Die doppelt hilfreiche Wirkung von Bewegung bei Depressionen belegt eine Studie der Universitätsklinik für Psychiatrie der Ruhr-Universität Bochum (RUB) am Campus Ostwestfalen-Lippe: Körperliche Aktivität mindert nicht nur die depressiven Symptome. Sie steigert auch die Veränderungsbereitschaft des Gehirns, die Voraussetzung für Anpassungs- und Lernprozesse ist. „Die Ergebnisse zeigen, wie wichtig vermeintlich einfache Dinge wie körperliche Aktivität in der Behandlung und Vorbeugung von Erkrankungen wie Depressionen sind“, so Studienleiterin Privatdozentin Dr. Karin Rosenkranz. Die Studie wurde am 9. Juni 2021 in der Zeitschrift Frontiers in Psychiatry veröffentlicht.
Menschen mit Depressionen ziehen sich oft zurück und sind körperlich inaktiv. Um die Wirkung von Bewegung zu untersuchen, gewann die Arbeitsgruppe von Karin Rosenkranz 41 Betroffene, die in der Klinik behandelt wurden, für ihre Studie. Die Teilnehmenden wurden je einer von zwei Gruppen zugeteilt, von denen eine ein dreiwöchiges Bewegungsprogramm absolvierte. Das Programm, das vom Team der Sportwissenschaft der Universität Bielefeld um Prof. Dr. Thomas Schack entwickelt worden war, war abwechslungsreich, enthielt spielerische Elemente, hatte aber keinen Wettbewerbs- oder Prüfungscharakter, sondern erforderte die Zusammenarbeit der Beteiligten. „So wurden gezielt auch Motivation und soziales Miteinander gefördert und Ängste vor Herausforderungen sowie negative Erfahrungen mit körperlicher Aktivität – Stichwort Schulsport – abgebaut“, erklärt Karin Rosenkranz. Die andere Gruppe nahm an einem Kontrollprogramm ohne körperliche Aktivität teil.
Vor und nach dem Programm bestimmte das Studienteam jeweils die Schwere der depressiven Symptomatik wie Antriebs- und Interessenlosigkeit, Motivationsmangel und negative Gefühle. Darüber hinaus wurde die Veränderungsbereitschaft des Gehirns, die so genannte Neuroplastizität, gemessen. Sie kann mit der transkraniellen Magnetstimulation von außen bestimmt werden. „Die Veränderungsbereitschaft ist wichtig für alle Lern- und Anpassungsprozesse des Gehirns“, erklärt Karin Rosenkranz.
Veränderungsbereitschaft stieg – Symptome gingen zurück
Die Ergebnisse zeigen, dass bei Depressiven die Veränderungsbereitschaft des Gehirns im Vergleich zu Gesunden niedriger ist. Nach dem Programm mit körperlicher Aktivität stieg diese Veränderungsbereitschaft signifikant an und erreichte die Werte von Gesunden. Zeitgleich gingen in der Gruppe die Depressionssymptome zurück.
„Je mehr die Veränderungsbereitschaft anstieg, desto deutlicher rückläufig waren die klinischen Symptome“, fasst Karin Rosenkranz zusammen. Bei der Gruppe, die am Kontrollprogramm teilgenommen hatte, waren diese Veränderungen nicht so ausgeprägt. „Das zeigt, dass es einen Effekt von körperlicher Aktivität auf Symptome und Veränderungsbereitschaft des Gehirns gibt. Inwiefern die Veränderung der Symptome und der Veränderbarkeit des Gehirns kausal miteinander verknüpft sind, können wir aus diesen Daten nicht beantworten“, schränkt die Medizinerin ein. „Es ist bekannt, dass körperliche Aktivität dem Gehirn guttut, da sie zum Beispiel die Neubildung von Verbindungen von Nervenzellen fördert. Dies könnte durchaus auch hier eine Rolle spielen.“
Das Projekt wurde gefördert aus dem Forschungsfonds für den Aufbau transdisziplinärer, medizinrelevanter Forschungskooperationen in der Region OWL.
Originalpublikation:
Wanja Brüchle, Caroline Schwarzer, Christina Berns, Sebastian Scho, Jessica Schneefeld, Dirk Koester, Thomas Schack, Udo Schneider, Karin Rosenkranz: Physical activity reduces clinical symptoms and restores neuroplasticity in major depression, in: Frontiers in Psychiatry, 2021, DOI: 10.3389/fpsyt.2021.660642
Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum, 4.8.2021
Klett Cotta-Verlag, Stuttgart 2021, 160 Seiten mit Zusatzmaterial, das auch in der Jugend-Suchthilfe eingesetzt werden kann,18,00 €, ISBN 978-3-608-86133-4
Alkohol, Cannabis, Ecstasy, Crystal Meth & Co. sind für fast alle Jugendlichen heute leicht erreichbar, und nicht wenige geraten in eine Abhängigkeit, aus der schwer wieder herauszufinden ist. Eltern finden hier Antworten auf ihre zentralen Fragen: Woran erkenne ich, dass mein Kind konsumiert? Wie harmlos oder schädlich sind die verschiedenen Suchtmittel? Sind Langzeitschäden für Körper, Gehirn und Psyche zu erwarten? Was braucht mein Kind?
Eltern oder andere Bezugspersonen und auch der/die betroffene Jugendliche selbst verstehen durch die Lektüre, was das Suchtmittel leistet und welche Bedürfnisse dadurch befriedigt werden: ein wichtiger Ansatzpunkt, um miteinander ins Gespräch zu kommen und Behandlungsschritte einzuleiten. Nicht zuletzt hängt es von den Eltern und anderen aufmerksamen Erwachsenen, ihrem Verhalten und ihrer Unterstützung ab, ob die Befreiung von der Sucht gelingt.
Am 1. September findet um 19:30 Uhr im Open-Air-Kino beim „Dach der Stadt“ (Nordbahntrasse am Mirker Bahnhof, Wuppertal) die Premiere der Filmreihe „Aufstehen“ statt.
Im Mittelpunkt der Filmreihe stehen die Lebenserfahrungen und Lebensbedingungen von vielfältig von Armut betroffenen jungen Menschen. Sie zeigen und erzählen, wie ihr Alltag mit eingeschränkten Möglichkeiten aussieht, was Armut für sie bedeutet, welche Auswirkungen Armut auf sie hat und welche individuellen und gesellschaftlichen Auswege es gibt.
Welche Armutsursachen nehmen sie wahr, welche Perspektiven sehen sie für sich, welchen Einfluss hat Armut auf das Leben der Jugendlichen (in Hinsicht auf Bildung, soziale Teilhabe, Gesundheit, Kommunikation, politische Partizipation)? Welche Unterschiede und welche Gemeinsamkeiten gibt es in Bezug auf die kulturelle Herkunft und das Geschlecht der Jugendlichen? Wie ist der eigene Umgang der Jugendlichen mit Stigmatisierungen und Vorurteilen, wie wird Armut individuell oder gesellschaftlich versteckt, weil es ihnen peinlich ist?
Ziele der produzierten Filme sind:
Jugendarmut und ihre Folgen für die Betroffenen sichtbar zu machen,
die Zuschauer*innen zur Reflexion von eigenen Ängsten und Stigmatisierungserfahrungen anzuregen sowie
Empathie und Solidarität unter Jugendlichen mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen zu stärken.
Eine Studie an acht Universitäten in Deutschland zeigt, dass die meisten Studierenden den Drogenkonsum ihrer Mitstudierenden überschätzen. Das hat Auswirkungen auf den eigenen Konsum.
Egal ob in sozialen Netzwerken oder offline: Menschen haben eine bestimmte Wahrnehmung davon, wie sich die Personen in ihrem Umfeld verhalten. Diese Wahrnehmung ist subjektiv und entspricht nicht unbedingt der Realität. Dennoch versuchen Menschen – bewusst oder unbewusst – ihr eigenes Verhalten an das der anderen anzupassen. In der Forschung wird auch von der wahrgenommenen sozialen Norm gesprochen. Ein Forschungsteam aus Deutschland hat nun untersucht, ob dieses Phänomen auch für den Konsum von Drogen gilt.
Studie an acht Universitäten in Deutschland
Claudia Pischke (Heinrich Heine Universität Düsseldorf) und ihr Team haben eine randomisierte kontrollierte Studie an acht Universitäten aus vier Regionen in Deutschland durchgeführt. Für jede der vier Regionen nahmen zwei Universitäten an der Studie teil. Das Forschungsteam wählte für jede Region zufällig aus, welche der beiden Universitäten zur Interventions- und welche zur Kontrollgruppe gehören sollte.
Unabhängig von der Gruppenzugehörigkeit wurden die Studierenden aller acht Universitäten zu ihrem Konsum von legalen und illegalen Drogen befragt und gebeten, den Konsum ihrer Mitstudierenden einzuschätzen. Die Befragung fand zu zwei Zeitpunkten statt. An der ersten Befragung nahmen rund 4.500 Studierende teil. 28 Prozent von ihnen beteiligten sich auch an der zweiten Befragung, die etwa fünf Monate später stattfand.
Über 60 Prozent überschätzen den Drogenkonsum ihrer Mitstudierenden
Pischke und ihr Team betrachteten nur die Ergebnisse für Alkohol, Cannabis und Tabak näher. Für die anderen abgefragten Substanzen wie beispielsweise Ecstasy waren die Fallzahlen zu niedrig. Bei der ersten Befragung gaben rund 17 Prozent der Studierenden an, in den zwei Monaten vor der Befragung drei Mal oder öfter pro Woche Alkohol getrunken zu haben. Über 70 Prozent der Befragten ging aber davon aus, dass der Alkoholkonsum ihrer Mitstudierenden höher war.
Ein ähnliches Bild zeigte sich beim Konsum von Cannabis. Zwar gaben nur etwa vier Prozent der Befragten an, mindestens einmal pro Woche Cannabis konsumiert zu haben. Aber auch hier lag die Mehrheit der Studierenden mit ihrer Einschätzung daneben: Mehr als 60 Prozent der Befragten schätzten den Cannabiskonsum der anderen höher ein.
Beim Tabakkonsum war es nicht anders. Rund zwölf Prozent der Studierenden gaben an, drei Mal oder häufiger pro Woche Tabak geraucht zu haben. Über 60 Prozent der Studierenden war überzeugt, die anderen rauchen mehr.
Information zum Konsum der anderen scheint eigenen Konsum zu senken
Das Forschungsteam wollte herauszufinden, ob sich das Konsumverhalten der Studierenden verändert, wenn sie wissen, wie häufig ihre Mitstudierenden tatsächlich Drogen konsumieren. Dazu wurden die Studierenden der Interventionsgruppe acht Wochen nach der ersten Befragung über den tatsächlichen Drogenkonsum ihre Mitstudierenden informiert. Die Kontrollgruppe erhielt keine Rückmeldung.
Für den Alkoholkonsum zeigte sich, dass Studierende, die realistische Information über den Alkoholkonsum ihrer Mitstudierenden erhalten hatten, zum zweiten Befragungszeitpunkt signifikant weniger Alkohol konsumierten als diejenigen, die keine Rückmeldung bekommen hatten. Möglicherweise haben die Befragten ihren Alkoholkonsum reduziert, um das eigene Verhalten dem ihrer Mitstudierenden anzupassen. Beim Konsum von Cannabis zeigte sich ein ähnlicher Effekt. Nur für den Tabakkonsum konnte kein Effekt der Intervention festgestellt werden.
Bestätigung früherer Studien
Das Forschungsteam weist daraufhin, dass die Ergebnisse mit Vorsicht zu interpretieren sind. Insgesamt habe sich nur ein sehr kleiner Teil der Studierenden an der Befragung beteiligt. Daher können die Ergebnisse nicht ohne Weiteres auf andere Studierende übertragen werden.
Dennoch zeigt die Studie, was bereits in früheren Forschungsarbeiten deutlich wurde: Die Verbreitung des Konsums von legalen und illegalen Drogen wird meist überschätzt. Das könnte zur Folge haben, dass Menschen häufiger Drogen konsumieren, weil sie hohen Konsum fälschlicherweise für die geltende soziale Norm halten. Das Wissen über den tatsächlichen Konsum der anderen könnte laut Pischke und ihrem Team den sozialen Druck reduzieren und dazu führen, dass weniger Drogen konsumiert werden.
Wer herausfinden möchte, ob die eigene Wahrnehmung zur Verbreitung des Drogenkonsums in Deutschland der Realität entspricht, kann das mit einem Online-Tool zur Verbreitung des Drogenkonsums testen.
Originalpublikation:
Pischke, C. R., Helmer, S. M., Pohlabeln, H., Muellmann, S., Schneider, S., Reintjes, R., Schmidt-Pokrzywniak, A., Girbig, M., Krämer, A., Icks, A., Walter, U. & Zeeb, H. (2021). Effects of a Brief Web-Based “Social Norms”-Intervention on Alcohol, Tobacco and Cannabis Use Among German University Students: Results of a Cluster-Controlled Trial Conducted at Eight Universities. Frontiers in Public Health, https://doi.org/10.3389/fpubh.2021.659875
Mabuse-Verlag, Frankfurt a. M. 2020, 195 Seiten, 29,95 €, ISBN 978-3-86321-544-6
Die Digitalisierung wird – auch im Gesundheitswesen – gern als revolutionäre Entwicklung propagiert. Wir erleben die Verschmelzung von physikalischen, biologischen und digitalen Sphären, von Datenextraktion, Personalisierung und Verhaltensmodifikation. Der Einsatz von Algorithmen, lernenden Software-Programmen und digitalen Kommunikationsformen ist ebenso an der Tagesordnung wie profitorientierte Datensammler. Angesichts der enormen Menge datengestützter Information stellt sich immer dringender die Frage nach deren Ordnung und Nutzung – nicht erst seit, aber auch während der Covid-19-Pandemie und bezüglich der Corona-App.
Die AutorInnen dieses Buches setzen sich dafür ein, dass die menschliche Autonomie die Vormachtstellung über Software-Algorithmen und digitale Transformationsprozesse behält. Denn Gesundung findet immer in mehrdimensionalen Beziehungen zu lebendigen Umwelten statt, insbesondere in der sinnlich-direkten mitmenschlichen Kommunikation. Es wäre fatal, Menschen in all ihrer Komplexität als reine Datenlieferanten zu betrachten und dem blinden Glauben an digitale Heilsversprechen zu erliegen.
Die Belastungsfaktoren der digitalen Arbeit beschreiben Aspekte der digitalen Arbeit, die zu erhöhtem Stressaufkommen bei Beschäftigten führen können. Ihre Entstehung ist bedingt durch organisatorische und arbeitsbezogene Rahmenbedingungen, den Umgang der Beschäftigten mit digitalen Technologien und Medien sowie deren individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten. Es ist daher notwendig, organisatorische, technologische und individuelle Präventionsmaßnahmen zu ergreifen, um die Ursachen von digitalem Stress zu reduzieren und die Fähigkeiten von Beschäftigten im Umgang mit digitalem Stress zu fördern. Das Ziel ist dabei, effektive Maßnahmen zu wählen, die zu Gesundheit, Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit der Beschäftigten beitragen.
Im Rahmen des Projekts „PräDiTec: Prävention für sicheres und gesundes Arbeiten mit digitalen Technologien“ ist die Studie „Präventionsmaßnahmen der digitalen Arbeit. Ein strukturierter Katalog an Präventionsmaßnahmen zur Vermeidung von digitalem Stress“ erschienen. Grundlage für den Maßnahmenkatalog sind zwölf zuvor identifizierte Belastungsfaktoren bei der Arbeit mit digitalen Technologien und Medien. Auf diese beziehen sich 24 verschiedene Präventionsmaßnahmen auf technologischer, organisatorischer und individueller Ebene, die von Unternehmen umgesetzt werden können. Die Maßnahmen werden im Bericht nach einheitlichem Schema ausführlich und praxisnah erläutert.
Übersicht der Präventionsmaßnahmen
Quelle: Gimpel, H. et al. (2021), Präventionsmaßnahmen der digitalen Arbeit. Ein strukturierter Katalog an Präventionsmaßnahmen zur Vermeidung von digitalem Stress, S. 16 f.
Belastungsfaktoren der digitalen Arbeit
Leistungsüberwachung: Gefühl, dass durch die Nutzung von digitalen Technologien und Medien Leistungsüberwachung und -bewertung zunehmen
Gläserne Person: Gefühl, dass die Nutzung digitaler Technologien und Medien die Privatsphäre verletzt
Unzuverlässigkeit: Gefühl, dass die verwendeten digitalen Technologien und Medien unzuverlässig sind und nicht ihrer Aufgabe gerecht werden
Unterbrechung: Gefühl, dass es durch die Nutzung von digitalen Technologien und Medien vermehrt zu Ablenkungen oder Unterbrechungen kommt.
Überflutung: Gefühl, aufgrund des Einsatzes digitaler Technologien und Medien mehr und schneller arbeiten zu müssen.
Verunsicherung: Gefühl, dass die eigenen Fähigkeiten aufgrund ständiger Wechsel und Änderungen der digitalen Technologien und Medien regelmäßig weiterentwickelt werden müssen.
Nicht-Verfügbarkeit: Gefühl, dass die benötigten digitalen Technologien und Medien nicht zur Verfügung stehen.
Unklarheit der Rolle: Gefühl, dass mehr Zeit in die Lösung von Problemen mit digitalen Technologien und Medien investiert werden muss als in die eigentliche Arbeitstätigkeit.
Komplexität: Gefühl, dass die hohe Komplexität digitaler Technologien und Medien die eigenen Fähigkeiten übersteigt und diese nur schwer aufgebaut werden können.
Omni- und Dauerpräsenz: Gefühl, dass sich durch die Nutzung digitaler Technologien und Medien die Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben zunehmend auflösen und damit eine ständige Erreichbarkeit und eine kürzere Reaktionszeit einhergehen.
Jobunsicherheit: Gefühl, dass der Verlust des Arbeitsplatzes aufgrund von Automatisierung oder mangelnder Kompetenz im Umgang mit digitalen Technologien und Medien droht.
Mangelndes Erfolgserlebnis: Gefühl, kaum Arbeitsfortschritte bzw. -erfolge zu erzielen, da diese bei der Nutzung digitaler Technologien und Medien wenig wahrnehmbar sind
Liste der Präventionsmaßnahmen zum Umgang mit digitalem Stress
Adäquate IT-Landschaft
Arbeitsplatzgestaltung
Release Management
IKT zur Unterstützung (IKT = digitale, mobile Informations- und Kommunikationstechnologien)
Gestaltung von IKT
Nutzung von Gamification
Datenschutzkonzepte
Betriebsvereinbarungen
Helpdesk
Change Management
Team-Normen für die Nutzung von IKT
Erreichbarkeitsmanagement
Kulturentwicklung
Kommunikationsleitbild
Monotasking
Austauschformate
IT-Schulung
Sensibilisierung & Selbstreflexion
Angebot zum Ausgleich
Selbstmanagement & Zeitmanagement
Führen in der digitalen Arbeitswelt
Begleitung von technischen Veränderungen
Führen von verteilten Teammitgliedern
Mentoring für digitale Themen
Die Studie „Präventionsmaßnahmen der digitalen Arbeit. Ein strukturierter Katalog an Präventionsmaßnahmen zur Vermeidung von digitalem Stress“ steht auf der Projekt-Website zum kostenlosen Download zur Verfügung: https://gesund-digital-arbeiten.de/downloadliste/
Quelle: Gimpel, Henner; Berger, Michelle; Lanzl, Julia; Regal, Christian; Schäfer, Ricarda; Schmidt, Marco; Schmidt, Tina (2021). Präventionsmaßnahmen der digitalen Arbeit. Ein strukturierter Katalog an Präventionsmaßnahmen zur Vermeidung von digitalem Stress. Augsburg: Projektgruppe Wirtschaftsinformatik des Fraunhofer FIT. https://doi.org/10.24406/fit-n-633344
Die Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass im Rahmen der Weiterbildung zur / zum Suchttherapeut*in erstmals digitale Formate zur Wissensvermittlung eingesetzt wurden. Über die Erfahrungen damit berichtet Corinna Mäder-Linke in Teil I dieses Artikels. Gleichzeitig hat die pandemiebedingte Notwendigkeit, Treffen in physischer Präsenz zu vermeiden, einen hohen Bedarf an Weiterbildung im Umgang mit digitalen Medien (technisch wie juristisch) offengelegt. Mit diesem Aspekt beschäftigt sich Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel in Teil II.
TEIL I
Einleitende Worte: das Tor zum postpandemischen Leben
Nach über einem Jahr ist die Corona-Pandemie nicht mehr nur ein Einschnitt, sondern ein echter Lebensabschnitt geworden: Menschen haben existenzielle Bedrohungen erlebt, sind in vielerlei Hinsicht an ihre Grenzen gegangen, sind gealtert, gewachsen, gereift, je nachdem. Die notwendig gewordenen Einschränkungen nehmen eine Zeitspanne ein, in der aus regelmäßigen Handlungen Gewohnheiten werden können, und da Anpassung eine Kernkompetenz ist, haben wir die Regeln zu Abstand, Hygiene und Alltagsmaske verinnerlicht und in unseren Alltag integriert. Genauso entgeistert, wie wir am Anfang die leeren Autobahnen und Innenstädte betrachteten, sehen wir nun auf volle Cafés. Und trifft man Freunde, stellt sich insgeheim oder auch laut die Frage nach der Art der Begrüßung – umarmen oder lieber nicht.
Doch neben der Anpassung und der Gewohnheit gibt es noch eine echte kritische Distanz gegenüber der „alten Normalität“. So lohnt es sich, sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich Überlegungen anzustellen, welche der in der Corona-Zeit gemachten positiven Erfahrungen wir in der Zukunft beibehalten möchten. Der folgende erste Teil beleuchtet diese Frage im Hinblick auf die Weiterbildungen im Kontext der Suchttherapie.
Die Geschichte der Weiterbildung Suchttherapie
Lange Zeit galt Sucht moralisch als Laster und Fehlverhalten, das die Betroffenen mit einer Willensentscheidung ändern könnten. Erst das Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts vom Juni 1968 erkannte eine Abhängigkeit als Krankheit an. Auch wenn die in den Konzepten der Einrichtungen beschriebenen Therapiemethoden in den 1970er Jahren den Eindruck erweckten, sie verfolgten eher eine Strafe, als dass sie sich an theoretischem Wissen über eine Erkrankung orientierten, entstand durch die höchstrichterliche Entscheidung ein Recht auf eine vom Sozialversicherungssystem finanzierte Behandlung der Suchtkrankheit. Damit einhergehend wurde das Dilemma deutlich, dass für suchtkranke Menschen ein medizinisches Versorgungssystem nachgefragt wurde, zum damaligen Zeitpunkt aber keine speziellen Behandlungskonzepte für Suchtkranke vorlagen und es an suchtspezifisch ausgebildetem Fachpersonal mangelte. Wichtige Impulse für die Betrachtung der Sucht als Krankheit und die Behandlung abhängigkeitskranker Menschen gingen von der von Bund und Ländern 1975 veröffentlichten Psychiatrie-Enquête aus, forderte sie doch unter Berücksichtigung der multikonditionalen Entstehung des Alkoholismus ein komplexes therapeutisches Programm, das nur durch Zusammenarbeit mehrerer Therapeut*innen verschiedener Fachrichtungen ermöglicht werden kann (vgl. Deutscher Bundestag, 1975).
Den Bedarf nach einer spezifischen Qualifizierung für hauptamtlich in der Suchthilfe Tätige aufgreifend, konzipierten Suchtfachverbände oder Institute Curricula für die „Weiterbildung zur / zum Sozialtherapeut*in – Sucht“, die aus einem verhaltenstherapeutischen oder tiefenpsychologischen Krankheitsmodell ableitbar sind. In 15 Seminarwochen, verteilt über einen Zeitraum von drei Jahren, wurden – vor dem Hintergrund des jeweiligen Verfahrens – theoretische Erklärungsansätze zur Suchtentstehung sowie Kenntnisse über Diagnosen und darauf aufbauend die Planung von Interventionstechniken vermittelt. Ein weiterer Baustein war die Selbsterfahrung. Vor dem Hintergrund eines Verständnisses der eigenen Biografie sollten die Weiterbildungsteilnehmer*innen sich einen emotionalen Zugang zu ihren eigenen Wünschen, Idealen, Illusionen und Ängsten erarbeiten können. Somit sollten sie in der Lage sein, in der zukünftigen therapeutischen Arbeit zwischen sich und der/dem Klient*in unterscheiden zu können und zu verhindern, sie/ihn unbewusst zur Projektionsfläche der eigenen Bedürfnisse und Ängste zu machen. Die dritte Komponente der Weiterbildung stellten die Seminare zum Erlernen praktischer Kompetenzen dar, in denen die Anwendung des erlernten Wissens in der therapeutischen Arbeit der Weiterbildungsteilnehmer*innen mit abhängigkeitskranken Menschen supervisorisch betrachtet wurde.
Mit der im Jahre 1978 von den Rentenversicherungsträgern und den Gesetzlichen Krankenversicherungen verabschiedeten Empfehlungsvereinbarung Sucht für den stationären Bereich der medizinischen Rehabilitation (und 1981 für das ambulante Setting) lagen nun erstmals Qualitätsstandards vor, die die Behandlung suchtkranker Menschen überprüfbar machten und nach außen transparent auf einem professionellen Niveau festschrieben (vgl. VDR, 1978).
In den Jahren nach Inkrafttreten dieser Vereinbarung hatte sich ein ausufernder und kaum noch überschaubarer Markt an Zusatzausbildungen für Mitarbeitende der Rehabilitation abhängigkeitskranker Menschen entwickelt mit einem breiten und sehr heterogenen Weiterbildungsangebot bei fehlenden Mindeststandards. Der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) beauftragte im Jahre 1991 eine Projektgruppe, die unter der Beteiligung der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) formale und inhaltliche Beurteilungskriterien für die Weiterbildungscurricula im Tätigkeitsfeld der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker erarbeitete. Des Weiteren formulierte man Zugangsvoraussetzungen zur Teilnahme an der Weiterbildung hinsichtlich der Qualifikation und des Arbeitsplatzes. Nach Abstimmung dieser Kriterien mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen wurden sie 1992 mit der Veröffentlichung in der Zeitschrift „Deutsche Rentenversicherung“ bindend (vgl. VDR, 1992).
Im Jahre 2011 überarbeiteten Renten- und Krankenversicherung gemeinsam die Beurteilungskriterien und veröffentlichten sie als „Auswahlkriterien zur Prüfung von Weiterbildungen für Gruppen- und Einzeltherapeuten im Tätigkeitsfeld der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker gemäß den Anlagen 1 und 2 der Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“ vom 4. Mai 2001 in der Fassung vom 23. September 2011“ (vgl. Deutsche Rentenversicherung Bund, 2013). Vor allem Lehrinhalte der sozialmedizinischen Kategorien bzw. die Übertragung verhaltenstherapeutischer oder psychoanalytischer Diagnostik, Therapieplanung und Prognose in die Kriterien der Leistungsträger vor dem Hintergrund der Nomenklatur des ICF (International Classification of Functioning) und der Sozialgesetzbücher SGB VI oder SGB V galt es aufzunehmen.
Digitale Strategien der Weiterbildung Suchttherapie
Derzeit bieten in Deutschland acht Institute, darunter sowohl Hochschulen als auch Suchtfachverbände oder andere gemeinnützige Gesellschaften, insgesamt neun von der Deutschen Rentenversicherung (DRV) und der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) anerkannte Curricula für die Weiterbildung zur / zum Suchttherapeut*in an. Staatliche anerkannte Sozialarbeiter*innen / Sozialpädagog*innen, Psycholog*innen mit Diplom oder Master sowie Ärzt*innen, die in einer Einrichtung der medizinischen Rehabilitation abhängigkeitskranker Menschen tätig sind, werden zur Weiterbildung zugelassen und können dabei zwischen den Curricula der Richtlinienverfahren – psychoanalytisch, verhaltenstherapeutisch und zukünftig systemisch – wählen (vgl. Deutsche Rentenversicherung Bund, 2021).
Bei der Überprüfung der Curricula in den Jahren 2011 bis 2016 wurde von DRV und GKV viel Wert darauf gelegt, die geforderten 600 Unterrichtseinheiten der Weiterbildung in Gänze in Präsenz umzusetzen, so dass den Weiterbildungsträgern weder die Möglichkeit eingeräumt wurde noch die Notwendigkeit bestand, im Rahmen ihrer Angebote auch auf digitale Formate zurückzugreifen. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die mit der Pandemie ab März 2020 einhergehenden Kontakt- und Reisebeschränkungen die Weiterbildung Suchttherapie unvorbereitet trafen. Da abzusehen war, dass SARS-CoV-2 für einen nicht unbeträchtlichen Zeitraum Einfluss auf das private und berufliche Leben und hier eben auch auf die Durchführung von Veranstaltungen in Präsenz nehmen würde, taten tragfähige Lösungen Not. Nachdem Seminare im März abgesagt werden mussten, gelang es in kürzester Zeit, die Curricula auf ein online-Format umzustellen, so dass alle Teilnehmer*innen der aktuellen Kurse ihre Weiterbildung ab Juni 2020 per Videokonferenzen fortsetzen konnten. Dass dabei die DRV und GKV als kooperative Partner zur Verfügung standen, um gemeinsam flexible, der Situation angepasste, pragmatische Lösungen zu finden, erleichterte die Umstellung sehr.
Nunmehr blicken wir auf ein Jahr digitalen Unterrichts zurück – mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen, sowohl für Weiterbildungsträger als auch für die Teilnehmer*innen. Der Reiz des Neuen und die Erleichterung, eine Möglichkeit gefunden zu haben, die Weiterbildung nicht unterbrechen zu müssen, motivierte zu Beginn alle Beteiligten, sich schnell in die Handhabung von Zoom, MS Teams und GoToMeeting einzuarbeiten. Man genoss die Vorteile der eingesparten Reisezeit und der Übernachtungskosten, die eine oder der andere auch das Arbeiten von zu Hause.
Im Laufe der Zeit kristallisierte sich dann eine differenzierte Bewertung bezogen auf die Lehrinhalte heraus. Ließen sich theoretische Inhalte effektiv und effizient, mit einer hohen Konzentration auf die zu behandelnden Themen digital unterrichten, stellte die Vermittlung therapeutischer Fähigkeiten in Form von Selbsterfahrung und Supervision eine immer größer werdende Herausforderung dar. Der Lernprozess, dessen es bedarf, um dem abhängigkeitskranken Menschen mit seinem zerstörerischen Umgang mit sich und der Umwelt als Therapeut*in professionell begegnen zu können, ist in einem Setting ohne physische Kontakte schwer zu initiieren und zu steuern. Wahrzunehmen, wie es sich anfühlt, mit Akzeptanz des aktuellen So-Seins, mit Respekt vor dem eigenen Entwicklungsschicksal und in Wahrnehmung aller verbalen und nonverbalen Äußerungen von den anderen Weiterbildungsteilnehmer*innen verstanden zu werden, ist für zukünftige Therapeut*innen elementar. Diese Erfahrung stellt die Voraussetzung dafür dar, Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung in der Therapie als hilfreiche/r Partner*in zur Verfügung zu stehen. Wenn der Raum ein virtueller ist, man sich nicht gegenseitig in die Augen sehen und sich nicht mit allen Sinnen erleben kann, wird es auf Dauer schwierig, diese Art, sich und dem Gegenüber zu begegnen, zu verinnerlichen.
An dieser Stelle, so die Erfahrung in der Weiterbildung zur / zum Suchttherapeut*in, zeigen sich die Grenzen der Digitalisierung der Lehre. Unabhängig davon bleibt unbenommen, dass für die Vermittlung theoretischer Kenntnisse, für Arbeitsgruppentreffen und Absprachen online-Formate gewinnbringend, zeit-, energie- und finanzsparend sind. Wenn man eine Vision der zukünftigen Gestaltung der Weiterbildung zeichnen dürfte, dann wäre das idealerweise eine Kombination aus einerseits digitaler Wissensvermittlung theoretischer Inhalte und andererseits der Befähigung der Person der / des Therapeut*in in physischer Präsenz.
Genauso, wie wir digitale Angebote in den beruflichen Alltag nachhaltig zu integrieren haben, werden wir in den kommenden Monaten Beziehung wieder neu lernen müssen. Vermutlich wird es nicht jeder und jedem leichtfallen, das auf sich bezogene Leben im Homeoffice, aber auch in der Freizeit, wieder für andere zu öffnen, und es wird eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein, das postpandemische Miteinander in den verschiedenen Kontexten zu gestalten.
Weiterbildung als Zukunftsaufgabe
Die Erfahrungen aus der Weiterbildung Suchttherapie ähneln dem allgemeinen Trend. Die Corona-Krise beschleunigte die Digitalisierung des Fort- und Weiterbildungsmarktes in vorher nie gekanntem Ausmaß, beeinflusste tradierte Handlungs- und Denkmuster und setzte so neue Impulse für die Qualifizierung. Eine aktuelle Umfrage unter deutschen Unternehmen zeigt, dass vor Beginn der Pandemie nur 35 Prozent aller Qualifizierungsmaßnahmen digital angeboten wurden, während es inzwischen bereits 54 Prozent sind (vgl. Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e.V., 2021).
Gleichzeitig mussten die Unternehmen in der Corona-Krise (und darüber hinaus) den Spagat zwischen Sparzwang und steigendem Qualifizierungsbedarf schaffen. Sie waren und sind großem finanziellen Druck ausgesetzt und es liegt nahe, am Qualifizierungsbudget zu sparen. Diese Vermutung wird durch eine Umfrage belegt, die zeigt, dass bei 21 Prozent der befragten Unternehmen das entsprechende Budget im Zuge der Corona-Pandemie gesunken ist. Zugleich gaben 84 Prozent der befragten Unternehmen an, dass sich Fort- und Weiterbildung als Thema auf der Vorstandsagenda befindet. Dabei besteht der Wunsch nach innovativen Lernformaten, nach systematischer Evaluation von Lernerfolgen, einem klaren Business Case für Qualifizierung und dem Aufbau adäquater IT-Infrastruktur, die dezentrales Lernen unterstützt (vgl. Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e.V., 2021).
Es wird also auch eine Aufgabe der Politik sein, die Unternehmen zu befähigen, ihren Mitarbeitenden Weiterbildungen zu ermöglichen und diese in einem angemessenen Format, bestehend aus analogen und digitalen Komponenten, durchführen zu können. Erste diesbezügliche Schritte sind getan. Mit der Nationalen Weiterbildungsstrategie gibt es seit 2019 ein abgestimmtes Vorgehen in Deutschland, das von Bund, Ländern, Wirtschaft, Gewerkschaften und der Bundesagentur für Arbeit festgelegt wurde. Weiterbildungen sollen danach als fester Bestandteil beruflicher und unternehmerischer Entwicklung etabliert und eine gemeinsame Weiterbildungskultur in Deutschland geschaffen werden (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales – Geschäftsstelle Nationale Weiterbildungsstrategie). Mit dem Arbeit-von-morgen-Gesetz hat das Bundesarbeitsministerium einige zentrale Vereinbarungen aus der Strategie umgesetzt (vgl. Bundesgesetzblatt, 28.05.2020). Ähnlich wie das Arbeit-von-morgen-Gesetz, zielt auch das Qualifizierungschancengesetz auf eine Ausweitung der Weiterbildungsförderung ab. Es richtet sich vor allem an beschäftigte Arbeitnehmer*innen. Konkret an jene, (a) deren berufliche Aufgaben von Technologien ersetzt werden können, (b) die anderweitig von Strukturwandel betroffen sind oder (c) in einem Beruf tätig sind, in dem Fachkräftemangel herrscht („Engpassberuf“) (vgl. Bundesgesetzblatt, 21.12.2018).
Im Hinblick auf den demografischen Wandel der Mitarbeitenden in den ambulanten, ganztägig ambulanten und stationären Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe ist es dringend notwendig, staatlich anerkannte Sozialarbeiter*innen, Sozialpädagog*innen, Psycholog*innen oder Ärzt*innen zur / zum Suchttherapeut*in weiterzubilden. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass es gelingt, Weiterbildungsangebote den Erfordernissen, die eine Krise mit sich bringt, flexibel anzupassen und Mitarbeitende kontinuierlich auf hohem Niveau zu qualifizieren. Diese Erkenntnisse und Erfahrungen müssen wir für die Zukunft nutzen, um weiter dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.
TEIL II
Pandemie verschärft bekannte Probleme
Ohne einen positivistischen Eindruck erwecken zu wollen, lässt sich aufgrund der während der Corona-Pandemie gemachten Erfahrungen der vergangenen eineinhalb Jahre doch feststellen, dass das Infektionsgeschehen und die daraus abgeleiteten politischen Maßnahmen viele Probleme verschärft und intensiver ins Bewusstsein vieler Menschen gebracht haben, auf die u. a. Suchtfachverbände, Träger und Fachkräfte bereits seit langem hingewiesen haben: Expert*innen oder Berichte in der Tagespresse (vgl. Möhrle 2020; Starzmann 2021) machten wiederholt auf eine Zunahme von Substanzgebrauchsstörungen (nicht nur) während der Pandemie aufmerksam, die Finanzierungsstrukturen insbesondere der ambulanten Suchthilfe basieren vielerorts auf tradierten Modellen (vgl. Bossong & Renzel 2019), die häufig wenig flexibel und ungeeignet sind, angemessen auf Veränderungen zu reagieren, und die Rekrutierung qualifizierter Fachkräfte für die Arbeit im Suchtbereich erweist sich schon lange als problematisch (vgl. fdr+ 2019). Dies sind nur einige Themen, die bereits während der letzten Jahre vor Ausbruch der Pandemie Gegenstand einer Reihe von Arbeitstreffen und Veranstaltungen waren – zu grundsätzlichen Änderungen geschweige denn messbaren Verbesserungen haben diese häufig nicht geführt.
Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Kreative Lösungen und innovative Projekte wurden von verschiedenen Trägern der Suchthilfe in den letzten Jahren immer wieder vorangetrieben und ausprobiert. Und auch Bund und Länder haben sich mit der Förderung von Modellprojekten immer wieder an einzelnen Aktivitäten beteiligt und diese zum Teil auch erst ermöglicht. Schon seit 20 Jahren wird das Internet zur Vermittlung von Präventions- und Informationsangeboten genutzt (vgl. Delphi 2019), die auch schon vor der Pandemie kontinuierlich ausgebaut und erweitert wurden. Aber zu keinem Zeitpunkt ist die Diskrepanz zwischen den grundsätzlichen Möglichkeiten der Nutzung digitaler Medien und den Lücken in der Umsetzung so deutlich geworden wie beim Ausbruch der Pandemie. Die vorübergehende Schließung zahlreicher Hilfsangebote im Frühjahr 2020 illustriert die Hilflosigkeit, mit der auch viele Suchtfachkräfte konfrontiert waren, und die Lücken in der systematischen Implementierung von Angeboten, die nicht ausschließlich darauf ausgerichtet waren, Klient*innen und Patient*innen face-to-face mit Fachkräften in Kontakt zu bringen, waren nicht mehr zu übersehen. Um es deutlich zu sagen: Dies war und ist kein Spezifikum der Suchthilfe, sondern war und ist auch in vielen anderen Bereichen der Fall. Aber auch unser Fachgebiet ist „kalt erwischt“ worden.
Und plötzlich alles digital? – Neue Anforderungen an Fachkräfte und Klient*innen
Jenseits der globalen Probleme, die für alle Bürger*innen mit der Pandemie einhergingen und -gehen, ist ein Teil der oben erwähnten Hilflosigkeit auch auf fehlendes Wissen zurückzuführen. Damit sind hier nicht der Mangel an Kenntnissen über ätiologische Konzepte substanzbezogener Störungen gemeint oder grundsätzliche Fragen zum Umgang mit unseren häufig multimorbid erkrankten Klient*innen und Patient*innen. Aber sicher kann jede Facheinrichtung von Fragen berichten, mit denen sie sich auseinandersetzen musste und die schwer zu beantworten waren bzw. sind, z. B. wie Beratung und Behandlung unter Nutzung digitaler Medien mit dem besonderen Datenschutz bei der Verarbeitung von gesundheitsrelevanten Daten umzusetzen sind, welche Medien am besten geeignet sind, um unsere Klient*innen und Patient*innen zu erreichen, oder schlicht, wie man diese benutzt. Wer erteilt Genehmigungen für die Nutzung bestimmter Programme und wie überzeuge ich meinen Leistungsträger davon, dass unter Nutzung digitaler Medien erbrachte Leistungen hinsichtlich ihrer therapeutischen Qualität ebenso gut sind wie im face-to-face-Kontakt?
Erwähnung finden muss an dieser Stelle, dass die Erbringung digitaler therapeutischer oder anderer Hilfsangebote weit über technische, gesetzliche und andere regulatorische Aspekte hinaus auch in der inhaltlichen und konzeptuellen Umsetzung neue Anforderungen an Fachkräfte und Klient*innen oder Patient*innen stellt; darauf wurde oben schon hingewiesen. Die Nutzung digitaler Medien in unserem Gebiet erfordert mehr und anderes Wissen als die reine Schaffung technischer Voraussetzungen auf dem Computer – aber ohne Letzteres geht es eben auch nicht.
Insgesamt haben wir es also mindestens mit drei Anforderungen an Fachkräfte zu tun, die bislang nicht oder nur unzureichend Gegenstand von Aus- und Weiterbildung sind: Wir brauchen a) mehr technisches Wissen über die grundsätzlichen Möglichkeiten, die digitale Medien bieten, b) mehr Sicherheit über die regulatorischen Rahmenbedingungen, von Datenschutz bis zur Anerkennung digital vermittelter therapeutischer Leistungen, und c) Kenntnisse über die Anpassung unserer Angebote an neue Medien und deren Auswirkungen auf Beratungs- und Behandlungstätigkeiten.
Digitalisierung als Querschnittsthema in Bildungsangeboten
Auch wenn diese Liste nur holzschnittartig ist, weist sie unmittelbar auf bestehende Lücken in den Curricula der Aus- und Weiterbildung der in den unterschiedlichen Bereichen der Suchthilfe tätigen Fachkräfte hin. Die Forderung, sich mit Digitalisierung und Hybridstrukturen auseinanderzusetzen und die entsprechenden Qualifikationen von Fachkräften zu stärken, ist nicht neu (vgl. Klein 2021). Die Pandemie hat uns aber eindringlich mit der Notwendigkeit konfrontiert, diese Anforderungen nicht als isoliertes „weiteres Element“ der Aus- und Weiterbildung zu betrachten, das an geeigneter Stelle an bestehende Seminare und Kurse „angeflanscht“ wird. Es wird notwendig sein, Digitalisierung unter verschiedenen Gesichtspunkten als das große Querschnittsthema in unsere Bildungsangebote zu integrieren. Dazu müssen wir weiterhin Berührungsängste abbauen, Vorurteile bekämpfen und uns mit Neuem auseinandersetzen. Wenn in den letzten Monaten bei manchen der Eindruck entstanden ist, dass dies dazu führt, dass wir mehr Ressourcen gebraucht haben, um letzten Endes weniger gute Angebote zu schaffen, als wir es kannten, dann ist dies zum einen sicher der Tatsache geschuldet, dass (technische) Rahmenbedingungen vielerorts aus der Zeit gefallen waren und ein erheblicher Innovationsstau bestand. Zum anderen ist die oben erwähnte Integration der Digitalisierung in unsere Arbeitsprozesse noch lange nicht erfolgt und wird nur allzu oft als mehr oder minder lästige Zusatzbelastung betrachtet.
Aus- und Weiterbildung hat hier eine große Aufgabe in den nächsten Jahren zu bewältigen, damit Bewährtes nicht verloren geht und Neues sinnvoll integriert werden kann. Nur mit Hilfe starker Bildungsstrukturen wird es uns gelingen, auch zukünftig die Qualität der Suchthilfe – unabhängig von den Versorgungssektoren – auf einem Niveau zu halten, das angemessen auf Veränderungen reagieren und diesen selbstbewusst begegnen kann. Dieser Appell richtet sich an Lehrende und Lernende gleichermaßen. Moderne Aus- und Weiterbildung im Suchtbereich muss mehr sein als das Teilen von Folien unter Nutzung eines digitalen Tools oder die häufig beobachtete Passivität der Zuhörer*innen beim Blick auf den Bildschirm.
Aber auch hier besteht Anlass für Optimismus. Viele Dozent*innen und Seminarteilnehmer*innen haben in den letzten Monaten intensiv gearbeitet und hervorragende Beispiele geliefert, wie sich Wissensvermittlung und die Anwendung digitaler Medien kombinieren lassen. Dass eine Tätigkeit im Suchtbereich als interessante, anspruchsvolle und moderne Form der Berufsausübung wahrgenommen wird, wird bei der Suche nach zukünftigen Fachkräften eine erhebliche Rolle spielen.
Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel
IFT Institut für Therapieforschung München
Leopoldstraße 175, 80804 München Pfeiffer-Gerschel@ift.de
Angaben zu den Autor*innen:
Corinna Mäder-Linke, Diplom-Sozialpädagogin, Master of Arts (Arbeits- und Organisationspsychologie), Sozialtherapeutin-Sucht (GVS), Supervisorin (DGSv), ist Geschäftsführerin des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss). Vorher war sie als Geschäftsführerin des Gesamtverbandes für Suchthilfe e.V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland tätig und verantwortete dort sechs Jahre den Bereich Fort- und Weiterbildung, inklusive der Weiterbildung zur / zum Suchttherapeut*in. Sie ist Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Weiterbildung Suchttherapie. Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut (VT) und Supervisor, ist Geschäftsführer des IFT Institut für Therapieforschung München und der IFT-Gesundheitsförderung. Außerdem ist er als Psychotherapeut in eigener Praxis tätig.
Literatur:
TEIL I
Bundesgesetzblatt Jahrgang 2018, Teil I Nr. 48: Gesetz zur Stärkung der Chancen für Qualifizierung und für mehr Schutz in der Arbeitslosenversicherung, Seite 2651 – 2656, Bundesanzeiger Verlag, 21.12.2018.
Bundesgesetzblatt Jahrgang 2020, Teil I Nr. 24: Gesetz zur Förderung der der beruflichen Weiterbildung im Strukturwandel und zur Weiterbildung und Ausbildungsförderung, Seite 1044 – 1055, Bundesanzeiger Verlag, 28.05.2020.
Bundesministerium für Arbeit und Soziales – Geschäftsstelle Nationale Weiterbildungsstrategie: Umsetzungsbericht Nationale Weiterbildungsstrategie, Berlin, 2021.
Deutscher Bundestag: Psychiatrie-Enquete; Heger Verlag, 1975.
Deutsche Rentenversicherung Bund: Vereinbarungen im Suchtbereich, Seite 79 – 832; Auflage 08 / 2013.
Deutsche Rentenversicherung Bund: Von der Deutschen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung geprüfte Weiterbildungscurricula nach den Auswahlkriterien zur Prüfung von Weiterbildungen für Gruppen- und Einzeltherapeuten im Tätigkeitsfeld der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker gemäß den Anlagen 1 und 2 der Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“ vom 04.05.2001 in der Fassung vom 23. September 2011, 2021. Internetabruf am 02.08.2021: https://www.deutsche-rentenversicherung.de/DRV/DE/Experten/Infos-fuer-Aerzte/Fort-Weiterbildung-Aerzte/weiterbildung_therapeuten_sucht.html
Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e.V.: Die Zukunft der Qualifizierung in Unternehmen nach Corona, Essen, 2021.
Verband Deutscher Rentenversicherungsträger: Empfehlungsvereinbarung über die Zusammenarbeit der Krankenversicherungsträger und der Rentenversicherungsträger bei der Rehabilitation Abhängigkeitskranker – Suchtvereinbarung, 1978.
Verband Deutscher Rentenversicherungsträger: Deutsche Rentenversicherung 7-8/1992, Seite 468 – 479, 1992.
Klein, Michael (2021), „Suchthilfe in Deutschland 2040: Prävention, Beratung und Behandlung unter sich wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen“, in: Addiction. Das Portal zum Thema Sucht und Suchterkrankungen, 14.05.2021. https://www.addiction.de/suchthilfe-in-deutschland-2040/ (Letzter Zugriff: 12.08.21)
Springer VS, Wiesbaden 2021, 223 Seiten, 44,99 €, ISBN 978-3-658-31261-9, auch als E-Book erhältlich
Mit einer großangelegten Feldforschung haben Wissenschaftler*innen der Fachhochschule Dortmund sich dem Thema Obdachlosigkeit genähert und dabei den Fokus auf die Betroffenen gelegt. Die nun vorliegende Studie basiert auf der Auswertung von Interviews mit Wohnungs- und Obdachlosen. Sie bietet neue Ansätze für die Präventionsarbeit und beschreibt die Lebenssituation und Wünsche der Menschen.
„Das Leben auf der Straße ist gesundheitlich und psychisch höchst belastend“, sagt Tim Sonnenberg, Doktorand an der FH Dortmund mit Mitherausgeber des Buches. Es dominierten Ausgrenzung, Konkurrenz, Vertreibung, aber auch Gewalt und Machtmissbrauch. Es sei ein täglicher Kampf ums Überleben. „Niemand tut sich das freiwillig an“, so Tim Sonnenberg. Die gesellschaftspolitische Aussage, dass keine*r in Deutschland auf der Straße leben müsse, greife zu kurz.
„Wohnungs- und Obdachlose gehören inzwischen zu nahezu jedem Stadtbild“, bilanziert Prof. Dr. Dierk Borstel, Sozialwissenschaftler der FH Dortmund. Umso überraschender sei das wenige, konkrete Wissen zu dieser Personengruppe. Die Forschung aus Dortmund solle daher etwas Licht ins Dunkel bringen. Wer sind diese Menschen? Was für Geschichten liegen hinter ihnen? Wie gestaltet sich ihr aktuelles Leben? Was sind ihre Hoffnungen und Wünsche?
Die Biografien von Obdach- und Wohnungslosen sind sehr vielschichtig: Doch ob Arbeiter*innen, Geflüchtete oder Jugendliche – dem Verlust der Wohnung geht zumeist ein langer, individueller Prozess voran, der in Obdachlosigkeit mündet. Die Autor*innen der Studie sprechen von „Bruchstellen“ und „zugespitzten Lebenskrisen“. Das Leben auf der Straße bedingt dann neue Probleme und Krisen, mitunter werden Alkohol und Drogen bei den Betroffenen zur Strategie der Bewältigung. Das Überleben allein kostet alle verfügbaren Kräfte. Feste Termin etwa bei Behörden seien zum Teil nicht mehr möglich. „Dies wird dann oft als fehlende Mitwirkungswilligkeit interpretiert“, berichtet Tim Sonnenberg.
Gemein ist den Lebensgeschichten der Betroffenen, dass immer wieder Präventionsarbeit möglich gewesen wäre. „Obdach- und Wohnungslosigkeit muss in vielen Bereichen der Sozialen Arbeit stärker in den Fokus rücken – von der Jugendhilfe bis zur Justizsozialarbeit“, sagt Tim Sonnenberg. Aus den Biografien der Betroffenen haben die Forscher*innen Risikofaktoren abgeleitet und Handlungsempfehlungen für das Zusammenspiel von Verwaltung, Sozialer Arbeit und ehrenamtlicher Hilfe entwickelt.
Das Hilfesystem müsse weg von einem verwaltend-verwahrenden Ansatz hin zu einer individuellen Fallanalyse, so die Autor*innen. Obdachlosigkeit dürfe nicht einfach ausgeblendet werden. Es bedürfe gesellschaftlicher Wahrnehmung, um zu handeln. Die meisten Betroffenen fühlten sich insgesamt nicht nur diskriminiert, sondern auch unter Missachtung jeglicher Menschenwürde behandelt, was sich wiederum in einer Ablehnung auch gegenüber bestehenden Hilfseinrichtungen widerspiegelt. Dieser Kreis müsse durchbrochen werden. Dafür bedürfe es Brücken zwischen dem bürokratischen System und der Lebenswelt auf der Straße.
Hintergrund zur Studie:
Die Daten für die Studie wurden an einem Aktionsforschungstag (20. Mai 2019) in Dortmund erhoben. Ein großes Team aus Wissenschaftler*innen und 80 Studierenden hat dabei einen Tag lang obdach- und wohnungslose Menschen im Stadtgebiet gezählt und befragt. Die Befragungen erfolgten ausschließlich auf freiwilliger Basis. Mit einigen Betroffenen wurden Tiefeninterviews geführt. Die quantitative Auswertung des Aktionsforschungstags ergab bereits eine deutlich höhere Zahl an Betroffenen als zunächst angenommen. Die qualitative Auswertung der Interviews gab den Wissenschaftler*innen tiefe Einblicke in die Strukturen der Szene.
Pressestelle der Fachhochschule Dortmund, 17.3.2021
Springer-Verlag, Berlin 2021, 211 Seiten, 19,99 €, ISBN 978-3-662-62489-0, auch als E-Book erhältlich
Drogen haben kurze Beine! Sie lügen jedes Mal von Neuem und vermitteln Gefühle, Emotionen und Eindrücke, die nicht echt sind. Und obwohl nicht echt, erschaffen sie eine körperliche und psychische Abhängigkeit. Dieser Ratgeber bietet Menschen mit einer Drogensucht und deren Angehörigen wichtige Fakten rund um das Thema Drogen und Abhängigkeit und zeigt psychologische Wege und Methoden auf, von der Sucht loszukommen. Dieses Buch klärt über verschiedene Substanzen auf – von Medikamenten, Alkohol und Nikotin bis hin zu illegalen Drogen wie Kokain und Heroin –, motiviert und begleitet bei der Entscheidung, sich von Drogen zu lösen. Es bietet hilfreiche Tipps und Methoden zur Rückfallprävention und zeigt, wie Angehörige bei der Bekämpfung einer Sucht helfen können.