Autor: Simone Schwarzer

  • Niedrigschwellige Corona-Impfangebote und „Booster-Impfungen“ für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen

    Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. ruft zur niedrigschwelligen Durchführung von Corona-Schutzimpfungen und der Auffrischung des Impfschutzes für Menschen, die von Abhängigkeitserkrankungen betroffen sind, auf.

    In der aktuellen Entwicklung der Corona-Pandemie sorgt die vierte Welle im November 2021 bereits für neue Höchststände bei den Infektionen mit dem Corona-Virus. Dies ist besonders problematisch für vulnerable Personengruppen, für die die aktuellen Möglichkeiten der Schutzimpfung und der Impfauffrischung mit Zugangshürden verbunden sind.

    Für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen trifft dies im besonderen Maße zu, denn sie zählen aufgrund häufiger Vorerkrankungen zur Hochrisikogruppe für Infektionen mit dem Corona-Virus und schwere Verläufe einer Covid-19-Erkrankung. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass Menschen, deren Lebenssituation es schwierig macht, die pandemiebedingt notwendigen Hygieneregeln umzusetzen (z. B. wohnungslose Personen mit einer Abhängigkeitsproblematik), Infektionsketten induzieren, sollten sie über keinen ausreichenden Impfschutz verfügen. Weitere soziale und gesundheitliche Problemlagen kennzeichnen die Lebenssituation vieler Betroffener zusätzlich und sorgen für ein hohes Schutzbedürfnis dieser Gruppe.

    Menschen in besonders unsicheren und problematischen Lebensbedingungen sind durch Hilfsangebote schwierig zu erreichen. Während der ersten Jahreshälfte 2021 bemühten sich u. a. Einrichtungen der Suchthilfe um niedrigschwellige Impfangebote. Dazu gehörte oftmals der Einsatz des Impfstoffs Janssen® von Johnson & Johnson. Dieser hat den Vorteil, dass ein Impfschutz bereits nach der einmaligen Vergabe besteht und er somit aus organisatorischen und logistischen Gründen für schwer erreichbare Personengruppen (z. B. für wohnungslose Suchtkranke oder Suchtkranke mit ungeklärtem Aufenthalts- und/oder Versicherungsstatus) gut geeignet war.

    Mittlerweile gibt es klare Empfehlungen für die Auffrischung des Impfschutzes („Booster-Imfpungen“):

    • Bei Erstimpfung mit zwei Impfterminen nach sechs Monaten (bei allen entsprechenden Impfstoffen).
    • Bei Erstimpfung mit Johnson & Johnson nach vier Wochen.

    Die Auffrischung des Impfschutzes bzw. ein Impfangebot für alle bislang noch nicht Geimpften ist dringend erforderlich, um Hochrisikogruppen vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus zu schützen. Diese Angebote müssen bekannt und niedrigschwellig zugänglich sein, um von schwer erreichbaren Gruppen in Anspruch genommen werden zu können.

    Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. und ihre Mitgliedsverbände appellieren daher an alle beteiligten Akteure, sich für die Schaffung und Bereitstellung von niedrigschwelligen Impfangeboten einzusetzen und an der Umsetzung mitzuwirken.

    Diese Akteure können einen Beitrag dazu leisten:

    • Träger und Einrichtungen der Suchthilfe, insbesondere niedrigschwellige Angebote und Reha-Einrichtungen, aber auch weitere Einrichtung mit entsprechenden Möglichkeiten, können an der Bereitstellung von Impfangeboten mitwirken. Hierfür können auch neue Wege und Kooperationen angeregt werden, z. B. der Ausbau der Zusammenarbeit mit Hausärztinnen und Hausärzten, die in niedrigschwelligen Einrichtungen Impfungen durchführen können.
    • Örtliche Gesundheitsämter können neben bestehenden – und wünschenswerterweise wieder vermehrt geöffneten – Impfzentren verstärkt niedrigschwellige und mobile Impfangebote ausbauen, um in problembehafteten Regionen und Stadtvierteln eine höhere Inanspruchnahme der Impfangebote durch schwer erreichbare Zielgruppen zu ermöglichen.
    • Verbände und Träger der Suchthilfe, Landesstellen und Landesverbände der Suchthilfe können sich im Sinne dieses Appells einsetzen und an der Erreichung einer möglichst hohen Impfquote mitwirken. Die Aufklärung und Motivation zur Impfung und deren Auffrischung sowie die Organisation und Bekanntmachung von niedrigschwelligen Impfangeboten kann durch die Verbände entscheidend gefördert werden. Die Kenntnis um die Angebote und Möglichkeiten, sich impfen zu lassen, muss bei den Betroffenen ankommen. Hieran mitzuwirken, sollte unser Anliegen sein.
    • Verbände und Gruppen der Sucht-Selbsthilfe können ebenfalls Überzeugungsarbeit leisten. Der Kontakt auf Augenhöhe ist ein Prinzip der Selbsthilfe, das hierfür genutzt werden sollte. Die Sensibilisierung für die Risiken eines unzureichenden Impfschutzes und die Vorteile der Impfung sowie die Motivation zur Auffrischung oder erstmaligen Impfung können durch Verbände der Selbsthilfe sowie den direkten Kontakt in Gruppen vermittelt werden.
    • Politische Entscheidungstragende auf kommunaler, Landes- und Bundesebene schaffen die Rahmenbedingungen, die für eine Umsetzung niedrigschwelliger Impfangebote maßgeblich sind. Hindernisse und Hürden zu erkennen und abzubauen, gelingt durch Kooperation mit durchführenden Akteuren in der Suchthilfe, ärztlichem Fachpersonal und den örtlich zuständigen Behörden. Auf Bundes- und Landesebene können politische Entscheidungstragende im Sinne dieses Appells auf die Notwendigkeit der niedrigschwelligen Impfangebote aufmerksam machen und sich für deren Durchführung einsetzen.

    Appell der DHS zum Download

    Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V.
    Hamm, November 2021

  • DBDD-Bericht 2021 zur Situation illegaler Drogen

    Workbook Drogen

    Am 18.11.2021 hat die Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD) ihren jährlichen Bericht veröffentlicht. Dieser bietet einen vollständigen Überblick über das Konsumverhalten in der Altersgruppe der 12- bis 64-Jährigen. Darüber hinaus fasst er Hintergrundinformationen sowie aktuelle Entwicklungen in den Bereichen Prävention, Beratung, Behandlung, Schadensminderung und Bekämpfung des Angebots zur Verbreitung illegaler Drogen in Deutschland zusammen.

    Corona-Pandemie

    Im Bericht werden mehrere Studien zum Konsum von Cannabis und anderen illegalen Substanzen während der Corona-Pandemie vorgestellt. Es zeigt sich ein uneinheitliches Bild: Die Auswirkungen der Pandemie unterscheiden sich je nach Lebenssituation und vorherigem Konsumverhalten. In zwei deutschen Studien nennen Cannabiskonsumierende die Zunahme von Stress, Ängsten, Langeweile oder sehr viel Freizeit als Konsummotive.

    Cannabis ist nach wie vor die mit Abstand am weitesten verbreitete illegale Substanz in Deutschland bei insgesamt steigenden Wirkstoffgehalten. So hat sich der THC-Gehalt von Cannabisharz seit dem Jahr 2010 (6,8 Prozent) bis zum Jahr 2020 (20,4 Prozent) verdreifacht. Langzeittrends der ambulanten und stationären Suchtbehandlung zeigen, dass im Jahr 2020 der Anteil der erstmalig aufgrund von Cannabinoiden Behandelten erneut gestiegen ist.

    Die Corona-Pandemie hat in Deutschland auch Auswirkungen auf das Suchthilfesystem. Auch wenn keine repräsentativen Daten zur Situation des Suchthilfesystems verfügbar sind, geht aus Umfragen hervor, dass u. a. Kontaktbeschränkungen und Abstandsregelungen dazu führten, dass Beratungs- und Behandlungsangebote nur noch reduziert und/oder eingeschränkt möglich waren. Online-Angebote wurden, wo möglich, ausgebaut, um die Betroffenen weiterhin unterstützen zu können.

    Die geschäftsführende Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig, mahnt: „Wir dürfen jetzt nicht nachlassen. 2020 wurden fast ein Drittel weniger Suchtpräventionsmaßnahmen dokumentiert als im Jahr davor. Viele Maßnahmen sind weggefallen, da der persönliche Kontakt nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich war. Selbsthilfegruppen konnten nicht wie gewohnt stattfinden, Präventionsmaßnahmen im Schulbereich gingen um zehn Prozent zurück. Wir haben hier dringenden Handlungsbedarf, denn die Suchthilfe wird mehr gebraucht denn je! Niedrigschwellige Angebote müssen erreichbar sein. Alle müssen jetzt an einem Strang ziehen: die Akteure der Suchthilfe, aber auch Kommunen und Länder, wenn es darum geht, schnell und pragmatisch effektive Angebote zu ermöglichen.“

    Für die substitutionsgestützte Therapie von Opioidkonsumierenden wurden die Rahmenbedingungen flexibilisiert, um auch unter Pandemie-Bedingungen diese lebenswichtige Versorgung aufrechtzuerhalten. 2020 wurden am Stichtag (1. Juli) 81.300 Personen substituiert; dies ist ein kleiner Zuwachs gegenüber den Vorjahren.

    Drogentodesfälle und Modellprojekt „Naltrain“

    Im Jahr 2020 kamen 1.581 Menschen durch den Konsum illegaler Drogen ums Leben. Dies ist der höchste Wert seit 20 Jahren. Nach wie vor ist der Konsum von Opioiden die häufigste Todesursache. Das Notfallmedikament Naloxon, das durch Laien eingesetzt werden kann, um bei einer Opioidüberdosis Leben zu retten, wird aktuell in 18 Städten im Rahmen von Notfallschulungen an Drogenkonsumierende vergeben. 2021 hat das vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte neue Modellprojekt „Naltrain“ seine Fahrt aufgenommen. Ziel ist es, den Ausbau der Notfalltrainings mit Naloxonvergabe bundesweit wissenschaftlich evaluiert voranzubringen.

    Esther Neumeier, Leiterin der DBDD: „Die Wirksamkeit der Vergabe von Naloxon an Laien ist wissenschaftlich gut belegt und wird unter anderem von der WHO empfohlen. Dass sie nun in Deutschland flächendeckend ausgebaut wird, ist ein wichtiger Schritt in Richtung evidenzbasierte Schadensminderung. In diesem Zusammenhang wäre auch der weitere Ausbau von Drogenkonsumräumen in Deutschland als evidenzbasierte Maßnahme zur Verhinderung von Drogentodesfällen wünschenswert.“

    Der Bericht der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht erscheint jährlich und fasst als Teil des europäischen Drogenbeobachtungssystems die Situation illegaler Drogen in Deutschland zusammen.

    Weitere Informationen zum Thema sowie den vollständigen Bericht finden Sie unter www.dbdd.de

    Gemeinsame Pressemitteilung des BMG und der DBDD, 18.11.2021

  • Pandemie-Folgen für die Psyche

    Die Corona-Pandemie bringt weltweit vielfältige psychische Folgen mit sich. Welche allgemeinen Tendenzen es dabei in Bevölkerungen gibt und welche auch länderübergreifend sind, ist indes noch schwer zu quantifizieren. Um solche Tendenzen besser beleuchten zu können, hat ein Forschungsteam bestehend aus Valentin Klotzbücher vom Institut für Wirtschaftswissenschaften und Dr. Stephanie Reich von der Fakultät für Umwelt und Natürliche Ressourcen der Universität Freiburg sowie Prof. Dr. Marius Brülhart und Prof. Dr. Rafael Lalive von der Universität Lausanne nun acht Millionen Anrufe bei Sorgentelefonen in 19 Ländern analysiert.

    Dabei fanden sie unter anderem heraus, dass bisweilen 35 Prozent mehr Anrufe eingingen als zu vorpandemischen Zeiten und der Höhepunkt sechs Wochen nach dem Beginn der Pandemie erreicht war. Anlässe waren zumeist Angst, Einsamkeit und später Sorgen um die körperliche Gesundheit. Zugleich stellten die Wissenschaftler*innen fest, dass die sonst vorherrschenden Anlässe, etwa Beziehungs- oder wirtschaftliche Probleme, oder Themen wie Gewalt oder Suizid nicht verstärkt vorkamen, sondern von akuten Pandemie-Sorgen verdrängt wurden. Anrufe mit Bezug zu Suizidalität nahmen indes zu, als restriktive politische Maßnahmen verstärkt wurden, und sie nahmen ab, als finanzielle Unterstützungsleistungen ausgebaut wurden. Die Forschenden veröffentlichten ihre Studienergebnisse in der Fachzeitschrift Nature.

    „Die allgemeine mentale Verfassung einer Bevölkerung zu erheben oder gar länderübergreifende Tendenzen, ist sehr schwierig“, sagt Valentin Klotzbücher. „Nicht zuletzt deshalb werden psychische Aspekte in politischen Entscheidungsprozessen oftmals ausgeklammert – mit potenziell gravierenden Folgen. Mit unserer Studie wollten wir einen Beitrag leisten, um dem entgegenzuwirken.“ Die Wissenschaftlerinnen untersuchten Daten von 23 Sorgentelefonen in 14 europäischen Ländern, den USA, China, Hong Kong, Israel und im Libanon.

    Die vorherrschenden Anlässe für Telefonsorgenanrufe waren vor der Pandemie Beziehungsprobleme (37 Prozent), Einsamkeit (20 Prozent) und unterschiedliche Ängste (13 Prozent). „Mit der Pandemie stiegen die Anrufzahlen zu Ängsten um 2,4 Prozentpunkte und Einsamkeit um 1,5 Prozentpunkte, zu Beziehungsproblemen sanken sie indes um 2,5 Prozentpunkte“, erläutert Stephanie Reich. Ansonsten häufig auftauchende Themen sanken ebenfalls, wie etwa wirtschaftliche Lage (-0,6 Prozentpunkte), Abhängigkeit (-0,3 Prozentpunkte) oder Gewalt (-0,3 Prozentpunkte). Allerdings nahmen bei den weiblichen Anrufenden unter 30 Jahren die Anrufe zum Thema Gewalt um 0,9 Prozent zu.

    Eine Analyse von Anrufen zum Thema Suizidalität in mehreren US-Bundesstaaten sowie in Deutschland und Frankreich zeigt, dass tendenziell höhere Anruferzahlen verzeichnet wurden, wenn striktere Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung implementiert wurden, während großzügigere staatliche Unterstützung von Privatpersonen mit einem geringeren Anrufvolumen einhergingen.

    Originalpublikation:
    Brülhart, M., Klotzbücher, V., Lalive, R. et al. Mental health concerns during the COVID-19 pandemic as revealed by helpline calls. Nature (2021). https://doi.org/10.1038/s41586-021-04099-6

    Pressestelle der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau, 18.11.2021

  • Alkohol trinken, um gesund zu bleiben?

    Es war eine paradoxe Studienlage, dass Menschen, die gar keinen Alkohol trinken, eine kürzere Lebenserwartung haben. Die soeben in der renommierten Fachzeitschrift „PLOS Medicine“ erschienene Greifswalder Studie konnte nun zeigen, dass die kürzere Lebenserwartung alkoholabstinent lebender Menschen auf Faktoren wie frühere Alkohol- oder Drogenprobleme, tägliches Tabakrauchen und eine schlechtere selbst eingeschätzte Gesundheit zurückzuführen ist.

    „Bisherige Studien legten nahe, dass Menschen, die geringfügige bis moderate Mengen trinken, länger leben. Dies führte lange zur Schlussfolgerung, mäßiger Alkoholkonsum könne gesundheitsfördernde Effekte haben, insbesondere in Bezug auf das Herz-Kreislauf-System. Dies konnten wir nun klar widerlegen“, sagt der Leiter der Studie, Professor Ulrich John, aus der Abteilung für Präventionsforschung und Sozialmedizin am Institut für Community Medicine der Universitätsmedizin Greifswald.

    In einer eigenen Studie haben die Forscher*innen um Ulrich John bereits in den Jahren 1996 und 1997 in Schleswig-Holstein eine Zufallsstichprobe von 4.028 Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren sehr sorgfältig befragt. Dank eines international standardisierten Interviews konnte sogar die An- oder Abwesenheit einzelner psychiatrischer Erkrankungen festgestellt werden. Ebenso wurden frühere Alkohol- und Drogenerkrankungen sowie der Konsum von Alkohol und Nikotin erfasst. Durch eine Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) konnte nun, rund 20 Jahre später, untersucht werden, welche damaligen Studienteilnehmer*innen wann gestorben sind.

    Rund jede zehnte Person (11 Prozent, 447 Personen) dieser befragten Zufallsstichprobe hatte in den letzten zwölf Monaten vor der Befragung keinen Alkohol getrunken. Die große Mehrheit dieser Personen waren frühere Alkoholkonsumenten (91 Prozent, 405 Personen). Zudem hatten fast drei Viertel von ihnen (72 Prozent, 322 Personen) mindestens einen Risikofaktor für eine erhöhte Sterbewahrscheinlichkeit. Zu diesen Risikofaktoren zählten eine frühere Alkohol- oder Drogenabhängigkeit oder erhöhter Alkoholkonsum (35 Prozent), tägliches Tabakrauchen (50 Prozent) sowie eine nach eigener Einschätzung mäßige oder schlechte Gesundheit (11 Prozent). Ohne Risikofaktoren waren 125 alkoholabstinente Personen.

    „Überraschend war für uns der Befund, dass alkoholabstinente Personen ohne Risikofaktoren sich in ihrer Sterbewahrscheinlichkeit nicht von Menschen mit geringem bis moderatem Alkoholkonsum unterscheiden“, sagt Ulrich John und ergänzt: „Lange Zeit wurde angenommen, dass geringer bis moderater Alkoholkonsum günstige Wirkungen auf die Gesundheit haben kann. Wir fanden nun jedoch, dass die meisten alkoholabstinent lebenden Personen unserer Studie zuvor Alkohol- oder Drogenprobleme, hohen Alkohol- oder täglichen Nikotinkonsum hatten oder ihre Gesundheit als mäßig bis schlecht bewerteten – alles Faktoren, die bekannt dafür sind, dass sie vorzeitigen Tod vorhersagen.“

    „Die Ergebnisse stützen die Einschätzung, dass Menschen, die gerade alkoholabstinent leben, nicht zwangsläufig eine kürzere Lebenszeit haben als diejenigen, die moderat Alkohol konsumieren. Die Ergebnisse widersprechen damit der Empfehlung, aus gesundheitlichen Gründen Alkohol zu trinken“, resümiert Ulrich John.

    Publikation:
    John U, Rumpf H-J, Hanke M, Meyer C.: Alcohol abstinence and mortality in a general population sample of adults in Germany: A cohort study. https://journals.plos.org/plosmedicine/article?id=10.1371/journal.pmed.1003819
    PLOS Medicine 2021 https://doi.org/10.1371/journal.pmed.1003819

    Pressestelle der Universität Greifswald, 15.11.2021

  • Update zur Umsetzung des BTHG

    Update zur Umsetzung des BTHG

    Dr. Mignon Drenckberg

    Das Bundesteilhabegesetz (BTHG), welches innerhalb der letzten Jahre in Kraft getreten ist, ordnet nicht nur die Eingliederungshilfe (EGH) vollkommen neu, sondern verschafft auch den bisher schon im Sozialgesetzbuch neun (SGB IX) verankerten Passagen mit Aussagen zu Behinderung, Rehabilitation und Teilhabe mehr Geltung und regelt Aspekte des Schwerbehindertengesetzes neu.

    In diesem Artikel wird es in erster Linie um die Eingliederungshilfe gehen, weil dieser Teil im SGB IX neu die größten Veränderungen erfahren hat. Zusätzlich soll auf den Teilhabeverfahrensbericht eingegangen werden, der unter anderem das Antrags- und Bewilligungsverfahren aller Rehabilitationsträger dieses Gesetzes in einem jährlichen Bericht beleuchtet. Alle zitierten Paragrafen beziehen sich auf das SGB IX neu, sofern nicht anders angegeben.

    Grundsätzlich wurde das BTHG – wie so viele andere Gesetze auch – bereits mehrfach verändert und konkretisiert, zum Beispiel durch das Angehörigenentlastungsgesetz. Einige wesentliche Teile sind über Gesetze und Verordnungen der Länder bzw. der zuständigen Kostenträger zu regeln bzw. geregelt worden.

    Zugang zur Eingliederungshilfe (§ 99)

    Die letzten Teile der Regelungen zur EGH wurden bereits zu Anfang des Jahres 2020 als Teil 2 des Bundesteilhabegesetzes wirksam. Allerdings wurde der Zugang zur Eingliederungshilfe (§ 99) erst mit dem Teilhabestärkungsgesetz vom Juni 2021 neu geregelt und am 1. Juli 2021 in Kraft gesetzt. Dabei wurde zum einen auf eine Sprachregelung analog der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) und zum anderen auf die bestehende Eingliederungshilfe-Verordnung Wert gelegt:

    § 99 Leistungsberechtigung, Verordnungsermächtigung

    (1) Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten Menschen mit Behinderungen im Sinne von § 2 Absatz 1 Satz 1 und 2, die wesentlich in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind (wesentliche Behinderung) oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe nach § 90 erfüllt werden kann.

    (2) Von einer wesentlichen Behinderung bedroht sind Menschen, bei denen der Eintritt einer wesentlichen Behinderung nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.

    (3) Menschen mit anderen geistigen, seelischen, körperlichen oder Sinnesbeeinträchtigungen, durch die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind, können Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten.

    (4) Die Bundesregierung kann durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates Bestimmungen über die Konkretisierung der Leistungsberechtigung in der Eingliederungshilfe erlassen. Bis zum Inkrafttreten einer nach Satz 1 erlassenen Rechtsverordnung gelten §§ 1 bis 3 der Eingliederungshilfe-Verordnung in der am 31. Dezember 2019 geltenden Fassung entsprechend (Drucksache 19/27400-24, Dt. Bundestag).

    Große Veränderungen im Vergleich zu den Regelungen aus dem früheren SGB XII sind damit nicht erfolgt, da sich die Arbeitsgruppe auf Bundesebene, die eine Neuformulierung des Zugangs zur Eingliederungshilfe entwickeln sollte, auf keine weitergehenden, an die ICF (Kapitel zu Aktivitäten und Teilhabe) angelehnten Formulierungsvorschläge einigen konnte. Außerdem war auch der Bundesrat mit einigen Formulierungsvorschlägen nicht einverstanden, so dass die nun gefundene Regelung als Minimalkonsens verstanden werden kann. Dies dürfte für die Suchthilfe allerdings von Vorteil sein, weil eine Untersuchung auf Bundesebene zu unterschiedlichen Eingangsdefinitionen bei den meisten Varianten ergeben hat, dass gerade die seelisch behinderten Menschen, und darunter vor allem die suchtkranken Menschen, keinen Anspruch mehr auf Eingliederungshilfe gehabt hätten. Die im BTHG vorgeschriebene Erprobung des Zugangs (Artikel 25, Abs. 3, Satz 2) wurde mit dem Teilhabestärkungsgesetz (Artikel 8) aufgehoben, da sie bereits erfolgt ist.

    Die in Absatz 4 erwähnte Eingliederungshilfe-Verordnung ist in ihrer letzten Fassung noch aus dem Jahre 2003, so dass sich auch hier keine substanziellen Änderungen ergeben haben. In dieser Verordnung werden unter § 3, Punkt 3 die „Suchtkrankheiten“ als ein Teil der seelischen Behinderungen aufgeführt, die insgesamt nur vier Punkte umfassen. Die neue Rechtsverordnung aus Satz 4 des § 99 neu wird in einer Arbeitsgruppe auf Bundesebene erstellt werden. Dadurch wird dann erst der Zugang zur EGH endgültig im Detail geregelt.

    Bedarfsermittlung

    Bei der Bedarfsermittlung ist zu beachten, dass für alle Rehabilitationsträger die Vorschriften zur Teilhabeplanung (§§ 19-22) gelten. Für die EGH ist die Gesamtplanung (§§ 117-122) verpflichtend, die wesentlich detaillierter beschrieben ist. In beiden Fällen kann die Ermittlung des Bedarfs rein schriftlich erfolgen, falls der/die Betroffene keine Konferenz einfordert oder diese mit einem unzumutbar hohen Aufwand verbunden wäre. Außerdem besteht eine Antragserfordernis für die Leistungen der EGH (§ 108), wobei diese nicht genauer definiert ist und die Vorgabe damit auch durch einen formlosen Antrag erfüllt werden kann.

    Die Bedarfsermittlung in der Gesamtplanung hat nach den Bereichen der Aktivitäten und Teilhabe der ICF zu erfolgen, und die Instrumente werden von den jeweiligen Kostenträgern entwickelt. Dabei fällt auf, dass die Kontextfaktoren (umwelt- und personenbezogene Faktoren) oft zu wenig berücksichtigt werden, da ihre Ermittlung schwierig erscheint und es wenige Beschreibungen dazu gibt.

    Bisher waren häufig die Leistungserbringer bei der Bedarfsermittlung federführend, doch das Gesetz schreibt diese Aufgabe klar dem Kostenträger zu. Da bei vielen Kostenträgern die Ressourcen dafür nicht vorhanden sind, behelfen sich einige damit, dass die Bedarfserhebung die Leistungserbringer durchführen und die eigentliche Bedarfsermittlung auf dieser Grundlage dann der Kostenträger.

    Nach der Ermittlung des Bedarfs erfolgt die Bedarfsfeststellung und damit die Beschreibung der notwendigen Leistung für den/die Betroffene/n, die der Kostenträger in einem offiziellen Bescheid mitteilt. Nur gegen diesen kann dann – wenn notwendig – ein Widerspruch eingelegt werden.

    Entscheidend in dem weiteren Verfahren sind das Berichtswesen und die Verlaufsdokumentation. Dabei müssen die Ziele und Maßnahmen auf der Grundlage der Bedarfsermittlung überprüft und gegebenenfalls angepasst werden (zum Beispiel auch eine Teilhabezielvereinbarung nach § 122). Hier stellt sich die Frage, wer diese Überprüfung durchführt, da sicherlich der Leistungserbringer eine größere Nähe zu den Betroffenen und deren Bedürfnissen hat. Diese Frage ist nicht unwichtig, weil die Zielerreichung im Allgemeinen mit der Wirkung und damit auch der Wirksamkeit verknüpft wird und infolgedessen auch Prüfungen unterliegt.

    Assistenzleistungen

    Die Leistungserbringung im Bereich der sozialen Teilhabe soll über Assistenzleistungen erfolgen. Dabei wird im zweiten Absatz das Angebot der qualifizierten Assistenz definiert.

    § 78 Assistenzleistungen (Auszug)

    (1) Zur selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltages einschließlich der Tagesstrukturierung werden Leistungen für Assistenz erbracht. Sie umfassen insbesondere Leistungen für die allgemeinen Erledigungen des Alltags wie die Haushaltsführung, die Gestaltung sozialer Beziehungen, die persönliche Lebensplanung, die Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, die Freizeitgestaltung einschließlich sportlicher Aktivitäten sowie die Sicherstellung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen. Sie beinhalten die Verständigung mit der Umwelt in diesen Bereichen.

    (2) Die Leistungsberechtigten entscheiden auf der Grundlage des Teilhabeplans nach § 19 über die konkrete Gestaltung der Leistungen hinsichtlich Ablauf, Ort und Zeitpunkt der Inanspruchnahme. Die Leistungen umfassen

    1. die vollständige und teilweise Übernahme von Handlungen zur Alltagsbewältigung sowie die Begleitung der Leistungsberechtigten und
    2. die Befähigung der Leistungsberechtigten zu einer eigenständigen Alltagsbewältigung.

    Die Leistungen nach Nummer 2 werden von Fachkräften als qualifizierte Assistenz erbracht. Sie umfassen insbesondere die Anleitungen und Übungen in den Bereichen nach Absatz 1 Satz 2.

    Für die Aufgaben im Bereich der Suchthilfe wird es darauf ankommen, sie so klar und eindeutig zu beschreiben, dass die Zuordnung für den überwiegenden Teil der Leistung als qualifizierte Assistenz möglich ist, um die bisherige Qualität zu erhalten und die Klientel weiterhin effektiv versorgen zu können. Im gemeinschaftlichen Wohnen muss die Fachleistung in ausreichender Quantität vorhanden sein, um auf der einen Seite Betreuungsabbrüche zu vermeiden und auf der anderen Seite auch die Mitarbeitenden nicht zu überfordern. Im ambulanten Bereich wie im gemeinschaftlichen Wohnen dürfen die Leistungen, die als eine Art Basisfachleistung beschrieben werden können (zum Beispiel Gesamtplanung, Koordination, Angehörigenarbeit, Sozialraumarbeit, Übergabezeiten, Teambesprechungen), nicht zu gering angesetzt werden, auch wenn viele Leistungsträger der Meinung sind, dass Personenzentrierung heißt, dass ausschließlich Leistungen direkt an / mit der Klientel erbracht werden. Wichtig ist auch eine gute Beschreibung der „gemeinschaftlichen Inanspruchnahme der Leistungen“ (sog. Poolen, § 116).

    Vertragsrecht

    Das Vertragsrecht sieht nach § 131 Landesrahmenverträge vor, die „gemeinsam und einheitlich“ zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern geschlossen werden sollen. Dabei ist grundsätzlich anzumerken, dass die Kostenträger die Hilfe für die Anspruchsberechtigten personenzentriert und unabhängig vom Ort der Leistungserbringung sicherzustellen haben (§ 95) und unter Federführung der jeweiligen Länder Arbeitsgemeinschaften zur „Weiterentwicklung der Strukturen der EGH“ zusammen mit den Leistungserbringern und den Verbänden der Menschen mit Behinderungen bilden sollen (§ 94, Absatz 4). Die Leistungsträger sind damit viel weitgehender als bisher für die Sicherung der Angebote und die Weiterentwicklung der Hilfelandschaft verantwortlich.

    Inhalte der Rahmenverträge sind unter anderem:

    • die Festlegung der Vergütungspauschalen nach Zuordnung zu den Kostenarten,
    • die Kriterien für die Ermittlung und die Höhe der Leistungspauschalen,
    • Richtwerte für die personelle Ausstattung und
    • die Grundsätze und Maßstäbe für die Wirtschaftlichkeit und Qualität einschließlich der Wirksamkeit.

    Die einzelnen Bundesländer haben sich offenbar mit den nicht sehr konkreten Vorgaben des Gesetzes unterschiedlich schwergetan und teilweise Konkretisierungen in weitere Verträge, Verordnungen, Anlagen und Glossare ausgelagert.

    In den Einzelvereinbarungen nach § 125 werden weitere Inhalte auf dieser Grundlage als Vergütungs- und Leistungsvereinbarung schriftlich fixiert, wie der betreute Personenkreis, die personelle und sächliche Ausstattung und Art, Umfang, Ziel und Qualität der Leistung.

    Diese Vereinbarungen sind zusammen mit der konkreten Leistungserbringung für die Klientel die Grundlage für Prüfungen, die anlassbezogen und – falls die Bundesländer dies entsprechend geregelt haben – auch nicht anlassbezogen erfolgen können. Sie sind ohne vorherige Ankündigung möglich und das Verfahren wird in den Landesrahmenverträgen geregelt. Der Gegenstand der Prüfungen umfasst „Inhalt, Umfang, Wirtschaftlichkeit und Qualität einschließlich der Wirksamkeit der erbrachten Leistungen“ (§ 128). Um für Prüfungen gut aufgestellt zu sein, ist es entscheidend, dass in der zuvor geschlossenen Leistungsvereinbarung die Angebote und Leistungen und der zu betreuende Personenkreis ausführlich beschrieben worden sind, genauso wie die aus den Bestandteilen Struktur, Prozess und Ergebnis bestehende Qualität. Ein großes Problem besteht in der Prüfung der Wirksamkeit, da im Sozialbereich eine Definition für diesen Begriff fehlt und sie oft fälschlicherweise mit Qualität gleichgesetzt wird. Wirkung lässt sich vermutlich noch aus der Zielerreichung nach der Gesamtplanung im Einzelfall erheben, aber Wirksamkeit müsste durch randomisierte, kontrollierte Studien erforscht werden. Ein Problem könnte sich dadurch ergeben, dass der Gesetzgeber die Wirksamkeit in die Prüfungen eingeschlossen hat und gleichzeitig bei der Feststellung einer „Pflichtverletzung“ die Kürzung der Vergütung zulässt (§ 129). Zwar müssen sich die Beteiligten über die Höhe der Kürzung einigen (ansonsten entscheidet die Schiedsstelle), aber es ist trotzdem darauf zu achten, dass in den Landesrahmenverträgen klargestellt wird, dass die Prüfung der Wirksamkeit keine Auswirkungen auf die Vergütung hat, solange es keine klaren Parameter und Definitionen in diesem Bereich gibt.

    Daten aus dem Teilhabeverfahrensbericht

    Einige interessante Aspekte der Leistungsgewährung durch die Rehabilitationsträger listet der Teilhabeverfahrensbericht 2020 (THVB) mit den Zahlen aus dem Jahr 2019 der Bundearbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) auf. Dieser Bericht beruht auf den Zahlen, die alle Rehabilitationsträger nach § 41 verpflichtend melden müssen. Insgesamt wurden für die Rehabilitation und Teilhabe über 40 Milliarden Euro ausgegeben, wobei die EGH der größte Rehabilitationsträger ist und über 940.000 Personen mit rund 19 Milliarden Euro versorgt hat. Der THVB umfasst die Daten von fast 1.000 Rehabilitationsträgern, wobei die EGH ungefähr 250 Träger umfasst (die Angaben der EGH-Träger schwanken in den einzelnen Punkten des Berichts, da nicht alle Träger zu allen Fragen geantwortet haben). Dabei wurden im Jahr 2019 in der EGH 156.829 Anträge bearbeitet (im Vergleich zu 1.815.915 Anträgen bei der Rentenversicherung) und davon waren mit Abstand am meisten Leistungen zur Sozialen Teilhabe umfasst (114.324). 16.374 waren Anträge zur Teilhabe am Arbeitsleben und 11.716 Anträge zur medizinischen Rehabilitation.

    Grundlegende Vorgaben für die Fristen bei der Bearbeitung von Anträgen finden sich in den „Gemeinsamen Empfehlungen“ der BAR von 2019. Zuständigkeitsklärungen für die Leistungsgewährung müssen innerhalb von zwei Wochen erfolgen. Das schafften die Träger der EGH bei insgesamt 142.487 Zuständigkeitsfeststellungen mit 17.949 Fristüberschreitungen (entspricht 12,6 Prozent) nicht. Entscheidender ist hier aber eine andere Zahl: Bei über 50 Prozent (40.367, entspricht 52,75 Prozent) der Anträge, die ohne Gutachten entschieden werden konnten (insgesamt 75.915), schafften sie es nicht, die Frist von drei Wochen zur Entscheidung über die Leistungsgewährung einzuhalten. Mit Sicherheit kennen alle Leistungserbringer die Verzögerung bei Kostenbescheiden, die durchaus mehrere Monate betragen kann.

    Die Teilhabeplanung (hier Gesamtplanung) wurde in 57.421 Fällen in der EGH angepasst. Hierbei lag die Geltungsdauer zwischen null und 364 Tagen – im Durchschnitt betrug sie 37,8 Tage. Das heißt, dass die Planung selten längerfristig gilt, sondern im Laufe eines Jahres teilweise mehrfach angepasst wird.

    Bei den Zahlen zur trägerübergreifenden Teilhabeplanung (1,6 Prozent in der EGH) und zum trägerübergreifenden persönlichen Budget (in der EGH 113-mal beantragt und 79-mal bewilligt) zeigt sich, dass die Intention des Gesetzgebers, die Leistungen für Betroffene wie aus einer Hand zu erbringen und die Kostenträger zu mehr Zusammenarbeit anzuregen, sich nicht erfüllt hat. Dabei sind die Zahlen für das trägerübergreifende persönliche Budget in der EGH von allen Kostenträgern mit Abstand die höchsten. Immerhin kam die EGH beim trägerspezifischen persönlichen Budget auf 1.982 Beantragungen und 1.381 Bewilligungen.

    Als Fazit lässt sich festhalten, dass die Betroffenen mit Sicherheit weiterhin Hilfe und Unterstützung benötigen, um ihre Ansprüche durchsetzen zu können. Die Veränderung der EGH in Richtung größerer Personenzentrierung wird nur in Zusammenarbeit aller Akteure gelingen, welche im SGB IX in vielen Bereichen festgeschrieben wurde und nun mit Leben gefüllt werden muss.

    Kontakt:

    Dr. Mignon Drenckberg
    Caritasverband der Erzdiözese München und Freising e.V.
    Pater-Rupert-Mayer-Haus
    Hirtenstr. 4, 80335 München
    Mignon.Drenckberg@caritasmuenchen.de

    Angaben zur Autorin:

    Dr. Mignon Drenckberg (Dipl.-Psych.), ist Referentin für Suchthilfe, Wohnungslosen- und Straffälligenhilfe in der Abteilung Spitzenverband und Fachqualität – Fachgruppe Eingliederungshilfe beim Caritasverband der Erzdiözese München und Freising e.V.

    Quellen:
    • Boecker, M., Weber, M. (2021). Wie lässt sich die Wirksamkeit von Eingliederungshilfe messen? Soziale Arbeit kontrovers 26. Verlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V., Berlin
    • Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V. (BAR) (2019). Gemeinsame Empfehlung zur Zuständigkeitsklärung, zur Erkennung, Ermittlung und Feststellung des Rehabilitationsbedarfs (einschließlich Grundsätzen der Instrumente zur Bedarfsermittlung), zur Teilhabeplanung und zu Anforderungen an die Durchführung von Leistungen zur Teilhabe gemäß § 26 Abs. 1 i.V.m. § 25 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 und 6 und gemäß § 26 Abs. 2 Nr. 2, 3, 5, 7 bis 9 SGB IX. Frankfurt/Main, Februar 2019
    • Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V. (BAR) (2020). 2. Teilhabeverfahrensbericht, 2020. Frankfurt/Main, Dezember 2020
    • § 99, Drucksache 19/27400 – 24 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode
    • Sozialgesetzbuch IX
  • Multiprofessionelle Behandlung von Suchterkrankungen

    Hogrefe Verlag, Bern 2021, 366 Seiten, € 39,95, ISBN 978-3-4568-6077-0, auch als E-Book erhältlich

    Das Praxishandbuch zur interdisziplinären Behandlung von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen beleuchtet die Bereiche Suchtmedizin, Pflege und Suchtsozialarbeit. Es erklärt die Grundlagen von Süchten, deren Epidemiologie und Komorbiditäten. Die Autor*innen charakterisieren suchterzeugende Substanzen wie Alkohol, Amphetamine, Benzodiazepine, Cannabis, Cristal Meth, Ecstasy, Kokain, Opiate und Tabak. Sie beschreiben die interdisziplinäre Behandlung von Suchterkrankungen mit Praxisbeispielen. Das Buch

    • skizziert die Versorgungssituation von Suchtkranken, die Epidemiologie des Suchtmittelkonsums, Behandlungsleitlinien und Klassifikationssysteme,
    • beschreibt Diagnoseinstrumente für Abhängigkeits- und Begleiterkrankungen, Motivationstheorien und therapeutische Verfahren wie kognitive Verhaltenstherapie, Gruppentherapie, Motivational Interviewing, Angehörigenarbeit und manualisierte Behandlungsprogramme,
    • differenziert und charakterisiert stoffgebundene und stoffungebundene Süchte bezüglich Epidemiologie, Mortalität, Inhaltsstoffen, Konsumformen, Wirkung, Entzugserscheinungen und Folgeerkrankungen,
    • beschreibt stoffgebundene Süchte von Alkohol über Cannabis, Gabapentinoide, Halluzinogene, Kokain, Opiate, Psychostimulanzien wie Amphetamine und Ecstasy bis hin zu neuen psychoaktiven Substanzen wie Designer- und Badesalzdrogen,
    • beschreibt stoffungebundene Süchte wie pathologisches Glücksspielen, Internetsucht, suchtartiges Arbeits-, Bewegungs-, Kauf- und Sexualverhalten,
    • vernetzt theoretisches Wissen mit interdisziplinärem Handeln durch Beispiele aus der medizinischen, pflegerischen und sozialarbeiterischen Praxis,
    • wirft ein Schlaglicht auf die Themenfelder Migration und Sucht, Harm Reduction, Co-Abhängigkeit, Supervision sowie Stigmatisierung und
    • wagt einen Ausblick zur digitalen Transformation der Suchthilfe, der stationsäquivalenten Behandlung (StäB) und der Zukunft der interdisziplinären Suchtbehandlung.
  • Väterreport 2021

    Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hat im Oktober den „Väterreport. Update 2021“ veröffentlicht. Der Väterreport beschreibt regelmäßig auf Basis amtlicher Statistiken, wissenschaftlicher Studien und repräsentativer Bevölkerungsbefragungen die Lebenslagen von Vätern in Deutschland. Neben ihren Werten und Einstellungen nimmt der Report das Familienleben der Väter und ihre berufliche Situation in den Blick. Zum zweiten Mal stellt der Report auch die Situation von Vätern, die in Trennung leben, dar. Ein eigenständiges Kapitel thematisiert die Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie auf Beruf und Familie.

    Der Väterreport zeigt: Immer mehr Väter wollen heute die Familienaufgaben und die Verantwortung für das Familieneinkommen partnerschaftlich teilen, anders als die Generation zuvor. Väter wollen mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen. Sie wollen gemeinsam mit der Mutter für die Kinder verantwortlich sein.

    Auch nach einer Trennung wollen sich viele Väter aktiv an Kinderziehung und -betreuung beteiligen. Getrennt lebende Väter geben zu großen Anteilen (48 Prozent) an, dass sie sich gerne mehr um Erziehung und Betreuung ihrer Kinder kümmern möchten.

    Elterngeld und Elternzeit sind wirksame Instrumente, die immer mehr Väter dabei unterstützen, zumindest zeitweise im Beruf kürzer zu treten und sich stärker familiär zu engagieren. Mittlerweile nehmen über 42 Prozent der Väter Elternzeit, beziehen dabei Elterngeld und nehmen sich damit Zeit für ihre Kinder. Die „Väterzeit“ ist von einer Ausnahme zum in Wirtschaft und Gesellschaft weithin akzeptierten und gelebten Modell geworden. Zusätzlich unterstützen Unternehmen die Väter und passen ihr Angebot familienbewusster Personalmaßnahmen auf ihre Bedürfnisse an.

    Weder die sich wandelnden Einstellungen noch die stärkere Teilhabe am Familienleben durch das Elterngeld haben jedoch nachhaltig die Erwerbstätigkeit von Vätern verändert. Väter sind nach der Elternzeit immer noch überwiegend in Vollzeit erwerbstätig. 68 Prozent der Mütter von minderjährigen Kindern arbeiten in Teilzeit, aber nur 7 Prozent der Männer. Hier zeigen sich Wunsch und Wirklichkeit: Nur 17 Prozent der Eltern übernehmen etwa gleiche Teile bei der Kinderbetreuung, während sich 45 Prozent eine partnerschaftliche Aufteilung wünschen. 52 Prozent der Väter würden gerne weniger arbeiten. 42 Prozent der Mütter wollen dagegen gerne ihre Erwerbstätigkeit wieder aufnehmen oder ausweiten. Der Report empfiehlt daher, die positiven Effekte von Elternzeit und Elterngeld deutlich zu verlängern und über eine Familienarbeitszeit zu einer existenzsichernden und vollzeitnahen Erwerbstätigkeit sowohl von Müttern als auch von Vätern beizutragen.

    Auswirkungen der Corona-Pandemie

    Der Väterreport zeigt erhebliche Auswirkungen der Corona-Pandemie. Während viele Väter in Kurzarbeit oder im Homeoffice tätig waren, engagierten sie sich stärker in der Familienarbeit. Die tägliche Kinderbetreuungszeit von Vätern aus Paarfamilien stieg auf durchschnittlich 5,3 statt 2,8 Stunden täglich (+ 89 Prozent). Mütter übernahmen dennoch weiter den deutlich größeren Teil der Familienarbeit: während der Lockdowns durchschnittlich 9,6 statt bisher 6,7 Stunden Kinderbetreuungszeit pro Tag (+ 43 Prozent). Der Väterreport wertet diese Pandemie-Erfahrungen als Chance, die Familienarbeit nachhaltiger partnerschaftlich aufzuteilen.

    Der Väterreport stützt sich unter anderem auf Erkenntnisse einer aktuellen Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach zu „Elternzeit, Elterngeld und Partnerschaftlichkeit“. Den Väterreport. Update 2021 finden Sie hier: www.bmfsfj.de/vaeterreport

    Pressestelle des Bundesfamilienministeriums, 6.10.2021

  • Wie Menschen ihre eigenen Erinnerungen manipulieren

    Menschen erinnern sich an vergangene Erlebnisse mithilfe des so genannten episodischen Gedächtnissystems. Dabei können sie ihre Erinnerungen auf drei Ebenen manipulieren, beschreiben Dr. Roy Dings und Prof. Dr. Albert Newen vom Institut für Philosophie II der Ruhr-Universität Bochum in einer theoretischen Arbeit für die Zeitschrift „Review of Philosophy and Psychology“, online veröffentlicht am 13. August 2021. Die Forscher erklären, wie Menschen vergangene Erlebnisse ins Gedächtnis rufen und dabei verändern. „Erinnerungen an wichtige Ereignisse konstruieren wir oft so, wie sie uns in den Kram passen“, folgert Albert Newen.

    Erwachsene erinnern sich vor allem an bedeutende Erlebnisse, die mit besonders positiven oder besonders negativen Gefühlen verknüpft waren, etwa einen besonderen Urlaubstag, die Führerscheinprüfung oder die Hochzeit. Die Erinnerung ist dabei kein fotografischer Ausschnitt der Vergangenheit, sondern ein Konstrukt, das zwar von der Wahrnehmung eines zurückliegenden Ereignisses gespeist ist, aber beim Einspeichern und vor allem beim Abruf der wahrgenommenen Situation setzen vielfältige Konstruktionsprozesse ein. „Mit Pippi Langstrumpfs Worten könnte man sagen: Ich mache mir die vergangene Welt, wie sie mir gefällt“, veranschaulicht Roy Dings.

    Die Konstruktion des vergangenen Szenarios können Menschen auf drei Ebenen der Verarbeitung beeinflussen, was normalerweise automatisch und unbewusst geschieht. Die Quelle des Einflusses ist das narrative Selbstbild: „Wenn wir uns mit Freunden unterhalten, erzählen wir über uns selbst genau das, was uns wichtig ist“, sagt Roy Dings. „Diese Aspekte bezeichnen wir als das narrative Selbstbild.“

    Das konstruktive Modell des Erinnerungsabrufs

    Die Autoren wie auch alle Mitglieder der in Bochum angesiedelten Forschungsgruppe „Constructing Scenarios of the Past“ gehen davon aus, dass eine Erinnerung dann entsteht, wenn durch einen Reiz eine Gedächtnisspur aktiviert wird: Die Hochzeitseinladungskarte an der Pinnwand aktiviert beispielsweise eine Gedächtnisspur von der Hochzeitstafel. Die Situation wird allerdings – gemäß Bochumer Modell zum episodischen Erinnern – dann noch angereichert durch allgemeines Hintergrundwissen, welches in dem semantischen Gedächtnis verfügbar ist. Mit der Zusammenfügung von Gedächtnisspur und Hintergrundwissen entsteht ein lebhaftes Erinnerungsbild, etwa von der Begrüßung durch die Braut, und schließlich erzählt man, wie man das Ereignis erlebt hat.

    Drei Ebenen der Beeinflussung

    Zum Prozess der Szenario-Konstruktion gehören der Reiz, der die Erinnerung auslöst, der eigentliche Verarbeitungsprozess und das Ergebnis, also das Erinnerungsbild und die damit verknüpfte Beschreibung. Alle drei Komponenten können Menschen beeinflussen. Sie neigen erstens dazu, den auslösenden Reiz für positive Erinnerungen gezielt zu suchen und für negative Erinnerungen zu vermeiden. Sie stellen zum Beispiel ein Hochzeitsfoto auf den Bürotisch, meiden aber Begegnungen mit Personen, mit denen unangenehme Erinnerungen verknüpft sind.

    Zweitens kann das Selbstbild auch beeinflussen, welche Hintergrundinformationen herangezogen werden, um die sparsame Gedächtnisspur zu einer lebendigen Erinnerung anzureichern; das bestimmt erst das reiche Erinnerungsbild.

    Drittens kann die Beschreibung, die mit einem Erinnerungsbild verknüpft wird, sehr konkret oder eher abstrakt sein. Das Erinnerungsbild kann konkret entweder als der Beginn der Ansprache durch die Braut oder abstrakter als der Anfang des Zusammenwachsens zweier Familien beschrieben werden. Je abstrakter die verknüpfte Beschreibung, desto eher erinnert sich ein Mensch an das Erlebte aus einer Beobachterperspektive, also als Objekt in der Szene, und desto weniger intensive Gefühle sind damit verbunden. Die vom Selbstbild gewählte Beschreibungsebene beeinflusst das Erinnerungsbild und wie es erlebt wird – und zwar insbesondere, in welcher Form es dann weiter festgehalten wird.

    „Wir formen unsere Erinnerungen also im Prinzip so, dass wir unser positives Selbst schützen und die Herausforderungen durch negative Erinnerungen, die nicht zu unserem Selbstbild passen, gerne abmildern“, resümiert Albert Newen.

    Originalpublikation:
    Roy Dings, Albert Newen: Constructing the past: The relevance of the narrative self in modulating episodic memory, in: Review of Philosophy and Psychology, 2021, DOI: 10.1007/s13164-021-00581-2

    Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum, 18.8.2021

  • Auswirkung von Essstörungen auf Föten

    Essstörungen bei werdenden Müttern können sich ungünstig auf die Hirnentwicklung der Kinder auswirken. Das konnte die Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Uniklinikums Tübingen im Rahmen einer Pilotstudie zeigen. Zum Einsatz kam dabei ein fetaler Magnetoenzephalograph (fMEG), ein europaweit einzigartiges Gerät, mit dem die Hirnströme von Föten ohne Belastung von Mutter und ungeborenem Kind gemessen werden können. Die Studie ist aktuell in der Fachzeitschrift „European Eating Disorder Review“ publiziert.

    Bei Anorexia Nervosa, auch Magersucht genannt, handelt es sich um eine Essstörung. Betroffene zeigen dysfunktionales Essverhalten wie extreme Kalorienrestriktion, Essanfälle oder induziertes Erbrechen, was oftmals zu einer unzureichenden Nährstoffzufuhr führt. Leiden Frauen während der Schwangerschaft unter einer solchen Essstörung, kann sich diese dadurch bedingte Fehlernährung auf die Entwicklung der Kinder auswirken. Denn: Die grundlegenden Gehirnsysteme werden bereits im Mutterleib aufgebaut. Wie stark diese kindlichen Beeinträchtigungen ausgeprägt sein können, so das Ergebnis einer neuen Pilotstudie des Universitätsklinikums Tübingen, liegt an der Schwere der Essstörung.

    Das Studienteam um Prof. Dr. Katrin Giel (Leiterin des Arbeitsbereichs Psychobiologie des Essverhaltens), Prof. Dr. Hubert Preissl, (Arbeitsgruppenleiter Metabolic Neuroimaging) und Prof. Dr. Stephan Zipfel (Ärztlicher Direktor der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie) untersuchte Schwangere mit und ohne Essstörungen während der 27. und 37. Schwangerschaftswoche. Um die Auswirkung von Essstörungen auf die Kindesentwicklung zu erforschen, ermittelten sie mithilfe eines für Mutter und Kind schonenden sowie europaweit einzigartigen Geräts, einem fetalen Magnetoenzephalograph (fMEG), die Aktivität und den Entwicklungstand des fetalen Gehirns. Zur Erfassung der Hirnaktivität wurden auditorische Reize (Tonsignale) geboten. Das fMEG registrierte mithilfe dieser Tonsignale, ob und wie schnell das ungeborene Kind diese Reize erfasst und auf sie reagiert.

    Die Daten der Pilotstudie zeigten, dass mit zunehmender Schwere der Essstörung die Reaktionszeit der Föten auf das Tonsignal verlängert war. Während eine kurze Latenzzeit auf eine reifere Hirnfunktionalität hinweist, kann eine verlängerte Reaktion auf Entwicklungsstörungen hindeuten. Inwiefern diese Reaktionszeiten Aufschluss über die spätere kognitive und verhaltensbezogene Kindesentwicklung gibt, muss nun in Folgestudien untersucht werden.

    Originalpublikation:
    Maternal eating disorder severity is associated with increased latency of foetal auditory event-related brain responses; https://doi.org/10.1002/erv.2870

    Pressestelle des Universitätsklinikums Tübingen, 2.11.2021