Pabst Science Publishers, Lengerich 2020, 153 Seiten, 15,00 €, ISBN 978-3-95853-632-6, auch als E-Book erhältlich
Wie können wir von positiven Wirkungen psychoaktiver Substanzen profitieren – und uns vor negativen Risiken schützen? Wo liegen die Grenzen zwischen genussvollem und problematischem Konsum? Welche Menschen bevorzugen welche Substanzen – und warum? Steigert eine Legalisierung den Drogenkonsum? Ist Sucht selbstverschuldet? Kann LSD auf den ewigen Trip führen?
Im Addictionary beantworten Experten ideologiefrei, wissenschaftlich fundiert, pointiert und kurz alle wichtigen aktuellen Fragen zu psychoaktiven Substanzen. Die Enzyklopädie dient der Fachwelt als handliches Nachschlagewerk und Betroffenen sowie Angehörigen als klare Orientierung.
Welches sind die wirksamsten Behandlungsoptionen für Cannabisprobleme? Wie kann auf neue Trends beim Kokainkonsum reagiert werden? Wie kann die nichtmedizinische Anwendung von Arzneimitteln verhindert werden? Diese Fragen werden in einer neuen Sammlung von Miniguides untersucht, die Mitte Oktober von der Europäischen Beobachtungstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) vorgestellt wurde. Die Sammlung stellt die Aktualisierung des Bandes „Health and social responses to drug problems: a European guide 2017“ („Gesundheits- und sozialpolitische Maßnahmen im Umgang mit Drogenproblemen: ein europäischer Leitfaden 2017“) dar.
Die Miniguides – die zwischen Oktober 2021 und Anfang 2022 in vier Paketen veröffentlicht werden – thematisieren Konsummuster, Schäden, Settings und gefährdete Gruppen. Sie stellen einen Überblick über die zurzeit zur Verfügung stehenden Maßnahmen und Interventionen dar, um auf die Folgen des illegalen Drogenkonsums zu reagieren.
Gestützt auf neue globale Daten und Erkenntnisse aus 29 Ländern (27 EU-Mitgliedstaaten, Türkei und Norwegen) sollen die Miniguides Fachleute und politische Entscheidungsträger bei der Bewältigung der negativen Folgen des Drogenkonsums unterstützen. Die Inhalte werden digital in einem modularen Format präsentiert, das darauf ausgelegt ist, die Zugänglichkeit, die Lektüre über eine Reihe von Instrumenten sowie regelmäßige Aktualisierungen und Übersetzungen zu erleichtern.
In allen Miniguides erläutern „Spotlights“ verschiedene brandheiße Themen, die heute besondere Aufmerksamkeit verlangen. Dazu gehören COVID-19, Drogenkonsum und sexuelle Gesundheit sowie der Konsum von synthetischen Cannabinoiden, Fentanylen und leistungssteigernden Drogen. Wie Probleme identifiziert und die dafür am besten geeigneten Lösungen gefunden werden können, wird in einem beigefügten Aktionsrahmen behandelt.
Die jetzt im Oktober veröffentlichten Miniguides befassen sich mit Mustern des Drogenkonsums, darunter Cannabis, Arzneimittel, Opioide, polyvalenter Drogenkonsum, Stimulanzien und neue psychoaktive Substanzen. Jeder Miniguide gibt einen Überblick über die wichtigsten Aspekte, die bei der Planung oder Durchführung gesundheits- und sozialpolitischer Maßnahmen zur Bewältigung bestimmter drogenbedingter Probleme zu berücksichtigen sind. Es werden Verfügbarkeit und Wirksamkeit der Interventionen und ihre Auswirkungen auf Politik und Praxis überprüft.
Alexis Goosdeel, Direktor der EMCDDA: „Die EMCDDA unterstützt politische Entscheidungsträger und Fachkräfte bei der Planung und Durchführung von Strategien und Programmen, die zu einem gesünderen und sichereren Europa beitragen. Unsere neuesten, in digitaler und modularer Form bereitgestellten Miniguides behandeln einige der wichtigsten Herausforderungen für die öffentliche Gesundheit im Drogenbereich und bieten aktuelle und praktische Ratschläge für die Konzeption, Ausrichtung und Umsetzung wirksamer Maßnahmen. Wir hoffen, dass die Miniguides Praktikern die Instrumente an die Hand geben, mit denen sie auf die heutigen Drogenprobleme reagieren und sich auf die Probleme von morgen vorbereiten können.“
Der am 7. Oktober erschienene Jahresbericht der Drogenbeauftragen der Bundesregierung, Daniela Ludwig, gibt einen umfassenden Überblick über die Drogen- und Suchtpolitik in Deutschland, enthält aktuelle Zahlen zum Drogenkonsum und beleuchtet darüber hinaus die Situation während der Coronapandemie.
Die Suchthilfe und Suchtberatung geriet zu Beginn der Krise enorm unter Druck und musste quasi über Nacht von analoger auf digitale Beratung umstellen. Auch die Substitutionsversorgung von schwer abhängigen Menschen drohte, sich schwierig zu gestalten.
Dazu die Drogenbeauftragte Daniela Ludwig: „Diese Pandemie war ein extremer Stresstest für das hiesige Suchthilfesystem, insbesondere für die Betroffenen: suchtkranke Menschen, ihre Familien und Freunde. Der persönliche Kontakt zu Therapeutinnen und Therapeuten sowie Beratungsstellen brach nahezu komplett weg. Wir haben schnell und effizient gehandelt, um einen Kollaps zu verhindern. Mit der Eilverordnung zur Flexibilisierung der Substitutionsversorgung, die mehr Menschen in Behandlung gebracht hat, den digitalen Sprechstunden und der Aufrechterhaltung der Rehabilitationsbehandlung für Suchtkranke – es ist uns gemeinsam trotz der Umstände gelungen, dass die so dringend erforderliche Hilfe weitergehen konnte.“
Die Drogenbeauftragte Daniela Ludwig fordert für die kommenden Jahre, dass Kommunen und Länder das Thema Suchtprävention und niedrigschwellige Suchthilfe als festen Bestandteil der Daseinsfürsorge etablieren. Dafür müssten die nötigen personellen, finanziellen und organisatorischen Ressourcen geschaffen werden.
Der neue Drogenbericht beinhaltet auch eine Übersicht über aktuelle Konsumzahlen illegaler und legaler Drogen. Während der Konsum von Alkohol und Tabak insgesamt leicht rückläufig ist, stieg wie in den Jahren zuvor der Cannabiskonsum gerade bei den jungen Erwachsenen.
Im Bereich organisierte Drogenkriminalität ist seit Jahren eine steigende Zahl an Handelsdelikten zu verzeichnen. Durch die Coronapandemie kam es zu Veränderungen, der Handel verlagerte sich von der Straße ins Internet. Der Bund hat darauf schnell und unbürokratisch reagiert und diverse strafrechtliche Verschärfungen verabschiedet. So sind in der vergangenen Legislatur durch die Erweiterung des Geldwäschetatbestands und der Vermögensabschöpfung sowie durch den neuen Straftatbestand, der das Betreiben krimineller Handelsplattformen im Internet sanktioniert, weitere Gesetze gegen Drogenkriminalität – online wie offline – verabschiedet worden.
Daniela Ludwig: „Das entschlossene Vorgehen gegen die organisierte Drogenkriminalität und der Ausbau von Präventionsmaßnahmen werden weiterhin eine elementar wichtige Aufgabe in den kommenden Jahren sein. Wir müssen vermeiden, dass Deutschland zu einem Drehkreuz des internationalen Drogenhandels wird. Was wir brauchen, ist eine gemeinsame Allianz aus Bund und Ländern, um das Vorgehen gegen organisierte Drogenkriminalität noch effektiver zu bündeln. Und das gilt online wie offline!“
Der neue Bericht der Drogenbeauftragten mit aktuellen Zahlen und weiteren Informationen steht hier zum Download bereit.
Pressestelle der Drogenbeauftragen der Bundesregierung, 7.10.2021
Tectum Verlag, Baden-Baden 2021, 134 Seiten, 32,00 €, ISBN 978-3-8288-4689-0, auch als E-Book erhältlich
Fachkräftemangel, Generationsumbruch, demografischer Wandel – die aktuellen Herausforderungen in Sozialunternehmen verdeutlichen die Wichtigkeit, sich mit der Bindung von Mitarbeitenden auseinanderzusetzen. Die Babyboomer gehen zunehmend in Rente, die Generation Y (geb. 1980–2000) nimmt den Arbeitsmarkt ein. Sie scheint anders an die Arbeitswelt heranzugehen als frühere Generationen. Wie werden Mitarbeitende der Generation Y in Sozialunternehmen gebunden? Mit Hilfe einer Literaturrecherche und Expert*innen-Interviews werden praxisrelevante Erkenntnisse abgeleitet, die verdeutlichen, dass es für die Bindung der Generation Y spezifischer Ansätze bedarf und dabei insbesondere emotionale Aspekte wichtig sind.
Die Anzahl der Cannabiskonsumenten ist in Europa zwischen 2010 und 2019 im Durchschnitt um mehr als ein Viertel gestiegen. Dabei hat auch der besonders riskante tägliche oder fast tägliche Konsum zugenommen. Das sind die Ergebnisse einer im Fachmagazin „The Lancet Regional Health – Europe“ veröffentlichten Auswertung von Wissenschaftler*innen des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). Die Forschenden haben anhand öffentlich zugänglicher Daten aus Ländern der Europäischen Union sowie aus Großbritannien, Norwegen und der Türkei die aktuellen Entwicklungen beim Cannabiskonsum, die Behandlungszahlen und den THC-Gehalt untersucht.
„Wir konnten in unserer Auswertung zeigen, dass mehr Menschen in Europa im vergangenen Jahrzehnt Cannabis konsumiert haben“, sagt Studienleiter Dr. Jakob Manthey, der am von UKE-Wissenschaftler*innen geleiteten Zentrum für interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg und der Technischen Universität Dresden forscht.
Konsum
Die Anzahl der cannabiskonsumierenden Erwachsenen in den untersuchten Ländern ist im Schnitt um 27 Prozent von 3,1 auf 3,9 Prozent der Bevölkerung im Alter von 15 bis 64 Jahren gestiegen, wobei der stärkste relative Anstieg bei den 35- bis 64-Jährigen zu beobachten war. Zudem lag der Anteil der Menschen, die bei Umfragen angegeben hatten, im vergangenen Monat täglich oder fast täglich Cannabis konsumiert zu haben, in jedem zweiten europäischen Land bei mehr als 20 Prozent; in Portugal sogar bei 70 Prozent. Dabei gilt ein Konsum dieser Häufigkeit als besonders riskant. Zugleich wurde europaweit ein Anstieg der Behandlungen wegen eines problematischen Cannabiskonsums um etwa 30 Prozent registriert, vor allem zwischen den Jahren 2010 und 2015. Nur in einzelnen Ländern waren die Behandlungsraten leicht rückläufig.
Wirkstoffgehalt
Die Forschenden untersuchten zudem die Entwicklung des Wirkstoffgehalts des Rauschmittels im vergangenen Jahrzehnt. Der Gehalt des Hauptwirkstoffs im Cannabis, das so genannte delta-9-tetrahydrocannabinol oder auch THC, hat in den analysierten Proben insgesamt zugenommen. Bei Cannabisharz, auch Haschisch genannt, hat sich der mittlere THC-Gehalt in etwa verdreifacht und bei Cannabisblüten fast verdoppelt.
„Möglicherweise ist mit der Zunahme des durchschnittlichen THC-Gehalts auch eine Zunahme der Gesundheitsgefahren für die Konsumierenden verbunden. Das müssen weitere Untersuchungen klären“, sagt Dr. Manthey. Er gibt weiterhin zu bedenken: „Inwiefern der Anstieg des Cannabiskonsums durch die Zunahme des in einigen europäischen Ländern erlaubten medizinischen Gebrauchs erklärbar ist, kann durch die uns vorliegenden Daten nicht beantwortet werden. Um das genaue Ausmaß der gesundheitlichen Probleme durch Cannabiskonsum in Europa abschätzen zu können, ist eine bessere Datengrundlage notwendig.“
Daten
Für ihre Untersuchung haben die Forschenden Daten des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung, der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht und der „Global Burden of Disease“-Studie genutzt. Zudem verglichen sie für die Ermittlung der Prävalenz des Konsums die erste und die letzte verfügbare Schätzung jedes Landes und führten für die Ermittlung der Veränderung der Behandlungsraten und der Wirkstoffkonzentration von Cannabis lineare Regressionsmodelle durch.
Originalpublikation:
Manthey et. al. Public health monitoring of cannabis use in Europe: prevalence of use, cannabis potency, and treatment rates. The Lancet Regional Health – Europe. 2021.
DOI: https://doi.org/10.1016/j.lanepe.2021.100227
Pressestelle des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE), 24.9.2021
Die COVID-19-Pandemie führte aufgrund der Maßnahmen zu ihrer Eindämmung zu empfindlichen Einschnitten in der Lebensführung der meisten Menschen. Die Beschränkung der Sozialkontakte und des Freizeitverhaltens, die vergleichsweise starke Begrenzung auf den häuslichen Bereich durch z. B. virtuellen Unterricht oder Homeoffice sowie die allgemeine Bedrohungslage und die damit verbundene subjektive Unsicherheit wurden zuletzt immer wieder als Nährboden für die Entwicklung psychischer Probleme diskutiert (z. B. Bilke-Hentsch et al., 2020). Speziell hinsichtlich des vergleichsweise neuen Phänomens der so genannten Internetnutzungsstörungen erscheint es denkbar, dass die lang andauernde pandemische Lage insbesondere unter vulnerablen Gruppen zu einer Zunahme von Betroffenen geführt hat. Erste Studienbefunde aus dem deutschen Sprachraum zeigen, dass unter Jugendlichen zumindest die tägliche Nutzung verschiedener Onlineangebote in der Freizeit (u. a. Online-Computerspiele, soziale Netzwerke) zuletzt deutlich angestiegen ist (Paschke et al., 2021).
Auch Studierende gelten im Zusammenhang mit Internetnutzungsstörungen als vulnerable Gruppe, und auch sie waren in ihrer Lebensführung durch die Pandemie in besonderem Maße betroffen. Um die Auswirkungen der Pandemie auf die psychische Gesundheit Studierender zu untersuchen, führte eine interdisziplinäre Forschergruppe der Universität Mainz und der Universitätsmedizin Mainz eine fragebogenbasierte Kohortenstudie an etwa 3.000 Studierenden der hiesigen Universität durch. Die Daten der ersten Kohorte wurden kurz vor Ausbruch der Pandemie erhoben, jene der zweiten Kohorte während der Pandemie. Die Studienergebnisse weisen auf einen dramatischen Anstieg der Prävalenz von Internetnutzungsstörungen hin (3,9 Prozent vor vs. 7,8 Prozent während der Pandemie). Ebenso zeigen sich starke Zunahmen bei weiteren psychischen Symptombelastungen wie etwa Depressivität und Angstsymptome. Diese ersten Studienergebnisse deuten darauf hin, dass die pandemische Lage unter jungen Erwachsenen zu einer spürbaren Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit geführt und insbesondere das Auftreten von Internetnutzungsstörungen begünstigt hat. Die weiterführenden Inhalte der Studie werden im November in der Zeitschrift Suchttherapie veröffentlicht.
Zwar ist aus den Studienergebnissen nicht zu ersehen, in welchem Ausmaß die psychischen Belastungen von anhaltender Natur sind, jedoch erscheint es sinnvoll, bereits jetzt spezifische Beratungsprogramme für Studierende zu implementieren und ganz grundsätzlich dem Thema Internetnutzungsstörungen verstärkt Aufmerksamkeit zu schenken.
Online-Vortragsreihe „1. Woche der Medienabhängigkeit“
Auch vor diesem Hintergrund veranstaltet der Fachverband Medienabhängigkeit in der Woche vom 8.–12.11.2021 die „1. Woche der Medienabhängigkeit“ als Online-Vortragsreihe. In den Beiträgen beleuchten anerkannte nationale und internationale Expertinnen und Experten verschiedene Aspekte von Internetnutzungsstörungen, wobei Prävention und neue Behandlungsansätze im Vordergrund stehen.
Dr. Kai W. Müller, Grüsser Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 21.10.2021
Literatur:
Bilke-Hentsch, O., Bachmann, S., Batra, A., Conca, A., Funk, L., Gremaud, F., Jenewein, J., Hentsch, S., Klein, M. Michel, G., Müller, K.W., Müller-Knapp, U., Pezzoli, V., Preuss, U., Rexroth, C., Sevecke, K., Thun-Hohenstein, L., Walter, M., Weber, P., Wladika, W. & Jud, A. (2020). Gibt es ein „Post-corona-Adaptations-Syndrom“? Sollte es „post-Corona“-Interventionen geben? Entwicklungspsychiatrische Überlegungen. Leading Opinions Psychiatrie & Neurologie, 3/4, 6-11
Paschke, K., Austermann, M. I., Simon-Kutscher, K., & Thomasius, R. (2021). Adolescent gaming and social media usage before and during the COVID-19 pandemic. 67, 13-22.
Scarlett WiewaldProf. Dr. Gundula BarschDr. Lars George-Gaentzsch
Checkpoint-S ist der Name einer Smartphone-App für Android-Betriebssysteme, die sich in erster Linie an die etwa 81.300 Menschen in substitutionsgestützter Behandlung in Deutschland (vgl. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 2021) sowie an deren Behandler*innen – sprich Substitutionsärzt*innen, Psychotherapeut*innen und Sozialarbeiter*innen – richtet. Die Substitution einer Opiatabhängigkeit geht mit komplexen und vielfältigen Anforderungen an beide Seiten einher. Als sozial vulnerable Patient*innengruppe benötigen Substituierte vielseitige Hilfe und Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung. Mit der Checkpoint-S-App möchte ihnen das Team der Forscher- und Entwickler*innen ein Tool zur Seite stellen, das sie bei ihrer häufig lebenslangen Therapie begleitet und dazu beiträgt, ihren bio-psycho-sozialen Status zu stabilisieren und ihre Lebensqualität zu verbessern. Die App setzt dabei genau dort an, wo die Beratungs- und Betreuungsmöglichkeiten durch Behandler*innen aufhören: im Alltag der Patient*innen.
Das Forschungsprojekt Checkpoint-S
Entwickelt wird die Checkpoint-S-App im Rahmen eines gleichnamigen Forschungsprojekts an der Hochschule Merseburg, das seit 2019 für drei Jahre durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. Die Ergebnisse unterschiedlicher empirischer Erhebungen unter substituierten Menschen und Behandler*innen werden als Bestandteil einer iterativen und agilen App-Programmierung direkt in Funktion und Design der App übersetzt. Auf diesem Wege entsteht schrittweise ein Tool, das direkt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Zielgruppe zugeschnitten ist. Der Kerngedanke dabei ist: Je dichter Gestaltung und Funktionalität der App an der Lebensrealität der Adressat*innen orientiert sind, desto besser ist die Gebrauchstauglichkeit (usability) und das Nutzungserlebnis (user experience). Kooperationspartner*innen in Halle (Saale) und Berlin stehen dem Projekt mit ihrem Fach- und Praxiswissen beratend zur Seite. Alle eint die Idee, Checkpoint-S zu einem sinnvollen, therapiebegleitenden Hilfsmittel der Substitutionsbehandlung werden zu lassen.
Die App in ihrer bisherigen Entwicklungsstufe räumt auch Menschen unabhängig von einer Substitutionsbehandlung Nutzungsmöglichkeiten ein. So bietet sie Drogengebraucher*innen und suchtkranken Menschen allgemein die Möglichkeit, bestimmte Aspekte ihres Alltags zu dokumentieren, um auf diesem Weg persönlichen Konsummustern auf die Spur zu kommen: Wie sehen die emotionalen und physischen Auswirkungen des Konsums aus? Was sind die individuellen Auslöser für den Konsum (Trigger)?
Abb. 1
Die Checkpoint-S-App macht sich das Prinzip des so genannten Self-Trackings zunutze. Gemeint ist damit die freiwillige Erfassung von Aspekten des eigenen Körpers, des Verhaltens, der Emotion sowie der Kognition und ihres Verhältnisses zur physiologischen Umwelt (Aufenthaltsorte, Uhrzeiten, Wetterbedingungen u.v.m.) mittels technischer Gerätschaften. Ziel ist, Erkenntnisse über diese Aspekte zu gewinnen und ein entsprechendes Selbstwissen aufzubauen. Die so gewonnenen Einsichten können Ausgangspunkt für eine gezielte Gestaltung von Veränderungsprozessen werden (George-Gaentzsch 2021).
Die Checkpoint-S-App setzt dieses Prinzip in Form unterschiedlicher digitaler Tagebücher um. Die aktuelle Version 6.3, die bereits im Google-Play-Store zum Download verfügbar ist, bietet die folgenden Funktionen (s. Abb. 1):
Substitutionstagebuch zur Dokumentation der täglichen Einnahme des Substitutionsmittels in Bezug auf Dosis und Zeitpunkt. Zudem kann ein persönlicher Substitutionsplan in der App eingerichtet werden, wodurch eine reguläre Einnahme zukünftig nur noch bestätigt werden muss. Auch irreguläre Einnahmen lassen sich problemlos festhalten. In der zugehörigen Datenbank sind alle aktuell auf dem deutschen Markt erhältlichen Substitutionsmittel inklusive Depotmedikationen enthalten. Die App erinnert an die nächste Dosis, was insbesondere für Take-Home-Patient*innen sowie für Patient*innen, die Depotsubstitute erhalten, wichtig ist.
Abb. 2
Befinden-Tagebuch: In diesem Bereich können Patient*innen täglich ihr körperliches und emotionales Befinden beurteilen (Toll, Gut, Geht so,Mies) und festhalten, welche Gründe ihr aktuelles Befinden beeinflussen. Die Liste der Gründe kann durch den/die Nutzer*in selbstständig erweitert und um eigene Gründe ergänzt werden. Auf diesem Weg ist es möglich, die App zu individualisieren.
Konsumdruck-Tagebuch: Hier lässt sich regelmäßig erfassen, wie stark oder schwach das Craving, d. h. das Bedürfnis, Drogen zu konsumieren, zum jeweiligen Zeitpunkt ist. Auch hier lassen sich Bewertungen in Bezug auf das Vorhandensein von Konsumdruck dokumentieren und individuelle Gründe dafür angeben (s. Abb. 2).
Konsum-Tagebuch: Konsumieren Patient*innen während der Substitutionstherapie gelegentlich oder regelmäßig legale oder illegale Substanzen, kann das in diesem Bereich notiert werden. Das Konsum-Tagebuch erlaubt auch, Verhaltenssüchte wie Glückspiel, Kaufen oder Essen zu protokollieren. Da hier auch eigene ‚Substanzen‘ angelegt werden können, lässt sich das Konsum-Tagebuch nutzen, um die Einnahme verschriebener Medikamente wie etwa Schmerzmittel, Magen-Darm-Medikamente oder Psychopharmaka hinsichtlich Dosis und Zeitpunkt festzuhalten.
Abb. 3
Ziele-Tagebuch: Persönliche Ziele wie regelmäßig essen, Sport treiben oder spazieren gehen können in diesem Bereich definiert und die Umsetzung überwacht werden. Bei diesen Zielen kann es sich um eigene Vorhaben handeln oder auch um Ziele, die im Rahmen der Substitution, der Psychotherapie oder der psychosozialen Betreuung definiert wurden.
Export- und Backup-Funktion: Die App verfügt schließlich über eine Exportfunktion, sodass Patient*innen ihre Daten ihren Behandler*innen zugänglich machen können. Ob die Daten geteilt werden oder nicht, ist allein den Patient*innen überlassen; ohne deren aktives Tun verbleiben die Daten auf dem persönlichen Handy und sind von Dritten nicht abrufbar. Auf der Projekt-Webseite https://checkpoint-s.de/ wird ein spezielles Excel-Sheet zum Download angeboten, das es ermöglicht, die exportierten Daten auf einfache Weise zu visualisieren und miteinander in Verbindung zu setzen. Wichtig wird, dass die App über eine Backup-Funktion verfügt, die es Nutzer*innen erlaubt, ihre Daten zu sichern.
Die einzelnen Tagebucheinträge und ausstehenden Ereignisse werden in der App in einer komfortablen Kalenderansicht dargestellt (s. Abb. 3). Eingegebene Daten lassen sich als Diagramme visualisieren, wodurch zeitliche Verläufe erkennbar werden. Zusätzliche Kreisdiagramme informieren über Verhältnismäßigkeiten, etwa welches die häufigsten dokumentierten Gründe für ein „mieses“ Befinden sind. Die Visualisierungen sollen den Nutzer*innen ermöglichen, einfacher persönliche Einsichten über sich und ihre Erkrankung zu gewinnen und ggf. eigene Problembewältigungsstrategien zu entwickeln (s. Abb. 4).
Abb. 4
Zurzeit arbeitet das Projektteam an der Entwicklung und Implementierung einer Erinnerungsfunktionalität. Mittels selbstgesetzter Reminder können Nutzer*innen sich etwa daran erinnern lassen, regelmäßige Eintragungen in den Tagebüchern zu tätigen, oder sie können sich bestimmte alltägliche Zielvorgaben, wie beispielsweise regelmäßig zu essen, ins Gedächtnis rufen.
Die Vorteile der App für Patient*innen, Klient*innen und Behandler*innen
Folgende Vorteile ergeben sich für Patient*innen durch die Nutzung der Checkpoint-S-App:
Ermöglichen von Selbstreflexion, Selbstwissen und Selbstexpertisierung: Für Patient*innen bietet sich die Chance, sich selbstinitiiert und eigenmotiviert ein besseres Verständnis für den Behandlungsprozess im Sinne einer bio-psycho-sozialen Gesamtentwicklung erarbeiten zu können. Mit der selbstinitiierten Sammlung körperlicher und psychischer Daten soll zu einer regelmäßigen, aktiven und bewussten Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper, dem Verhalten und dem psychischen Befinden angeregt werden. Auf diesem Wege können Nutzer*innen ihre individuelle Erkrankung sowie positive und negative Einflussfaktoren auf die persönliche Entwicklung besser verstehen lernen. Dergestalt werden sie zu Expert*innen ihrer persönlichen Erkrankung sowie ihrer Bedürfnisse und Probleme.
Steigerung der Eigenverantwortung und Patient*innen-Autonomie: Durch das Angebot der Reflexion und Dokumentation sollen Patient*innen motiviert und befähigt werden, sich als informierte Partner*innen in die Gestaltung der Behandlung und Betreuung einzubringen – ein Fakt, der gleichzeitig die therapeutischen Kriterien Compliance und Haltekraft stärkt.
Kontinuierliche Unterstützung: Die App möchte Nutzer*innen zu einer konstanten Datensammlung und Auseinandersetzung mit den Daten bewegen – zukünftig sollen Push-Benachrichtigungen dieses Ziel unterstützen. Dies wiederum kann zu einem Impulsgeber für die Entwicklung von persönlichen Zielen sowie von Lösungsstrategien bei Suchtdruck, Konsum und anderen Krisensituationen werden.
Informations- und Wissensvermittlung: Den Patient*innen soll in Form von gut recherchierten und fachlich geprüften Informationen und Tipps eine bedarfsgerechte, jederzeit verfügbare, kleinschrittige und individuelle Unterstützung in Alltag und Beruf geboten werden. Diese Informationsvermittlung erfolgt über den Bereich Wissenswelt auf der Projekt-Webseite. In diesem Sinne sind die App und die Webseite als eine Einheit zu verstehen.
Inklusion: Mit den genannten Zielsetzungen lässt sich ein Stück Barrierefreiheit und Teilhabe für eine vulnerable und vielfach benachteiligte Patient*innengruppe schaffen, die ansonsten nicht nur vom digitalen Wandel im Gesundheitsbereich ausgeschlossen bliebe. Ihr Ausschluss aus diesen Entwicklungen würde auch zu einer weiteren sozialen Benachteiligung führen.
Die App soll eine digitale Therapiebegleitung sein, die sowohl den Patient*innen als auch deren Behandler*innen zugutekommt. Die Vorteile, die die Checkpoint-S-App Substitutionsärzt*innen, Psychotherapeut*innen und Sozialarbeiter*innen bieten kann, sind nach jetzigem Forschungsstand des Projekts:
Vereinfachung von Diagnostik, Therapie und Beratung: Indem die Daten im Alltag der Patient*innen gesammelt und dokumentiert werden, erhalten Behandler*innen ein genaueres Bild von Symptomen und Alltagsproblemen. Wenngleich es sich hierbei nur um ‚weiche‘ – weil subjektiv gefärbte – Daten handelt, können diese doch wichtige Anhaltspunkte für die Therapieplanung liefern und auch dabei helfen, Erinnerungslücken auf Seiten der Patient*innen zu füllen.
Individualisierung von Therapie und Beratung: Auf Basis der gesammelten Daten und der gemeinsamen Auswertung mit dem/der Patient*in kann es leichter möglich werden, Therapie und Beratung auf die jeweils individuellen Bedürfnisse zuzuschneiden und zielgerichteter zu planen – ein Fortschritt, der die Erfolgsaussichten deutlich verbessern kann.
Arbeits- und Zeitersparnis: Aus einer zwar vereinfachten, aber umfassenderen Diagnostik, den erweiterten Individualisierungsmöglichkeiten und nicht zuletzt durch Befähigung und Stärkung der Patient*innen ergibt sich für deren Behandler*innen eine Ersparnis an Arbeit und Zeit.
Anwendungsfelder der Checkpoint-S-App innerhalb und außerhalb der Substitution
Ist ein/e Nutzer*in bereit, die Daten aus Checkpoint-S mit seinen/ihren Behandler*innen (Allgemeinmediziner*innen und Substitutionsärzt*innen, Psycholog*innen, Psychotherapeut*innen oder Sozialarbeiter*innen) zu teilen, können beide Seiten profitieren. Hierdurch eröffnen sich Möglichkeiten, Therapie und Betreuung zu individualisieren, negativen Entwicklungen frühzeitig entgegenzuwirken sowie positive Tendenzen zu unterstützen. Die App ermöglicht, Therapie und Beratung im Sinne eines Shared-Decision-Making zu gestalten. Gestützt auf bisher vorliegende empirische Erkenntnisse lassen sich nachfolgende Anwendungsfelder der App innerhalb der Substitutionstherapie erkennen:
Einstellung des Substituts, Dosissplitting und Abdosierung: Durch die regelmäßige Dokumentation der Einnahme des Substituts lässt sich erschließen, ob, wann und in welcher Dosis der/die Patient*in das verschriebene Substitut eingenommen hat. Wird parallel dazu das Konsumdruck-Tagebuch geführt, können Substitutionsärzt*innen die Daten nutzen, um zu überprüfen, ob ihr/e Patient*in richtig eingestellt ist. Werden zudem die Daten aus dem Befinden-Tagebuch einbezogen, lassen sich potenzielle Nebenwirkung und Unverträglichkeiten identifizieren. Auf diesem Wege ist es möglich, die Dosis des Substituts gezielt und individuell anzupassen oder zu entscheiden, ob vielleicht ein anderes Substitut besser geeignet sein könnte. Auch bei einem Dosissplitting von Take-Home-Patient*innen können die Wirksamkeit und Verträglichkeit der Einzeldosen geprüft und gezielt Anpassungen vorgenommen werden. Des Weiteren kann eine kontinuierliche Abdosierung des Substituts anhand der App-Daten systematisch begleitet und bei Problemen zeitnah gegensteuert werden.
Einstellung und Kontrolle weiterer Medikamente: Nimmt ein/e Patient*in regelmäßig weitere Medikamente (z. B. Schmerz-, Magen-Darm-Mittel oder Psychopharmaka), kann deren Einnahme mittels Konsum-Tagebuch dokumentiert und überprüft werden. In Kombination mit Daten aus dem Befinden-Tagebuch lassen sich Rückschlüsse in Bezug auf die korrekte Dosiseinstellung sowie auf mögliche unerwünschte körperliche oder psychische Nebenwirkungen ziehen. Werden innerhalb substitutionstherapeutischer Interventionen auch die Eintragungen im Substitutionstagebuch hinzugezogen, ist auf diesem Wege möglicherweise zu erkennen, ob es negative Wechselwirkungen zwischen Medikamenten und dem Substitut gibt. In der Folge können Dosierungen und Einnahmezeitpunkte angepasst oder es kann über einen Wechsel der Medikamente entschieden werden.
Dokumentation von Begleit- und Folgeerkrankungen: Die meisten Menschen in Substitutionsbehandlung haben einen multimorbiden Gesundheitszustand. Vor allem durch das Befinden-Tagebuch lassen sich Symptome – etwa chronische Schmerzen oder andere Beschwerden – sowie individuelle Krankheitsverläufe systematisch dokumentieren. Auf dieser Basis können therapeutische Ansätze und Medikamente angepasst werden.
Falldokumentation: Die exportierten Daten der Checkpoint-S-App lassen sich in den Excel-Sheets gemeinsam in einer Grafik visualisieren. Zusammenhänge sind so leichter erkennbar. Die Export-Datei kann deshalb auch ein wichtiges Hilfsmittel für die Falldokumentation der Behandler*innen sein, weil auf diese Weise Verläufe sowie Zeitpunkte und Erfolge von therapeutischen Interventionen genau nachvollzogen werden können.
Identifikation von Triggern und psychischen Leiden: Wird das Befinden-Tagebuch regelmäßig genutzt und werden für das jeweilige Befinden auch die Gründe notiert, lassen sich bestimmte Auslöser (Trigger) für positive oder negative Gefühlslagen identifizieren. Damit können Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen erkennen, welche Verhaltensweisen sich vorteilhaft auf therapeutische Ziele auswirken und an welchen gemeinsam gearbeitet werden sollte. Bei einer längerfristigen Nutzung lassen sich bestimmte Verhaltensmuster erkennen, die erlauben präventiv einzugreifen, um etwa das Aufkommen depressiver Phasen zu vermeiden.
Konsummuster erkennen und verändern: Eine klassische Aufgabe therapeutischer Interventionen und psychosozialer Betreuung ist, Konsummuster für legale und illegale Substanzen sowie Muster von Verhaltenssüchten zu erkennen. Wichtige Informationen dazu kann das Konsum-Tagebuch liefern. Werden der Konsum oder exzessive Verhaltensweisen hier regelmäßig festgehalten, lassen sich solche Muster schnell erkennen. Kombiniert man diese Daten mit denen aus dem Befinden-Tagebuch, ergibt sich ein dezidiertes Bild über mögliche Auslöser und Kompensationsstrategien.
Problemfelder erkennen und Ressourcen aufbauen: Führt ein/e Nutzer*in neben dem Substitutionstagebuch auch regelmäßig das Befinden-Tagebuch, das Konsumdruck-Tagebuch und das Konsum-Tagebuch, ergibt sich ein komplexes Bild über wiederkehrende problematische Zusammenhänge. Beispielsweise wird so ersichtlich, ob der Aufenthalt an bestimmten Orten einen hohen Konsumdruck oder der Kontakt mit bestimmten Personen eine Stressreaktion auslöst. Auf Basis dieses Wissens können Behandler*in und Patient*in gemeinsam Problemlösungsstrategien erarbeiten, wie sich diese Risikosituationen zukünftig vermeiden lassen.
Ziele vereinbaren und verfolgen: Mit dem Ziele-Tagebuch der Checkpoint-S-App können etwa im Rahmen der psychosozialen Betreuung unterschiedlichste Ziele bestimmt und deren Umsetzung im Alltag verfolgt werden. So könnten bei einem Wunsch nach Konsumreduktion beispielsweise konsumfreie Tage oder wöchentlich wiederkehrende Routinen definiert werden. Beim nächsten Termin mit dem/der Klient*in ließe sich anhand der Daten gemeinsam besprechen, inwieweit Ziele umgesetzt werden konnten oder wo es Probleme gab.
Die Anwendungsfelder der Checkpoint-S-App sind nicht auf Substitution beschränkt. Es lassen sich schon jetzt einige Off-Label-Uses im Kontext unterschiedlicher Formen von Sucht- sowie chronischer Erkrankungen erkennen. So ist Checkpoint-S auch für die Dokumentation bestimmter Verhaltenssüchte wie Glückspiel, Videospielen, Kaufen oder Essen geeignet. Außerdem kann die App im privaten Bereich eingesetzt werden. Dies betrifft den so genannten Party- und Freizeitkonsum legaler und illegaler Drogen, den Substanzgebrauch zur Leistungssteigerung in Schule, Universität und Beruf oder aber den Gebrauch bestimmter Substanzen als eine Form der Selbstmedikation bei physischen oder psychischen Leiden. Weitere Nutzungsszenarien der Checkpoint-S-App werden die Ergebnisse des Praxistests aufdecken, der im Juli 2021 beendet wurde.
Fazit
Die Checkpoint-S-App bietet für Menschen in Substitution die Möglichkeit, sich selbst, ihre individuelle Erkrankung und ihre speziellen Problemfelder und Bedürfnisse besser zu verstehen. Auf diesem Wege können sich motivierte und emanzipierte Patient*innen aktiv in die Gestaltung von Therapie und psychosozialer Betreuung einbringen. Sind Nutzer*innen bereit, die Daten mit ihren Behandler*innen zu teilen, können auch diese auf vielfältige Art und Weise einen Nutzen aus der App ziehen. Die App kann so ein wichtiges Tool der Therapiebegleitung und der Therapievorbereitung bzw. der Überbrückung bis zum Therapiebeginn sein. Sie kann genutzt werden, um bis zum Freiwerden eines Therapieplatzes bereits relevante Informationen zu sammeln, den/die Patient*in zur Selbstreflexion anzuregen oder bestimmte Ziele zu verfolgen.
Zusätzlich zu allen genannten Vorteilen hat die aktuelle Corona-Krise die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Entwicklung kontaktarmer, mobiler Formen der Therapiebegleitung verdeutlicht. Insbesondere für Risikogruppen wie ältere, komorbide und/oder chronisch kranke Patient*innen werden derartige digitale Ansätze zukünftig wichtig werden. Die Checkpoint-S-App kann bereits heute dazu beitragen, für substituierte Menschen lebensbedrohliche Versorgungs- und Therapieabbrüche in Folge von Kontaktbeschränkungen, Praxisschließungen oder persönlichem Quarantänefall etwas zu kompensieren. Positiv gewendet sind die mit Corona verbundenen Entwicklungen auch ein Schritt zu mehr Normalität für Substitutionspatient*innen, die bisher stark geregelten und kleinteilig kontrollierenden Behandlungsroutinen ausgesetzt sind.
Unabhängig von einer Substitutionsbehandlung bietet Checkpoint-S ein breites Anwendungspotenzial auch für Psychotherapie oder Beratungen. Weitere Anwendungskontexte der Checkpoint-S-App sehen die Forscher*innen auch in der Allgemeinmedizin. Nach Auswertung des Praxistests werden sie dazu berichten.
Kontakt:
Dr. Lars George-Gaentzsch
CheckPoint-S Projektteam
Hochschule Merseburg, University of Applied Sciences
Eberhard-Leibnitz-Straße 2
06217 Merseburg checkpoint-s@hs-merseburg.de www.checkpoint-s.de
Angaben zu den Autor*innen:
Dr. phil. Lars George-Gaentzsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt Checkpoint-S und kümmert sich im Wesentlichen um die Konzeption des Forschungsdesigns, die Durchführung und Auswertung der empirischen Erhebung sowie die theoretische Übersetzung der Forschungsergebnisse in Design und Funktionen der Checkpoint-S-App. Prof. Dr. habil. Gundula Barsch ist Projektleiterin und Impulsgeberin des Forschungsprojekts. Seit vielen Jahren arbeitet sie als Dozentin und Forscherin an der Hochschule Merseburg im Fachbereich Soziale Arbeit. Medien. Kultur. Ihr thematischer Schwerpunkt liegt im Bereich „Drogen und Soziale Arbeit“. Dipl.-Soz.päd. Scarlett Wiewald ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt und Dozentin an der Hochschule Merseburg. Neben der praktischen Konzeption der Inhalte und des Designs der App gemeinsam mit den Software-Entwicklern pflegt sie die Kontakte zu den Behandler*innen und Patient*innen und managt den Transfer der App in die Praxis.
Die Fachklinik Hirtenstein im Oberallgäu ist eine stationäre medizinische Rehabilitationsklinik für alkohol- und medikamentenabhängige Männer sowie Männer mit pathologischem Glücksspielverhalten. Träger ist der Deutsche Orden, eine Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Sitz in Weyarn. Als Träger ist der Deutsche Orden mit seinen Ordenswerken in der Altenhilfe, Behindertenhilfe, Suchthilfe sowie der Kinder- und Jugendhilfe tätig. Der Bereich Suchthilfe führt zwölf Rehabilitationskliniken, 17 soziotherapeutische Einrichtungen und zwei ambulante Beratungs- und Therapiezentren. Die Fachklinik Hirtenstein verfügt über 74 Therapieplätze im ersten Schritt der medizinischen Rehabilitationsbehandlung und acht Adaptionsplätze.
2018 und 2919 lag die Quote der irregulären Entlassungen (disziplinarische Entlassungen und Abbrüche) bei durchschnittlich elf Prozent, also bei 32,3 Patienten über das ganze Jahr, ohne Häufung zu einem Zeitpunkt im Therapieverlauf. Die im Nahtlosverfahren sowie von den Suchtfachambulanzen gut vorbereiteten Patienten kamen mit hoher Motivation in der Klinik an, sodass sofort Therapie beginnen konnte mit Zielformulierung auf der Grundlage unseres tiefenpsychologischen Behandlungskonzepts. Seit Anfang des Jahres 2021 beobachten wir nun zunehmend – v. a. zunehmend belegungs- und wirtschaftlich relevant – Behandlungsabbrüche innerhalb der ersten drei Wochen bei ungebrochen hoher Zuweisungs- und Aufnahmequote.
Anstieg der Behandlungsabbrüche
Im Jahr 2019 hatte die Fachklinik Hirtenstein 294 Aufnahmen, im Jahr 2020 291 und im ersten Halbjahr 2021 152 Aufnahmen; die Aufnahmezahl der Vorjahre wird also 2021 extrapoliert übertroffen. Trotz dieser hohen Aufnahmequote sinkt die Belegung kontinuierlich. Nachweislich ist die Zahl der Entlassungen „vorzeitig ohne ärztliches Einverständnis“ seit dem 2. Quartal 2020 kontinuierlich gestiegen. Wie in Tabelle 1 dargestellt wird, hat sich die Zahl der Abbrüche seit dem 2. Quartal 2020 bis 2. Quartal 2021 mehr als verdoppelt (Anstieg von 7,94 auf 18,67). Hinzu kommen disziplinarische Entlassungen mit einem Mittelwert von ungefähr 7,0.
Tab. 1: Zahl der Behandlungsabbrüche (ohne disziplinarische Entlassungen) 2. Quartal 2020 bis 2. Quartal 2021
Zwei Drittel der Behandlungsabbrüche geschehen innerhalb der ersten zwei Wochen, ein Viertel der Abbrecher verlässt die Klinik in der dritten Woche, wenn nach dem Behandlungskonzept der Übergang von der Aufnahmephase in die Behandlungsphase vollzogen ist, also die Gruppentherapie intensiv beginnt. Im ersten Halbjahr 2021 kamen 16 Patienten im Nahtlosverfahren. Von ihnen brachen nur sechs die Therapie innerhalb der ersten drei Wochen ab. Alle anderen abbrechenden Patienten kamen aus Suchtfachambulanzen oder psychosozialen Beratungsstellen.
Unsere These, die zur Ermittlung der nun vorliegenden Zahlen geführt hat, lautet: Aufgrund der veränderten Beratungsmodalitäten als Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie sind Patienten unzureichend auf die stationäre medizinische Rehabilitation vorbereitet.
Auswirkungen der veränderten Beratungsmodalitäten
Mitte März 2020 stellten die Beratungsstellen und Suchtfachambulanzen auf Weisung ihrer Träger innerhalb eines Tages die persönliche Vorbereitung der Klienten sowie die Gruppenangebote ein. Bis heute lesen wir in vielen Sozialberichten, dass die Beratung der Klienten und die Beantragung zur Entwöhnungsbehandlung telefonisch erfolgte. Wenn doch eine persönliche Beratung stattfand, dann im Einzelkontakt, da die meisten Beratungsstellen immer noch keine Gruppenangebote durchführen (können).
Mit unseren Zahlen sehen wir unsere These bestätigt und nehmen an, dass Patienten, die ohne persönliche Gespräche und v. a. ohne motivationale Behandlung in der Gruppe, was vor der Coronapandemie Standard in den Suchtfachambulanzen war, in die Fachklinik kommen, zwar ein Einsehen in Krankheit und Behandlungsbedürftigkeit haben, aber weder mit therapeutischen Techniken vertraut sind noch mit der Gruppensituation. Die Begründung für den frühzeitigen Abbruch der meisten Patienten ist, „hiermit nichts anfangen zu können“, „das ist nichts für mich“, „so habe ich mir das nicht vorgestellt“ usw. Auch persönliches Bemühen um die Patienten sowie die Bitte, die Entscheidung ein paar Tage zu überdenken, ändern nichts an deren Entschluss abzubrechen.
Vergleichsweise weniger Frühabbrecher entfallen auf die Patienten, die im Nahtlosverfahren zu uns kommen. Hier nehmen wir an, dass sie im Akutkrankenhaus bereits sowohl die Gruppensituation kennengelernt haben als auch mit therapeutischer Fragestellung und Haltung konfrontiert worden sind.
Wir können evident darlegen, dass wir trotz der im Vergleich zu den Vorjahren noch steigenden Aufnahmequote aufgrund irregulärer Entlassungen – z. B. 24 im 2. Quartal 2021 (18,67 Abbruch, 5,33 disziplinarisch) – einen erheblichen Einbruch in der Belegung hinnehmen müssen. Ursächlich dafür scheint die eingeschränkte Vorbereitung der Patienten durch externe Stellen, da Einzel- und Gruppengespräche gar nicht bzw. nur teilweise stattfinden. Gestützt wird die These dadurch, dass es unter den Patienten, die im Nahtlosverfahren in die Behandlung kommen, weniger Frühabbrecher gibt aufgrund vorheriger Kenntnis von Gruppeneffekten und bereits begonnener Reflexion durch therapeutische Intervention in der therapeutischen Beziehung.
Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass suchtkranke Patienten ganz wesentlich von einer hinreichenden motivationalen Vorbereitung nicht nur auf kognitiver Ebene, sondern auch im therapeutischen Beziehungserleben mit ebenfalls Betroffenen sowie therapeutisch Tätigen, profitieren.
Abgesehen davon ist anzunehmen, dass die hohe Abbruchquote (sofern sie auch in anderen Kliniken zu beobachten ist) sowohl gesundheitsökonomisch als auch volkswirtschaftlich zu einem Problem führen wird, da die Patienten nach Abbruch der Therapie selbstverständlich nicht abstinieren.
Auf Grund der erhobenen Zahlen scheint den Suchtberatungsstellen über Beratung und Vermittlung hinaus in zweierlei Hinsicht die Schlüsselrolle für den Erfolg des Rehabilitationsbeginns zuzukommen: Sie übernehmen die z. T. langwierige Motivation und langsame Annäherung an therapeutisches Handeln, und sie initiieren erste Gruppensituationen in der real erlebten therapeutischen Beziehung. Ohne diese beziehungsorientierte Vorarbeit der Beratungsstellen müsste die Rehabilitationsbehandlung deutlich früher, also schon bei der Motivationsarbeit ansetzen, so dass Zeit für die vertiefte biographische Arbeit mit den Patienten fehlt. Langfristig würden Abstinenzzahlen und somit der Reha-Erfolg, die Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit, sinken.
Dr. Ursula Fennen MBA
Chefärztin Fachklinik Hirtenstein
Der bundesweite Aktionstag Suchtberatung findet in diesem Jahr am 10. November unter dem Motto „Suchthilfe wirkt“ statt. Suchtberatungsstellen in ganz Deutschland sind herzlich eingeladen, sich daran zu beteiligen. Es gibt nicht den einen Veranstaltungsort oder das eine Veranstaltungsformat. Der Aktionstag Suchtberatung findet überall dort statt, wo Sie sind. Alle Informationen zum Aktionstag wie einen Aktionsplaner mit Tipps und Hinweisen zur Organisation einer Veranstaltung und Verteilmaterialien zum Download finden Sie hier: https://www.aktionstag-suchtberatung.de/
Das Ziel
Der Aktionstag Suchtberatung möchte an möglichst vielen Orten gleichzeitig auf den Stellenwert der Suchtberatungsstellen aufmerksam machen und eine breite Öffentlichkeit über ihre Arbeit und ihre Angebote informieren. Denn: Vielen Menschen ist bislang (noch) nicht bekannt, welch vielfältige Aufgaben Suchtberatung übernimmt und wie sie auf individueller und gesellschaftlicher Ebene unterstützt.
Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) und ihre Mitgliedsverbände haben den Aktionstag Suchtberatung 2020 ins Leben gerufen, um unterschiedliche Zielgruppen über die Arbeit der Suchtberatungsstellen vor Ort zu informieren:
Politische Entscheidungstragende: Welche Schlüsselfunktionen und Schnittstellenarbeit in der Kommune übernehmen Suchtberatungsstellen? Was braucht es, um den zentralen Aufgaben nachhaltig nachkommen zu können?
Betroffene und Angehörige: Wie kann Suchtberatung mir/uns persönlich helfen?
Suchtberatungsstellen beraten, behandeln und begleiten, unterstützen und stabilisieren Abhängigkeitskranke in Krisen sowie in dauerhaft herausfordernden Lebenssituationen. Damit bieten sie vor Ort eine unverzichtbare Hilfe für suchtgefährdete und abhängigkeitskranke Menschen und ihre Angehörigen. Sie übernehmen vielfältige Aufgaben auf verschiedenen Ebenen. Suchtberatungsstellen leisten einen wertvollen Beitrag für die Gesellschaft:
Motivation und Vermittlung: Suchtberatungsstellen sind unter anderem dafür zuständig, Hilfesuchende ins medizinische Hilfesystem (stationäre oder ambulante Rehabilitation) überzuleiten. Sie motivieren Betroffene, diese Hilfsangebote wahrzunehmen, und informieren über die verschiedenen Möglichkeiten.
Beratung und Begleitung: Durch die beratende und begleitende Funktion stabilisiert sich die Situation Betroffener.
Netzwerkarbeit: Fachkräfte der Suchtberatung sind Anlaufstelle für unterschiedliche Ansprechpersonen und vermitteln zwischen unterschiedlichen Institutionen. Das können z. B. Angehörige, Arbeitgebende oder Jocenter sein. Darüber hinaus kooperieren Suchtberatungsstellen auch mit anderen Hilfestellen (wie z. B. dem Jugendamt) zur Erschließung von Angeboten.
Beziehungsqualität: Die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Fachkräften und Klient*innen legt den Grundstein für eine gelungene und nachhaltige weiterführende Versorgung Betroffener.