Springer, Berlin, Heidelberg 2021, 164 Seiten, 19,99 €, ISBN 978-3-662-63555-1
„Durch Fehler lernen“ ist eine Lebensweisheit, die uns allen mehr denn je vor Augen geführt wird. Wird die Menschheit aus dem Kampf gegen das SARS-CoV-2-Virus lernen? Jetzt – mitten in der vierten Welle – ist es mehr denn je zuvor notwendig zu verstehen, was auf sozialer, medizinischer und wirtschaftlicher Ebene zu tun ist. Welche Erkenntnisse haben die Menschen gewonnen? Was kann der Einzelne, die Gesellschaft, das Gesundheitswesen und die Politik zukünftig besser machen?
Das Sachbuch „Aus Corona lernen“ analysiert hier entscheidende Aspekte: Wer sind die Verlierer und wer sind die Gewinner? Ganze Branchen wie Gastronomie, Hotellerie, Kultur- und Tourismuswirtschaft kämpfen ums wirtschaftliche Überleben. Wo sind die Fehler im System, wie zum Beispiel mangelnde Bevorratung von Masken, Schutzkleidung? Wie steht es mit der fehlenden Digitalisierung in Schulen und Gesundheitsämtern? Und schließlich die Frage nach dem Einzelnen: Was können wir selbst anders machen?
In 23 Kapiteln verschafft der Autor einen aktuellen Überblick: Beginnend bei der Historie des Virus und seiner Ausbreitung, c. Was können wir von anderen Ländern und ihrem Umgang mit der Pandemie lernen? Den vielen aus verschiedenen Perspektiven motivierten Fragen geht der Mediziner Professor Dr. med. Ulrich Hildebrandt ausführlich auf den Grund.
Das Hören von Musik im Alltag kann stressreduzierend wirken und körperliche Symptome lindern. Das zeigen Psycholog*innen der Universität Wien in einer aktuellen Studie in „Scientific Reports“. Personen mit chronischen körperlichen Leiden beantworteten dazu regelmäßig Fragen zum subjektiven Befinden und zu ihrem Musikhörverhalten. Parallel dazu wurden biologische Indikatoren für Stress im Speichel erhoben, um mögliche psychobiologische Mechanismen zu erforschen, die diesen positiven Effekten zugrunde liegen. Auch die Art der Musik spielte dabei eine Rolle.
Bislang wurde die positive Wirkung von Musik auf Stress und körperliche Beschwerden primär im Labor oder im Klinikkontext untersucht. Die Forscher*innen des Music & Health Lab um den Klinischen Psychologen Urs Nater von der Universität Wien wählten demgegenüber einen alltagsnahen Ansatz und untersuchten in Kooperation mit der psychologischen Forschungs-, Lehr- und Praxisambulanz der Universität Wien die gesundheitsförderlichen Effekte des Musikhörens in einem natürlichen Umfeld unter Zuhilfenahme mobiler Technologien. Welche Art der Musik ist für wen unter welchen Umständen zur Linderung Stress-abhängiger körperlicher Beschwerden geeignet? Und welche biopsychologischen Mechanismen liegen den positiven Effekten des Musikhörens im Alltag zugrunde? Diesen Fragen ging Anja Feneberg, Mitarbeiterin des Music & Health-Lab, gemeinsam mit Urs Nater und Ko-Autorinnen auf den Grund.
„Elektronisches Tagebuch“ lieferte Einblicke
Untersucht wurden insgesamt 58 Frauen, von denen die meisten bereits seit über einem Jahr unter körperlichen Symptomen wie Schmerzen, Erschöpfung oder Übelkeit litten. Es wurden ausschließlich Frauen untersucht, da es Unterschiede zwischen den Geschlechtern hinsichtlich der Effekte von Musik gibt und Frauen tendenziell häufiger von Stress-abhängigen körperlichen Leiden betroffen sind. Während 14 aufeinanderfolgenden Tagen führten die Versuchspersonen ein „elektronisches Tagebuch“ in ihrem Alltag mit sich und beantworteten mittels einer App jeweils sechs Mal am Tag Fragen zu ihrem aktuellen Befinden, körperlichen Beschwerden, Stressniveau sowie ihrem Musikhörverhalten. Zusätzlich gaben die Versuchspersonen bei jeder App-Eingabe eine Speichelprobe ab. Diese Proben wurden nach Abschluss der Erhebung von den Forscher*innen auf die beiden biologischen Stressindikatoren Cortisol und Alpha-Amylase getestet.
Indirekter Effekt auf körperliche Beschwerden
Die Ergebnisse der Studie zeigen: Musikhören mildert körperliche Beschwerden. Die Musik linderte zwar nicht direkt die körperlichen Leiden, hatte aber einen Einfluss auf das empfundene Stressniveau und so auch eine indirekte Wirkung auf den Körper. „Wir konnten somit einen wichtigen Mechanismus identifizieren: Musikhören im Alltag hatte in unserer Studie zunächst einen stressreduzierenden Effekt, und diese Stressreduktion zog dann eine Besserung körperlicher Symptome nach sich“, sagt Anja Feneberg. Die Forscher*innen fanden zudem heraus, dass insbesondere Musik, die als fröhlich empfunden wurde, einen lindernden Effekt auf den Körper hatte, und Musik, die als beruhigend empfunden wurde, mit einem körperlichen Entspannungszustand zusammenhing.
„Auf Basis dieser Ergebnisse planen wir im nächsten Schritt eine musikbasierte Intervention, die flexibel und gezielt im Alltag zur Stressreduktion und Linderung körperlicher Beschwerden eingesetzt werden kann und die direkt auf die Bedürfnisse von Betroffenen zugeschnitten ist“, so Urs Nater.
Originalpublikation:
Feneberg, A. C., Mewes, R., Doerr, J., & Nater, U. M. (2021). The effects of music listening on somatic symptoms and stress markers in the everyday life of women with somatic complaints and depression. Scientific Reports, 11(1), 24062. DOI: https://doi.org/10.1038/s41598-021-03374-w
Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen das bislang unbekannte Potential von Psilocybin, molekulare Schaltkreise im Gehirn wiederherzustellen und damit zu einer Verringerung von Rückfällen bei Alkoholabhängigkeit beizutragen. Neue Therapieansätze könnten dadurch entstehen.
Alkoholabhängigkeit ist eine der häufigsten neuropsychiatrischen Erkrankungen. Allein in Deutschland gibt es mehr als fünf Millionen Betroffene. Die Folgen sind häufig schwere körperliche und psychische Leiden und eine hohe Mortalitätsrate. So ist die mittlere Lebenserwartung von Betroffenen um mehr als 22 Jahre verringert. Trotz der Schwere der Erkrankung, deren chronischer Verlauf durch häufig wiederkehrende Rückfälle in übermäßigen Alkoholkonsum und großem Leidensdruck für die Betroffenen charakterisiert ist, wissen wir bisher wenig über die ursächlichen Mechanismen im Gehirn.
Geistige Prozesse, die das Verhalten, die Aufmerksamkeit und die Gefühle steuern, werden in der Neurowissenschaft als exekutive Funktionen bezeichnet. Bei vielen psychiatrischen Erkrankungen ist die Fähigkeit, das eigene Denken und Handeln zu steuern sowie die Emotionen zu regulieren, gestört, beispielsweise bei Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Autismus, Schizophrenie, Borderline-Syndrom und eben auch bei Suchterkrankungen.
In einer multidisziplinären, internationalen Zusammenarbeit unter der Leitung von Dr. Marcus Meinhardt, Prof. Dr. Rainer Spanagel und Prof. Dr. Wolfgang Sommer (alle am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim) sind die molekularen Ursachen von veränderter Selbstregulation und erhöhter Rückfälle bei Alkoholabhängigkeit untersucht worden. Dabei konzentrieren sich die Forschungsarbeiten auf die Rolle des metabotropen Glutamatrezeptors 2 (mGluR2). Dieser fungiert im Gehirn als biochemische Empfangsantenne für den Signalstoff Glutamat und reguliert dessen Ausschüttung in verschiedenen Hirnarealen. In ihrer aktuellen Arbeit, die nun in der Zeitschrift Science Advances erschienen ist, zeigt das Forscherteam einen kausalen Zusammenhang zwischen einer verminderten mGluR2-Funktion innerhalb der Hirnregion des präfrontalen Kortex in alkoholabhängigen Nagern und einer beeinträchtigten exekutiven Kontrolle sowie dem Verlangen nach Alkohol. Die mGluR2-Aktivierung ist dadurch als potenzieller therapeutischer Mechanismus bei Alkoholabhängigkeit identifiziert worden.
Halluzinogene Substanzen wie Psilocybin – der Wirkstoff aus den sogenannten Zauberpilzen – oder LSD wirken durch die Stimulierung von Serotonin-2A-Rezeptoren (5-HT2AR) im Gehirn. Diese Rezeptoren sind in einer Vielzahl im präfrontalen Kortex vertreten. Frühere Forschungen haben gezeigt, dass sich 5-HT2AR und mGluR2 zu einem funktionellen Komplex zusammenschließen können. Dieser Komplex wurde mit dem Wirkmechanismus von Psychedelika in Verbindung gebracht, jedoch waren die molekularen Funktionen dieses Komplexes bisher unbekannt. „Wir konnten zeigen, dass Psilocybin in der Lage ist, die mGluR2-Spiegel zu erhöhen, und zu einer Verringerung von Rückfällen zum Alkoholkonsum führt“, sagt Marcus Meinhardt. Somit eröffnet diese Forschungsarbeit die Möglichkeit, neue therapeutische Ansätze zu entwickeln, die sich auf Psilocybin als Antreiber des mGluR2 konzentriert.
Originalpublikation:
Meinhardt MW, Pfarr S, Fouquet G, Rohleder C, Meinhardt ML, Barroso-Flores J, Hoffmann R, Jeanblanc J, Paul E, Wagner K, Hansson AC, Köhr G, Meier N, von Bohlen Und Halbach O, Bell RL, Endepols H, Neumaier B, Schönig K, Bartsch D, Naassila M, Spanagel R, Sommer WH.: Psilocybin targets a common molecular mechanism for cognitive impairment and increased craving in alcoholism. Sci Adv. 2021 Nov 19;7(47). DOI: 10.1126/sciadv.abh2399. Epub 2021 Nov 17. https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.abh2399
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, 19.11.2021
Mabuse-Verlag, Frankfurt a. M. 2021, 52 Seiten, 17,95 €, ISBN 978-3-86321-599-6
Ela hat einen Freund, der ihr dabei hilft, jeden Tag Zaubermomente zu sammeln: Elmo. Elmo ist ihr Bindungsbedürfnis und sorgt dafür, dass Ela nicht zu lange allein ist. Doch manchmal haben die Menschen, die Ela lieb hat, keine Zeit für sie, verhalten sich unfair – oder gehen sogar weg. Elmo wird dann sauer oder traurig. Für Ela ist es manchmal ganz schön schwer, mit Elmos großen Emotionen zurechtzukommen …
Ela und Elmo zeigen, dass das Zusammenleben mit anderen Menschen zauberhaft-schön sein kann. Doch auch, dass große Gefühle dazugehören, die wehtun können. An die Geschichte schließt ein Mitmach-Teil für Kinder an. Ein Fachteil für Erwachsene vermittelt außerdem Hintergrundwissen und gibt Anregungen, wie die Großen unterstützen können, wenn Kinder von Lieblingsmenschen verletzt oder verlassen wurden. Ein Buch über Bindung für alle kleinen und großen Leute, die manchmal jemanden vermissen. Für Kinder ab 4 Jahren.
Der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. öffnet sich ab 1. Januar 2022 für ambulante Einrichtungen. Dies hat die Mitgliederversammlung am 30. September 2021 in Potsdam beschlossen. Im Zuge dessen wurde auch ein neuer Name verabschiedet. Die Mitgliederversammlung folgte dem Vorschlag des Vorstands und stimmte für Bundesverband Suchthilfe e. V. als neuen Verbandsnamen. Die Abkürzung bus. wurde in ein neues Logo umgesetzt. Eine neue Homepage – mit der bekannten Adresse www.suchthilfe.de – ist in Arbeit.
Der bus. vereint unter seinem Dach ab Januar 2022 stationäre, ganztägig ambulante und ambulante Einrichtungen der Suchthilfe. Er vertritt dann auch die Interessen der Ambulanten Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen (ARS) und auf Bundesebene die Interessen der Suchtberatungsstellen mit ihren vielfältigen Angeboten von Beratung über niedrigschwellige Arbeit bis Psychosoziale Betreuung Substituierter (PSB). Für ambulante Mitglieder werden neue Angebote wie entsprechende Qualitätszirkel und fachliche Betreuung eingerichtet.
„Unser neuer Name spiegelt wider, dass wir nicht nur ein Verband ‚für‘ eine bestimmte Sache sind, sondern die Suchthilfe vertreten“, so Vorstandsmitglied Dr. Clemens Veltrup. „Wir setzen uns für verschiedene Angebotsformen ein, die alle ein Ziel haben: Menschen, die von einer Abhängigkeitserkrankung betroffen sind, bestmögliche Hilfe anzubieten.“
„Die Öffnung ist ein Meilenstein“, betont Dr. Wibke Voigt, Vorsitzende des Vorstands. „Mit der Erweiterung unserer Mitgliederstruktur erhält die Suchthilfelandschaft auf verbandspolitischer Ebene deutlich mehr Durchsetzungskraft. Wichtig ist uns dabei die Fortführung der engen Zusammenarbeit mit den anderen Suchtfachverbänden, die sich in den letzten Jahren so erfolgreich entwickelt hat.“
Den bus. erreichen Sie ab sofort unter folgender neuer E-Mail-Adresse: bundesverband@suchthilfe.de oder wie gewohnt unter Tel. 0561-77 93 51.
Prof. Dr. Norbert Scherbaum wurde einstimmig zum neuen Vorsitzenden des Vorstands der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) gewählt. Als zentrale Dachorganisation der deutschen Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe sind nahezu alle Träger der ambulanten Suchtberatung und -behandlung, der stationären Versorgung Suchtkranker und der Sucht-Selbsthilfe in der DHS vertreten. „Wir schätzen Herrn Prof. Scherbaum als exzellenten Fachmann und freuen uns sehr auf die Zusammenarbeit“, begrüßt Dr. Peter Raiser, Geschäftsführer der DHS, die Wahl des neuen Vorstandsvorsitzenden.
Seit Beginn seiner klinischen und wissenschaftlichen Tätigkeit ist die Suchtpsychiatrie ein wesentlicher Schwerpunkt von Prof. Scherbaums Arbeit. Er ist Ärztlicher Direktor am LVR-Klinikum Essen und leitet dort als Chefarzt die Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin. Gefördert durch die Studienstiftung des Deutschen Volkes hat er in Essen und London Medizin studiert. 1991 promovierte er zum Dr. med. an der Universität Hamburg.
In Deutschland hat Prof. Scherbaum die Implementierung und Evaluation der Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger maßgeblich vorangetrieben. 2004 wurde er auf eine Professur für klinische Suchtforschung an die Medizinische Fakultät der Universitätsmedizin Essen berufen. Dort ist er seit 2016 Fachvertreter für Forschung und Lehre für das Fach Psychiatrie und Psychotherapie.
Seit 2010 ist Prof. Scherbaum Mitglied im Sachverständigenausschuss des Bundesministeriums für Gesundheit zur Bewertung von Suchtmitteln sowie seit 2011 Mitglied des Ausschusses Sucht und Drogen der Bundesärztekammer. Wesentliche Ziele von Prof. Scherbaum sind Erhalt und Weiterentwicklung differenzierter Hilfsangebote für Menschen mit Suchterkrankungen, das aufmerksame Erfassen neuer Trends beim Suchtmittelkonsum und bei den Verhaltenssüchten sowie die Entstigmatisierung von Suchterkrankungen.
An der DHS schätzt Prof. Scherbaum besonders die Aufgabe der Mitgestaltung der gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen für das Suchthilfesystem in Deutschland.
Abhängigkeitserkrankungen verfestigen sich in seelischen und körperlichen Symptomen oder in krankhaften Verhaltensweisen. Sie werden verstanden als „krankhafte Störung der Wahrnehmung, des Verhaltens, der Erlebnisverarbeitung, der sozialen Beziehungen und der Körperfunktionen. Es gehört zum Wesen dieser Störungen, dass sie der willentlichen Steuerung durch die [Rehabilitand*innen] nicht mehr oder nur zum Teil zugänglich sind“ (G-BA 2007, zit. n. Brandt 2010, S. 381). Dementsprechend müssen die Rehabilitand*innen „dauerhaft gesundheitlich und sozial stabilisiert werden“ (Stöver 2011, S. 31 f.).
Das Suchthilfesystem beinhaltet vielfältige Maßnahmen, die „die individuelle Lebenssituation [der Klientel] berücksichtigen und ihre individuellen Problemlagen, aber auch ihre Fähigkeiten und Ressourcen in den Mittelpunkt stellen.“ (Adlon, Wißmann 2020) In den unterschiedlichen Leistungssegmenten der Rehabilitation wird mit abhängigkeits- und/oder psychisch kranken Menschen das Problem bearbeitet und behandelt, dass ihre soziale Kompetenz (Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit) als Folge des häufig bereits im Kindes- und Jugendalter begonnenen Suchtmittelkonsums „verarmt“ ist. In der Rehabilitation werden ihre Fähigkeiten, sich selbst und andere wahrzunehmen, zu erfassen und zu verstehen, und die Fähigkeit, sich mitzuteilen, gefördert und unterstützt.
2 Die Adaptionsbehandlung
Die Adaptionsbehandlung (Phase II der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker) wird als letzte Phase der stationären Rehabilitation durchgeführt und dient insbesondere dem Ziel, die Rehabilitand*innen „mit Leistungen zur Eingliederung“ zu fördern und zu integrieren. Ziel von Leistungen zur Teilhabe für abhängigkeitskranke Menschen ist es, diese zur gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu befähigen. Dazu gehören:
Erreichen und Erhaltung von Abstinenz
Behebung oder Ausgleich körperlicher und psychischer Störungen
möglichst dauerhafte Erhaltung beziehungsweise Erreichung der Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft
2.1 Daten zur Adaptionsbehandlung aus der Basisdokumentation des FVS
Der Fachverband Sucht e. V. (FVS) hat in seiner Basisdokumentation 2019 (FVS 2020) die Ergebnisse der Adaptionseinrichtungen umfassend dargestellt:
Altersstruktur Die Prozentangaben beziehen sich jeweils auf 100 % der Männer bzw. 100 % der Frauen (d. h. sie addieren sich in der Spalte weiblich bzw. männlich jeweils zu 100 %).
bis 19 Jahre: 0,9 % weiblich, 1,1 % männlich
20 bis 29 Jahre: 24,7 % weiblich, 20,9 % männlich
30 bis 39 Jahre: 35,0 % weiblich,36,1 % männlich
40 bis 49 Jahre: 22,9 % weiblich, 25,3 % männlich
50 bis 59 Jahre: 15,7 % weiblich, 15,5 % männlich
60 Jahre und älter: 0,9 % weiblich, 1,1 % männlich
Erwerbsstatus 85,6 % der Rehabilitand*innen waren bei Behandlungsbeginn arbeitslos. 23,5 % haben Arbeitslosengeld I und 62,1 % Arbeitslosengeld II bezogen.
Dauer der Abhängigkeit 15,4 % der Rehabilitand*innen waren 1 bis 5 Jahre, 23,0 % waren 6 bis 10 Jahre, 38,6 % waren 11 bis 20 Jahre, 22,9 % waren mehr als 21 Jahre abhängig.
Vorausgegangene Behandlungen 67,9 % der Rehabilitand*innen hatten bis zu 20 Entgiftungen, 49,5 % einen qualifizierten Entzug und 100,0 % eine stationäre Entwöhnung (Phase I der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker) absolviert.
Psychische Diagnosen 46,0 % der Rehabilitand*innen hatten eine oder mehrere psychische Diagnose: Depressionen F32, F33 und F34.1 = 29,2 %, Angststörung F40 und F41 = 4,1 %, Persönlichkeitsstörung F60 und F61 = 15,1 %.
Somatische Diagnosen 43,6 % der Rehabilitand*innen hatten eine somatische Diagnose: Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen = F40-F48.
Suizidale Handlungen 23,2 % der Rehabilitand*innen hatten in einem länger als ein Jahr zurückliegenden Zeitraum suizidale Handlungen begangen, weitere 5,5 % im letzten Jahr vor der Aufnahme in der Adaption.
Schulden 66,5 % der Rehabilitand*innen hatten erhebliche Schulden.
Leistungsfähigkeit am Behandlungsende Die Leistungsfähigkeit (6 Stunden und mehr) am Behandlungsende betrug bei den Rehabilitand*innen mit komorbider Depressionen 85,8 %, mit komorbider Angststörung 83,7 % und mit komorbider Persönlichkeitsstörung 85,6 %, gesamt 91,1 %.
Berufliche Integration in den ersten vier Monaten nach Behandlungsende Vier Monate nach der Entlassung waren 57,8 % der Rehabilitand*innen arbeitslos, 19,2 % waren in Vollzeit beschäftigt, 8,7 % in Teilzeit. 5,2 % waren in einer Umschulungs-/Qualifizierungsmaßnahme. 3,8 % waren in einer Ausbildung und 1,3 % sind zur Schule gegangen.
In der Basisdokumentation des FVS heißt es: „Um dieses Ergebnis würdigen zu können, sollen die Zahlen mit dem allgemeinen Vermittlungszahlen der Jobcenter in Relation gesetzt werden. Diese sind […] abhängig von der Anzahl der Vermittlungshemmnissen. […] Die Vermittlungsquote des Jobcenters liegt bei Personen mit drei oder vier Vermittlungshemmnissen bei 4,3 % bzw. 2,4 %“ (FVS 2020, S. 60). Dies belegt, dass Adaptionsbehandlungen in Bezug auf die berufliche Reintegration deutlich erfolgreicher sind als die üblichen Maßnahmen der Jobcenter.
Die Vermittlungshemmnisse (Alter, Gesundheit, berufliche Qualifikation, Dauer der Arbeitslosigkeit u. a.) sind bei den meisten Rehabilitand*innen sehr ausgeprägt. Es ist zu befürchten, dass die Corona-Pandemie eine Vermittlung in eine existenzsichernde Arbeit deutlich schwieriger macht. Die Zahlen machen deutlich, dass insbesondere Leistungen der Eingliederung in Schule/Arbeit erbracht werden müssen.
2.2 Ziele der Adaptionsbehandlung
Die Adaption umfasst die Fortführung der medizinischen, psychotherapeutischen und sucht-therapeutischen Behandlung. Im Vordergrund steht neben der medizinischen Betreuung die psycho-therapeutische Aufarbeitung von Krisen, Rückfallsituationen und weiteren Problemlagen im Rahmen der Integration in den Erwerbsprozess und der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Ziel ist die Erlangung der beruflichen (Re-)Integration – zum Beispiel durch externe Arbeits- und Belastungs-erprobung, Betriebspraktika sowie berufliche Bildungsmaßnahmen – und die Hinführung zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung.
Die Adaptionseinrichtungen erbringen somit den Transfer von therapeutischen Inhalten in die Lebenswirklichkeit. Hier bietet sich die Möglichkeit, im Bereich des beruflichen Kontexts und der sozialen Interaktion auftretende Stärken zu fördern und Schwächen therapeutisch zu bearbeiten und zu kompensieren. In der rehabilitativen Behandlung abhängigkeitskranker Menschen wirkt das therapeutische Angebot der Adaptionseinrichtung festigend auf den Behandlungserfolg und somit nachhaltig auf die berufliche (Re-)Integration.
3 Integrationspotential von Abhängigkeitskranken
Der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss) hat konkrete Faktoren benannt, die sich auf das Integrationspotential von Abhängigkeitskranken auswirken (buss 2011):
Komorbide psychische oder körperliche Erkrankung (mit Einschränkungen in der Leistungs- und Belastungsfähigkeit)
+ insbesondere (traumabedingte) Angststörungen (ICD-10: F4) und Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1),
+ Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen: Dissoziale Persönlichkeitsstörung (F60.2), Borderline-Persönlichkeitsstörung (F60.31), Ängstlich (vermeidende) Persönlichkeitsstörung (F60.6), Abhängige Persönlichkeitsstörung (F60.7), Narzisstische Persönlichkeitsstörung (F60.8),
+ Kombinierte und sonstige Persönlichkeitsstörungen (F61),
+ Persönlichkeits- und Verhaltensstörung (F19.71),
+ Störungen des Sozialverhaltens (F92.0),
+ Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (F90.0, F98.8)
+ Rezedivierende depressive Störungen (F33).
Geringe psychosoziale Kompetenz mit erheblichen Teilhabestörungen
Inkonstanz der psychosozialen Entwicklung mit Bindungsstörung, sozialer Entwurzelung, Vernachlässigung oder Delinquenz
Fehlende Persönlichkeits‐ und Lebensentwürfe, Sozialisationsdefizite, fehlende soziale Einbindung
Langzeitarbeitslosigkeit
Keine Berufsausbildung oder Berufserfahrung, kein Facharbeiterstatus
Vermittlungshemmnisse, bspw. kein Schulabschluss, geringe berufliche Kenntnisse, fehlende Arbeitsorientierung, Probleme im Bereich sozialer Beziehungen, gesundheitliche Beeinträchtigungen oder psychische Belastungen, Ver-/Überschuldung, reduzierte Fähigkeit zur Selbstverantwortung
Zusätzliche Schwierigkeiten, die bei ausländischen Rehabilitanden häufig den beruflichen Integrationsprozess erschweren, bspw. Probleme mit der deutschen Sprache und Klärung des Aufenthaltsstatus
Um die Hemmnisse wirksam und effizient bearbeiten zu können, müssen alle notwendigen Maßnahmen in die Gesamtplanung der Adaptionsbehandlung konsequent eingebunden werden. Dementsprechend sind zur Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit und zur beruflichen (Re-)Integration die unten aufgezählten Aspekte a) bis i) zu berücksichtigen. Die einzelnen Aspekte werden ausführlich in dem vom Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe herausgegebenen Handbuch „Die Adaptionsbehandlung“ (Koch, Schay, Voigt 2017, S. 41-43) beschrieben:
a) Medizinische und psychotherapeutische Behandlung
b) Beruflich orientierte Eingangsdiagnostik
c) Prüfung der persönlichen Voraussetzungen
d) Kontakt zum Jobcenter bzw. zur Agentur für Arbeit / Vermittlung in Maßnahmen
e) Interne Belastungserprobung
f) Vermittlung eines externen berufsorientierenden Praktikums
g) Vermittlung in Qualifizierungsmaßnahmen
h) Vermittlung in Schulen
i) Hilfe bei Bewerbungen
4 Leistungen zur Eingliederung in Arbeit in der Adaptionsbehandlung
Die vorrangige Zielsetzung der Adaptionsbehandlung ist grundsätzlich die (Wieder-)Heranführung der Rehabilitand*innen an den allgemeinen Arbeitsmarkt, d. h., „jeden erwerbsfähigen Hilfebedürftigen qualifiziert, umfassend und entsprechend seinen individuellen Bedürfnissen mit dem Ziel der Eingliederung und/oder Ausbildung zu unterstützen“ (Jobcenter Mecklenburgische Seenplatte Nord 2021). Vermittlungshemmnisse sollen möglichst weitgehend behoben und die notwendigen Integrationsstrategien entwickelt werden.
„Dieser Leistungsanspruch ist eng mit dem Teilhabekonzept der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) verbunden. Danach ist eine alleinige biomedizinische Krankheitsbetrachtung (Diagnose und Befunde) nicht ausreichend, sondern eine Berücksichtigung der krankheitsbedingten bio-psycho-sozialen Beeinträchtigung erforderlich.“ (GVG 2010, S. 18)
„Die vorrangige Zielsetzung von öffentlich geförderter Beschäftigung ist die (Wieder-) Heranführung von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen an den allgemeinen Arbeitsmarkt. Sie dient insbesondere dazu, […] die ‚soziale‘ Integration zu fördern als auch die Beschäftigungsfähigkeit aufrecht zu erhalten bzw. wiederherzustellen und damit die Chance zur Integration in den regulären Arbeitsmarkt zu erhöhen.“ (Bundesagentur für Arbeit 2009, S. 2)
„Die Maßnahmeinhalte sind an den Bedarfslagen der identifizierten Zielgruppen auszurichten und auf die individuellen Erfordernisse und Bedürfnisse der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen abzustimmen. Die Maßnahmeinhalte müssen zumindest mittelbar zur Aufnahme einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt hinführen (‚erste Stufe einer Integrationsleiter‘).
AGH MAE [Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung] sind inhaltlich so auszugestalten, dass Teilnehmer/innen über die Bereitstellung ihrer Arbeitskraft hinaus auch in ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung gefördert werden (z. B. durch feste Ansprechpartner beim Maßnahmeträger, geeignete Qualifizierungselemente, Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche, Bewerbungstraining, Praktika).“ (Bundesagentur für Arbeit 2009, S. 8)
Das Ziel der Maßnahmen zur Förderung der beruflichen Integration in der Adaptionsbehandlung besteht in der Optimierung der persönlichen Fähigkeiten, um den Ansprüchen des Arbeitsmarktes zumindest teilweise gerecht werden zu können, und in der Unterstützung durch Motivationsarbeit. Um diese Zielsetzung erreichen zu können, müssen medizinische Behandlung, medizinische Rehabilitation, berufliche (Re-)Integration und soziale Integration als ganzheitliches Geschehen verstanden werden und wirksam ineinandergreifen.
Die „frühzeitige und koordinierte Zusammenarbeit ermöglicht es, erwerbsbezogene Problemlagen, die Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit der Rehabilitand*innen, arbeitsbezogene Ressourcen, individuelle Interventions- und Vermittlungsbedarfe sowie insgesamt die Perspektiven der beruflichen (Re-)Integration umfassend einzuschätzen und die erforderlichen Maßnahmen frühzeitig einzuleiten (BORA-Empfehlungen 2014, S. 23).
4.1 Gesetzliche Bestimmungen nach dem SGB II
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat im Juni 2020 seine Rechtsauffassung zur „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ nach dem SGB II veröffentlicht. Ziel ist die Eingliederung in Arbeit. Um dies zu erreichen, können folgende Maßnahmen durchgeführt werden:
Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung
Förderung der beruflichen Weiterbildung einschließlich des Nachholens des Hauptschulabschlusses
Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben
Leistungen zur Eingliederung (Eingliederungszuschüsse)
Förderung der Berufsausbildung benachteiligter junger Menschen
Zur Umsetzung der Maßnahmen können verschiedene Eingliederungsleistungen nach dem SGB II in Anspruch genommen werden (vgl. BMAS 2020). Dazu zählen:
Kommunale Eingliederungsleistungen In § 16 a SGB II werden u. a. Sucht- und Schuldnerberatung sowie psychosoziale Betreuung gefördert.
Einstiegsgeld Gefördert wird die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, die mit einer wöchentlichen Arbeitszeit ausgeübt werden muss. Die Förderungsdauer beträgt 24 Monate; es besteht kein Rechtsanspruch.
Förderung von Arbeitsgelegenheiten Für Rehabilitand*innen, bei denen eine unmittelbare Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt nicht möglich ist, kann diese Förderung ist Anspruch genommen werden. Die Förderungsdauer beträgt 24 Monate innerhalb von fünf Jahren.
Eingliederung von Langzeitarbeitslosen Diese Leistung kommt in Betracht für Rehabilitand*innen, die mindestens zwei Jahre arbeitslos sind, und soll die Aufnahme eines sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses fördern. Gefördert werden können Arbeitsverhältnisse auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Förderungsdauer beträgt 24 Monate. Im ersten Jahr der Beschäftigung beträgt der Lohnkostenzuschuss pauschal 75 % und im zweiten 50 % des zu berücksichtigenden Arbeitsentgeltes. Zur Stabilisierung der Beschäftigten findet eine ganzheitliche beschäftigungsbegleitende Betreuung statt („Coaching“).
Teilhabe am Arbeitsmarkt Ziel dieser Förderung ist, dass besonders arbeitsmarktferne Menschen durch eine öffentlich geförderte Beschäftigung soziale Teilhabe erreichen (vgl. §§ 16e und 16i SGBII). Gefördert werden können erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die das 25. Lebensjahr vollendet haben und/oder schwerbehindert sind.
Diese Leistung gem. § 16i SGB II kommt in Betracht, wenn die/der Rehabilitand*in mindestens sechs Jahre innerhalb von sieben Jahren Leistungen nach dem SGB II bezogen hat und nur kurzzeitig erwerbstätig war. Bei Leistungsberechtigten, die mindestens ein minderjähriges Kind haben, werden nur die letzten fünf Jahre betrachtet. Die Ableistung eines Bundesfreiwilligendienstes oder eines Jugendfreiwilligendienstes wird „aufgrund der besonderen Zielrichtung und der Ausgestaltung im Sinne des § 16i Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II“ nicht als Beschäftigung abgerechnet.
Der Lohnkostenzuschuss wird bis zu fünf Jahre gewährt; in den ersten zwei Jahren werden 100 % erstattet, ab dem dritten Jahr sinkt er um jeweils 10 %. Zur Stabilisierung der Beschäftigten findet eine ganzheitliche beschäftigungsbegleitende Betreuung statt („Coaching“), und es können für eine „Förderung einer Qualifizierung“ bis zu 3.000 Euro bezuschusst werden.
Bei Leistungsberechtigten, die gem. § 16e SGB II im Bundesprogramm „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“ beschäftigt waren, wird generell eine Förderung nach § 16i SGB II nicht ausgeschlossen. Die vorhergehende Förderung wird auf die Förderungsdauer und Förderungshöhe nach § 16i SGB II eingerechnet.
Leistungen der Freien Förderung Die Handlungsmöglichkeiten für eine individuelle Unterstützung der Rehabilitand*innen werden durch diese Leistung deutlich verbessert. Die Leistungen dienen der Aktivierung, Stabilisierung oder Betreuung von Langzeitarbeitslosen. Insbesondere jugendliche erwerbsfähige Leistungsberechtigte mit schwerwiegenden Vermittlungshemmnissen können weitergehend gefördert werden.
Förderung schwer zu erreichender junger Menschen Ziel dieser Leistung ist, junge Menschen in einer schwierigen Phase zu unterstützen und sie (zurück) in Maßnahmen der Bildung, Arbeitsförderung, Ausbildung oder Arbeit zu holen.
Nachgehende Betreuung Diese Leistung der Stabilisierung der Beschäftigungsaufnahme kann je nach Einzelfall erbracht werden, bspw. in Form von Beratung. Die Förderungsdauer beträgt 6 Monate nach Beschäftigungsaufnahme.
Das BMAS hat keine Aufsichtsbefugnisse gegenüber dem Jobcenter in kommunaler Trägerschaft. Die Aufsichtsbehörde liegt bei den Landesbehörden. Die Adaptionseinrichtungen müssen mit ihrem örtlichen Jobcenter Kooperationsvereinbarungen abschließen, um für ihre Rehabilitand*innen Förderungsmöglichkeiten in Anspruch nehmen zu können.
4.2 BORA – Berufliche Orientierung in der Rehabilitation Abhängigkeitskranker
Da die „besondere Zielgruppe“ suchtmittelkonsumierender bzw. suchtmittelabhängiger Menschen (nach Maßgabe von § 3 SGB II) von besonderen Vermittlungshemmnissen gekennzeichnet ist, müssen im Behandlungskontext Maßnahmen zur Verbesserung der Chancen auf schulische und berufliche (Re-)Integration sichergestellt werden. Die vorrangige Zielsetzung dabei ist die erstmalige oder erneute Heranführung an den allgemeinen Arbeitsmarkt. Die einzuleitenden Maßnahmen müssen „dem gesetzlichen Auftrag [dienen], Menschen in Arbeit zu integrieren. Sie bieten die Möglichkeit, Ursachen des Suchtverhaltens zu erkennen und Hilfestellung in Situationen zu geben, in denen ohne Betreuung Rückfälle drohen. Darüber hinaus schaffen sie die Möglichkeit der Tagesstrukturierung und verringern die Gelegenheit zum Suchtmittelkonsum und -verhalten.“ (Leune 2009, S. 22)
Wegen der großen Bedeutsamkeit der beruflichen (Re-)Integration bei Abhängigkeitserkranken hat die DRV in Kooperation mit den Fachverbänden (buss, fdr, FVS) eine Arbeitsgruppe zur beruflichen Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter (BORA) etabliert und als Ergebnis 2014 Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs veröffentlicht (vgl. BORA-Empfehlungen 2014, S. 2 ff.).
Die BORA-Empfehlungen unterscheiden zunächst zwischen Rehabilitand*innen mit bestehendem Arbeitsverhältnis und Rehabilitanden, die ohne Beschäftigungsverhältnis sind. Besteht ein Arbeitsverhältnis, liegt der Schwerpunkt auf dem Erhalt des Beschäftigungsverhältnisses und der Beseitigung von am Arbeitsplatz existierenden Problemlagen. Hier kann die Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber eine förderliche Funktion einnehmen. Bei arbeitslosen Rehabilitanden steht die Entfaltung einer persönlichen beruflichen Perspektive im Vordergrund. Eine rechtzeitige Kooperation mit den unterschiedlichen Leistungsträgern (bspw. Jobcenter, Agentur für Arbeit) ist dabei zwingend notwendig (vgl. BORA-Empfehlungen 2014, S. 3). Die BORA-Empfehlungen unterscheiden insgesamt fünf Zielgruppen, die in Abbildung 1 im Einzelnen dargestellt sind:
Abb. 1: Die fünf BORA-Zielgruppen (Schay 2021)
Diese fallgruppenspezifische Orientierung dient zur Umsetzung von therapeutischen Angebots- und Leistungsstrukturen. Dabei ist eine individuelle und eine bedarfsorientierende Therapieplanung notwendig (vgl. BORA-Empfehlungen 2014, S. 12).
In der Adaptionsbehandlung werden überwiegend Rehabilitand*innen der Zielgruppe 3 und 4 behandelt, bei denen der Schwerpunkt u. a. auf Motivationsarbeit, Abstinenzfestigung, Umgang mit negativen Rückmeldungen und Ereignissen sowie der Einleitung weiterer Maßnahmen liegen muss (vgl. BORA-Empfehlungen 2014, S. 20, BMAS 2015). Die arbeitsbezogenen Interventionen in dieser Behandlungsphase – wie die interne/externe Belastungserprobung – sollen eine gezielte Indikation und therapeutische Zielsetzung einschließen (vgl. BORA-Empfehlungen 2014, 13 f.), um den Erwerb oder die Verbesserung verschiedener Kompetenzbereiche erreichen zu können. Dabei sind drei Grundebenen zu beachten:
Grundarbeitsfähigkeit
soziale Fähigkeiten
Selbstbild
4.3 Rechtliche Würdigung der Leistungen zur Eingliederung in der Adaptionsbehandlung
Die mit der DRV abgestimmten und genehmigten Konzepte der stationären Adaptionseinrichtungen und die Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 06.09.2007 (B14/7b AS 16/07 R – BSGE), vom 02.12.2014 (B14 AS 35/13 R RdNr. 20) und vom 03.09.2020 (B14 AS 41/19 R) bestätigen eindrücklich die Auffassung, dass für die Gewährung von existenzsichernden Leistungen nach dem SGB II nicht maßgebend ist, ob die/der Leistungsberechtigte in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, sondern ob sie/er unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes eine Erwerbstätigkeit von mindestens drei Stunden täglich bzw. 15 Stunden wöchentlich ausüben kann (vgl. § 7 Abs. 4, Pkt. 2 SGB II).
5 Berufliche Aktivitäten und Teilhabe in der Adaptionsbehandlung
Mit „berufliche Aktivitäten und Teilhabe“ werden die Maßnahmen beschrieben, die in Adaptionseinrichtungen zur Förderung der beruflichen (Re-)Integration durchgeführt werden.
„Arbeitsbezogene Leistungen sind […] individuell, umfassend, zielorientiert und so konkret, wie es für den Individualfall nötig ist, realistisch, flexibel und gemeinsam mit den Rehabilitanden zu planen und schlüssig, ergebnisorientiert durchzuführen.“ (Wiegand 2012, S. 46)
Zu Beginn der Adaptionsbehandlung liegt der Fokus auf der Vermittlung lebenspraktischer Fertigkeiten. Bei ausreichender Stabilität und Leistungsfähigkeit werden die Rehabilitanden in eine Belastungserprobung oder ein betriebliches Praktikum vermittelt. Im Rahmenkonzept der DRV (2019, S. 10) heißt es: „Aufgabe dieser Maßnahmen ist, die Fähigkeit der Rehabilitanden im Bereich Arbeitshandlungen zu erweitern und zu verbessern“. Hierbei sind insbesondere folgende Maßnahmen wichtig:
Maßnahmen zur Stärkung von Ausdauer und Motivation
Maßnahmen zur Erweiterung der sozialen Kompetenz und zur Entwicklung von Eigeninitiative am Arbeitsplatz wie auch im alltäglichen Leben
Hilfen zur Problembewältigung am Arbeitsplatz
Hilfen zur Überprüfung von Selbsteinschätzung und Fremdbeurteilung
Die Leistungen zur Unterstützung von Jugendlichen, jungen Erwachsenen und Erwachsenen mit Behinderungen und komplexem Unterstützungsbedarf stellen einen gleichberechtigten Zugang zur sozialen Teilhabe sicher. „Hierzu bedarf es teilhabeorientierter, trägerübergreifender und individueller passgenauer Unterstützungssettings, die auf der Grundlage eines Reha-Managements in den verschiedenen Systemen der beruflichen Ausbildung […] eingesetzt werden können.“ (BAG BBW 2014, S. 3)
Das Ziel der Verbesserung der sozialen Teilhabe muss in der Adaptionsbehandlung entsprechend bei arbeitsmarktintegrativen Maßnahmen nach § 16 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 45 SGB III durch das Hilfesystem konsequent verfolgt werden. Dies gilt insbesondere deshalb, weil durch die Forschung gut belegt ist, dass Arbeitslosigkeit ein erheblicher Risikofaktor ist, der die Entwicklung bzw. Verschlimmerung von Suchtproblemen begünstigen kann (vgl. Henke 2019).
Die Rehabilitand*innen müssensich darauf verlassen können, dass sie von den Mitarbeiter*innen der Adaptionsbehandlung konsequent in ihren Möglichkeiten der sozialen und beruflichen Teilhabe unterstützt zu werden.
Es muss schrittweise in der Behandlung möglich sein, ihre Einstellung zur „Eingliederung in Arbeit“ zu hinterfragen und ggf. zu ändern, um eine mögliche berufliche Perspektive zu entwickeln.
Voraussetzung dafür ist eine enge und verbindliche Kooperationsvereinbarungzwischen der Einrichtung und dem Jobcenter, um alle Leistungen für die Rehabilitand*innen nutzen zu können.
Die systematische Umsetzung entsprechender Maßnahmen ist von grundlegender Bedeutung, da ALG-II-Bezieher überwiegend nur geringe Integrationschancen haben. Die hochbelastete Gruppe der Menschen mit vielfältigen Vermittlungshemmnissen (hier: Abhängigkeits- und psychisch Kranke) bedarf entsprechender Unterstützung und Begleitung (vgl. Henke 2019, S. 40 f.).
„[…] die Stärkung der beruflichen Wiedereingliederung von Suchterkrankten muss deutlich verbessert und dauerhaft sichergestellt sein.“ (Blienert et. al. 2021)
Kontakt:
Peter Schay
c/o Kadesch gGmbH
Martinstraße 1
44652 Herne
pschay@t-online.de
Angaben zum Autor:
Peter Schay: M.Sc. Integrative Psychotherapie, Dipl. Supervisor, Approbation als KuJ-Psychotherapeut, Erlaubnis zur Psychotherapie nach dem HPG. Peter Schay war 25 Jahre Geschäftsführer der Kadesch gGmbH Herne, die für junge Menschen mit Abhängigkeitserkrankung die Angebote der sozialen und medizinischen Rehabilitation vorhält.
Literatur:
Adlon, N., Wißmann, R. (2020): Vorwort, in: Seitenwechsel. Arbeitskreis der Arbeitsmaßnahmen für Menschen mit Suchterkrankungen in NRW, hrsg. v. Landeskoordinierungsstelle berufliche und soziale Integration Suchtkranker in NRW, Paderborn, S. 5-7
Blienert, B., Niermann, K.-F. (2021): Warum es Zeit ist, Cannabis zu legalisieren, in: „Die Welt“, 26.10.2021, Hamburg
Bundesagentur für Arbeit (2009): SGB II – Arbeitshilfe Arbeitsgelegenheiten (AGH) nach § 16d SGB II (Stand: 07/2009)
Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke e. V. (BAG BBW) (Hg.) (2014): Der junge Mensch im Mittelpunkt: Reha-Erstausbildungen für junge Menschen mit Behinderung und komplexem Unterstützungsbedarf. Ein Beitrag zur Diskussion des Bundesteilhabegesetzes
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2015): Arbeitsgruppe Bundesteilhabegesetz – Abschlussbericht, Berlin
Bundessozialgericht (BSG) (2007): Urteil vom 06.09.2007 – B14/7b AS 16/07 R – BSGE – Grundsicherung für Arbeitssuchende, Kassel
Bundessozialgericht (BSG) (2014): Urteil vom 02.12.2014 – B14 AS 35/13 R Rd.Nr. 20 – Grundsicherung für Arbeitssuchende, Kassel
Bundessozialgericht (BSG) (2020): Urteil vom 03.09.2020 – B 14 AS 41/19R – Grundsätze für Arbeitsuchende – Leistungsausschluss bei längerer stationärer Unterbringung – Aufenthalt zur Entwöhnungsbehandlung in einem Adaptionshaus – Gesamtverantwortung für die alltägliche Lebensführung – Einflussnahme der Einrichtung nach dem Therapiekonzept, Kassel
Deutsche Rentenversicherung (DRV) (2012): Anforderungsprofil zur Durchführung der Medizinisch-beruflich orientierten Rehabilitation (MBOR) im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung
Deutsche Rentenversicherung (DRV) (2019): Rahmenkonzept der Deutschen Rentenversicherung zur Adaption in der medizinischen Rehabilitation abhängigkeitskranker Menschen vom 27. März 2019
Fachverband Sucht e. V. (FVS) (2020): Basisdokumentation 2019. Ausgewählte Daten zur Entwöhnungsbehandlung im Fachverband Sucht e. V., Reihe: Qualitätsförderung in der Entwöhnungsbehandlung Band 27, Bonn
Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e. V. (GVG) (2010): Die medizinische Rehabilitation – Ein Überblick, Schriftenreihe Bd. 66, Köln
Henke, J., Henkel, D., Nägele, B., Wagner, A. (2019): Erhebung von Ansätzen guter Praxis zur Integration Suchtkranker ins Erwerbsleben nach dem SGB II. Ergebnisse einer bundesweiten Befragung der Jobcenter, in: Suchttherapie 2019, 20: 39-47
Koch, A., Schay, P., Voigt, W. (Hg.) (2017): Die Adaptionsbehandlung. Handbuch zur zweiten Phase der stationären medizinischen Rehabilitation bei Abhängigkeitskranken, Lengerich
Leune, J. (2009): Arbeit und Beschäftigung als zentrale Integrationsaufgabe, in: Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Hg.): Krise als Chance, Forum Sucht, Band 42, ISSN 0942-2382, Münster, S. 18-28
Stöver, H. (2011): Drogenpolitik und Drogenarbeit: Wandel tut not, in: Schäffer, D., Stöver, H. (Hg.): Drogen-HIV/AIDS-Hepatitis. Ein Handbuch, Deutsche AIDS-Hilfe e. V., Berlin, 30-45
Wiegand, G. (2012): Die Bedeutung der beruflichen Teilhabeförderung bei Leistungen zur medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker aus Sicht eines Vertreters eines regionalen Leistungsträgers, in: SuchtAktuell, Zeitschrift des Fachverbandes Sucht e. V., Jg. 20/01.13, Bonn, S. 44-48
Der Forschungsverbund PREPARE beschäftigt sich mit der Prävention und Behandlung von substanzbezogenen Störungen bei Geflüchteten. Ein Teilprojekt – geleitet von Prof. Dr. Ingo Schäfer und Dr. Annett Lotzin, Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS) der Universität Hamburg – befasst sich mit der Entwicklung und Evaluation eines Behandlungsprogrammes für geflüchtete Menschen mit psychischen Belastungen nach traumatischen Erfahrungen und Suchtproblemen.
Dieses Projekt wird unter Mithilfe lokaler Suchtberatungs- und Therapiezentren an den jeweiligen Forschungsstandorten durchgeführt. Condrobs e. V. vertritt hierbei den Bereich Süddeutschland und sucht noch Teilnehmer für das neue Behandlungsangebot!
Ziel des Projekts ist es, einen kultursensiblen Therapieansatz für Geflüchtete mit riskantem Substanzkonsum und posttraumatischer Belastungsstörung zu entwickeln und zu einer emotionalen Stabilisierung und Reduktion des Konsums zu verhelfen. Die Zielgruppe sind männliche Geflüchtete ab 18 Jahre. Warum nur männliche Probanden? Zum einen ist die angesprochene Problematik besonders bei männlichen Personen zu beobachten. Zum anderen gibt es bereits explizite Forschungen und Ansätze für weibliche Betroffene.