtproblemen etc.), und nannte auch die Schwachstellen. So ist zwar für fast jeden Hilfebedarf ein passendes Angebot vorhanden, doch der Übergang ist oft schwierig und die Angebotsstruktur sehr komplex. Noch finden zu wenig Betroffene Zugang zu spezialisierten Angeboten. Er plädierte für die Entwicklung von Behandlungspfaden, die statt einer Behandlung innerhalb eines Segments Behandlungssequenzen ermöglichen. Prof. Dr. Beate Muschalla (TU Braunschweig) beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit Arbeitsängsten und Arbeitsplatzphobie sowie mit Wegen der Bewältigung.

    Die Podiumsdiskussion zum Thema „(Un)Möglichkeit der Forschung zur Wirksamkeit der bio-psycho-sozial ausgerichteten Suchthilfe“ bestritten Prof. Dr. Falk Kiefer (ZI Mannheim), Prof. Dr. Daniel Deimel (Katholische Hochschule NRW) und Prof. Dr. Johannes Lindenmeyer (Medizinische Hochschule Brandenburg). Die Moderation hatte Roland Knillmann (Caritasverband Osnabrück) inne. Auch die Tagungsteilnehmer:innen beteiligten sich rege. Notwendigkeit zur Verbesserung wurde v. a. hinsichtlich der Forschungsgelder und der Zusammenarbeit von Praxis und Forschung gesehen.

    Programm 2. Tag

    Am zweiten Tag fanden acht verschiedene Arbeitsgruppen statt, aus denen viele Impulse für die praktische Arbeit (z. B. Nahtlosverfahren, Kombi-Behandlungen) und die Verbandsarbeit (Weiterbildung Suchttherapie und Psychotherapie) hervorgingen.

    Prof. Dr. Sonja Bröning (Medical School Hamburg) nahm in ihrem Vortrag die Kinder abhängigkeitskranker Eltern in den Fokus. Sie erläuterte, wodurch Entwicklungsrisiken entstehen und welche Schutzfaktoren greifen. Darauf aufbauend stellte sie Ansatzpunkte für präventives Arbeiten mit Kindern und Jugendlichen aus suchtbelasteten Familien vor und beschrieb Ansätze zur Verbesserung der Selbstregulation und der Erziehungskompetenz bei den Eltern. Den Abschluss der Tagung bildete ein Vortrag aus der neurobiologischen Forschung mit Ausflügen in die Geistesgeschichte: Prof. Dr. Dr. Andreas Heinz (Charité – Universitätsmedizin Berlin) referierte über „Suchttherapie im Spannungsfeld von Neurobiologie und Erkenntnistheorie“.

    Zufrieden mit der gelungenen Veranstaltung verabschiedete Dr. Voigt die Teilnehmer:innen.

    Die nächste Wissenschaftliche Jahrestagung des bus. findet am 22./23. März 2023 in Berlin statt.

    Bundesverband Suchthilfe e. V. (bus.), 29.3.2022