Autor: Simone Schwarzer

  • Angehende Psychotherapeut:innen schätzen ihre Kompetenzen oft falsch ein

    Eine aktuelle Studie zeigt, dass angehende Psychotherapeut:innen ihre psychotherapeutischen Kompetenzen oft unter- oder überschätzen. Das liefert wichtige Hinweise für Ausbildung und Beruf.

    Um Patient:innen wirksam psychotherapeutisch behandeln zu können, sind Praxiskompetenzen und eine realistische Bewertung dieser Kompetenzen essenziell. Wie gut können sich jedoch angehende Psychotherapeut:innen selbst einschätzen? Eine aktuelle Studie von Psycholog:innen der Universität Mannheim zeigt: Die Selbsteinschätzung der eigenen therapeutischen Kompetenzen weicht oft erheblich von der Bewertung durch Expert:innen ab – mit potenziellen Folgen für Ausbildung und Praxis.

    Die Studie wurde unter der Leitung von Prof. Dr. Georg W. Alpers am Lehrstuhl für Klinische und Biologische Psychologie und Psychotherapie der Universität Mannheim durchgeführt und ist in der Fachzeitschrift „Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie“ erschienen.

    Im Rahmen eines Gesprächsführungspraktikums führten 39 Masterstudierende des Studiengangs Klinische Psychologie und Psychotherapie Anamnesegespräche mit Simulationspatient:innen, die geschult worden waren, die Rolle eines/einer Patient:in einzunehmen. Eine Anamnese ist eine systematische Befragung von Patient:innen, bei der grundlegende Informationen zu ihrem Gesundheitszustand ermittelt werden. Anschließend bewerteten die Studierenden ihre eigenen therapeutischen Fähigkeiten. Diese Selbsteinschätzungen wurden mit den Bewertungen geschulter Expert:innen verglichen, die die Gespräche als Videoaufzeichnung zur Verfügung gestellt bekamen.

    Das Ergebnis: Die Übereinstimmung zwischen Selbst- und Fremdbewertung war gering. Vor allem Studierende mit überdurchschnittlich guter Leistung tendierten dazu, ihre Kompetenzen zu unterschätzen. Leistungsschwächere Studierende hingegen überschätzten oft ihre Fähigkeiten. Diese Gruppe machte etwa ein Drittel der befragten Studierenden aus.

    Ein weiterer Befund: Studierende mit hoher therapeutischer Selbstwirksamkeitserwartung vor dem Praktikum bewerteten ihre Kompetenzen positiver, unabhängig von der tatsächlichen Leistung. Mit Selbstwirksamkeit ist der Glaube an die eigene Fähigkeit gemeint, therapeutisch wirksam zu sein.

    „Unsere Ergebnisse zeigen, dass Selbstreflexion allein nicht ausreicht, um die eigenen Kompetenzen realistisch einzuschätzen“, sagt wissenschaftliche Mitarbeiterin und Erstautorin Dr. Laura-Ashley Fraunfelter. „Es braucht gezielte Rückmeldungen und Trainings, um Verzerrungen in der Selbstwahrnehmung zu erkennen und zu korrigieren.“

    „Individuelles Feedback von Lehrenden oder geschulten Fachleuten ist zwar aufwendig und teuer“, erklärt Studienleiter Prof. Dr. Georg W. Alpers, „aber die Ergebnisse der Studie bestätigen, dass man auf diese Rückmeldungen nicht verzichten sollte, um die Studierenden bestmöglich auszubilden.“

    Um dies umzusetzen, wurde am Lehrstuhl von Alpers das Schauspielpatient:innen-Programm entwickelt, bei dem angehende Psychotherapeut:innen schwierige Gesprächssituationen einüben können. Unterstützung dafür gab es durch ein neues Programm des Wissenschaftsministeriums im Rahmen des „Fonds erfolgreich Studieren in Baden-Württemberg“. Mehr Informationen zum Projekt sind auch hier zu finden:
    https://www.sowi.uni-mannheim.de/alpers/news/schauspielpatienten-projekt-im-masterstudium/

    Originalpublikation:
    Fraunfelter, L.A.; Gerdes, A.; Alpers, G.W. (2025). Spieglein, Spieglein an der Wand: verzerrte Selbstbewertungen psychotherapeutischer Kompetenzen im Psychotherapie-Studiengang. Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie

    Pressestelle der Universität Mannheim, 28.5.2025

  • Effekt von Elternschaft

    Eine repräsentative Studie in dreißig europäischen Ländern zeigt, dass besonders Frauen mit niedrigem sozioökonomischen Status mit ihrem Leben weniger zufrieden sind als kinderlose Frauen in gleicher sozialer Lage. In den nordeuropäischen Ländern geht Elternschaft mit den höchsten Werten an Zufriedenheit und Sinn einher.

    Eine Studie von Dr. Ansgar Hudde und Professorin Dr. Marita Jacob am Department für Soziologie und Sozialpsychologie der Universität zu Köln hat gezeigt, dass Elternschaft mit einer geringeren Lebenszufriedenheit, aber einem höheren Sinn im Leben verbunden ist. Die Ergebnisse sind unter dem Titel „Parenthood in Europe: Not More Life Satisfaction, but More Meaning in Life“ in der Fachzeitschrift Journal of Marriage and Family veröffentlicht.

    Untersucht wurden zwei zentrale Komponenten des Wohlbefindens bei Erwachsenen mit und ohne Kinder: Lebenszufriedenheit und Sinn im Leben. Die Analyse der Soziolog*innen basiert auf Daten von über 43.000 Teilnehmenden aus dreißig Ländern, die im Rahmen des European Social Survey regelmäßig befragt werden. Sie bewerteten unter anderem, wie zufrieden sie insgesamt aktuell mit ihrem Leben sind und ob sie ihre Lebensinhalte im Allgemeinen als wertvoll und lohnend ansehen. „Die bisherigen Debatten über Elternschaft haben sich zu sehr auf Glück und Zufriedenheit konzentriert“, sagt Hudde. „Unsere Studie zeigt: Wer Kinder hat, lebt nicht automatisch zufriedener – aber häufiger mit dem Gefühl, dass das eigene Leben sinnvoll und wertvoll ist.“

    Die Studie zeigte zudem, dass er Zusammenhang zwischen Elternschaft und Lebenszufriedenheit je nach sozialen Umständen und nationalem Kontext variiert. Wer zufriedener ist – Eltern oder Kinderlose – unterscheidet sich somit nach Geschlecht und soziökonomischem Status. Betrachtet man etwa Frauen mit niedrigem sozioökonomischem Status, sind diejenigen mit Kindern weniger zufrieden als die ohne Kinder in gleicher sozialer Lage. Bei Frauen mit höherem sozioökonomischem Status sowie bei Männern insgesamt sind die Unterschiede zwischen denen mit und ohne Kinder dagegen gering. Die Beziehung zwischen Elternschaft und Sinn im Leben ist jedoch über sozioökonomische Gruppen und nationale Kontexte hinweg ähnlich: Wer Kinder hat, empfindet sein Leben im Schnitt als sinnvoller und wertvoller.

    Dennoch ist Elternschaft nicht zwangsläufig ein „Trade-Off“ zwischen weniger Zufriedenheit und mehr Sinn im Leben. Das zeigt der Vergleich zwischen europäischen Regionen. Unter bestimmten Bedingungen, wie beispielsweise dem kulturellen und politischen Kontext der nordischen Länder, ist Elternschaft sowohl mit einer höheren Lebenszufriedenheit als auch mit Lebenssinn verbunden, zwei Schlüsselkomponenten eines guten Lebens.

    „Die Ergebnisse zeigen, dass gute Rahmenbedingungen beides ermöglichen können: Sinn und Zufriedenheit“, sagt Hudde. „Ende der 2000er Jahre haben international viele Beobachter gestaunt, wie sehr sich die deutsche Familienpolitik nach vorne bewegt hat – mit Kita-Ausbau und Elterngeld nach skandinavischem Vorbild. Von diesem Schwung ist aber heute kaum noch etwas zu spüren. Auch heute braucht es wieder neue Initiativen, um Familien besser zeitlich zu entlasten und finanziell zu unterstützen.“

    Hudde und Jacob arbeiten derzeit an weiteren Analysen zum Zusammenhang zwischen Elternschaft, Zufriedenheit und empfundenem Sinn. Ein weiteres Ergebnis aus laufender Arbeit zeigt: Der Effekt von Elternschaft zeigt sich nicht nur im Vergleich von Menschen mit und ohne Kinder, sondern auch im Vorher-Nachher-Vergleich. Zur Geburt des ersten Kindes steigt die Lebenszufriedenheit – sinkt aber schnell wieder. Der empfundene Sinn im Leben bleibt dagegen dauerhaft erhöht.

    Originalpublikation:
    https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/jomf.13116

    Pressestelle der Universität zu Köln, 26.5.2025

  • Nationale Dunkelfeldstudie

    12,7 Prozent der Befragten haben angegeben, mindestens einmal im Leben von sexualisierter Gewalt betroffen gewesen zu sein. Daher muss von einem großen Dunkelfeld ausgegangen werden, so das Ergebnis einer repräsentativen Studie, die die Häufigkeit und die Kontexte von sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche untersucht hat. Die Studie wurde vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit initiiert und im Rahmen des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit zusammen mit der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik in Ulm und dem Kriminologischen Institut in Heidelberg in Kooperation mit dem Umfrageinstitut infratest dimap durchgeführt.

    Die erste bundesweite, repräsentative Studie, die nicht nur die Häufigkeit sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche untersucht, sondern auch die Kontexte der Taten sowie deren Folgen beleuchtet, zeigt, dass das Ausmaß von Missbrauch in Deutschland erheblich ist. 12,7 Prozent der Befragten gaben an, mindestens einmal im Leben von sexualisierter Gewalt betroffen gewesen zu sein. Bezogen auf die Grundgesamtheit der 18- bis 59-Jährigen in Deutschland entspricht das 5,7 Millionen Menschen, die in ihrem Leben sexualisierte Gewalt erlebt haben. Daher muss nach wie vor von einem großen Dunkelfeld ausgegangen werden, obwohl das Bewusstsein um die Problematik in den vergangenen Jahren in Deutschland gewachsen ist. Betroffen sind vor allem Frauen, als Täter werden hingegen mehrheitlich Männer angegeben. Die Studie wurde mit Eigenmitteln der wissenschaftlichen Institute sowie mit finanzieller Unterstützung der WEISSER RING Stiftung, des Vereins Eckiger Tisch sowie des Kinderschutzbunds finanziert.

    Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist auch in Deutschland ein weit verbreitetes Phänomen. Der Kinderschutz und der Umgang mit den Folgen früher Kindheitsbelastungen stellt die medizinische Versorgung vor große Herausforderungen. Seit vielen Jahren wird kritisiert, dass es keine wissenschaftlich verlässlichen Daten zum Ausmaß sexualisierter Gewalt in Deutschland gibt. Nach wie vor ist neben dem tatsächlichen Ausmaß auch zu wenig über die genauen Tatkontexte bekannt, um gezielt und effektiv vorbeugen zu können.

    Fast 13 Prozent haben sexualisierte Gewalt erlebt

    Um Abhilfe zu schaffen, hat das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) im Rahmen des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit (DZPG) zusammen mit der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Ulm und dem Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg die erste deutschlandweite, repräsentative Studie durchgeführt, die neben dem Ausmaß auch die Umstände und Folgen der Taten berücksichtigt. Demnach gaben 12,7 Prozent der Befragten an, im Kindes- oder Jugendalter sexualisierte Gewalt erfahren zu haben.

    Betroffen sind zumeist Frauen

    Die Betroffenenrate bei Frauen lag mit 20,6 Prozent deutlich höher als bei Männern (4,8 Prozent). Das bedeutet, über 20 Prozent aller befragten Frauen gaben an, von sexualisierter Gewalt im Kindes- und Jugendalter betroffen zu sein. In der jüngeren Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen war dieser Anteil mit 27,4 Prozent sogar noch höher.

    „Die Ergebnisse weisen auf ein erhebliches Dunkelfeld hin, das im Vergleich zu früheren Untersuchungen nicht abgenommen hat, obwohl das Bewusstsein um die Problematik gewachsen ist und Präventionsmaßnahmen in Deutschland ausgeweitet wurden“, sagt Prof. Dr. Harald Dreßing, Koordinator der Studie und Leiter der Forensischen Psychiatrie am ZI. Auf die Frage nach dem Täter oder der Täterin gab ein Großteil der Betroffenen einen männlichen Täter an. Nur 4,5 Prozent der befragten Personen haben sexualisierte Gewalt durch eine Frau erfahren.

    Sexualisierte Gewalt am häufigsten in der Familie

    Auch der Kontext der Taten wurde in der Studie erfragt. Demnach berichteten Betroffene am häufigsten, in der Familie oder durch Verwandte sexualisierte Gewalt erfahren zu haben. Auffällig war, dass Männer deutlich häufiger sexualisierte Gewalt in Sport- und Freizeiteinrichtungen, im kirchlichen Kontext und im Rahmen der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe erlebten. Das Forschungsteam macht deutlich, dass diese Unterschiede die Notwendigkeit zeigen, differenzierte Schutzkonzepte für Kinder und Jugendliche zu entwickeln.

    Digitale Kanäle spielen eine wichtige Rolle

    Bei fast einem Drittel der Fälle (31,7 Prozent aller Befragten) spielten digitale Kanäle, also beispielsweise Social Media, Messenger-Dienste und Chats, eine wichtige Rolle. In diesen Fällen ging es unter anderem um die ungewollte Zusendung pornographischen Materials, Aufforderungen zu sexuellen Handlungen oder Zwang und Druck, sexuelle Bilder und Videos zu teilen. 61,9 Prozent der Betroffenen, die sexualisierte Gewalt in der realen Welt erfahren haben, haben auch sexualisierte Gewalt in den sozialen Medien erlebt.

    Angst führt zu Schweigen

    Über ein Drittel (37,4 Prozent) der Betroffenen hatte bisher nicht mit anderen Personen über die erlebte sexualisierte Gewalt gesprochen. Als Grund hierfür berichteten Betroffene häufig Schamgefühle und die Angst, dass einem nicht geglaubt werde. „Das zeigt, dass es immer noch ein erhebliches Dunkelfeld gibt und es vielfach an geschützten Räumen fehlt, in denen Menschen das Erlebte offen ansprechen können, ohne negative Konsequenzen fürchten zu müssen“, sagt Dreßing.

    Prävention und Versorgung verbessern

    Die Studie zeigt auch deutlich, dass das psychische Befinden der von sexualisierter Gewalt Betroffenen deutlich schlechter ist als das der Nichtbetroffenen. „Es ist wichtig, dass wir die Forschung zum Ausmaß und den Kontexten von sexualisierter Gewalt verstetigen und weiter voranbringen. Nur so können wir Präventionskonzepte und die gezielte medizinische Versorgung von Betroffenen wirklich verbessern“, sagt Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des ZI und Sprecher des DZPG-Standorts Mannheim-Heidelberg-Ulm. Zusammen mit dem Umfrageinstitut infratest dimap wurden deutschlandweit 10.000 Personen zwischen 18 und 59 Jahren schriftlich kontaktiert. Knapp über 3.000 Personen haben an der Befragung teilgenommen. Diese Rücklaufquote ist hoch und erlaubt belastbare Aussagen.

    Über die Studie und die Methodik

    Die Studie wurde mit Eigenmitteln der wissenschaftlichen Institute sowie mit finanzieller Unterstützung der WEISSER RING Stiftung, des Vereins Eckiger Tisch sowie des Kinderschutzbunds finanziert. In Zusammenarbeit mit dem Umfrageinstitut infratest dimap wurde eine für Deutschland repräsentative Bevölkerungsstichprobe von Personen, die zwischen 18 und 59 Jahren alt waren, mit Hilfe von Adressen der Einwohnermeldeämter erstellt. Den befragten Personen stand die Möglichkeit der Teilnahme auf schriftlich-postalischem Weg oder über eine Online-Befragung offen (Mixed-Mode-Design). Der Befragung lagen ein strukturierter Fragebogen sowie weitere etablierte und international verwendete Instrumente zugrunde. Darin wurde unter anderem nach spezifischen Tatbereichen, Tatzusammenhängen, der Tatanbahnung und der Offenlegung der erlebten Gewalt gefragt, den Folgen der Tat sowie der Bedeutung der sozialen Medien für die Missbrauchshandlungen.

    Über das DZPG
    Seit Mai 2023 arbeiten im Deutschen Zentrum für Psychische Gesundheit (DZPG) Expertinnen und Experten daran, durch gemeinsame Forschung die psychische Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern und psychische Erkrankungen zu entstigmatisieren. An sechs Standorten in Deutschland wirken hierfür Forscherinnen und Kliniker gemeinsam mit Expertinnen aus Erfahrung, also Betroffenen und ihnen Nahestehenden, sowie internationalen Wissenschaftlern zusammen. Unter www.dzpg.org finden Interessierte Informationen zur Organisation, zu Forschungsprojekten und Zielen sowie informative Texte und hilfreiche Links rund um das Thema psychische Gesundheit.

    Das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, die Universität Heidelberg und die Universität Ulm bilden in diesem Kontext den gemeinsamen DZPG-Standort Mannheim-Heidelberg-Ulm, auf dessen Initiative die Dunkelfeldstudie zur sexualisierten Gewalt gegen Kinder und Jugendliche als exemplarisches, anwendungsbezogenes Projekt gefördert wird.

    Originalpublikation:
    Harald Dreßing, Andreas Hoell, Leonie Scharmann, Anja M. Simon, Ann-Christin Haag, Dieter Dölling, Andreas Meyer-Lindenberg, Joerg Fegert: Sexual Violence Against Children and Adolescents: A German Nationwide Representative Survey on Its Prevalence, Situational Context, and Consequences. Dtsch Arztebl Int 2025; 122: 285–91. DOI: 10.3238/arztebl.m2025.0076. Link: https://www.aerzteblatt.de/10.3238/arztebl.m2025.0076

    Pressestelle des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit, 2.6.2025

  • Therapie-Basics EMDR

    Beltz Verlag, Weinheim 2025, 117 Seiten mit Online-Material, 35,00 €, ISBN 978-3-621-29149-1

    EMDR ist eine etablierte psychotherapeutische Methode, die mit geleiteten Augenbewegungen arbeitet. Das Ziel ist es, die eigenen Selbstheilungskräfte durch die rhythmische Augenbewegung zu aktivieren und belastende Erinnerungen zu verarbeiten. EMDR kommt ursprünglich aus der Traumatherapie, wird aber inzwischen auch bei Depression, Ängsten u.v.m. eingesetzt.

    Die Reihe „Therapie-Basics“ vermittelt psychotherapeutische Grundlagen kompakt und verständlich. Die modulare Struktur ermöglicht ein schnelles Auffinden und gezieltes Aneignen der Inhalte.

    • Zentrale Begriffe, Techniken und Therapieverlauf anschaulich aufbereitet
    • Arbeitsblätter zur Selbstreflexion und Wissensüberprüfung
    • Fallbeispiele und Dos und Don’ts für die therapeutische Praxis

  • NEWS-Update Mai 2025

    Das NEWS-Projekt – National Early Warning System: Bundesweites Frühwarnsystem zu Neuentwicklungen im Bereich psychoaktiver Substanzen und Medikamentenmissbrauch – hat ein Update mit aktuellen Auswertungen veröffentlicht. An der Erhebung per Online-Fragebogen haben sich dieses Mal 240 Expert:innen und 111 Konsumierende beteiligt.

    Im Update wird die Situation rund um synthetische Opioide weiterhin als nicht höchst kritisch bewertet, es mehren sich aber die Anzeichen für ungünstige Entwicklungen. Eine enge Beobachtung der Lage ist nach wie vor dringend notwendig. Das Update geht auch auf andere Entwicklungen ein, u. a. bei synthetischen Cathinonen und Cannabinoiden sowie Kratom. Zu folgenden Substanzen bzw. Substanzgruppen werden Ergebnisse im Detail dargestellt: NPS, Medikamente: Opioide und Benzodiazepine, THC, Lachgas, Kokain, Crack, Ketamin, Kratom, Amphetamin, MDMA und Metamphetamin.

    Außerdem enthält das Update zahlreiche Lese-, Hör- und Videoempfehlungen. Es steht zum Download bereit unter: https://mindzone.info/news/updates/

    Mitteilung des NEWS-Projektes, 28.5.2025

  • KIM-Studie 2024 veröffentlicht

    Die Internetnutzung ist für viele Kinder heute ein selbstverständlicher Teil ihres Alltags – und sie beginnt immer früher. Die KIM-Studie 2024 des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest zeigt: Mehr als die Hälfte der internetnutzenden Sechs- bis 13-Jährigen ist täglich online. Damit verschiebt sich die intensive Nutzung digitaler Angebote bis ins Grundschulalter – oft inklusive der Nutzung von Social Media, obwohl diese laut Nutzungsbedingungen erst ab 13 Jahren erlaubt ist. Vor diesem Hintergrund gewinnen Fragen der elterlichen Begleitung und altersgerechter Angebote weiter an Bedeutung. Die Studie wurde anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Studienreihe im Rahmen der „Woche der Medienkompetenz“ in Ludwigshafen veröffentlicht.

    Die Intensität der Internetnutzung nimmt zu: 54 Prozent der Kinder, die online sind, nutzen das Internet täglich – ein Anstieg um sieben Prozentpunkte im Vergleich zu 2022. Besonders dynamisch ist die Entwicklung bei den online aktiven Acht- bis Neunjährigen: Hier hat sich der Anteil der täglichen Nutzung innerhalb von zwei Jahren fast verdoppelt – von 23 Prozent auf 40 Prozent. Dementsprechend nimmt auch das Smartphone als wichtigster Zugangsweg zum Internet im Alltag eine große Rolle ein. Knapp die Hälfte der Kinder (46 Prozent) verfügt bereits über ein eigenes Gerät. Eine Entwicklung, die auch in den Schulen zu Handlungsbedarf führt: 77 Prozent der Kinder mit eigenem Gerät geben an, ihr Handy grundsätzlich in die Schule mitbringen zu dürfen. In den meisten Schulen ist die Nutzung aber klar reglementiert: Der Großteil darf das Smartphone nur in den Pausen verwenden (63  Prozent), ein Fünftel (22  Prozent) gar nicht. Nur drei Prozent berichten, dass sie ihr Handy jederzeit nutzen dürfen.

    Online-Plattformen gewinnen weiter an Relevanz im Bereich Bewegtbild

     Ein besonders deutlicher Wandel zeigt sich beim Bewegtbildkonsum: Seit Beginn der Studienreihe im Jahr 1999 dominierten die Kindersender KiKA und Super RTL die Liste der beliebtesten Angebote. In der KIM-Studie 2024 wurde mit Netflix nun erstmals ein Streamingdienst zur beliebtesten Plattform für Filme, Serien und Videos – mit 21 Prozent liegt er klar vor KiKA (14  Prozent) und YouTube (elf Prozent), wenngleich der öffentlich-rechtliche Kindersender weiterhin das wöchentlich am meisten genutzte Angebot ist. Dazu hebt Prof. Dr. Kai Gniffke, Intendant des SWR, hervor: „Der KiKA bleibt mit seinen kindgerechten, werbefreien und hochwertigen Inhalten ein zentraler Bestandteil im Alltag von Kindern – trotz wachsender Konkurrenz durch kommerzielle und internationale Anbieter.“

    Die Entwicklung unterstreicht einen grundlegenden Strukturwandel: Während Kinder früher vorrangig auf redaktionell kuratierte Fernsehangebote zurückgriffen, werden heute zunehmend auch Plattformen genutzt, auf denen sie aus einem nahezu unbegrenzten Angebot Inhalte individuell auswählen können. Das gilt insbesondere für YouTube, das aktuell auf Platz drei liegt – eine Plattform, auf der, für Kinder kaum unterscheidbar, altersgerechte und nicht altersgerechte Inhalte direkt nebeneinanderstehen.

    „Die Ergebnisse der KIM-Studie zeigen eindrucksvoll, wie stark sich Streamingdienste und Plattformen wie YouTube im Medienalltag von Kindern etabliert haben. Damit einher geht eine Verschiebung weg von redaktionell betreuten Inhalten hin zu offenen Plattformen mit kaum kontrollierbarem Angebot. Daher brauchen Kinder bei ihren ersten Schritten im Netz gezielte Begleitung durch Eltern und Bildungseinrichtungen, um den sicheren Umgang mit Medien zu erlernen und vor Gefahren geschützt zu sein“, sagt Dr. Wolfgang Kreißig, Präsident der Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg (LFK).

    Begleitung durch Eltern bleibt ausbaufähig

    Gerade im Hinblick auf die elterliche Medienbegleitung zeigt die KIM-Studie 2024 Handlungsfelder auf. So geben von den Eltern, deren Kinder über ein eigenes Smartphone verfügen, 43 Prozent an, eine Bildschirmzeit am Smartphone einzustellen. 39 Prozent überprüfen die Nutzungsdauer und etwa ein Viertel bespricht die Bildschirmzeit gemeinsam mit ihren Kindern – 55 Prozent verzichten jedoch vollständig auf technische oder begleitende Maßnahmen zur Steuerung der Nutzungszeit. Besonders relevant wird elterliche Begleitung auch im Hinblick auf Social Media: Viele Kinder nutzen Plattformen wie TikTok oder Instagram, obwohl sie das erforderliche Mindestalter von 13 Jahren noch nicht erreicht haben. Die KIM-Studie zeigt, dass solche Angebote im Alltag der Kinder etabliert sind – Altersgrenzen werden dabei häufig umgangen oder ignoriert.

    Dr. Marc Jan Eumann, Direktor der Medienanstalt RLP, betont: „Kinder bewegen sich oft allein im Netz und sind dabei erheblichen Gefahren ausgesetzt. Die großen Plattformen werden ihrer Verantwortung nicht gerecht, denn eigentlich ist der Zugang zu TikTok, Instagram und Co erst ab 13 Jahren erlaubt – doch Alterskontrollen sind Fehlanzeige. Was Erziehungsberechtigte selbst zum Wohl ihrer Kinder tun können, zeigt unsere EU-Initiative klicksafe.“

    Weitere Ergebnisse und den vollständigen Studienbericht finden Sie HIER.

    Gemeinsame Pressemitteilung Forschungsverbund Südwest, 2.6.2025

  • Internetsucht: Eltern stärken!

    Autor:innen: Isabel Brandhorst, Kay Petersen, Sara Hanke, Gottfried Maria Barth, Anil Batra

    Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2025, 120 Seiten, 35,00 €, ISBN 978-3-17-039472-8

    Wenn die Nutzung von Computerspielen oder sozialen Netzwerken bei jungen Menschen außer Kontrolle gerät, leidet meist die ganze Familie. In dem erfolgreich evaluierten Therapieprogramm „Internetsucht: Eltern stärken!“ (ISES!) lernen pädagogische und therapeutische Fachkräfte, wie sie Eltern wirksam unterstützen können. Das Ziel des Gruppentrainings besteht darin, die belastete Eltern-Kind-Beziehung wieder mit emotionaler Wärme zu füllen, eine wertschätzende Familienkommunikation zu etablieren und ein wirksames Erziehungsverhalten bzgl. der Mediennutzung einzuüben.

  • Europäischer Drogenbericht 2025

    Der rasche Wandel auf dem europäischen Drogenmarkt schafft neue Gesundheits- und Sicherheitsrisiken und stellt die Reaktionsfähigkeit der EU auf den Prüfstand. Diese Warnung spricht die Drogenagentur der Europäischen Union (EUDA) in ihrem „Europäischen Drogenbericht 2025: Trends und Entwicklungen“ aus, der am 5.6.2025 veröffentlicht wurde.  Anhand von Daten aus 29 Ländern (EU-27, Norwegen und der Türkei) aus dem Jahr 2023 oder dem neuesten verfügbaren Jahr werden die neuesten Trends und neu aufkommende Bedrohungen aufgezeigt. Der Bericht steht (vorläufig nur auf Englisch) auf der Website der EUDA zur Verfügung. Wer tiefer in die europäischen Daten einsteigen möchte, kann sich im ebenfalls neu erschienenen Statistischen Bulletin informieren.

    In dieser 30. Ausgabe des Berichts wird aufgezeigt, wie sich der europäische Drogenmarkt ständig weiterentwickelt und wie sich Drogenhändler und Drogenkonsum an die geopolitische Instabilität, die Globalisierung und die technologischen Fortschritte anpassen. In dem Bericht wird zudem vor Risiken für die öffentliche Gesundheit gewarnt, die von der Verfügbarkeit und dem Konsum eines immer vielfältigeren Spektrums von Substanzen ausgehen, die häufig einen hohen Wirkstoffgehalt und einen hohen Reinheitsgrad aufweisen. Der polyvalente Drogenkonsum gibt nach wie vor Anlass zur Sorge und erschwert die wirksame Durchführung von Maßnahmen zur Prävention, Behandlung und Schadensminimierung.

    Die EUDA unterstützt die EU und ihre Mitgliedstaaten darin, neue drogenbedingte Herausforderungen vorherzusehen und darauf zu reagieren. Dabei setzt sie auf eine Reihe neuer Aktivitäten, etwa gezielte Warnmeldungen, zeitnahe Bedrohungsanalysen, die Nachverfolgung von Drogenausgangsstoffen und eingehende forensische und toxikologische Analysen. Zu den neuen Bedrohungen, die in dem Bericht aufgezeigt werden und auf die die Mitgliedstaaten vorbereitet sein müssen, gehören synthetische Cathinone, hochwirksame synthetische Opioide und starke Cannabisprodukte.

    Der europäische Markt für Stimulanzien: Cathinone auf dem Vormarsch

    In dem Bericht wird auf die gestiegene Verfügbarkeit von synthetischen Cathinonen aufmerksam gemacht, die sich in „noch nie dagewesenen Einfuhren und Beschlagnahmungen“ niederschlägt. Dabei handelt es sich um synthetische Stimulanzien, die chemisch dem Cathinon, dem Wirkstoff von Khat, ähneln. Im Jahr 2023 wurden insgesamt mindestens 37 Tonnen synthetischer Cathinone gemeldet (im Jahr 2022 waren es noch 27 Tonnen und 2021 lag die Zahl bei 4,5 Tonnen). Dabei handelte es sich hauptsächlich um eine kleine Anzahl von Einfuhren sehr großer Mengen aus Indien, vor allem über die Niederlande.

    Im Rahmen des EU-Frühwarnsystems (EWS) für neue psychoaktive Substanzen (NPS) wurden im Jahr 2024 sieben neue synthetische Cathinone identifiziert, womit sich die Gesamtzahl dieser Substanzen, die in Europa unter Beobachtung stehen, auf 178 erhöht. Vor Kurzem hat die EUDA Risikobewertungen für drei neue synthetische Cathinone durchgeführt: für 2-Methylmethcathinon (2-MMC), 4-Bromomethcathinon (4-BMC) und N-Ethylnorpentedron (NEP). Im Januar 2025 legte die Agentur die erste EU-weite Risikobewertung für acht chemische Grundstoffe vor, die zur Herstellung synthetischer Cathinone verwendet werden.

    Während der ungewollte Konsum synthetischer Cathinone in Drogengemischen und Tabletten nach wie vor Anlass zur Sorge gibt, kaufen Konsumierende diese Substanzen durchaus auch bewusst als favorisiertes Stimulans. Auch die Behandlungsdaten spiegeln die wachsende Präsenz von synthetischen Cathinonen wider, wobei eine erhöhte Zahl der erstbehandelten Patient:innen in den Ländern, aus denen diese Daten stammen, zu verzeichnen ist (ein Anstieg von 425 Patient:innen im Jahr 2018 auf 1.930 im Jahr 2023).

    Im Jahr 2023 wurden 53 Produktionsstätten für synthetische Cathinone, darunter einige große Anlagen, in der EU, vor allem in Polen, ausgehoben (zum Vergleich: 2022 waren es 29). Dies ist ein Beispiel für die Intensivierung der Drogenproduktion in Europa. Im Jahr 2023 wurden von den Behörden Produktionsanlagen in ganz Europa ausgehoben, darunter: 250 Anlagen für Methamphetamin, 93 für Amphetamin, 36 für MDMA und 34 für Kokain.

    Neue synthetische Opioide: Nitazene bergen eine hohe Gefahr von Vergiftungen mit Todesfolge

    Schätzungen der EUDA zufolge waren im Jahr 2023 7.500 drogenbedingte Todesfälle zu verzeichnen (gegenüber etwa 7.100 im Jahr zuvor), die hauptsächlich Opioide in Kombination mit anderen Substanzen betrafen. Der europäische Opioidmarkt entwickelt sich immer weiter, sodass neben Heroin inzwischen auch andere Substanzen erhältlich sind. Neue synthetische Opioide (synthetische Substanzen, die an die Opioidrezeptoren im Gehirn binden und in ihrer Wirkung weitgehend mit Heroin vergleichbar sind) spielen auf dem europäischen Drogenmarkt im Großen und Ganzen eine eher untergeordnete Rolle. In den baltischen Ländern hingegen sind sie überdurchschnittlich präsent. Doch auch in anderen EU-Mitgliedstaaten wachsen die Bedenken hinsichtlich ihrer Verwendung. Im Jahr 2024 veröffentlichte die EUDA einen Aufruf mit der Aufforderung an die Partner und Mitgliedstaaten der EU, gemeinsam gegen die wachsende Bedrohung vorzugehen, die von neuen synthetischen Opioiden ausgeht.

    Seit 2009 sind insgesamt 88 neue synthetische Opioide auf dem europäischen Markt in Erscheinung getreten. Diese sind oft hochwirksam, sodass erhöhte Vergiftungs- und Sterblichkeitsrisiken bestehen. Im Jahr 2024 handelte es sich bei allen sieben neuen synthetischen Opioiden, die über das EWS offiziell gemeldet wurden, um Nitazene. Aktuell stehen in Europa 22 Nitazene unter Beobachtung. Aus einer Bedrohungsanalyse, die von der EUDA kürzlich als Pilotprojekt mit Schwerpunkt auf neuen synthetischen Opioiden in den baltischen Staaten durchgeführt wurde, geht hervor, dass Nitazene für einen erheblichen Teil der Todesfälle durch Überdosierung in Estland und Lettland verantwortlich waren. Im Jahr 2024 meldeten mindestens sieben EU-Mitgliedstaaten und Norwegen Probleme im Zusammenhang mit Nitazen.

    In dem Bericht wird auf die gestiegene Verfügbarkeit gefälschter Arzneimittel aufmerksam gemacht, die Nitazene enthalten und mit denen in der Regel legale verschreibungspflichtige Arzneimittel (z. B. Oxycodon, Benzodiazepine) nachgeahmt werden. Dies ruft Bedenken hervor, dass diese Produkte von einem größeren Konsumentenkreis, darunter jungen Menschen, verwendet werden könnten.

    Aufgrund der hohen Wirksamkeit von Nitazenen bergen diese gefälschten Arzneimittel ein erhebliches Risiko für schwere Vergiftungen und Überdosierungen. Eine der wichtigsten Gegenmaßnahmen bei einer opioidbedingten Überdosierung ist die Verabreichung von Naloxon durch medizinisches Fachpersonal oder im Rahmen von Programmen zur Naloxon-Mitgabe (THN). Immer mehr Länder bieten THN-Programme an (im Jahr 2023 waren es 15 EU-Mitgliedstaaten, 2024 begannen drei weitere mit entsprechenden Pilotprogrammen).

    Dass in China zehn Nitazene reguliert werden, könnte zu einer  Marktverschiebung führen – weg von Nitazenen (z. B. Metonitazen, Protonitazen) hin zu neuartigen Derivaten oder alternativen Opioiden. Im Jahr 2024 wurden im Rahmen des Frühwarnsystems Substanzen aus der Familie der „Orphine“ (z. B. Cychlorphin, Spirochlorphin) identifiziert, was aufzeigt, dass eine genaue Beobachtung nötig ist.

    Es wird vermutet, dass eine künftige Heroinknappheit in Europa infolge des von den Taliban verhängten Verbots des Opiummohn-Anbaus und der Opiumproduktion in Afghanistan dazu führen könnte, dass Marktlücken in Europa durch synthetische Opioide geschlossen werden. Ebenso könnten sich aber auch Stimulanzien wie Kokain und synthetische Cathinone als Heroinersatz etablieren. In dem Bericht heißt es: „Vor dem Hintergrund dieser Unsicherheiten muss Europa seine Reaktionsfähigkeit verbessern, was die potenziellen Herausforderungen anbelangt, die sich aus einer solchen Marktverschiebung ergeben.“

    Hochwirksame Cannabis-Produkte und größere Verfügbarkeit von halbsynthetischen Cannabinoiden

    Die Entwicklungen auf dem Cannabismarkt gehen mit neuen Herausforderungen für die Länder einher, was ihre Gegenmaßnahmen zum Umgang mit dieser am häufigsten konsumierten illegalen Droge in Europa anbelangt – Schätzungen zufolge haben in den letzten zwölf Monaten 24 Millionen erwachsene Europäer:innen (im Alter von 15 bis 64 Jahren) Cannabis konsumiert. Der durchschnittliche THC-Gehalt von Cannabisharz hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt und betrug im Jahr 2023 bereits 23 Prozent, während Cannabiskraut einen nur halb so hohen THC-Gehalt aufwies (stabil bei elf Prozent). Heutzutage wird die Bewertung der cannabisbedingten Gesundheitsrisiken durch das breitere Angebot an verfügbaren Produkten, darunter hochwirksame Extrakte und Edibles, merklich erschwert.

    Einige Produkte, die auf dem illegalen Markt als Cannabis verkauft werden, können mit hochwirksamen neuen synthetischen Cannabinoiden versetzt sein, ohne dass die Konsumierenden davon wissen. Diese Substanzen ahmen die Wirkung von THC, dem wichtigsten psychoaktiven Wirkstoff von Cannabis, nach (und binden an dieselben Rezeptoren im Gehirn). Aufgrund der Regulierung synthetischer Cannabinoide in China seit 2021 ist die Verfügbarkeit dieser Substanzen in Europa zurückgegangen. Die Verfügbarkeit von halbsynthetischen Cannabinoiden (die aus CBD, einem anderen Wirkstoff der Hanfpflanze, hergestellt werden können), etwa Hexahydrocannabinol (HHC), das kürzlich internationalen Kontrollmaßnahmen unterworfen wurde, ist jedoch gestiegen. Im Jahr 2024 waren 18 der 20 neuen Cannabinoide, die über das Frühwarnsystem nachgewiesen wurden, halbsynthetisch. Im Juni 2024 meldete Ungarn Massenvergiftungen mit 30 akuten, nicht tödlich verlaufenden Fällen im Zusammenhang mit „Gummibärchen“, die hochwirksame halbsynthetische Cannabinoide enthielten.

    Auf politischer Ebene haben mehrere EU-Mitgliedstaaten (z. B. Deutschland, Luxemburg, Malta und die Niederlande) ihr Konzept zur Regulierung des Gebrauchs von Cannabis als Freizeitdroge geändert oder stellen eine Änderung in Aussicht. Diese Änderungen betreffen neue Vorschriften für den privaten Eigenanbau, nicht-gewerblich betriebene Clubs/Anbauvereine und den Cannabiskonsum im privaten Bereich.

    Die EUDA betont, dass diese Entwicklungen beobachtet und bewertet werden müssen, um die Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit, die Sicherheit und den Binnenmarkt vollständig zu verstehen.

    Kokain: zunehmende gesundheitliche Auswirkungen und hohe Verfügbarkeit

    Kokain ist das in Europa am häufigsten konsumierte illegale Stimulans und wurde im letzten Jahr von etwa 4,6 Millionen der europäischen Erwachsenen (im Alter von 15 bis 64 Jahren) eingenommen. Die Bedenken hinsichtlich der negativen Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit nehmen zu. Kokain ist die am zweithäufigsten gemeldete illegale Droge bei Personen, die sich erstmals in Drogentherapie begeben (35.000 im Jahr 2023 gegenüber 31.500 im Jahr zuvor). Daten aus Euro-DEN Plus Sentinel-Krankenhäusern aus dem Jahr 2023 deuten darauf hin, dass Kokain die am häufigsten gemeldete Substanz bei Personen ist, die in Notaufnahmen von Krankenhäusern behandelt werden. Es war in 25 Prozent (1.695) der Fälle akuter Drogenvergiftung beteiligt. Sowohl der injizierende Kokainkonsum als auch der Konsum von Crack werden in einer wachsenden Zahl von Ländern beobachtet. 2023 gab es schätzungsweise 9.900 Therapieaufnahmen im Zusammenhang mit Crack (8.100 im Jahr 2022).

    Die anhaltend hohe Verfügbarkeit von Kokain in Europa wird von den Daten über Sicherstellungen belegt. Im siebten Jahr in Folge beschlagnahmten die EU-Mitgliedstaaten Rekordmengen an Kokain: Im Jahr 2023 wurden 419 Tonnen sichergestellt (2022 waren es noch 323 Tonnen). Fast drei Viertel (72 Prozent) der beschlagnahmten Gesamtmenge entfielen auf Belgien (123 Tonnen), Spanien (118 Tonnen) und die Niederlande (59 Tonnen), womit deren Rolle als wichtigste Schleusen für die Einfuhr von Kokain nach Europa deutlich wird (vorläufige Daten für 2024 deuten auf eine Änderung der Situation hin). Auch andere Länder werden als Einfuhrschleusen ins Visier genommen, so z. B. Deutschland (43 Tonnen), Frankreich (23 Tonnen) und Portugal (22 Tonnen).

    Die Beschlagnahmen großer Mengen in den europäischen Häfen zeigen, wie illegale Drogenhändler nach wie vor kommerzielle Lieferketten für ihre Zwecke nutzen. Im Jahr 2024 meldete Spanien seinen bislang größten Fall sichergestellten Kokains (13 Tonnen), das in einer Bananenlieferung mit Ursprung in Ecuador versteckt war. Im Rahmen des EU-Fahrplans zur Bekämpfung des Drogenhandels und der organisierten Kriminalität zielt die Europäische Hafenallianz darauf ab, die Widerstandsfähigkeit der Häfen gegen den Drogenhandel und gegen die kriminelle Unterwanderung zu stärken.

    Der Wettbewerb auf dem illegalen Drogenmarkt leistet der Kriminalität im Zusammenhang mit Kokain, einschließlich Bandenkriminalität und Tötungsdelikten, Vorschub. Im Anschluss an die erste europäische Konferenz zum Thema drogenbedingte Gewalt veröffentlichte die EUDA im Jahr 2024 einen Aufruf zum Handeln, um die Spirale dieser Form der Gewalt zu durchbrechen. Dabei wurde betont, wie dringend eine sektorübergreifende Zusammenarbeit erforderlich ist, um mehr Sicherheit in Europa zu schaffen.

    Verschiedene Datenquellen, z. B. Abwasseranalysen, deuten darauf hin, dass sich die in den letzten Jahren stetig zunehmende Verfügbarkeit von Kokain in der EU auf den Konsum dieser Droge auswirkt. In mehr als der Hälfte der Städte, aus denen Daten für 2023 und 2024 verfügbar sind, war eine Zunahme der Kokainrückstände im kommunalen Abwasser festzustellen. Da die geschätzte Zeitspanne zwischen dem ersten Kokainkonsum und dem ersten Aufsuchen einer Therapieeinrichtung etwa 13 Jahre beträgt, könnte sich die gestiegene Verfügbarkeit in einigen Jahren in einer wachsenden Nachfrage nach einer Therapie niederschlagen. Dies erfordert eine dringende Bewertung der Reaktionskapazitäten der EU-Mitgliedstaaten im Hinblick auf einen möglichen Anstieg der Nachfrage nach Therapieplätzen.

    Stärkung der Reaktionsfähigkeit der EU im Drogenbereich: neue EUDA-Aktivitäten

    Um Europa bei der Bewältigung der immer komplexer werdenden Drogenproblematik zu unterstützen, entwickelt die EUDA eine Reihe neuer integrierter Aktivitäten. Dabei liegt der Schwerpunkt auf vier Schlüsselbereichen: 1) Antizipation aufkommender drogenbedingter Herausforderungen und ihrer Folgen, 2) Echtzeit-Warnungen bei neuen Drogenrisiken und Drogenbedrohungen, 3) Unterstützung der EU und ihrer Mitgliedstaaten beim Ausbau ihrer Gegenmaßnahmen und 4) Förderung des EU-weiten Wissens- und Erfahrungsaustauschs über evidenzbasierte Drogenstrategien und Drogenmaßnahmen.

    Derzeit werden neue Initiativen wie ein Europäisches Drogenwarnsystem und ein System zur Bewertung der Gefahrenlage bezüglich Gesundheit und Sicherheit entwickelt, um die Frühwarnung zu verbessern und das Lagebewusstsein zu schärfen. In der Zwischenzeit werden im Rahmen eines Europäischen Netzes kriminaltechnischer und toxikologischer Labore Drogenproben analysiert, Expert:innen geschult und Informationen über neue Entwicklungen ausgetauscht, z. B. über die Gefahren, die von neuen synthetischen Opioiden ausgehen. Ferner wurde der Agentur eine neue Rolle zugewiesen: Sie soll die Mitgliedstaaten über neue Entwicklungen bei der Erhebung und Analyse von Informationen über Drogenausgangsstoffe, über deren Abzweigung und illegalen Handel informieren und die Europäische Kommission in Form der Bereitstellung wissenschaftlicher Daten unterstützen. Zusammen werden diese Bemühungen eine solide Grundlage für eine nachhaltigere europäische Reaktion auf das Drogenproblem bilden.

    Pressemitteilung der EUDA European Union Drugs Agency, 5.6.2025

  • Neuer Beauftragter der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen

    Das Bundeskabinett hat am Mittwoch, 28. Mai 2025, den Vorschlägen von Bundesgesundheitsministerin Nina Warken entsprochen und Prof. Dr. Hendrik Streeck (CDU), Katrin Staffler (CSU) und Stefan Schwartze (SPD) als Beauftragte der Bundesregierung berufen. Die Beauftragten sind im Geschäftsbereich des BMG angesiedelt.

    Dr. Hendrik Streeck tritt seine neue Funktion als Beauftragter der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen an. Der 47-jährige Virologe ist seit 2025 Mitglied des Deutschen Bundestages und sitzt im Gesundheitsausschuss. Zu den Arbeitsschwerpunkten des Drogenbeauftragten gehören die Förderung und Unterstützung von Initiativen und Aktivitäten der Sucht- und Drogenprävention.

    Sucht- und Drogenbeauftragter Dr. Hendrik Streeck: „Sucht und Drogen sind keine Randthemen – sie betreffen Millionen Menschen und sind ein Prüfstein für die Stärke unseres Gesundheits- und Sozialsystems. Als Arzt und Wissenschaftler will ich nicht mit dem Zeigefinger mahnen, sondern helfen, aufklären und handeln. Besonders Kinder und Jugendliche brauchen besseren Schutz – vor Sucht, vor digitalen Risiken und vor neuen gefährlichen Substanzen wie synthetischen Opioiden. Ich setze mich für eine evidenzbasierte, präventive und menschenzugewandte Drogenpolitik ein – zum Schutz der Schwächsten und zur Stärkung unserer Gesellschaft.“

    Pressestelle des Beauftragten der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen, 28.5.2025