Autor: Simone Schwarzer

  • Dritte Befragungsrunde der COPSY-Studie

    Trotz geöffneter Schulen und zugänglicher Freizeitangebote ist die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die sich durch die Corona-Pandemie psychisch belastet fühlen, weiterhin hoch. Zwar haben sich das psychische Wohlbefinden und die Lebensqualität der Kinder und Jugendlichen leicht verbessert, jedoch leiden noch immer mehr Kinder und Jugendliche unter psychischen Auffälligkeiten als vor der Pandemie. Erneut sind vor allem Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien besonders betroffen. Das ist das Ergebnis der dritten Befragungsrunde der COPSY-Studie (Corona und Psyche) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) (Befragungszeitraum 09-10/2021).

    „Nach einer langen Phase der Belastung zu Beginn der Pandemie haben sich die Lebensqualität und das psychische Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen im Herbst 2021 leicht verbessert. Die Zahlen sind im Vergleich zu präpandemischen Daten zwar immer noch hoch, wir wissen aber auch, dass nicht alle Kinder, die belastet sind, mit einer Angststörung oder Depression reagieren. Die meisten Kinder und Jugendlichen werden die Krise vermutlich gut überstehen. Das gilt vor allem für jene aus stabilen Familienverhältnissen. Familie ist und bleibt eine der wichtigsten Ressourcen, um gut durch die Pandemie zu kommen. Wir merken in der dritten Befragung aber auch, dass das Ende der strikten Kontaktbeschränkungen und die Öffnung der Schulen sowie der Sport- und Freizeitangebote zum psychischen Wohlbefinden und zur Steigerung der Lebensqualität der Kinder und Jugendlichen beitragen“, fasst Prof. Dr. Ulrike Ravens-Sieberer, Leiterin der COPSY-Studie und Forschungsdirektorin der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik des UKE, die aktuellen Studienergebnisse zusammen.

    Lebensqualität, psychische Auffälligkeiten, Angst und Depression

    Zwar hat sich die Lebensqualität der Kinder und Jugendlichen im Herbst 2021 wieder etwas verbessert, jedoch fühlen sich auch eineinhalb Jahre nach Pandemiebeginn mehr als ein Drittel der Kinder und Jugendlichen in ihrer Lebensqualität eingeschränkt.

    Auch die psychischen Auffälligkeiten sind leicht zurückgegangen. So wiesen etwas weniger Kinder psychische Auffälligkeiten auf als bei den ersten beiden Befragungen (05-06/2020 und 12/2020-01/2021). Es waren aber immer noch etwa zehn Prozentpunkte mehr als vor der Pandemie.

    Konkret sind Ängstlichkeit und depressive Symptome leicht zurückgegangen.

    Trotz dieser leichten Verbesserungen fühlen sich immer noch acht von zehn Kindern und Jugendlichen durch die Corona-Pandemie belastet. Das Belastungserleben hatte im Pandemieverlauf zunächst zugenommen und sich nun in der dritten Befragung auf hohem Niveau stabilisiert. Dies äußert sich auch darin, dass psychosomatische Stresssymptome wie Gereiztheit, Einschlafprobleme und Niedergeschlagenheit im Vergleich zu vor der Pandemie weiterhin deutlich häufiger auftreten und Kopf- und Bauchschmerzen sogar noch einmal leicht zugenommen haben.

    Gesundheitsverhalten

    Das Gesundheitsverhalten hat sich im Verlauf der Pandemie wieder etwas verbessert. Etwa jedes fünfte Kind isst zwar immer noch mehr Süßigkeiten als vor der Pandemie. Dafür ist der Medienkonsum etwas zurückgegangen und die Kinder und Jugendlichen machen wieder mehr Sport als bei den ersten beiden Befragungen.

    Familie und Schule

    In der dritten Befragung berichten die Kinder und Jugendlichen über weniger Streit in der Familie, über weniger schulische Probleme und ein besseres Verhältnis zu ihren Freund:innen im Vergleich zu den Befragungen davor. Schüler:innen, die sich selbst gut strukturieren und planen können, kommen mit den durch die Pandemie veränderten schulischen Anforderungen besser klar. Dennoch bleiben Belastungen in Familie und Schule weiterhin deutlich höher als vor der Pandemie. Trotz überwiegend geöffneter Schulen erlebt rund die Hälfte der Kinder und Jugendlichen Schule und Lernen weiterhin als anstrengender im Vergleich zu vor Corona.

    Auch der Großteil der Eltern (etwa 80 Prozent) fühlt sich weiterhin durch die Pandemie belastet. Dennoch haben die Eltern signalisiert, den Alltag besser organisiert zu bekommen, und geben auch insgesamt weniger depressive Symptome an.

    Über die Studie

    In der COPSY-Studie untersuchen die UKE-Forschenden die Auswirkungen und Folgen der Corona-Pandemie auf die seelische Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Sie haben dafür nach den Sommerferien von Mitte September bis Mitte Oktober 2021 mehr als 1.100 Kinder und Jugendliche und mehr als 1.600 Eltern mittels Online-Fragebogen befragt. Fast 75 Prozent der befragten Kinder und Eltern hatten bereits an der ersten Befragung nach dem ersten Lockdown im Mai/Juni 2020 und an der zweiten Befragung während des zweiten Lockdowns im Dezember 2020/Januar2021 teilgenommen. Die 11- bis 17-Jährigen füllten ihre Fragebögen selbst aus. Für die 7- bis 10-Jährigen antworteten die Eltern. Auch dieses Mal bilden die Befragten die Bevölkerungsstruktur von Familien mit Kindern im Alter von sieben bis 17 Jahren ab. Die COPSY-Studie ist die erste bevölkerungsbasierte Längsschnittstudie bundesweit und gehört auch international zu den wenigen Längsschnittstudien.

    Originalpublikation:
    Ravens-Sieberer, U, Kaman, A et. al. Child and adolescent mental health during the COVID-19 pandemic: Results of the three-wave longitudinal COPSY study. 2022. Preprint. Link: http://ssrn.com/abstract=4024489

    Pressestelle des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, 9.2.2022

  • Psychoaktive Stoffe in Nahrungsmitteln

    Das Bundeskriminalamt (BKA) warnt vor Lebensmitteln, die mit natürlichem Cannabinoid Tetrahydrocannabinol (THC) angereichert sind. Dieses ist nach dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG) als verkehrsfähiges, aber nicht verschreibungsfähiges Betäubungsmittel eingestuft. Derartige Produkte dürfen daher nicht verschrieben, verabreicht oder zum unmittelbaren Gebrauch überlassen werden. Beim Verzehr alltagsüblicher Mengen haben die genannten Lebensmittel berauschende Wirkung.

    Insbesondere für Kinder bergen die hier bekannt gewordenen Produkte unkalkulierbare gesundheitliche Gefahren. Laut aktuellen Meldungen aus Irland, den USA und Kanada kam es dort nach dem Konsum von solchen THC-haltigen Lebensmitteln bereits in mehreren Fällen zu derart schwerwiegenden Vergiftungen bei Kindern und Teenagern, dass sie im Krankenhaus behandelt werden mussten.

    Die THC-haltigen Lebensmittel werden über Online-Shops sowie in sozialen Netzwerken zum Kauf angeboten. Der Erwerb ist in Deutschland illegal. Zumeist handelt es sich um Süßigkeiten, Chips und Cornflakes, deren Verpackungen bekannten Markenprodukten nachempfunden sind. Kinder können diese dadurch leicht verwechseln und beim Konsum schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigungen erleiden.

    Polizei- und Zolldienststellen haben dem BKA bisher 25 Sicherstellungen von THC-haltigen Fruchtgummis und anderen Lebensmitteln aus elf Bundesländern gemeldet.

    In Laboruntersuchungen von hierzulande beschlagnahmten Lebensmitteln wurde bisher ausschließlich das natürliche Cannabinoid THC nachgewiesen.

    Allerdings berichtete Ende Oktober 2021 das Institut für Therapieforschung/München (IFT) dem BKA über Sicherstellungen von Fruchtgummiprodukten in Schweden und Irland, die – anders als die bislang in Deutschland bekannt gewordenen Produkte – mit NPS (Neuen psychoaktiven Stoffen) versetzt waren. Sie enthielten synthetische Cannabinoide, die in Deutschland dem Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz (NpSG) oder dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG) unterstehen.

    • Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz (NpSG): Gemäß § 4 NpSG sind die Herstellung sowie die Verbringung nach Deutschland zum Zwecke des Inverkehrbringens sowie das Handel treiben, in Verkehr bringen oder einem anderen verabreichen strafbar.
    • Betäubungsmittelgesetz (BtMG): Sofern die in den Süßigkeiten enthaltenen synthetischen Cannabinoide den Regelungen des BtMG unterliegen, ist deren Besitz strafbar.

    Pressestelle des Bundeskriminalamtes, 8.2.2022

  • Mit Gefühlen umgehen

    Psychosozial-Verlag, Gießen 2021, 295 Seiten, ISBN 978-3-8379-3058-0, auch als E-Book erhältlich

    Serge K.D. Sulz bietet Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten jeglicher Therapierichtung einen gut erlernbaren, sicheren Weg zu einer effizienten Therapie, in deren Mittelpunkt die Emotionsregulation steht. Sie können sich so eine effektive emotive Gesprächsführung auf wissenschaftlicher Basis aneignen. Durch das integrative Moment des Ansatzes kann jeweils das ergänzt werden, was der eigene Therapieansatz vermissen lässt.

    Zwei Vorgehensweisen sind bei der Emotionstherapie zentral: das Emotion Tracking und das Emotionsregulationstraining. Das Ziel ist die Formulierung einer neuen Lebensregel, die die dysfunktionale Überlebensregel ersetzt. Ausgehend von der Entwicklungspsychologie können unbewusste pathogene Fehlregulationen der Affekte aufgegriffen und durch einfache Interventionen modifiziert werden, sodass sowohl eine gesunde Affektregulierung als auch eine metakognitive Entwicklung mit der Erfahrung von Selbstwirksamkeit und der Befähigung zur Empathie möglich werden. Emotionsexposition mit Wut- und Trauerexposition nimmt dabei eine entscheidende Rolle ein.

  • Warum hat uns die Evolution mit Gefühlen ausgestattet?

    Gefühle spielen in unserem Leben eine große Rolle. Doch warum gibt es sie? Sind Emotionen eine Laune der Natur, oder war ihre Entstehung aus evolutionärer Sicht unausweichlich? Prof. Claudius Gros vom Institut für Theoretische Physik der Goethe-Universität gibt in einer neuen Studie eine eindeutige Antwort.

    Emotionale Reduktion von Komplexität

    Von ihrer Funktion her sind Emotionen abstrakte Kriterien, mit deren Hilfe selbst unterschiedliche Tätigkeiten vergleichend bewertet und damit Ziele und Aufgaben effizient ausgewählt werden können – so das Ergebnis der Studie von Prof. Claudius Gros, die seit Dezember 2021 online zu lesen ist.

    Evolutionär ist alles vorteilhaft, was die Anzahl an Nachkommen erhöht. Wenn Verhaltensweisen nicht direkt genetisch gesteuert werden, also nicht durch Instinkte, muss ein Lebewesen in der Lage sein, die Folgen seines Handelns zu berechnen bzw. zu prognostizieren. Die Realität ist jedoch komplex und damit chaotisch („Schmetterlingseffekt“). Daher können Auswirkungen prinzipiell nur begrenzt berechnet werden, was im Fall sozial organisierter Lebewesen nochmals schwieriger ist: In einer Gemeinschaft muss das Individuum zusätzlich die Absichten der anderen ausfindig machen. In diesem Zusammenhang wurde die „Theorie des sozialen Gehirns“ formuliert, der zufolge sich das menschliche Gehirn vor allem deshalb so rasch entwickelt hat, weil es vor der Aufgabe stand, die Komplexität des sozialen Kontexts zu bewältigen.

    Kognitive Fähigkeiten, also Intelligenz, erweitern die Palette der Handlungsoptionen. Vom maschinellen Lernen wissen wir, dass die rechnerischen Anforderungen mit der Komplexität der Problemstellung überaus schnell ansteigen. Um Entscheidungen zu treffen, benötigen Lebewesen mit komplexen Handlungsoptionen daher einen Mechanismus, der die rechnerischen, d. h. die kognitiven, Anforderungen deutlich reduziert. Das ist es, was Emotionen ermöglichen.

    Sehr unterschiedliche Tätigkeiten können ein und dasselbe Gefühl auslösen – zum Beispiel Langeweile, Aufregung, Befriedigung. So kann es genauso befriedigend sein, mit Freunden zu essen wie Geige zu spielen oder durch den Ärmelkanal zu schwimmen. Nach materiellen Kriterien ließen sich diese Tätigkeiten kaum auf einen Nenner bringen, etwa danach, wie viel Geld dabei herauskommt. Funktional entsprechen Emotionen folglich abstrakten Bewertungskriterien, auch wenn sie als Empfindungen höchst real sein können. Individuen, die über emotionale Entscheidungsmechanismen verfügen, versuchen ihre Tätigkeiten so auszuwählen, dass diese im Mittel mit ihrem „Charakter“ im Einklang sind. Dabei ist der Charakter mathematisch als eine Menge von Präferenzen definiert: Wie häufig strebt jemand – relativ gesehen – eher bequeme, spannende oder produktive Tätigkeiten an?

    Kognitive Regulation von Emotionen

    Uns ist in der Regel nicht bewusst, wie viele biochemische Prozesse beständig in unserem Gehirn ablaufen. Die biologischen Grundlagen von Emotionen (die ‚neuronalen Korrelate‘) können wir dagegen in der Form von Gefühlen wahrnehmen. Interessanterweise sind die dafür notwendigen neurobiologischen Strukturen phylogenetisch jung, d. h. erst bei höheren Affen voll ausgebildet. Diese Strukturen erlauben es, Emotionen ihrerseits kognitiv zu regulieren und somit den kognitiv-emotionalen Regelkreis zu schließen. Im umgekehrten Fall, also wenn uns die Evolution keine Gefühle mitgegeben hätte, könnten wir unsere Emotionen, also die entsprechenden Gehirnprozesse, nicht regulieren. Das würde der wissenschaftlichen Definition von „Zombies“ durch die beiden Neurowissenschaftler Christof Koch and Francis Crick entsprechen. Diese kann man als denkfähige Wesen ansehen, die Triebe haben, diese aber nicht kontrollieren können, da sie sich ihrer nicht bewusst sind.

    Ein emotionales Kontrollsystem ist nicht nur für Menschen und hochentwickelte nicht-menschliche Tiere von essentieller Bedeutung, sondern auch für potentielle künstliche Intelligenzen. Synthetische und biologische Emotionen müssen funktional äquivalente Rollen erfüllen, wogegen sie sich hinsichtlich der spezifischen Ausprägungen unterscheiden können. Roboter-Emotionen werden sich nicht – wie in vielen Filmen dargestellt – sekundär entwickeln. Synthetische Emotionen sind vielmehr eine unabdingbare Voraussetzung für eigenständig agierende universelle Intelligenzen, sofern es diese jemals geben sollte.

    Originalpublikation:
    Claudius Gros: Emotions as Abstract Evaluation Criteria in Biological and Artificial Intelligences. fncom.2021.726247

    Pressestelle der Goethe-Universität Frankfurt a. M., 15.12.2021

  • Wir brauchen Verlässlichkeit!

    Rund drei Millionen Kinder und Jugendliche wachsen in Deutschland mit mindestens einem suchtkranken Elternteil auf. Auf ihre Situation und auf mögliche Hilfsangebote soll die bundesweite Aktionswoche für Kinder aus suchtbelasteten Familien (COAs) vom 13. bis 19. Februar aufmerksam machen. In zahlreichen Veranstaltungen, die erneut überwiegend digital stattfinden, wollen viele Einrichtungen, die mit den Kindern und Jugendlichen arbeiten, auf die besondere Lage der Betroffenen in Deutschland hinweisen – gerade auch in Zeiten der Pandemie. Organisiert wird die Aktionswoche von NACOA Deutschland. Die Interessenvertretung für Kinder aus suchtbelasteten Familien lädt unter anderem zum Interessenvertretung für Kinder aus suchtbelasteten Familien lädt unter anderem zum Auftakt der Aktionswoche für den 11. Februar zu einer öffentlichen Diskussion mit gesundheits- und drogenpolitischen Expert:innen von SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen ein.

    „Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten Familien kennen leider in ihrem Alltag die mangelhafte Verlässlichkeit von Verantwortlichen“, erklärte NACOA Deutschland vor Beginn der Aktionswoche. Die Suchterkrankung der Eltern sorge dafür, dass gegebene Versprechen immer wieder gebrochen oder ihre Einlösung in eine unbestimmte Zukunft verschoben werden. „Die Einhaltung von Verlässlichkeit ist ein hohes Gebot, und deshalb sind sicher finanzierte Hilfs- und Beratungsangebote für diese hochverletzliche Gruppe so wichtig!“

    Doch noch liege ein regelfinanziertes und flächendeckendes Netz der Hilfe in weiter Ferne. Die rund zweihundert bestehenden Einrichtungen reichten, verglichen mit der hohen Zahl betroffener Kinder und Jugendlicher, lange nicht aus. Auch die Telefon- und Online- Beratungen, die während der Corona-Pandemie wichtiger waren als je zuvor, seien von einer finanziell unsicheren Zukunft betroffen. „Die neue Bundesregierung steht nun – gemeinsam mit Ländern und Kommunen – in der Pflicht, die Versorgungslücke zu schließen!“ erklärte NACOA.

    Veranstaltungen von NACOA Deutschland

    Mit mehreren Dutzend Veranstaltungen wollen Einrichtungen der Sucht- und Jugendhilfe sowie Verbände und Initiativen in ganz Deutschland dem Thema die notwendige Aufmerksamkeit verschaffen, Wissen vermitteln und betroffenen Familien und den Kindern Wege zu Hilfe und Genesung weisen. Mit vielen Ideen und großem Engagement haben die Beteiligten Angebote in pandemietauglichen Formaten entwickelt, die in der Regel digital oder unter freiem Himmel stattfinden. Was wann und wo passiert und wie man an den Veranstaltungen teilnehmen kann, steht auf der Website www.coa-aktionswoche.de – auf der auch weitere Informationen zum Thema abgerufen werden können. Zeitgleich findet eine entsprechende Aktionswoche in Großbritannien statt, einige Wochen später in der Schweiz.

    NACOA Deutschland beteiligt sich selbst mit mehreren Veranstaltungen an der Aktionswoche. Den Auftakt bildet eine öffentliche Podiumsdiskussion via Zoom mit gesundheits- und drogenpolitischen Expert:innen der Regierungskoalition sowie Fachleuten aus der Arbeit mit und für die Betroffenen. Zudem erwarten wir ein Video-Statement von Anne Spiegel (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Anlass der Diskussion ist der Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP und der darin zu findende Satz „Wir unterstützen die Kinder von psychisch, sucht- oder chronisch kranken Eltern“. Viele Fachleute aus der Praxis begrüßen diese Aussage, allerdings sind die Details noch unklar. Auch der Stand der Dinge bei der Umsetzung der Empfehlungen der von der Bundesregierung in der vergangenen Legislaturperiode eingerichteten AG „Kinder psychisch und suchtkranker Eltern“ soll Thema sein.

    Die Aktionswoche für Kinder aus Suchtfamilien wird im Rahmen der Selbsthilfeförderung finanziert durch die GKV; die Neugestaltung der Aktionswochen-Website wird durch die KKH gefördert. Die Initiatoren danken GKV und KKH für ihre Unterstützung!

    Pressemitteilung von NACOA Deutschland, 3.2.2022

  • Aufbruchstimmung in Krisenzeiten – die Bedeutung der Suchthilfe wächst

    Aufbruchstimmung in Krisenzeiten – die Bedeutung der Suchthilfe wächst

    Wolfgang Rosengarten

    Der neue Beauftragte der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen, Burkhard Blienert, schreibt auf seiner Homepage: „Die Drogen- und Suchtpolitik muss in vielen Bereichen neu gedacht und neu gestaltet werden. Was wir brauchen, ist ein Aufbrechen alter Denkmuster. Es muss gelten: ‚Hilfe und Schutz statt Strafe.‘ Nicht nur beim Thema Cannabis, sondern in der Drogenpolitik insgesamt, national wie auch international. Die Welt steht gesundheitspolitisch vor nie dagewesenen Herausforderungen und auch die Sucht- und Drogenpolitik muss mit großem Engagement und ohne Vorurteile angegangen werden.“

    Wie wohltuend müssen diese Worte in den Ohren all jener klingen, die in der bundesdeutschen Suchtpolitik der letzten Jahrzehnte eher eine Stagnation erlebt haben, die sich wie Mehltau über dieses wichtige gesundheitspolitische Arbeitsfeld gelegt hat. In der Politik und in der Öffentlichkeit hat die Suchtthematik dadurch einen Bedeutungsverlust in großem Ausmaß erfahren.

    Und jetzt diese Aufbruchstimmung, gekoppelt mit zwei Vorhaben der Bundesregierung, die in den letzten Jahrzehnten immer wieder an politischen Widerständen gescheitert sind: der kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken und der modellhaften Erprobungen von Drug-Checking.

    Natürlich wird es bei der Umsetzung der Vorhaben Widerstand geben, sowohl in der Fachöffentlichkeit als auch in der Politik. Und natürlich gibt es eine große Anzahl von Fallstricken, lauert auch hier der Teufel im Detail. Bei einem gesundheits- und gesellschaftspolitischen Kurswechsel in einer seit mehreren Jahrzehnten hoch emotionalisierten und z. T. ideologisierten Debatte ein neues Regelwerk zu erstellen, das hochkomplexe Fragestellungen berücksichtigen muss, bedeutet eine enorme Herausforderung. Aber es bedeutet auch ein Ende der Stagnation, es wird wieder debattiert und gestritten werden. Er wird darum gerungen werden, die bestmögliche Lösung zu finden (die dann immer noch nicht die beste sein wird). Es kommen wieder Prozesse in Gang. Es wird wieder lebendig werden.

    Eine gesetzliche Regulierung bei der Cannabisthematik muss darauf aufbauen, dass der Konsum von Cannabis Gesundheitsrisiken birgt und ein problematischer bzw. risikoreicher Konsum sowie der situationsunangepasste Konsum (z. B. Konsum am Arbeitsplatz, in der Schwangerschaft oder im Straßenverkehr) mit negativen Folgen für die Person selbst oder Dritte assoziiert sein kann. Die neue gesetzliche Regulierung muss das Ziel haben, die aktuelle Situation zu verbessern und Gefährdungspotentiale so weit wie möglich zu minimieren, besonders was Jugendliche betrifft.

    Multidisziplinäre Kompetenz

    In der medialen Öffentlichkeit wird die Stimme der Suchthilfe in der aktuellen drogenpolitischen Debatte noch nicht in dem Maße wahrgenommen, wie es für sie angezeigt wäre. Die Organisationen der Verbände und Einrichtungen haben schließlich die Expertise und langjährige Erfahrungen im Umgang mit den anstehenden Themen und vor allem den Menschen, um die es geht.

    Die organisierte Suchthilfe hat ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber allen Berufsgruppen, die sich zu Wort melden werden, seien es Ärzt:innen, Jurist:innen oder Ökonom:innen: Niemand hat Drogen- und Suchtfragen umfassender im Blick als die Suchthilfe. Hier arbeiten multidisziplinäre Teams in der ambulanten und stationären Versorgung, in der Prävention und in der Selbsthilfe. Die Suchthilfe ist weit mehr als eine berufsständische Fachgesellschaft, die die Sichtweise und Interessen einer Berufsgruppe vertritt.

    Das gesundheitliche Gefährdungspotential von Cannabis bei vulnerablen Gruppen ist unbestritten. Aber Suchtberatungsstellen sind auch mit Menschen konfrontiert, die aufgrund juristischer Auflagen zugewiesen werden, obwohl sie einen risikoarmen, nicht abhängigen und größtenteils unschädlichen Konsum betreiben. Diese Menschen werden allein wegen der aktuellen Rechtslage kriminalisiert, mit dem Resultat möglicher sozialer und psychischer Folgeschäden (gerade bei jugendlichen Konsument:innen).

    Expertin für Prävention

    Vor allem, um die im Zuge der kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken geäußerte unabdingbare Forderung nach begleitenden umfassenden Präventionsmaßnahmen zu erfüllen, sind die Erfahrungen und Kompetenzen der Suchthilfe unverzichtbar.

    Es ist erfreulich, dass in der aktuellen Diskussion um die gesetzlichen Veränderungen das Thema Prävention eine herausragende Rolle spielt. Im Bereich der Prävention muss mit umfassender Information und Aufklärung über die gesundheitlichen Gefahren des Cannabiskonsums einem möglichen Eindruck entgegengewirkt werden, der Konsum werde legalisiert, weil Cannabis ungefährlich sei. Aufgrund der geänderten Gesetzeslage kann ferner auch das Thema risikoreduzierende Verhaltensweisen und Konsumformen in den Angeboten einen größeren Raum einnehmen.

    Auch wenn der gesetzgeberische Prozess noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird, kann Prävention nicht erst beginnen, wenn das Gesetz verabschiedet ist. Allerdings reichen die aktuellen Budgets und Ressourcen in der Suchthilfe hierfür nicht aus. Auf den Mittelzuwachs zu warten, bis die potentiellen Steuereinnahmen aus dem Cannabisverkauf realisiert sind, um daraus die Präventionsmaßnahmen zu finanzieren, ist allerdings keine Option.

    Nötig sind Mittel, die der Bund der Suchthilfe im Vorfeld zur Verfügung stellt, um zielgruppenspezifische und situationsangepasste Präventionskonzepte vor dem Hintergrund der neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen zu erarbeiten sowie entsprechende Maßnahmen zu planen und in die Umsetzung zu bringen. Hierzu wäre es hilfreich, in einem Gremium mit Vertreter:innen der Bundesebene, der Länder und der Suchthilfe ein abgestimmtes Vorgehen zu erarbeiten.

    Der neue Drogenbeauftragte sieht die Notwendigkeit vom „Aufbrechen alter Denkmuster“. Dies betrifft in der Suchtpolitik nicht nur den zukünftigen Umgang mit Cannabis.

    Wir gehen bewegten und spannenden Zeiten entgegen.

    Kontakt:

    Wolfgang Rosengarten
    w.rosengarten@t-online.de

    Angaben zum Autor:

    Wolfgang Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration in Wiesbaden. Vorher war er über 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.

  • Europäische Online-Befragung zum Thema Drogen

    Neue Ergebnisse des European Web Survey on Drugs, die aktuell von der EU-Drogenbeobachtungsstelle (EMCDDA) veröffentlicht wurden, zeigen, dass die Konsummuster bei Cannabis und Ecstasy am stärksten von den COVID-19-Beschränkungen betroffen sind. Die Europäische Online-Befragung zum Thema Drogen ergab, dass der Konsum von Cannabiskraut zugenommen, der Konsum der „Partydroge“ MDMA/Ecstasy jedoch zurückgegangen ist.

    Die Erhebung fand zwischen März und April 2021 in 30 Ländern (21 EU-Mitgliedsstaaten und neun Nicht-EU-Staaten) statt, als viele Bevölkerungsgruppen vom COVID-19-bedingten Lockdown betroffen waren. Sie richtete sich an Personen ab 18 Jahren, die Drogen konsumiert haben, und soll das Verständnis für Drogenkonsummuster in Europa verbessern und zur Gestaltung zukünftiger Drogenpolitik und Maßnahmen beitragen.

    Antworten von 50 000 Europäer:innen

    Fast 50.000 Erwachsene (48.469) nahmen an der Erhebung in 21 EU-Mitgliedstaaten und der Schweiz (Fact sheet mit Ergebnissen) teil. Cannabis war die am häufigsten konsumierte Droge: 93 Prozent der Befragten gaben an, sie in den letzten zwölf Monaten konsumiert zu haben, wobei zwischen den Ländern nur geringe Unterschiede bestehen. MDMA/Ecstasy (35 Prozent), Kokain (35 Prozent) und Amphetamin (28 Prozent) waren die am zweithäufigsten gemeldeten illegalen Substanzen, wobei die Reihenfolge der drei Drogen von Land zu Land variierte. Etwa ein Drittel der Befragten (32 Prozent) gab an, im untersuchten Zeitraum mehr Cannabis konsumiert zu haben, 42 Prozent gaben einen geringeren Konsum von MDMA/Ecstasy an.

    Die Erhebung ergab, dass ein Fünftel (20 Prozent) der Stichprobe im letzten Jahr LSD konsumiert hatte, 16 Prozent hatten neue psychoaktive Substanzen und 13 Prozent hatten Ketamin konsumiert. Drei Prozent der Befragten meldeten Heroinkonsum. Die Gruppe der Heroinkonsument:innen war zwar klein, aber mehr als ein Viertel davon (26 Prozent) gab an, diese Droge im untersuchten Zeitraum häufiger konsumiert zu haben.

    Die aktuell vorgestellten Daten beziehen sich auf eine Stichprobe von Menschen, die in den zwölf Monaten vor der Erhebung mindestens eine illegale Droge konsumiert haben. Online-Befragungen sind zwar nicht repräsentativ für die Allgemeinbevölkerung, können aber bei sorgfältiger Durchführung und in Kombination mit traditionellen Datenerhebungsmethoden dazu beitragen, ein detaillierteres, realistischeres und zeitnahes Bild des Drogenkonsums und der Drogenmärkte in Europa zu gewinnen. Mehr als 100 Organisationen nahmen an der Initiative teil, darunter die nationalen Reitox-Knotenpunkte, Universitäten und Nichtregierungsorganisationen.

    Westliche Balkanländer

    Neu in der Runde 2021 war die Teilnahme von Partnern der EU-Drogenbeobachtungsstelle aus den westlichen Balkanländern (Fact sheet mit Ergebnissen) im Rahmen des technischen Hilfsprojekts IPA7.

    Mehr als 2.000 Erwachsene (2.174) aus Albanien, dem Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien nahmen an der Erhebung teil. Die meisten Befragten (91 Prozent) gaben an, in den letzten zwölf Monaten Cannabis konsumiert zu haben, gefolgt von Kokain (38 Prozent), MDMA/Ecstasy (22 Prozent) und Amphetamin (20 Prozent). Auch hier gab etwa ein Drittel der Befragten (32 Prozent) an, im untersuchten Zeitraum mehr Cannabis konsumiert zu haben, und 34 Prozent gaben an, weniger MDMA/Ecstasy konsumiert zu haben.

    Fast jeder sechste Befragte (17 Prozent) gab an, in den letzten zwölf Monaten NPS konsumiert zu haben, während neun Prozent angaben, LSD konsumiert zu haben. Acht Prozent der Befragten antworteten, dass sie sowohl Heroin als auch Methamphetamin konsumiert haben.

    Vom „Night Life“ zum „Home Life”

    Als häufigstes Setting für Drogenkonsum wurde das häusliche Umfeld genannt (85 Prozent der Befragten in der EU/Schweiz und 72 Prozent in den westlichen Balkanstaaten), ein Muster, das durch den COVID-19-Lockdown und die Schließung von Nachtclubs verstärkt wurde. Diese Ergebnisse erklären sich durch die angegebenen Beweggründe für den Substanzkonsum. Die am häufigsten genannten Motive für den Cannabiskonsum waren Entspannung, high sein und besser schlafen können, während mit MDMA/Ecstasy Euphorie und das Erleben des sozialen Miteinanders verstärkt werden sollen.

    Alexis Goosdeel, Direktor der EMCDDA, erklärt hierzu: „Internetumfragen sind ein wesentlicher Bestandteil unserer Beobachtung des sich verändernden Drogenproblems in Europa. Sie helfen uns, mit einer innovativen Methoden eine wichtige Zielgruppe zu erreichen. Die heutigen Ergebnisse zeugen von der großen Vielfalt der in Europa verfügbaren Drogen und liefern wertvolle Informationen über sich abzeichnende Trends und sich verändernde Konsummuster während der COVID-19-Pandemie.“

    Pressestelle der EU-Drogenbeobachtungsstelle (EMCDDA), 20.1.2022

  • Familienorientierte Suchtarbeit zur Stärkung elterlicher Kompetenz

    Auch Suchtkranke wollen und können gute Eltern sein, sie brauchen jedoch häufig Ermutigung und Unterstützung bei der Wahrnehmung ihrer Elternverantwortung. Hier setzte das zweijährige, vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte und gemeinsam vom Gesamtverband für Suchthilfe (GVS) und dem Deutschen Caritasverband (DCV) durchgeführte Projekt „Familienorientierte Suchtarbeit zur Stärkung elterlicher Kompetenz“ an. Es fokussierte die Förderung der Elternkompetenz parallel zur Beratung und Behandlung bei einer Suchterkrankung.

    Als Ergebnis des Projektes wurde ein Rahmenkonzept zur Beratung und Behandlung von suchtkranken Menschen in Elternverantwortung entwickelt, in das auch bisherigen Ergebnisse aus der Forschung zur Arbeit mit suchtbelasteten Familien eingeflossen sind. Das Rahmenkonzept beschreibt Ausgangslage, Grundlagen und Methoden, Chancen und Herausforderungen familienorientierter Suchtarbeit sowie die erforderliche Kooperation zwischen Suchthilfe und Jugendhilfe. Es bietet auch für digitale Beratungsansätze bzw. Blended Counseling Unterstützung.

    Des Weiteren wurde ein Modul zum Qualitätsmanagement entwickelt, das fachliche Standards für eine erfolgreiche Beratung und Behandlung suchtbelasteter Familien definiert und Einrichtungen dabei unterstützt, den Behandlungsansatz für das Gesamtsystem Familie sowie erforderliche Kooperationsbeziehungen in ihren eigenen Strukturen zu verankern.

    Rahmenkonzept und QM-Modul sind auf der Website des Deutschen Caritasverbandes e. V. frei verfügbar.

    Abschluss- und Kurzbericht des Projektes stehen auf der Website des BMG zur Verfügung.

    Quelle: Website BMG, Publikationen, November 2021, und Website Caritas, Für Profis, 27.8.2021

  • Corona lässt das Wir-Gefühl in der Gesellschaft schwinden

    72 Prozent der Menschen in Deutschland sind der Meinung, der gesellschaftliche Zusammenhalt habe durch die Pandemie gelitten. Zwei Drittel sagen: Institutionen, bei denen sich Menschen ehrenamtlich für andere engagieren, sowie Anbieter von sozialen Hilfen haben in dieser Zeit am meisten dazu beigetragen, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Der Beitrag der Medien, der Politik und kultureller Institutionen zum Zusammenhalt in der Pandemie wird dagegen eher gering bewertet. Das ergab eine von forsa durchgeführte repräsentative Befragung, die der Deutsche Caritasverband in Auftrag gegeben hat. Demnach meinen 37 Prozent der Befragten, der gesellschaftliche Zusammenhalt habe in der Pandemie „deutlich“ gelitten. Nur fünf Prozent sagen, er habe „deutlich zugenommen“. 35 Prozent finden, er habe „etwas abgenommen“ und 20 Prozent, er habe „etwas zugenommen“.

    Das „Wir“ leidet

    „Die Zahlen bestätigen, was unsere Kolleginnen und Kollegen in den Diensten und Einrichtungen erleben. Es gibt großartige Momente gelebter Solidarität und viele Beispiele für ein Zusammenrücken in der Pandemie. Insgesamt überwiegt aber das Gefühl, dass das ‚Wir‘ in der Pandemie erheblich leidet“, kommentiert Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa die Ergebnisse. „Die ständige Bedrohung durch das Virus und die Notwendigkeit, Abstand zu halten, haben die Kräfte erschöpft und das Miteinander in Mitleidenschaft gezogen.“ Die Signale aus der Praxis seien besorgniserregend: „Viele Pflegekräfte sind ausgebrannt. Sozialarbeiterinnen verzweifeln angesichts von Jugendlichen mit Essstörungen und Kindern mit Angststörungen. Unsere Beratungsstellen sind überlaufen, viele Klientinnen und Klienten wissen nicht weiter“, so Welskop-Deffaa. Hinzu komme, dass „die Frage, wie das Virus am besten zu bekämpfen ist, zu Unfrieden und Spannungen in Kollegen- und Freundeskreisen führt.“

    Politik bei jungen Menschen abgeschlagen

    Auf die Frage, welche Personen oder Organisationen den gesellschaftlichen Zusammenhalt befördern, antworten 67 Prozent, dass „Vereine und Verbände, in denen Menschen sich ehrenamtlich für andere engagieren können“ dies „stark“ oder „sehr stark“ tun. An zweiter Stelle finden sich „Anbieter von sozialen Hilfen“ mit einer Zustimmung von 60 Prozent. „Kulturelle Orte“ (21 Prozent), „soziale Medien und soziale Netzwerke“ (24 Prozent) und die „Politik“ (31 Prozent) werden deutlich weniger als Zusammenhaltstifter erfahren. „Bildungseinrichtungen“ (47 Prozent) und „klassische Medien“ (33 Prozent) liegen dazwischen.

    Als Alarmsignal wertet die Caritas, dass wenig junge Menschen einen positiven Beitrag der Politik zur Stärkung des Zusammenhalts sehen. „Offenkundig hat Politik bei jungen Menschen ein Vertrauenskapital verspielt, weil sich diese von den Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie belastet oder vergessen fühlen“, so Welskop-Deffaa. Von den befragten 14- bis 29-Jährigen werten lediglich 17 Prozent den Beitrag der Politik zum gesellschaftlichen Zusammenhalt als „wichtig“ oder „sehr wichtig“ – bei ihnen liegt die Politik damit am Ende der Skala der Zusammenhaltstifter.

    „Sorgen bereitet uns auch, dass in Ostdeutschland deutlich weniger Menschen die Anbieter sozialer Hilfen als förderlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt erleben als in anderen Teilen des Landes“, so Welskop-Deffaa. Im Osten heben nur 45 Prozent der Befragten diesen Beitrag als besonders wichtig hervor, während die Zustimmung im Westen bei 63 Prozent liegt. „Die soziale Infrastruktur – Schuldnerberatungsstellen, Wohnungslosenhilfe und andere Angebote – ist nicht in allen Teilen Deutschlands gleich gut ausgebaut. Das spiegelt sich in den Ergebnissen der Befragung wider.“

    Zusammenspiel mit anderen Institutionen

    „Die Ergebnisse sind in dem Jahr, in dem der Deutsche Caritasverband sein 125-jähriges Jubiläum feiert, für uns ein starker Ansporn“, so die Caritas-Präsidentin. „Die Wohlfahrtsverbände sind beides: Orte, an denen die Menschen sich für andere engagieren können – das tun bei der Caritas knapp 700.000 hauptamtliche und eine halbe Million ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – und Anbieter von sozialen Hilfen. Die Pandemie führt uns vor Augen, wie lebenswichtig sie für viele Menschen sind.“ Die Ergebnisse der Umfrage sind für die Caritas-Präsidentin auch ein Auftrag, mehr für die Stärkung der politischen Teilhabe und der Demokratie zu tun. „Wir können und wollen unsere Rolle nur im Zusammenspiel mit anderen Institutionen und Partnern, nicht zuletzt der Politik, erfüllen.“

    Große Zustimmung für Respekt, Solidarität, Gerechtigkeit

    In der Umfrage äußerten die Befragten sehr große Zustimmung zu den Werten, die aus Sicht der Caritas das Fundament des gesellschaftlichen Zusammenhalts bilden. So bewerten 85 Prozent der Befragten „Respekt gegenüber allen Menschen“ als „wichtig“ oder „äußerst wichtig“ für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Bei „Solidarität mit den Schwächsten“ ebenso wie bei „gerechten Chancen für Arme und Ausgegrenzte“ sind mehr als zwei Drittel (68 Prozent) der Befragten der Meinung, diese Werte seien für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wichtig.

    „Der Wertekompass unserer Gesellschaft ist intakt“, zeigt sich die Caritas-Präsidentin überzeugt. „Die Pandemie fordert uns heraus, diese Überzeugungen auch zu leben. Individuell, aber vor allem auch gemeinsam. Die Caritas will als Treiberin sozialer Innovationen in Deutschland und weltweit auch in den nächsten 125 Jahren dazu beitragen.“ Die Jubiläumskampagne des Deutschen Caritasverbandes „Zukunft denken, Zusammenhalt leben: #DasMachenWirGemeinsam“, die am 18.1.2022 an den Start gegangen ist, will zeigen: Gemeinsam in alten und neuen Allianzen lassen sich soziale Gräben überspringen und soziale Ungerechtigkeiten überwinden.

    Mehr zu den Ergebnissen der Umfrage finden Sie hier.

    Pressestelle des Deutschen Caritasverbandes, 18.1.2022