Autor: Simone Schwarzer

  • Corona: Wohnungslose Menschen stecken sich schnell an

    Menschen ohne festen Wohnraum und Mitarbeitende in entsprechenden Notunterkünften sind einer hohen Gefahr ausgesetzt, sich mit Corona zu infizieren. Das ist das Ergebnis einer Studie von Epidemiolog*innen der Universität Bielefeld in Kooperation mit der Ludwig-Maximilians-Universität München. Das Forschungsteam hat Studien zusammengefasst, die das Übertragungsrisiko und die Konsequenzen von Corona bei wohnungslosen Personen untersucht haben. Die weltweit erste metaanalytische Studie zu Wohnungslosigkeit und Corona erschien im Juli in der renommierten Fachzeitschrift „EClinicalMedicine“ der Lancet-Gruppe.

    „Vor allem in Notunterkünften zeigt sich ein erhebliches Risiko für eine Ansteckung. Das gilt sowohl für die Bewohner*innen als auch für die Mitarbeitenden“, sagt Professor Dr. med. Kayvan Bozorgmehr. „Zudem haben Hilfsorganisationen wie die Tafeln zeitweise nur eingeschränkt gearbeitet, sodass die Corona-Pandemie für Menschen, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind, besonders schwierig ist.“ Bozorgmehr leitet die Arbeitsgruppe Bevölkerungsmedizin und Versorgungsforschung der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld.

    Gemeinsam mit Forschenden der Ludwig-Maximilians-Universität München haben Bozorgmehr und Mitglieder seiner Arbeitsgruppe den Stand der Forschung systematisch untersucht. Die Metaanalyse zeigt: Im Falle eines akuten Corona-Ausbruchs in Notunterkünften steigt der Anteil infizierter Bewohner*innen von rund zwei auf 32 Prozent. Auch die Mitarbeitenden in Notunterkünften sind einem größeren Risiko ausgesetzt – bei einem Ausbruch steigt die Rate infizierter Personen von circa 1,6 auf 15 Prozent.

    Empirische Erhebungen aus rund tausend Studien herausgefiltert

    Insgesamt 37 empirische Studien haben die Forschenden bewertet – 13 Studien davon aus der ersten Jahreshälfte 2020, der Rest aus der Zeit bis zum Februar 2021. „Wir haben die Studien nach vorher festgelegten Kriterien ausgewählt“, so Amir Mohsenpour von der Universität Bielefeld, der Erstautor der Untersuchung. „Aus rund tausend Studien haben wir diejenigen gefiltert, die sich empirisch mit Corona-Infektionen im Kontext von Wohnungslosigkeit beschäftigen und bereits in wissenschaftlichen Journalen publiziert sind. Wohnungslosigkeit ist hierbei ein Oberbegriff für unterschiedliche Lebens- und Wohnverhältnisse – beispielsweise fallen darunter Personen, die im Freien übernachten. Da diese Personengruppe aber nur schwer zu erreichen ist, beschäftigen sich die Studien mehrheitlich mit Menschen, die in temporären Notunterkünften unterkommen.“

    Die Daten aus den Studien beschreiben überwiegend die Situation in den USA. Außerdem erfasst sind Studien aus Kanada, Großbritannien, Frankreich, Belgien, Dänemark, Brasilien, Südafrika, Italien, Spanien und der Slowakei. „In Deutschland wurden bisher noch keine Studien zu dem Thema in Fachzeitschriften veröffentlicht, aber im Kern finden wir hier dieselben Muster“, sagt Bozorgmehr. „Beengte Unterkünfte in der kalten Jahreszeit und gemeinsame Sanitäranlagen beispielsweise stellen ein erhöhtes Risiko für eine Ansteckung dar.“

    Aus Ergebnissen Maßnahmen für Notunterkünfte ableiten

    Neben den Zahlen haben die Wissenschaftler*innen auch vorgeschlagene Maßnahmen aus den Studien zusammengefasst. So bestätigt sich, dass ein reiner Fokus auf das Erkennen von Symptomen nicht ausreicht. „Husten und Fieber sind sehr spezifische Symptome, die jedoch nicht alle Infizierten zeigen. Eine Hauptmaßnahme sollte es sein, viel und weit zu testen“, sagt Mohsenpour. „Dazu kommt die nicht-sesshafte Lebensweise. Daher raten ein Forschungsteam aus den USA und auch die dortige Bundesbehörde „Centers for Disease Control and Prevention“, sich nicht auf die reine Kontaktverfolgung zu konzentrieren. Es sollte zusätzlich standortbezogen getestet werden, ungeachtet der direkten Kontakte im Umfeld. Zudem sind genug Räumlichkeiten zum Aufteilen notwendig: Räume für die positiv getesteten, für die negativ getesteten und für diejenigen, deren Ergebnisse noch ausstehen.“

    Die weiteren erforderlichen Maßnahmen hat ein Artikel aus Boston (USA) übersichtlich strukturiert, so die Wissenschaftler*innen: „Die erste Maßnahmengruppe beinhaltet die hygienischen Maßnahmen, darunter fallen das Tragen von Masken, das Desinfizieren der Hände und ähnliches“, erläutert Amir Mohsenpour. „Die zweite Gruppe betrifft die Lebensumwelt – größere Abstände zwischen den Betten und gestaffelte Essensausgaben beispielsweise. Die dritte Gruppe beinhaltet die administrativ-organisatorischen Maßnahmen, beispielsweise die bessere Zusammenarbeit mit Laboren und ein engerer Kontakt zu den Krankenhäusern.“

    Bislang fehlen allerdings Studien über die Wirksamkeit und Auswirkungen der vorgeschlagenen Maßnahmen. „Diese Art von Studien sind aufwendig und benötigen mehr Zeit und Daten“, so Kayvan Bozorgmehr. „Laut einer Studie aus Kalifornien vermeidet ein Viertel der obdachlosen Menschen die Notunterkünfte aus Angst vor einer Ansteckung. Es ist dringend geboten, entsprechende Schutzkonzepte für Menschen ohne festen Wohnraum zu entwickeln – gerade für zukünftige Pandemien.“

    Originalpublikation:
    Amir Mohsenpour, Kayvan Bozorgmehr, Sven Rohleder, Jan Stratil, Diogo Costa: SARS-Cov-2 prevalence, transmission, health-related outcomes and control strategies in homeless shelters: Systematic review and meta-analysis, EClinicalMedicine
    https://doi.org/10.1016/j.eclinm.2021.101032, erschienen am 23.07.2021

    Pressestelle der Universität Bielefeld, 23.7.2021

  • Jugendliche Lebenswelten

    Textmessenger verführen Jugendliche nicht automatisch dazu, sämtliche sprachlichen Regeln über Bord zu werfen. Im Gegenteil: Je nach Kontext gelten auch in der digitalen Kommunikation Rechtschreibfehler als peinlich und unzählige Emojis als überflüssig. Jugendliche sind sich sehr bewusst, was in welchen Situationen angemessen ist, wie eine Studie des Linguisten Dr. Florian Busch von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zeigt. Darin zeigt er auch, wie Emojis digitale Gespräche bereichern und gleichzeitig komplexer machen können. Die Studie ist im Vorfeld des Welt-Emoji-Tags am 17. Juli bei De Gruyter erschienen.

    Kurznachrichtendienste wie WhatsApp oder Telegram zählen zu den beliebtesten Apps bei Jugendlichen. „Häufig beginnt und endet ihr Tag mit dem Blick auf das Smartphone – und damit auch mit den Messengerdiensten“, sagt der Linguist Dr. Florian Busch von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Im Rahmen seiner Promotion untersuchte er die schriftliche Kommunikation von Jugendlichen im Netz und in der Schule und befragte rund 200 Schülerinnen und Schüler nach ihrem Mediennutzungsverhalten. Er analysierte mehr als 19.000 Textnachrichten aus WhatsApp sowie knapp 80 Schulaufsätze. Außerdem führte er umfangreiche Interviews zu den Fragen, wie Jugendliche in der Schule und in der Freizeit schreiben und wann und warum sie welche sprachlichen Mittel einsetzen.

    „Es gibt sehr deutliche Unterschiede zwischen dem Schreiben in der Schule und dem Schreiben mit Freundinnen und Freunden“, fasst Busch zusammen. Während die Schülerinnen und Schüler in ihren Kurznachrichten mit Freundinnen und Freunden meist auf Groß- und Kleinschreibung sowie Kommata verzichten, orientieren sie sich in ihren Schulaufsätzen stark an Rechtschreib- oder Zeichensetzungsregeln. „Es zeigt sich, dass Jugendliche oft sehr wohl über Rechtschreibkompetenz verfügen, in der digitalen Kommunikation aber andere Normen gelten, die ein persönlicheres, adressatengerechtes Kommunizieren ermöglichen“, erklärt Busch. Als völlig bedeutungslos gelte die Rechtschreibung aber auch im Digitalen niemals. „Schreibfehler können auch in WhatsApp als peinlich wahrgenommen werden. Darauf weisen sich die Jugendlichen mitunter gegenseitig hin und korrigieren einander. Ihnen ist wichtig, nicht ungebildet zu wirken“, sagt Busch.

    Emojis wie Smileys und Herzen nehmen eine wichtige Rolle in der digitalen Kommunikation ein: Knapp ein Viertel aller Textnachrichten enthielt diese. „Entgegen zahlreicher Behauptungen werden Emojis aber in der Regel nicht dafür genutzt, ganze Wörter oder Sätze zu ersetzen“, so Busch. Vielmehr seien sie eine Interpretationshilfe, wie eine Nachricht zu verstehen ist. „An die Stelle von klassischen Satzzeichen tritt hier eine große Zeichenvielfalt, die eine erfolgreiche digitale Kommunikation ermöglicht.“Je nach Beziehung der Jugendlichen untereinander können wiederum andere Regeln gelten: „Enge Freunde verzichten mitunter ganz auf den Einsatz von Emojis, weil sie nicht nötig sind, um einander richtig zu verstehen. In weniger engen Beziehungen werden sie verwendet, um die Bedeutung einer Nachricht zu illustrieren“, sagt Busch. Diese Vielfalt ist für die Jugendlichen Segen und Fluch zugleich: „Das Schreiben in der Schule wird von manchen Jugendlichen als eindimensionaler und in diesem Sinne als einfacher wahrgenommen, weil es mit der Standardsprache nur ein Regelwerk gibt, an dem sie sich orientieren müssen“, sagt Busch. Schriftliche Konversationen über WhatsApp seien da deutlich komplexer: „Hier gibt es viel mehr Möglichkeiten und Nuancen, mit denen Bedeutung transportiert werden kann.“ Das mache es deutlich schwieriger, immer den richtigen Ton zu treffen.

    Originalpublikation:
    Florian Busch: Digitale Schreibregister. Kontexte, Formen und metapragmatische Reflexionen. Berlin 2021, 618 S., 119,95 Euro, ISBN: 978-3110728743.
    https://www.degruyter.com/document/isbn/9783110728880/html

    Pressestelle der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 15.7.2021

  • Ein Spaziergang fürs Gehirn

    Zeit im Freien wirkt sich positiv auf unser Gehirn aus. Wer regelmäßig an der frischen Luft ist, tut seinem Gehirn und seinem Wohlbefinden etwas Gutes. Zu diesem Ergebnis kommen Forscher*innen des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf in einer neuen Studie. Die Längsschnittstudie ist in der Fachzeitschrift „The World Journal of Biological Psychiatry“ erschienen.

    Während der Corona-Pandemie wurden Spaziergänge zu einer beliebten und regelmäßigen Freizeitbeschäftigung. Dass sich diese Angewohnheit nicht nur gut auf unser allgemeines Wohlbefinden auswirkt, sondern auch auf unsere Gehirnstruktur, deutet eine neurowissenschaftliche Studie an. Sie zeigt, dass das menschliche Gehirn bereits von kurzen Aufenthalten im Freien profitiert. Bisher wurde angenommen, dass uns Umwelten nur über längere Zeiträume beeinflussen.

    Die Forscher*innen untersuchten sechs gesunde, in der Stadt lebende Personen mittleren Alters über ein halbes Jahr lang regelmäßig. Insgesamt wurden über 280 Scans von ihren Gehirnen mittels Magnetresonanztomographie (MRT) gemacht. Der Fokus der Untersuchung lag auf den letzten 24 Stunden, die die Teilnehmenden vor der Aufnahme im Freien verbrachten. Zusätzlich wurden sie nach ihrer Flüssigkeitsaufnahme, der Menge an koffeinhaltigen Getränken, dem zeitlichen Umfang ihrer Freizeit und körperlichen Aktivität befragt, um zu überprüfen, ob diese Faktoren den Zusammenhang zwischen Zeit im Freien und dem Gehirn verändern. Um saisonale Unterschiede einbeziehen zu können, wurde auch die Sonnenscheindauer in dem Studienzeitraum berücksichtigt.

    Positiver Zusammenhang mit grauer Substanz im rechten dorsolateral-präfrontalen Kortex

    Die Gehirnscans zeigen, dass die Zeit, die die Studienteilnehmenden im Freien verbrachten, in einem positiven Zusammenhang mit der grauen Substanz im rechten dorsolateral-präfrontalen Kortex stand. Beim dorsolateral-präfrontalen Kortex handelt es sich um den oben (dorsal) und seitlich (lateral) gelegenen Teil des Stirnlappens in der Großhirnrinde. Dieser Teil des Kortex ist an der Planung und Regulation von Handlungen und an der sogenannten kognitiven Kontrolle beteiligt. Zudem ist bekannt, dass viele psychiatrische Störungen mit einer Reduktion der grauen Substanz im präfrontalen Bereich des Gehirns einhergehen.

    Die Ergebnisse blieben auch bestehen, wenn die anderen Faktoren, die den Zusammenhang zwischen der verbrachten Zeit im Freien und der Gehirnstruktur alternativ erklären könnten, konstant waren. Die Forscher*innen führten zur Überprüfung statistische Berechnungen durch, um den Einfluss von Sonnenscheindauer, Anzahl der Stunden an Freizeit, körperlicher Aktivität und Flüssigkeitsaufnahme auf die Ergebnisse zu überprüfen. Die Berechnungen belegten, dass Zeit im Freien unabhängig von den anderen Einflussfaktoren einen positiven Effekt auf das Gehirn hatte.

    „Unsere Ergebnisse zeigen, dass sich unsere Gehirnstruktur und unsere Stimmung verbessern, wenn wir Zeit im Freien verbringen. Es ist anzunehmen, dass sich dies auch auf die Konzentration, das Arbeitsgedächtnis und die Psyche insgesamt auswirkt. Dies untersuchen wir in einer aktuell laufenden Studie, in der die Probanden zusätzlich Denkaufgaben lösen müssen und zahlreiche Sensoren tragen, die beispielsweise die Lichtmenge messen, der sie am Tag ausgesetzt sind“, sagt Simone Kühn, Leiterin der Lise-Meitner-Gruppe Umweltneurowissenschaften am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Erstautorin der Studie.

    Neurowissenschaftliche Unterstützung für die Behandlung von psychischen Störungen

    Die Ergebnisse belegen demnach die bereits angenommenen positiven Effekte des Spazierengehens auf die Gesundheit und erweitern sie um die konkreten positiven Auswirkungen aufs Gehirn. Da die meisten psychiatrischen Erkrankungen mit Defiziten im präfrontalen Kortex in Verbindung gebracht werden, ist dies von großer Bedeutung für den Bereich der Psychiatrie.

    „Diese Erkenntnisse bieten neurowissenschaftliche Unterstützung für die Behandlung von psychischen Störungen. So könnten Ärztinnen und Ärzte einen Aufenthalt an der frischen Luft als Teil der Therapie verschreiben, ähnlich wie es bei Kuren üblich ist“, sagt Anna Mascherek, Postdoc in der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Co-Autorin der Studie.

    In den aktuell laufenden weiterführenden Studien möchten die Forscher*innen zudem untersuchen, wie sich grüne Umgebungen im direkten Vergleich zu städtischen Räumen auf das Gehirn auswirken. Um nachvollziehen zu können, wo genau die Studienteilnehmenden ihre Zeit draußen verbringen, wollen die Forscher*innen GPS-Daten (Global Positioning System beziehungsweise Globales Positionsbestimmungssystem) nutzen und weitere Einflussfaktoren wie Verkehrslärm oder Luftverschmutzung miteinbeziehen.

    Originalpublikation:
    Kühn, S., Mascherek, A., Filevich, E., Lisofsky, N., Becker, M., Butler, O., Lochstet, M., Mårtensson, J., Wenger, E., Lindenberger, U., & Gallinat, J. (2021). Spend time outdoors for your brain: An in-depth longitudinal MRI study. The World Journal of Biological Psychiatry. Advance online publication. https://doi.org/10.1080/15622975.2021.1938670

    Pressestelle des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, 15.7.2021

  • Psychische Folgen von Covid-19 im Gesundheitswesen

    MTAs litten in der Pandemie besonders oft unter Depressions- und Angstsymptomen. ©Johann Saba, Universitätsklinikum Bonn

    Ärztliches Personal, Pflegekräfte, Technische Angestellte, Seelsorgerinnen und Seelsorger in den Kliniken: Sie alle waren durch die Covid-19-Pandemie schwer belastet. Welche Schutzfaktoren helfen können, mit diesen Belastungen umzugehen, zeigt nun eine Studie der Universität Bonn. Sie basiert auf einer gemeinsamen großen Online-Befragung an den Universitätskliniken Bonn, Erlangen, Ulm, Dresden und Köln. Auch viele andere Kliniken in Deutschland beteiligten sich. Als besonders wichtig stellte sich darin die empfundene Kohärenz heraus – vereinfacht gesagt: das Gefühl, dass das Leben sinnvoll ist und Herausforderungen verständlich eingeordnet werden können. Die Ergebnisse erscheinen in der Fachzeitschrift PLOS ONE.

    Die Forschenden hatten von April bis Juli 2020, also während der ersten Covid-19-Pandemiewelle, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitswesen zu der Online-Befragung eingeladen. „Darunter waren neben dem ärztlichen Personal und den Pflegekräften auch zwei Gruppen, die in der Diskussion bislang vernachlässigt wurden“, erklärt Prof. Dr. Franziska Geiser, Direktorin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn. „Einerseits die vergleichsweise kleine Zahl der Seelsorgerinnen und Seelsorger in den Kliniken. Und andererseits die vielen medizinisch-technischen Angestellten – die MTAs in den Untersuchungsbereichen, der Radiologie und den Laboren.“

    In der aktuellen Studie wurden mehr als 4.300 ausgefüllte Fragebögen ausgewertet. Gut 80 Prozent der Teilnehmenden arbeiteten zum Zeitpunkt der Erhebung in Krankenhäusern, 11 Prozent am Uniklinikum Bonn. Sie sollten unter anderem angeben, wie sehr sie sich aktuell und vor der Umfrage durch ihre Arbeit belastet fühlten und wie oft sie unter Depressions- und Angstsymptomen litten. Zudem wurden drei mögliche so genannte „Resilienzfaktoren“ erhoben, von denen man annimmt, dass sie gegen psychische Folgen von Stress schützen: soziale Unterstützung, Religiosität und Kohärenzgefühl.

    Mehr als 20 Prozent mit ausgeprägten Depressionssymptomen

    Jeweils mehr als 20 Prozent der Befragten gaben Depressions- oder Angstsymptome in einem behandlungsbedürftigen Ausmaß an. „Wir wissen nicht, wie es bei genau dieser Stichprobe vor der Pandemie aussah“, erklärt Geiser. „Die gefundenen Werte liegen jedoch höher als in früheren Untersuchungen bei Ärzten und Pflegepersonal, wir können also von einer Zunahme in der Pandemie ausgehen. Während aber in Normalzeiten Ärzte und Pflegepersonal eine höhere psychische Belastung aufweisen als die restliche Bevölkerung, hatten sie in der Pandemie in unserer Befragung geringere Angstwerte. Das macht natürlich neugierig auf mögliche Schutzfaktoren.“ Dies umso mehr, da Geiser Teil einer interdisziplinären DFG-Forschungsgruppe an der Universität Bonn ist, die sich der Erforschung der Resilienz widmet.

    Unter den potenziellen Resilienzfaktoren stach besonders das Kohärenzgefühl hervor. Der Begriff stammt aus der Salutogenese, einem in den 1980er Jahren von dem Mediziner Aaron Antonovsky entwickelten Konzept, das die Suche nach gesundheitsfördernden Faktoren und Einstellungen in den Mittelpunkt stellt. „Das Kohärenzgefühl bezeichnet das Ausmaß, in dem wir unser Leben als verstehbar, sinnhaft und bewältigbar empfinden“, erklärt Jonas Schmuck aus Geisers Arbeitsgruppe, der zusammen mit Dr. Nina Hiebel Erstautor der Studie ist. Je ausgeprägter das Kohärenzgefühl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war, desto seltener litten sie unter psychischen Symptomen. „Daraus lässt sich aber nicht unbedingt ein kausaler Zusammenhang ableiten“, warnt Geiser vor voreiligen Schlüssen. „Es könnte auch sein, dass Angst oder Depression ihrerseits die empfundene Kohärenz mindern.“

    MTAs litten am stärksten unter psychischen Folgen

    Dennoch glaubt sie, dass dieser Faktor uns tatsächlich resilienter gegen Stress und besondere Herausforderungen macht. Aus ihrer Sicht ergeben sich aus der Studie daher einige wichtige Schlussfolgerungen, wie man in Zukunft mit Krisen wie der Covid-19-Pandemie umgehen sollte: „Je komplexer die Situation, desto besser müssen wir kommunizieren“, betont sie. „In einer neuen Situation wie der Pandemie lassen sich Unsicherheiten und auch Widersprüche, zum Beispiel bei Schutzmaßnahmen oder Behandlungsabläufen, nicht vermeiden. Je besser Mitarbeiter*innen erklärt wird, warum dies so ist, und je mehr persönlichen Sinn sie in ihrer Arbeit erleben, desto besser können sie damit umgehen. Zeitnahe Information ist deshalb elementar.“ Diese Information solle nicht in eine Richtung erfolgen. „Es ist wichtig, in einen Dialog zu treten, der auch Rückfragen und die Rückmeldung von Bedenken zulässt“, sagt sie.

    Diejenigen, die am stärksten unter den psychischen Folgen der Pandemie litten, waren in der Studie übrigens die MTAs. „Warum das so ist, darüber können wir nur spekulieren“, erklärt die Forscherin. „Wir sollten aber auf jeden Fall im Auge behalten, dass in derartigen Situationen nicht nur die Intensivstationen belastet sind, sondern das ganze System. Wir müssen auch diejenigen stärken, die vielleicht nicht so sehr im Rampenlicht stehen, sondern als Helfer im Hintergrund häufig vergessen werden.“ Auch die Seelsorgerinnen und Seelsorger gaben einen Anstieg der Belastung durch die Pandemie an, sie zeigten aber im Vergleich zu den anderen Berufsgruppen das am stärksten ausgeprägte Kohärenzgefühl und die wenigsten Angst- oder Depressionssymptome.

    Beteiligte Institutionen und Förderung:
    An der Studie waren die Universitätskliniken in Bonn, Erlangen, Ulm und Köln sowie die Medizinische Fakultät der TU Dresden beteiligt. Sie wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen der Forschungsgruppe „Resilienz in Religion und Spiritualität“ sowie durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) innerhalb des Netzwerks Universitätsmedizin (NUM) gefördert. Franziska Geiser ist außerdem Mitglied des Transdisziplinären Forschungsbereichs „Leben und Gesundheit“ der Universität Bonn.

    Originalpublikation:
    Jonas Schmuck, Nina Hiebel, Milena Rabe, Juliane Schneider, Yesim Erim, Eva Morawa, Lucia Jerg-Bretzke, Petra Beschoner, Christian Albus, Julian Hannemann, Kerstin Weidner, Susann Steudte-Schmiedgen, Lukas Radbruch, Holger Brunsch & Franziska Geiser: Sense of coherence, social support and religiosity as resources for medical personnel during the COVID-19 pandemic: A web-based survey among 4324 health care workers within the German Network University Medicine. PLOS ONE; https://doi.org/10.1371/journal.pone.0255211

    Pressestelle der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 28.7.2021

  • Auswirkungen der Cannabislegalisierung und -regulierung

    Bericht auf Französisch mit Zusammenfassung auf Deutsch

    18 Bundesstaaten der USA, Kanada und Uruguay haben in den letzten Jahren Cannabis legalisiert und legale Märkte eingeführt. Wie eine umfassende Literaturrecherche von Sucht Schweiz im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) zeigt, ist es heute meist noch zu früh, Rückschlüsse zu den Auswirkungen der äußerst unterschiedlichen Regulierungsmodelle zu ziehen. Die Analyse zeigt jedoch erste, kurzfristige Erkenntnisse, besonders für die USA.

    Die Regulierungsmodelle in den Ländern und Regionen mit legalisiertem Cannabis sind sehr unterschiedlich und werden kontrovers diskutiert. Um die Erkenntnisse zu den bisherigen Erfahrungen zu sichten, ging Sucht Schweiz im Auftrag des BAG der Frage nach, wie sich die Legalisierung von nicht-medizinischem Cannabis in den USA, Kanada und Uruguay auf die Märkte, den Konsum, die Gesundheit oder die Verkehrssicherheit und Kriminalität bislang auswirkte. Berücksichtigt wurde der Stand der Forschung bis Anfang 2021, sieben Jahre nach der Einführung des ersten legalen Cannabismarktes im US-Bundesstaat Colorado und nur zwei Jahre nach der Legalisierung in Kanada.

    Fakt ist: Die veröffentlichten Studien lassen bis jetzt nur wenig Rückschlüsse zu den Auswirkungen der Cannabislegalisierung zu. Zu viel bleibt unbekannt. Es braucht noch einige Jahre mehr an Erfahrung und bessere Daten, um die Auswirkungen wissenschaftlich benennen zu können, etwa jene auf die Gesundheit der Bevölkerung. Dies ist auch das Fazit anderer Forscher, die eine solche Bilanz gezogen haben.

    USA mit wirtschaftlich orientiertem Regulierungsmodell

    Die Literaturrecherche von Sucht Schweiz zeigt jedoch erste, kurzfristige Beobachtungen, wobei die meisten Studien die Situation in den USA betrachten. Anfang 2021 lebte hier rund ein Drittel der Bevölkerung in einem Bundesstaat, in dem Cannabis zu nicht-medizinischen Zwecken legalisiert wurde. Umfragen zeigen, dass fast zwei Drittel der Amerikanerinnen und Amerikaner eine Cannabislegalisierung unterstützen. Von 18 Bundesstaaten, die Cannabis bisher legalisierten, haben zehn regulierte Märkte für Konsumierende ab 21 Jahren eingeführt. Sie wählten meist wirtschaftlich orientierte Marktmodelle. Die gesetzlichen Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit von Konsumierenden, von Jugendlichen und von Dritten sind vergleichsweise schwach ausgeprägt.

    Die meisten Forschungsarbeiten deuten bis jetzt darauf hin, dass es in diesen Staaten zu keinem Konsumanstieg unter Minderjährigen kam. Aber mehrere Studien legen eine Zunahme des Konsums unter Erwachsenen und insbesondere unter jungen Erwachsenen (18–25 Jahre) nahe – dies im Vergleich zu anderen Bundestaaten, die Cannabis nicht legalisierten.

    Die verfügbaren Daten weisen auch darauf hin, dass in den USA die Produktevielfalt (z. B. Esswaren oder Konzentrate) größer wurde und der THC-Gehalt oft zunahm. Diese Entwicklungen bringen verschiedene Herausforderungen für die Qualitätskontrolle sowie für die Vermarktung (Mengen, Verpackung, Informationen) der Cannabisprodukte mit sich. Die Zahl der Besuche in der Notaufnahme, der Krankenhausaufenthalte und der Anrufe bei Giftnotrufzentralen ist nach der Legalisierung gestiegen – eine Entwicklung, die stark mit dem Konsum neuer Produkte in Verbindung steht.

    Die Anzahl legaler Verkaufsstellen und die Verkaufsmengen nehmen in den meisten

    US-Bundesstaaten immer noch zu. Die Preise sind nur kurz nach der Öffnung der Märkte gestiegen und anschließend oft deutlich gesunken. Es gibt Hinweise darauf, dass der Schwarzmarkt zurückgedrängt wurde. Die Anzahl der Verzeigungen wegen Cannabis-besitzes ging wie erwartet stark zurück.

    Bisherige Erkenntnisse deuten auf einen Anstieg von Unfalltoten im Zusammenhang mit Cannabis in einigen Staaten, welche die Substanz legalisiert haben, sowie auf einen Anstieg der Zahl der Lenker und Lenkerinnen, die im Straßenverkehr positiv auf Cannabis getestet wurden.

    Kanada: zu früh für umfassende Rückschlüsse

    In Kanada regelt die Bundesregierung die Produktion sowie Gesundheits- und Sicherheitsaspekte, während die Provinzen die Vertriebs- und Verkaufsprozesse definieren. Ab Oktober 2018 haben die kanadischen Provinzen und Territorien begonnen, den Verkauf von nicht-medizinischem Cannabis in privaten oder staatlichen Verkaufsorten einzuführen. Die verfügbaren Daten deuten darauf hin, dass der legale Cannabismarkt mit zunehmend mehr Verkaufsstellen den Schwarzmarkt schrittweise verdrängt. Der Konsum stieg in den Monaten nach der Legalisierung insbesondere bei Erwachsenen an, wobei sich bis jetzt kein klares Muster für diese Veränderungen oder eine eindeutige Ursache ermitteln lässt.

    Uruguay: Modell unter staatlicher Aufsicht, aber mit wenig Forschung

    Das südamerikanische Land hat im Jahr 2013 als erstes Land überhaupt nicht-medizinisches Cannabis legalisiert, wobei Produktion, Handel und Konsum unter staatlicher Aufsicht bleiben. Der Zugang erfolgt über den Eigenanbau, Konsumentenvereinigungen oder über Apotheken. Auch hier lassen die wenigen vorhandenen Studien kaum konkrete Rückschlüsse zu den Auswirkungen zu. Erschwerend wirkt sich aus, dass die Einführung dieses Regulierungsmodells sehr langsam erfolgt. Weniger als ein Drittel der Konsumierenden haben das Cannabis im Jahr 2018 über den stark regulierten Markt bezogen. Die Anzahl der Cannabiskonsumierenden hat seit der Legalisierung allgemein zugenommen, insbesondere bei Minderjährigen und Personen zwischen 26 und 35 Jahren, wobei Studien von ähnlichen Entwicklungen in Nachbarländern berichten, die Cannabis nicht legalisiert haben.

    Und die Schweiz?

    In den nächsten Jahren werden weitere Studien erlauben, die Auswirkungen der Cannabislegalisierung besser zu verstehen und verschiedene Regulierungsmodelle zu vergleichen. Auch in der Schweiz – mit dem revidierten Betäubungsmittelgesetz – sind Pilotversuche mit erwachsenen Teilnehmenden zur kontrollierten Cannabis-Abgabe in Städten jetzt möglich. Für diese gelten strenge Vorgaben. Im Sinne des Gesundheitsschutzes muss das geschulte Verkaufspersonal für die Risiken sensibilisiert werden, und die Qualität der Produkte mit nur begrenztem THC-Gehalt muss kontrolliert werden. Es gelten ein generelles Werbeverbot und die Vorgabe von kindersicheren Verpackungen. Erste Projekte sollten im Jahr 2022 starten und dazu beitragen, ein besseres Verständnis über die Auswirkungen verschiedener Cannabisregulierungen zu entwickeln.

    Link zur Publikation: Revue de littérature sur l’impact de la légalisation du cannabis aux Etats-Unis, au Canada et en Uruguay. Bericht auf Französisch mit Zusammenfassung auf Deutsch (S. 9–12).

    Pressestelle von Sucht Schweiz, 14.7.2021

  • Rauschgiftkriminalität in Deutschland steigt weiter an

    Die Rauschgiftkriminalität in Deutschland steigt weiter an. 365.753 Fälle wurden im Jahr 2020 polizeilich registriert – 1,7 Prozent mehr als im Vorjahr.

    Der Rauschgifthandel ist auch weiterhin das größte Betätigungsfeld von Gruppierungen der Organisierten Kriminalität (OK). 2020 wurden erneut über ein Drittel der OK-Verfahren wegen des Verdachts des Rauschgifthandels/-schmuggels geführt. Die Erkenntnisse aus diesen Verfahren zeigen auch, dass die Gewaltbereitschaft im Bereich des organisierten Rauschgifthandels steigt. 284.723 Tatverdächtige wurden im Jahr 2020 ermittelt. Eine zunehmende Zahl von ihnen war bewaffnet.

    Substanzen

    Der größte Zuwachs der Handelsdelikte war im Jahr 2020 bei den Neuen Psychoaktiven Stoffen (NPS) zu verzeichnen. Die Zahl stieg gegenüber dem Vorjahr um 16,2 Prozent. Bei Kokain stiegen die Handelsdelikte im gleichen Zeitraum um 9,6 Prozent, beim sogenannten Crystal, also kristallinem Methamphetamin, um 7,2 Prozent. Das meistgehandelte Betäubungsmittel war mit 31.961 erfassten Fällen auch 2020 Cannabis, gefolgt vom Amphetamin mit 5.581 erfassten Delikten.

    Rückläufig hingegen war der Handel mit Heroin: Die der Polizei bekannt gewordenen Fälle gingen gegenüber 2019 um 4,9 Prozent zurück. Es kann jedoch weiterhin von einer weitreichenden Verfügbarkeit und der fortgesetzten Nachfrage auf dem deutschen Rauschgiftmarkt ausgegangen werden, nicht zuletzt, da nach Schätzungen des United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) die Schlafmohn-Anbauflächen in Südwestasien im Jahr 2020 erheblich angewachsen sind.

    Ein neuer Höchstwert war mit mindestens 11 t bei der Gesamtsicherstellungsmenge von Kokain zu verzeichnen. Im Jahr 2018 waren es noch mindestens 5 t sichergestelltes Kokain, 2019 bereits mindestens 10 t. Eine Rekord-Sicherstellung von 16 t Kokain im Hamburger Hafen im Februar 2021 zeigt, dass sich dieser Trend fortsetzten wird.

    Kokainhandel

    Schon allein mit dem international organisierten Kokainhandel erzielen die beteiligten kriminellen Gruppierungen in Deutschland und Europa erhebliche Gewinne. Neben der Reinvestition in die Betäubungsmittelkriminalität dienen diese auch dem Erwerb von Luxusgütern und werden letztlich auch in die legale Wirtschaft investiert. Die zunehmende finanzielle Potenz der Gruppierungen durch milliardenschwere Gewinne aus dem Kokainhandel erhöhen das Machtpotential krimineller Gruppierungen und können nicht nur gewaltsam ausgetragene Konflikte zwischen rivalisierenden OK-Strukturen forcieren, sondern auch legale Wirtschaftsstrukturen infiltrieren und zu massiven Wettbewerbsverzerrungen führen.

    Deutschland als Transitland

    Kriminelle Strukturen nutzen Deutschland auch weiterhin als Transitland für Chemikalien, die zur Rauschgiftproduktion verwendet werden können. An deutschen Flughäfen wurden 2020 mehrere Lieferungen von Grundstoffen für Amphetamin und erstmalst auch größere Mengen von Chemikalien für die Herstellung von NPS aus China beschlagnahmt. Bestimmt waren sie für die Niederlande. Dort konnten in der Vergangenheit zunehmend Produktionsstätten für die Herstellung Synthetischer Drogen festgestellt werden.

    Die Einschränkungen der COVID-19-Pandemie hatten kaum Einfluss auf die Rauschgiftkriminalität. Rauschgift ist weiterhin in hohem Maße verfügbar. Die Vertriebs- und Bezugsmöglichkeiten des mittlerweile etablierten Online-Handels werden verstärkt genutzt, da der Post- und Paketversand im Vergleich zu anderen Transportmöglichkeiten von den Maßnahmen zum Schutz gegen das Coronavirus nicht betroffen ist.

    Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes: „Die Rauschgiftkriminalität steigt seit Jahren an und gewinnt weiter an sicherheitspolitischer und gesellschaftlicher Bedeutung. Auch unsere Ermittlungen und die Auswertung der EncroChat-Daten zeigen das erhebliche Ausmaß und das wachsende Gewaltpotential in diesem Phänomenbereich. Die gewonnenen Erkenntnisse werden wir nutzen, um unsere Ressourcen sowie die technischen Möglichkeiten optimal einzusetzen und so dieser Kriminalitätslage angemessen zu begegnen.“

    Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig: „Wir sehen eine steigende Anzahl an Straftaten im Zusammenhang mit Drogen in Deutschland und der EU, die immer brutaler, immer skrupelloser ausgeführt werden. Das ist eine Entwicklung, die wir gemeinsam mit den zuständigen Behörden, aber auch als Bund mit den Ländern unbedingt stoppen müssen. Ich erwarte, dass wir hier eine Allianz aufbauen, die starke Prävention betreibt und der organisierten Drogenkriminalität in Deutschland Einhalt gebietet. Wo weniger Nachfrage, da weniger Angebot. Wir müssen verhindern, dass Kriminelle sich in Deutschland aufführen, als hätte ihr Tun keinerlei Konsequenzen, als befänden sie sich in einem rechtsfreien Raum. Das ist hier keineswegs der Fall und das müssen wir zukünftig noch deutlicher machen!“

    Ergänzende Zahlen und Informationen können über die Webseite des BKA unter www.bka.de abgerufen werden.

    Gemeinsame Pressemitteilung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung und des Bundeskriminalamtes, 27.7.2021

  • Die Pandemie als „Brandbeschleuniger“ für Internetnutzungsstörungen?

    Die Pandemie als „Brandbeschleuniger“ für Internetnutzungsstörungen?

    Dr. Kai W. Müller
    Knut Kiepe

    Für viele Menschen scheint es nur allzu klar, dass die bereits mehr als ein Jahr währende Corona-Pandemie in Bezug auf die Internetnutzung deutliche Spuren hinterlässt und zu einer signifikant höheren Anzahl an internetbasierten Schädigungen – insbesondere bei Kindern und Jugendlichen – führt. „Höhere Internetnutzung gleich mehr Störungen“ ist aber eine zu einfache Formel: Was wir brauchen, ist ein differenzierter Blick – vor allem auf die psychischen Belastungen und ihre Hintergründe. Dies gilt besonders in Zeiten der Pandemie, aber auch generell im Rahmen der Digitalisierung.

    Als wichtige Grundlage und zum besseren Verständnis ist es hilfreich, den historischen Hintergrund zur Diagnostik zu kennen. Der Fachverband Medienabhängigkeit e.V. setzt sich seit 2008 für die Anerkennung von „Internetnutzungsstörungen“ als psychische Erkrankung ein. 

    Der Weg zur Anerkennung

    Bereits im Jahre 2013 entschied die American Psychiatric Association, die so genannte Internet Gaming Disorder zumindest als Forschungsdiagnose in den Anhang des DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Version) aufzunehmen. Dem vergleichsweise neuen (jedoch aus klinischer Sicht überaus relevanten) Phänomen wurde damit erstmalig und offiziell der Staus einer Problematik mit Gesundheitsrelevanz zuerkannt.

    Etwa sechs Jahre später folgte der nächste und womöglich noch wichtigere Schritt: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verkündete, das bisherige ICD-Kapitel der Substanzabhängigkeiten um den Aspekt der „abhängigen Verhaltensweisen“ (Verhaltenssüchte) zu erweitern und in diesem Zuge auch die „Störung durch Computerspielen“ als eigenständige psychische Erkrankung zu führen. Neben diesem neuen (direkt benannten) Diagnoseschlüssel bietet das ab 2022 gültige ICD-11 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 11. Version) nun die Möglichkeit, weitere Verhaltenssüchte und somit auch weitere differenzierbare Internetnutzungsstörungen zu verschlüsseln. In einem aktuellen Vorschlag werden hier insbesondere die Subformen der Online-Pornographie-Nutzungsstörung, der Online-Shoppingstörung und der Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung als relevante Formen benannt (Rumpf et al., 2021).

    Dysfunktional, suchtartig, exzessiv – viele Bezeichnungen für ein Phänomen

    Doch was genau verbirgt sich hinter dem Begriff Internetnutzungsstörung eigentlich? Zunächst als Phänomen geführt, wurde seit der erstmaligen Dokumentation Mitte der 1990er Jahre eine Vielzahl von inhaltlich mehr oder weniger synonym gebrauchten Bezeichnungen für das diagnostisch noch nicht verortete Störungsbild verwendet – von pathologisch-dysfunktionalem PC-Gebrauch über Internetsucht und Medienabhängigkeit bis hin zur heutigen Internetnutzungsstörung.

    Unabhängig vom konkret benutzten Begriff gilt für alle Bezeichnungen, dass sie als Oberbegriffe zu verstehen sind und dass der PC, das Internet oder gar die Medien an sich nicht als „Suchtmittel“ in einem direkten Zusammenhang mit einem Abhängigkeitsgeschehen stehen. Vielmehr sind es die einzelnen (zumeist) online durchgeführten Aktivitäten (und damit das Verhalten), welche unter bestimmten Voraussetzungen eine exzessive und unkontrollierte Nutzung im Sinne eines Abhängigkeitsgeschehens hervorrufen können.

    Aus den verfügbaren epidemiologischen Studien an repräsentativen Stichproben der Allgemeinbevölkerung und bestätigt durch Zahlen von Nutzern des Hilfesystems wissen wir, dass es vor allem bestimmte internetbasierte Computerspiele sind, die besonders häufig mit einem suchtartigen Konsum im Zusammenhang stehen. Aus diesem Grunde wurde gerade die „Störung durch Computerspielen“ als einzige Variante der Internetnutzungsstörungen im ICD-11 konkret aufgeführt. Gekennzeichnet ist das Störungsbild durch folgende drei diagnostische Kriterien:

    1. Kontrollverlust über das Nutzungsverhalten
    2. Bedeutungserhöhung bzw. Priorisierung der Nutzung, wodurch andere Lebensbereiche (Freizeitverhalten und Alltagsaktivitäten) beeinträchtigt oder verdrängt werden
    3. Fortführung der Nutzung trotz der dadurch entstehenden negativen Folgeerscheinungen

    Ergänzt wird die diagnostische Definition von einer mit den Kriterien einhergehenden Beeinträchtigung des psychosozialen Funktionsniveaus. Damit ist gemeint, dass Betroffene psychische Belastungssymptome entwickeln sowie Probleme im sozialen und leistungsbezogenen Kontext wie etwa Schule oder Beruf erleben.

    Auch auf die in der Bevölkerung seltener auftretenden Varianten von Internetnutzungsstörungen, beispielsweise im Zusammenhang mit der Nutzung von sozialen Netzwerken, Online-Pornographie oder Einkaufsportalen, werden die vorgenannten Kriterien angewandt, so dass sich für alle Internetnutzungsstörungen ein einheitlicher diagnostischer Rahmen ergibt.

    Die vorliegende epidemiologische Forschung zur Verbreitung von Internetnutzungsstörungen weist mit großer Übereinstimmung aus, dass Jugendliche und junge Erwachsene deutlich häufiger betroffen sind als ältere Personen. Die ermittelten Prävalenzraten der einzelnen Studien unterscheiden sich zwar leicht, liegen aber bei etwa vier Prozent für Jugendliche und junge Erwachsene, welche die Kriterien einer Internetnutzungsstörung erfüllen, und bei nochmals etwa vier Prozent für Jugendliche und junge Erwachsene, die ein zumindest problematisches Nutzungsverhalten aufweisen (hier sind also zumindest einige Kriterien einer Störung feststellbar). Bedenkt man, dass in den Studien ebenfalls mit großer Übereinstimmung eine merklich höhere Belastung der Betroffenen durch weitere psychosoziale und psychopathologische Symptome (z. B. erhöhte Depressivität, Verhaltensauffälligkeiten und Angstsymptome) festgestellt wird, ergibt sich ein deutlicher Handlungsbedarf. Dieser schließt nicht nur die Behandlung, sondern in besonderem Maße auch die Frühintervention ein. Für Maßnahmen zu einem frühen Zeitpunkt der Problementwicklung ist ein entsprechendes Früherkennungssystem notwendig. Ebenso bedarf es einer zielgruppenspezifischen Prävention – hier sollte eine Ausweitung und Überprüfung der vorliegenden Konzepte vorgenommen werden. 

    Der Einfluss der Pandemie auf die Fallzahlen

    Die Entstehung von Internetnutzungsstörungen folgt also nach gegenwärtigem Kenntnisstand komplexen Mechanismen. Die Annahme, dass allein die verstärkte Nutzung von Internetangeboten wie bestimmten Computerspielen oder sozialen Netzwerken ein komplexes Abhängigkeitsgeschehen bedingt, ist mit Sicherheit zu kurz gedacht. Bekannt ist, dass vor allem junge Menschen sehr empfindlich auf sich verändernde Rahmenbedingungen und den Wegfall von Strukturen reagieren. Die Pandemie könnte – mit ihren erhöhten und zum Teil dauerhaften psychischen Belastungen – somit als „Brandbeschleuniger“ wirken und zunehmende Internetnutzungsstörungen bzw. deren höhere Prävalenz begründen.

    Die mittlerweile formulierten Störungsmodelle wie etwa das Interaction of Person-Affect-Cognition-Execution Modell (Brand et al. 2016) oder das Integrative Prozessmodell der Internetsucht (Müller et al., 2016) gehen von einem komplexen Wechselspiel aus individuellen Prädispositionen, wirksamen Strukturmerkmalen der kritischen Internetaktivität und Einflüssen der sozialen Lebenswelt des Individuums aus. In der gegenwärtigen Corona-Pandemie sind insbesondere die Beziehungen zwischen den individuellen Risikofaktoren und der aktuellen sozialen Situation von hoher Bedeutung.

    Verschiedene Berufsverbände und Institutionen wie jüngst die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina haben darauf hingewiesen, dass die indirekten Auswirkungen der Corona-Pandemie gerade junge Bevölkerungsschichten stark beanspruchen und deutliche Effekte auf ihre psychische Gesundheit ausüben. Einige Forschungsdaten speziell zu Internetnutzungsstörungen, auch wenn sie die Problematik noch nicht über einen ausreichend langen Zeitraum abbilden können, erhärten die Vermutung, dass die Pandemie zu einer nochmals stärkeren Verbreitung des Störungsbildes beitragen kann (z. B. Paschke et al., 2021; Bilke-Hentsch et al., 2020; Rumpf et al., 2020).

    In der ambulanten Beratungspraxis werden unter anderen folgende Symptome in Verbindung mit problematischer Internetnutzung häufig berichtet:

    1. Müdigkeit, Unkonzentriertheit, Reizbarkeit
    2. starke Leistungsschwankungen oder Leistungsabfall (vor allem in Schule und Ausbildung)
    3. Stimmungsschwankungen und Antriebslosigkeit
    4. physische Beeinträchtigungen bzw. körperliche und psychosomatische Beschwerden (bspw. Kopf- und Gliederschmerzen, Haltungsschäden, Schlafstörungen)
    5. allgemeiner Rückzug

    Ein hoher Grad an Online-Beschulung, das Wegfallen von realen Sozialkontakten und fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten könnten diese bekannten Effekte in den bisher erlebten Lockdown-Phasen noch verstärkt haben. Erste, bislang jedoch unveröffentlichte Zahlen aus dem ambulanten Versorgungssystem weisen auf einen merklichen Anstieg der entsprechenden Nutzung des Hilfesystems wegen exzessiven Mediennutzungsverhaltens hin. Auch auf theoretischer Ebene unter Bezugnahme auf die oben genannten Störungsmodelle ist diese Entwicklung plausibel.

    Sowohl Praxis als auch Empirie bestätigen daher die Relevanz folgender Einflussfaktoren, die vor allem Kinder, Jugendliche und auch junge Erwachsene in der Zeit der Pandemie betreffen:

    1. Wesentliche Ressourcen brechen weg (z. B. Freizeitaktivitäten, direkter Kontakt zum Freundeskreis).
    2. Gesellschaftliche Sicherheit wird vermisst (z. B. gewohnte soziale Strukturen und Alltagsroutinen).
    3. Unsicherheit und Angst prägen das individuelle und gesamtgesellschaftliche Umfeld.
    4. Das Vertrauen in eine verlässliche Umwelt fehlt (unsichere Zukunftsperspektiven und erlebter Kontrollverlust).

    Diese vier Erkenntnisse sind von hoher Bedeutung und dürfen nicht ignoriert werden, sofern wir nicht nachhaltig negative Folgen für unsere Gesellschaft und im Besonderen für die nachkommenden Generationen in Kauf nehmen wollen. Von daher fordern Berufsverbände und auch der Fachverband Medienabhängigkeit e.V., dass die psychosozialen Folgen der aktuellen Krise ernst genommen werden und ein Auffangnetz für die vulnerablen Gruppen gespannt wird – gerade jetzt, wo die Pandemie zurückgedrängt scheint. Ein solches Netz muss spezielle und geeignete Angebote für Prävention und Behandlung vorhalten.

    Im Rahmen des geforderten und notwendigen Ausbaus der Digitalisierung sollten wir mit Blick auf Kinder und Jugendlichen zwei wichtige Eckpunkte berücksichtigen und in das Auffangnetz einbeziehen:

    1. Wir dürfen (vor allem jüngere) Kinder und Jugendliche nach wie vor nicht mit ihrer Mediennutzung alleine lassen – wir müssen aber auch (gerade von Kindern und Jugendlichen) lernen, virtuelle Angebote und Plätze und deren Funktion sowie Stellenwert besser zu verstehen.
    2. Neben den virtuellen Angeboten müssen wir geeignete reale Anlaufpunkte und Aktivitäten schaffen, ausbauen und stärken, da Digitalisierung diese niemals ersetzen kann.

    Der Fachverband Medienabhängigkeit e.V. ist bereit, an einem solchen Netzprojekt mitzuwirken und seine Erfahrungen und Erkenntnisse bezüglich der problematischen Internetnutzung mit einem differenzierten Blick einzubringen.

    Kontakt:

    Dr. Kai W. Müller
    Grüsser Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht
    Klinik für Psychosomatische Medizin der Universitätsmedizin Mainz
    Untere Zahlbacher Straße 8
    55131 Mainz
    kai.mueller(at)unimedizin-mainz.de

    Angaben zu den Autoren:

    Dr. Kai W. Müller, Diplom-Psychologe, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Forschung & Diagnostik an der Grüsser Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht an der Klinik für Psychosomatische Medizin der Universitätsmedizin in Mainz. Er ist 1. Vorsitzender des Fachverbandes Medienabhängigkeit e.V.
    Knut Kiepe, Diplom-Sozialarbeiter, war über zehn Jahre als Suchtreferent beim Gesamtverband für Suchthilfe e.V. – Fachverband der Diakonie Deutschland (GVS) tätig. Aktuell leitet er die Jugend-, Drogen- und Suchtberatung Mörfelden-Walldorf.

    Literatur:
    • Bilke-Hentsch, O., Bachmann, S., Batra, A., Conca, A., Funk, L., Gremaud, F., Jenewein, J., Hentsch, S., Klein, M. Michel, G., Müller, K.W., Müller-Knapp, U., Pezzoli, V., Preuss, U., Rexroth, C., Sevecke, K., Thun-Hohenstein, L., Walter, M., Weber, P., Wladika, W. & Jud, A. (2020). Gibt es ein „Post-corona-Adaptations-Syndrom“? Sollte es „post-Corona“-Interventionen geben? Entwicklungspsychiatrische Überlegungen. Leading Opinions Psychiatrie & Neurologie, 3/4, 6-11.
    • Brand, M., Young, K. S., Laier, C., Wölfling, K. & Potenza, M. N. (2016). Integrating psychological and neurobiological considerations regarding the development and maintenance of specific Internet-use disorders: An Interaction of Person-Affect-Cognition-Execution (I-PACE) model. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 71, 252-266.
    • Müller, K.W., Dreier, M. & Wölfling, K. (2016). Excessive and addictive use of the internet – prevalence, related contents, predictors, and psychological consequences. In L. Reinecke & M.B. Oliver (Eds.), The Roudledge Handbook of Media Use and Well-Being (pp 223-236). New York, Routledge, Taylor and Francis Group.
    • Paschke, K., Austermann, M. I., Simon-Kutscher, K. & Thomasius, R. (2021). Adolescent gaming and social media usage before and during the COVID-19 pandemic. Sucht, 67, 13-22. https://doi.org/10.1024/0939-5911/a000694
    • Rumpf, H.J., Brand, M., Wegmann, E., Montag, C., Müller, A., Wölfling, K., Müller, K., Stark, R., Steins-Löber, S., Hayer, T., Schlossarek, S., Hoffman, H., Lemenager, T., Lindenberg, K., Thomasius, R., Batra, A., Mann, K., te Wild, B., Mößle, T. & Rehbein, F. (2020). Covid-19 Pandemie und Verhaltenssüchte: Erfahrungen, Konsequenzen und Forderungen. Sucht, 66 (4), 212–216.
    • Rumpf, H.J., Batra, A., Bischof, A., Hoch, E., Lindenberg, K., Mann, K., Montag, C., Müller, A., Müller, K.W., Rehbein, F., Stark, R., te Wildt, B., Thomasius, R., Wölfling, K. & Brand, M. (in press). Vereinheitlichung der Bezeichnungen für Verhaltenssüchte. Sucht, in press.
  • Rahmenempfehlungen zur ambulanten und stationären medizinischen Rehabilitation – Allgemeiner Teil

    Die auf BAR-Ebene erarbeiteten trägerübergreifenden Rahmenempfehlungen zur ambulanten und stationären medizinischen Rehabilitation beinhalten Grundsätze und Ziele der medizinischen Rehabilitation sowie die allgemeinen personellen, räumlichen und apparativen Anforderungen. Der Allgemeine Teil wurde überarbeitet und gilt indikationsübergreifend sowie im Zusammenhang mit allen indikationsspezifischen Teilen, die zukünftig ebenfalls nach und nach überarbeitet werden (Rehabilitation bei muskuloskeletalen Erkrankungen, Kardiologische Rehabilitation, Neurologische Rehabilitation, Onkologische Rehabilitation, Dermatologische Rehabilitation, Rehabilitation bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, Pneumologische Rehabilitation).

    Die Rahmenempfehlungen gelten nicht für Kinder- und Jugendrehabilitation, Medizinische Rehabilitation für Mütter und Väter, geriatrische Rehabilitation, Phase II-Einrichtungen, ambulante mobile Rehabilitation, Rehabilitation psychisch kranker Menschen (RPK) sowie die ambulante Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen (Gemeinsames Rahmenkonzept der DRV und GKV zur ambulanten Rehabilitation Abhängigkeitskranker vom 03.12.2008) (s. Fußnote S. 9).

    Wichtigste Neuerung der aktuellen Auflage ist, dass erstmals auch der stationäre Bereich zur medizinischen Rehabilitation erfasst wurde und trägerübergreifend beschrieben wird. Ebenso sind erstmals folgende Kapitel enthalten:

    • Teilhabeorientierung der medizinischen Rehabilitation
    • Zulassung zur Leistungserbringung
    • Abbruch der Rehabilitationsmaßnahme
    • Wechsel der Rehabilitationsmaßnahme
    • Soziale Teilhabe und Qualitätsmanagement

    Es existieren viele trägerspezifische Konzepte zu Kriterien und Standards der medizinischen Rehabilitation. Das Besondere an diesen Rahmenempfehlungen zur medizinischen Rehabilitation ist, dass es sich um eine trägerübergreifende Vereinbarung handelt. Die Beteiligten erklären ihre Zustimmung und die Verbindlichkeit der Vereinbarungen mit dem Ziel, bundesweit eine einheitliche, qualitativ hochwertige rehabilitative Versorgung zu gewährleisten. Gleichzeitig verpflichten sich die Vereinbarungspartner, die Rahmenempfehlungen in ihrem Zuständigkeitsbereich umzusetzen. Dies gewährleistet Planungssicherheit für alle in der medizinischen Rehabilitation operativ tätigen Berufsgruppen.

    Die neu erarbeiteten Rahmenempfehlungen können als Print-Publikation im BAR-Shop bestellt oder kostenfrei heruntergeladen werden.

    Quelle: BAR-Website, 14.7.2021

  • 21. Juli – Gedenktag für verstorbene Drogenabhängige

    Am 21. Juli wird bundesweit der verstorbenen Drogenabhängigen gedacht. In Brandenburg starben 2020 offiziell 48 Menschen in Verbindung mit Rauschgift – mehr als doppelt so viele wie noch im Vorjahr. 19 von ihnen nahmen sich das Leben. Das zeigt einerseits, wie sehr abhängige Menschen unter ihrer Sucht leiden, und verdeutlicht andererseits die Notwendigkeit von Angeboten der Suchtprävention und Suchthilfe.

    Bereits seit 1998 findet am 21. Juli der Nationale Gedenktag für verstorbene Drogenabhängige statt. Mit diesem wollten die ursprünglichen Initiatoren, der Landesverband der Eltern und Angehörigen für humane und akzeptierende Drogenarbeit NRW e.V., nicht nur an all die Menschen erinnern, die an den Folgen ihres Drogenkonsums verstorben sind, sondern auch für eine wirksamere Drogenpolitik eintreten.

    Die Zahl der Rauschgifttodesfälle in Deutschland steigt seit Jahren kontinuierlich an. 2020 erfassten die zuständigen Behörden insgesamt 1.581 Fälle. In Brandenburg fielen die Zahlen zuletzt. Doch mit 48 Verstorbenen verzeichnet das Landeskriminalamt nun für das Corona-Jahr 2020 einen drastischen Anstieg und den Höchstwert unter den neuen Bundesländern.

    „Die aktuellen Zahlen der infolge ihres Drogenkonsums verstorbenen Menschen in Brandenburg sind ein ernstzunehmendes Warnzeichen“, erklärt Andrea Hardeling, Geschäftsführerin der Brandenburgischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (BLS). „Dabei sind hier nicht einmal die Todesfälle berücksichtigt, die auf legale Drogen zurückzuführen sind. Denn in Brandenburg sterben jedes Jahr tausende Menschen an den Folgen ihrer Alkohol- und Tabakabhängigkeit. Und die Verstorbenen sind nur die sichtbare Spitze des Eisbergs. Unter der Oberfläche verbirgt sich die viel größere Menge suchterkrankter und gerade jetzt, während der Pandemie, suchtgefährdeter Menschen, denen wir nun dringend mit qualifizierten Angeboten der Suchthilfe und vor allem Suchtprävention zur Seite stehen müssen.“

    Um hier die bestehenden Strukturen auszuweiten, startete die BLS zu Beginn des Jahres in Kooperation mit dem GKV-Bündnis für Gesundheit das Projekt „Suchtprävention für vulnerable Zielgruppen“. Dieses soll Akteur*innen auf kommunaler Ebene dabei unterstützen, neue Suchtpräventions-Projekte in ihren Landkreisen auf den Weg zu bringen. Das Hauptaugenmerk liegt hierbei auf besonders gefährdeten Zielgruppen. „Wir haben damit begonnen, Mitarbeitende, beispielsweise aus Kita und Jugendämtern, in Fortbildungen für den Umgang mit Kindern aus suchtbelasteten Familien zu sensibilisieren“, so Andrea Hardeling. „Parallel arbeiten wir aber auch an Konzepten für die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen, Menschen mit Migrationsgeschichte und Älteren. Denn diese Gruppen sind besonders gefährdet, eine Suchterkrankung zu entwickeln und verdienen daher unsere besondere Aufmerksamkeit.“

    Pressemitteilung der Brandenburgischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (BLS), 19.7.2021

  • Mit Nasenspray Leben retten

    Ein Nasenspray mit Naloxon, das Drogengebrauchende immer mit sich führen, kann Leben retten. Im Falle einer Überdosierung mit Opioiden kann das Spray verabreicht werden, noch bevor der Rettungsdienst eintrifft. Naloxon ist das wirksamste Medikament gegen eine Überdosis. Die einfache Anwendung ermöglicht auch medizinischen Laien schnelle Hilfe im Drogennotfall. Hier setzt das Projekt „NALtrain“ an, das am 1. Juli 2021 gestartet ist.

    „Das erste Bundesmodellprojekt zum Thema Take Home Naloxon soll in den nächsten drei Jahren den Grundstein dafür legen, dass Ärztinnen und Ärzte das Medikament verordnen und möglichst viele Opioidkonsumentinnen und -konsumenten sowie Patientinnen und Patienten in Opioidsubstitutionsbehandlung dieses lebenswichtige Medikament mit sich führen und anwenden können“, erklärt Prof. Dr. Heino Stöver, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Suchtforschung (ISFF) an der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS).

    1.581 Drogentodesfälle wurden im Jahr 2020 verzeichnet. Etwa 600 Drogentodesfälle stehen in Verbindung mit dem Konsum von Heroin und anderen Opioiden (Stöver/Schäffer 2021). „Die Verschreibung eines Naloxon-Nasensprays geschieht hingegen lediglich in Einzelfällen – 2019 etwa 370 Sprays. Unser Projekt soll die Zahl der Verschreibungen deutlich erhöhen“, so Stöver. Gefördert wird NALtrain vom Bundesministerium für Gesundheit für die Dauer von drei Jahren.

    Akzept, die Deutsche Aidshilfe und das ISFF als Projektträger verbinden mit dem Modellprojekt zudem folgende Ziele:

    • Mitarbeiter*innen in Einrichtungen der Aids- und Drogenhilfe sollen durch halbtägige Schulungen zu Trainer*innen ausgebildet werden, die ihr Wissen in Kurzinterventionen an Drogengebraucher*innen und Substituierte weitergeben.
    • Verbindliche Kontakte zu Ärztinnen und Ärzten der jeweiligen Stadt werden hergestellt und bringen beide Partner*innen miteinander ins Gespräch, um zu gewährleisten, dass alle geschulten Drogengebraucher*innen und Substituierte auch ein Rezept erhalten, das sie in der Apotheke einlösen können.
    • Im Rahmen einer Begleitevaluation werden Daten zur Anzahl der ausgebildeten Personen sowie zur Zahl der Rezepte erfasst. Ebenfalls soll ein Rückmeldesystem nach erfolgter Anwendung des Nasensprays installiert werden. Viele tausend Drogengebraucher*innen und Substituierte sollen künftig das Naloxon-Nasenspray mit sich führen und im Notfall anwenden lassen können.
    • Zudem soll das Thema Drogennotfall ein fester Baustein in der Arbeit und Ausbildung aller in der Drogen- und Aids-Hilfe tätigen Mitarbeiter*innen werden.

    „Im Juli wird sich der Naloxonzug NALtrain in Bewegung setzen und wir wünschen uns sehr, dass möglichst viele Einrichtungen aufsteigen und uns begleiten. Wir haben Haltestellen in 40 Städten und allen Bundesländern vorgesehen. Wir freuen uns auf zahlreiche Unterstützung, denn es gilt, gemeinsam die Zahl der opioidbedingten Drogentodesfälle zu reduzieren“, betont Stöver. Der Suchtexperte macht aber auch deutlich, dass eine Gabe des Nasensprays bei einer Überdosis immer nur eine Erste-Hilfe-Maßnahme sei und ein Rettungsteam herbeigerufen werden müsse. Da aber gerade die schnelle Reaktion derjenigen Person wichtig sei, die die überdosierte Person auffindet, könne das Spray über Leben und Tod entscheiden.

    Wird Naloxon bei einer Überdosierung gegeben, kommt die betroffene Person wieder zu Bewusstsein und atmet. Da das Zeitfenster, in welchem Naloxon als Gegenspieler die Wirkungen von Heroin, Methadon, Fentanyl und anderen Opioiden teilweise oder ganz aufhebt, nur etwa 30 bis 90 Minuten beträgt, muss die Person in jedem Fall im Anschluss an die Verabreichung des Sprays professionell medizinisch versorgt werden. Da Nebenwirkungen bei der Naloxon-Gabe auftreten können, ist eine Überwachung des/der Überdosierten durch den Ersthelfenden bis zum Eintreffen der Rettungskräfte zwingend erforderlich.

    Weitere Informationen zu Naloxon unter: https://www.naloxontraining.de/; mehr zum Institut für Suchtforschung unter www.frankfurt-university.de/isff.

    Literatur:
    Stöver, H., Schäffer, D. (2021): Maßnahmenplan für eine nachhaltige Reduktion drogenbedingter Todesfälle in Deutschland. In: akzept e.V. (Hg.): 8. Alternativer Drogen- und Suchtbericht, S. 99-102

    Kontakt:
    Prof. Dr. Heino Stöver, hstoever(at)fb4.fra-uas.de

    Pressestelle der Frankfurt University of Applied Sciences, 5.7.2021