Übersicht Rauschgifttote nach Todesursachen 2020 (Länderabfrage)
„Suchthilfe und Gesundheitsversorgung von schwerstabhängigen Menschen muss auch in der Krise weitergehen!“, so die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig.
Die Corona-Pandemie hinterlässt in unzähligen Bereichen unserer Gesellschaft Spuren. Auch die Hilfe für schwerstabhängige Menschen ist durch die Pandemie in eine Ausnahmesituation geraten. Die Zahl der an illegalen Drogen verstorbenen Menschen ist im vergangenen Jahr deutlich angestiegen. 2020 wurden in Deutschland 1.581 drogenbedingte Todesfälle registriert. Dies entspricht einem Anstieg von 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr (1.398).
Die meisten Verstorbenen wurden, wie bereits in den Vorjahren, in den bevölkerungsreichsten Bundesländern Nordrhein-Westfalen (401 Tote) und Bayern (248 Tote) sowie in Berlin (216 Tote) festgestellt.
Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig: „Die Lage ist für suchtkranke Menschen durch die Pandemie mehr denn je dramatisch. Viele von ihnen sind durch Corona in eine verstärkte Lebenskrise geraten. Gewohnte Strukturen, persönliche Hilfsangebote und Ansprechpartner sind quasi von einem Tag auf den anderen weggebrochen. Dies kann ein Grund dafür sein, dass sich mehr Drogenkonsumenten als in den Jahren zuvor das Leben genommen haben. Hinter jedem Todesfall steht ein tragisches Schicksal und es sind Zahlen, die traurig machen.“
Substanzen
Wie bereits in den Vorjahren war vor allem der Konsum von Opioiden/Opiaten allein oder in Verbindung mit anderen Stoffen todesursächlich (572 Tote, 37,1 Prozent von den nach Todesursachen erfassten Rauschgifttodesfällen), obwohl die Zahl der Todesfälle durch Opioide/Opiate im Vergleich zum Vorjahr um zwölf Prozent gesunken ist.
Die zweihäufigste Todesursache (27,3 Prozent, 432 Personen) geht auf Langzeitschädigungen auf Grund von Drogenkonsum zurück.
Die Drogenbeauftragte fordert dazu auf, die Suchthilfe gerade jetzt in der Krise aufrechtzuerhalten: „Vor Ort kommt es weiter auf jede Hilfe an. Dazu gehört auch, dass Länder und Kommunen trotz klammer Kassen die Finanzierung sicherstellen müssen. Langfristig zahlt sich das in jedem Fall aus – gesundheitlich wie finanziell. Bitte schauen Sie nicht weg, sondern kümmern Sie sich weiter um suchtkranke Männer, Frauen und vor allem deren Kinder! Sie alle brauchen JETZT Unterstützung – mehr denn je!“
Vergiftungen im Zusammenhang mit anderen Stoffen als Opioide/Opiate machten 18,5 Prozent der nach Todesursachen erfassten Todesfälle aus und steigen um 6,3 Prozent. Auch die Todesfälle in Verbindung mit Kokain/Crack sind von 36 auf 48 gestiegen (+ 33,3 Prozent).
„Wir sehen, dass gerade das Mischen von Substanzen häufig tödlich ist“, so die Drogenbeauftragte Daniela Ludwig. „Ich bin überzeugt, dass wir in Zukunft über neue Methoden der „Harm Reduction“ nicht nur nachdenken, sondern sie in Modellprojekten für die Praxis testen sollten. Beim Anti-Opiat-Nasenspray Naloxon legen wir damit bald bundesweit los. Ich bin weiterhin der Ansicht, dass die Erprobung der analysegestützten Beratung* eine Option wäre. Außerdem brauchen wir eine noch flächendeckendere Substitutionsversorgung und mehr Unterstützung in Übergangssituationen, etwa wenn Substitutionspatienten aus der Haft in die Freiheit kommen. All das kann Leben retten. Wenn wir in Zukunft diese Zahlen reduzieren möchten – und das müssen wir – können wir uns nicht vor weiteren Wegen der Schadensminimierung verschließen.“
Pressemitteilung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, 25.3.2021
*Anm. d. Redaktion: „Hierbei handelt es sich um eine Form des Drug-Checkings, bei der nicht die stoffliche Analyse, sondern ein Beratungsgespräch durch geschulte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Suchthilfe im Vordergrund steht.“ (Jahresbericht der Drogenbeauftragten der Bundesregierung 2020, S. 57)
BALANCE buch + medien verlag, Köln 2020, 192 Seiten, 18,00 €, ISBN 978-3-86739-200-6, auch als E-Book erhältlich
Wenn etwas aus dem Lot geraten ist, braucht ein Mensch Zuwendung, nicht nur von anderen, sondern auch von sich selbst. Beschämung und Selbstverachtung sind schlechte, aber häufige Begleiter fast jeder psychischen Erkrankung. Was nicht nur in Lebenskrisen hilft, ist der Wirklichkeit ins Auge zu sehen, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und die Bedürfnisse dahinter aufzuspüren.
Die Autorin bietet Betroffenen und ihrem Umfeld einfühlsame Begleitung dabei an: Konkrete Beispiele für die Arbeit an Emotionsregulierung, Achtsamkeit und Atmung, zwei durchgängige Fallbeispiele sowie Übungen und Reflexionen zum Selbstmitgefühl leiten den freundlichen Umgang mit sich selbst an und helfen, die eigenen Ressourcen aufzuspüren.
Der Entwurf des 6. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung sei ein Beleg des jahrelangen armutspolitischen Versagens, kommentiert der Paritätische Wohlfahrtsverband den Entwurf des Berichts aus dem Bundesarbeitsministerium. Der Verband hat den mehrere hundert Seiten umfassenden Text einer ausführlichen Analyse unterzogen: Die Entwicklung der Ungleichheit in Deutschland sei zutiefst besorgniserregend, so die Bilanz der Expert*innen.
„Der Bericht belegt, wie sowohl Armut als auch Reichtum wachsen und sich verfestigen. Die so genannte Mitte schrumpft, soziale Mobilität nimmt ab und soziale Ungleichheit steigt. Und der Bericht weist nach, wie dramatisch sich die Situation gerade der Arbeitslosen verschärft hat“, so Werner Hesse, Geschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. Der Bericht dokumentiere u. a. die dramatischen Effekte der Agenda-Reformen. Mit den so genannten Hartz-Reformen sei die Absicherung des sozialen Risikos Erwerbslosigkeit zu einem erheblichen Teil der Fürsorge übertragen worden, die Armutsquote Erwerbsloser habe sich seitdem vervielfacht. „Erwerbslose stoßen auf ein soziales Sicherungssystem, das bereits vor Corona nicht vor Armut schützte und dessen Schwächen nun noch deutlicher zutage treten“, so Hesse.
Dass die Corona-Pandemie die Ungleichheit noch verschärft, belegt der Bericht selbst anhand aktueller Daten. „Diese Befunde können kaum überraschen, sind doch bspw. die Menschen, die zuvor schon in der Grundsicherung waren, bislang von zusätzlichen, auf ihre Bedarfe zugeschnittenen Hilfen ausgeschlossen gewesen“, so Dr. Joachim Rock, Leiter der Abteilung Arbeit, Soziales und Europa im Paritätischen Gesamtverband, die den Berichtsentwurf ausgewertet hat. „Die geplante Einmalzahlung für Grundsicherungsbeziehende von 150 Euro geht weit an den Mehrbelastungen armer Menschen in der Pandemie vorbei und kann schon gar kein Beitrag dazu sein, die sich verfestigende Ungleichheit in irgendeiner Weise positiv zu beeinflussen.“
Der Paritätische fordert eine politische Offensive zur Beseitigung von Armut. Deutschland habe es in der Hand, seine Einkommensarmut abzuschaffen und parallel für eine gute soziale Infrastruktur zu sorgen. Es klinge banal und werde bei vielen nicht gern gehört, „aber gegen Einkommensarmut, Existenzängste und mangelnde Teilhabe hilft Geld“, so Hesse. Konkret seien eine bedarfsgerechte Anhebung der Regelsätze in Hartz IV und der Altersgrundsicherung (nach Berechnungen der Paritätischen Forschungsstelle auf mindestens 644 Euro), die Einführung einer Kindergrundsicherung sowie Reformen von Arbeitslosen- und Rentenversicherung nötig. Der Verband untermauert zudem die Forderung nach einer monatlichen Zusatzzahlung für die Dauer der Pandemie von 100 Euro für alle Menschen, die existenzsichernde Leistungen beziehen.
Die Hamburger Basisdatendokumentation e.V. (kurz BADO e.V.) ist ein Zusammenschluss der freien Träger der Sucht- und Drogenhilfe in Hamburg und der zuständigen Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz zum Zweck der Dokumentation und Evaluation in der ambulanten Suchthilfe und der Eingliederungshilfe.
Im Dezember 2020 legte der Verein seinen 23. Jahresbericht für das Jahr 2019 vor. Die BADO dokumentiert prozessbegleitend anonymisiert für alle Klient*innen der Hamburger Suchthilfeeinrichtungen, mit welchen Suchtproblemen die Einrichtungen aufgesucht wurden. Ferner werden wesentliche soziodemographische Merkmale, biographische Erfahrungen sowie die aktuelle psychosoziale und gesundheitliche Situation beschrieben. Alle Auswertungen erfolgen geschlechtsspezifisch. Die wichtigsten Ergebnisse:
15.435 Personen suchten Hilfe in den Hamburger Suchthilfeeinrichtungen
Aus 57 Suchthilfeeinrichtungen wurden von 15.435 (im Vorjahr 15.068) unterschiedlichen Personen insgesamt 18.526 Betreuungsverläufe ausgewertet. 13.578 Personen nutzten die Suchthilfeeinrichtungen aufgrund einer eigenen Suchtproblematik. Zusätzlich wurden 1.857 Personen aus dem sozialen Umfeld von Suchtmittelabhängigen wie Partner*innen und Angehörige beraten. Diese seit Jahren weitgehend konstant sehr hohen Zahlen der Inanspruchnahme der Suchthilfeeinrichtungen belegen Bedarf und Nachfrage nach Suchthilfe, und darüber hinaus, dass die Angebote des differenzierten Hamburger Suchthilfesystems angenommen werden.
Unter Berücksichtigung ähnlicher Konsummuster wurden die Klient*innen der Hamburger Suchthilfe diesen vier Hauptsubstanzgruppen sowie einer nicht-stoffgebundenen Suchtgruppe zugeordnet: 4.131 Personen mit ausschließlich Alkohol als Hauptproblem (30 Prozent), 3.437 Opiatabhängige (25 Prozent), davon zwei Drittel substituiert, 2.305 Konsument*innen von Stimulanzien wie Kokain, Crack oder Amphetaminen (17 Prozent), 2.275 Cannabiskonsument*innen (17 Prozent). 507 Personen (4 Prozent) hatten eine ausschließliche Glücksspielproblematik.
Hilfesuchende mit vielfältigen biographischen und psychosozialen Belastungen
27 Prozent aller Hilfesuchenden waren Frauen. Die Frauen waren im Mittel 42 Jahre, die Männer 39 Jahre alt. Unverändert im Zeitraum der letzten drei Jahre lag bei einem Drittel der Klient*innen ein Migrationshintergrund vor. Etwa die Hälfte der Klient*innen suchte im Jahr 2019 erstmals Hilfe in einer Suchtberatungseinrichtung, die andere Hälfte hatte bereits in den Vorjahren Kontakt zur Hamburger Suchthilfe. Gut die Hälfte begann die Betreuung mit hoher Abstinenzmotivation.
Biographische Belastungen
Fast die Hälfte aller Klient*innen war in suchtbelasteten Haushalten aufgewachsen. Ein Fünftel aller Klient*innen berichtete von früheren Fremdunterbringungen in öffentlicher Erziehung. Zwei Drittel der Frauen und etwa 60 Prozent der Männer hatten schwere körperliche Gewalt erfahren. Gut die Hälfte der Frauen berichtete von sexuellen Gewalterfahrungen. Für gut drei Viertel wurden weitere schwer belastende Lebensereignisse dokumentiert.
15 Prozent der Männer und 24 Prozent der Frauen hatten in der Vergangenheit Suizidversuche unternommen. In allen Teilgruppen der Alkohol-, Opiat-, Cannabis-, Kokain- oder Glücksspielabhängigen wiesen jeweils die Frauen gegenüber den Männern deutlich häufiger biographische Belastungen auf. Die Männer – vor allem die opiatabhängigen – waren sehr viel häufiger vorbestraft sowie häufiger und vor allem außerordentlich viel länger inhaftiert gewesen, so z. B. hatten 36 Prozent der opiatabhängigen Männer mindestens drei Jahre in Haftanstalten verbracht.
Psychosoziale Belastungen
82 Prozent der Frauen und 73 Prozent der Männer verfügten über eigenen Wohnraum, bei etwa 2.500 Personen war das nicht der Fall. Die Wohnungslosigkeit war bei den Opiatabhängigen mit 35 Prozent besonders hoch. Die Überwindung prekärer Wohnverhältnisse bleibt eine der vordringlichsten sozialpolitischen Aufgabenstellungen.
53 Prozent der Klientinnen und 19 Prozent der Klienten lebten mit suchtmittelabhängigen Partner*innen zusammen. Die Klient*innen versorgten insgesamt ca. 3.000 minderjährige Kinder in gemeinsamen Haushalten, wobei dies sehr viel häufiger durch – alleinerziehende – Frauen erfolgte. 46 Prozent aller Klient*innen waren arbeitslos. Nur 25 Prozent hatten ein Einkommen aus Erwerbstätigkeit, 21 Prozent der opiatabhängigen Frauen bezogen Einnahmen aus Prostitution. Die Hälfte der Klient*innen – vor allem Glücksspielabhängige – hatte Schulden.
Erhält eine hilfesuchende Person sinnvolle Antworten, wenn sie sich wegen eines Suchtproblems an einen digitalen Assistenten wendet? Ein US-Forschungsteam hat dies getestet.
„Ich brauche Hilfe beim Ausstieg aus dem Cannabiskonsum.“ Wie reagieren digitale Assistenten, wenn sie mit Anfragen wie dieser konfrontiert werden? Studienleiter John Ayers und sein Team von der University of California haben die fünf führenden digitalen Assistenten getestet, darunter Alexa von Amazon, Siri von Apple, Cortana von Microsoft, Bixby von Samsung und den Google Assistant. Die getestete Software würde nach Angaben des Forschungsteams etwa 99 Prozent des Marktes für digitale Assistenten abdecken.
Bei normalen Suchmaschinen im Internet erzeugen Suchanfragen in der Regel eine lange Liste von mehr oder weniger zielführenden Treffern. Die suchende Person muss dann selbst entscheiden, welche Treffer ihr vermutlich weiterhelfen. Digitale Assistenten funktionieren anders. Benutzerinnen und Benutzer formulieren ihre Frage so, als würden sie mit einer anderen Person sprechen. Der digitale Assistent antwortet in der Regel mit einer Information, die von der Software aus den vielen möglichen Treffern nach bestimmten Regeln ausgewählt wurde.
Nur zwei von 70 Anfragen lieferten hilfreiche Antworten
Ayers und sein Team haben den eingangs erwähnten Satz variiert und mit anderen Substanzbegriffen wie Rauchen, Alkohol oder Heroin kombiniert. Die digitalen Assistenten wurden mit insgesamt 70 unterschiedlichen Anfragen konfrontiert. Die Antworten waren jedoch ernüchternd. Nur in zwei Fällen lieferte die Software hilfreiche Informationen. Auf die Frage nach Hilfen zum Ausstieg aus dem Tabakrauchen wurde beispielsweise eine Smartphone-App zum Rauchausstieg empfohlen.
In den meisten Fällen verstand die Software die Anfrage nicht oder gab sinnfreie Antworten wie: „Es tut mir leid. Ich konnte diese Fähigkeit nicht finden.“ Teils waren die Antworten auch kontraproduktiv. So hat ein digitaler Assistent auf die eingangs genannte Anfrage nach Hilfe zum Ausstieg aus dem Cannabiskonsum den nächsten lokalen Verkaufsshop für Cannabis empfohlen.
„Verpasste Gelegenheiten“
John Ayers und sein Team argumentieren, dass die Antworten „verpasste Gelegenheiten“ seien. Beispielsweise gäbe es in den USA seit 2004 eine nationale kostenfreie Hotline zum Rauchausstieg. Die Hotline sei umfassend getestet worden und werde in medizinischen Richtlinien empfohlen. Fragt eine Person nach möglichen Hilfen zum Rauchausstieg, könnte ein digitaler Assistent anbieten, die Hotline anzurufen. So könnte die Person ohne große Umwege mit einer Beraterin oder einem Berater verbunden werden.
Offenkundig seien digitale Assistenten auf Anfragen dieser Art aber nicht vorbereitet, was nach Einschätzung des Forschungsteams an der kommerziellen Ausrichtung der Software liegt. Ayers und sein Team empfehlen daher, dass die Institutionen der Gesundheitsförderung mehr mit Unternehmen kooperieren sollten, um die Chancen, die digitale Assistenten bieten, besser zu nutzen.
Seit längerer Zeit beklagt die Suchthilfe, dass die kommunalen Suchtberatungsstellen nicht mehr auskömmlich finanziert werden, u. a. im „Notruf Suchtberatung“ der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) vom 23. April 2019. Die DHS fordert deshalb, dass die Suchtberatung zur kommunalen Pflichtleistung wird (DHS, 10. September 2020). Die Forderung wird bereits seit Jahrzehnten erhoben, ohne bislang realisiert worden zu sein. Auch aktuell gibt es hierfür keine Anzeichen.
Die Leistungspalette der Suchtberatungsstellen ist nach wie vor stark auf die klientenzentrierte Beratungsarbeit ausgerichtet, auch wenn sie sich im Laufe der Jahre ausdifferenziert hat. Bei dieser Ausrichtung wird zwangsläufig nicht ausreichend sichtbar, worin ein Mehrwert der Arbeit der Suchtberatungsstellen für die Kommunen besteht. Es ist für die Kommune schwer zu erkennen, wofür sich das finanzielle Engagement, neben der Verbesserung der individuellen Lebenslagen der Menschen, die die Angebote in Anspruch nehmen, lohnt.
Dieser Punkt wird im Zuge der aktuellen Entwicklung in absehbarer Zeit allerdings an Bedeutung gewinnen. Aufgrund der enormen staatlichen Ausgaben, die derzeit für den Kampf gegen SARS-CoV-2 aufgewendet werden, lässt sich vorhersehen, dass in den nächsten Jahren große Anstrengungen unternommen werden müssen, diese Schuldenberge wieder abzutragen. Die Folgen der dafür notwendigen Haushaltsdisziplin auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene werden vor allem die Bereiche spüren, die als freiwillige Leistungen finanziert werden – und damit auch die Suchtberatungsstellen.
Als wichtiger Partner für Verwaltung und Fachämter agieren
Um einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken bzw. die Folgen zu dämpfen, bedarf es einer Umorientierung in der Ausrichtung der Suchtberatungsstellen. Neben dem Ziel, den betroffenen Menschen zu helfen, muss stärker in den Blick genommen werden, welchen Nutzen die Kommune aus dem Dasein und der Expertise einer Suchtberatungsstelle ziehen kann. Die Suchthilfe muss sich dazu noch stärker als bisher als strategischer und zugewandter Partner in den lokalen politischen Gremien, der lokalen Verwaltung und den entsprechenden Fachämtern präsentieren.
Wenn die Suchtberatung engagiert im kommunalen psychosozialen Gesamtgeschehen agiert und Vernetzungen aus dem Suchthilfebereich heraus aktiv mitgestaltet, hilft dies nicht nur, den Bestand der Suchthilfeangebote zu sichern, sondern bedeutet zugleich konkrete Hilfe für Betroffene. Konkrete Beispielszenarien:
Wenn
Bürgermeister*innen die lokalen Suchthilfeakteure als Ratgeber oder Unterstützungsinstanz auch bei kommunalen Herausforderungen schätzen, z. B. bei Suchtproblemen in der Mitarbeiterschaft der Verwaltung,
die Polizei die Suchthilfe als verlässlichen Partner z. B. bei Problemen mit Jugendlichen wahrnimmt oder
die Suchthilfe von Ämtern als Fachorganisation gewürdigt wird, welche konkrete Hilfestellungen offeriert, die das eigene Handeln weiterbringen,
dann hat die Suchthilfe auf der kommunalen Ebene Mitstreiter, die ebenfalls ein großes Interesse daran haben, dass das vorhandene Angebot bestehen bleibt, ja, vielleicht durch zusätzliche Arbeitsaufträge (z. B. sozialpädagogische Familienhilfe bei von Sucht betroffenen Familien) sogar ausgebaut wird.
Ein Beispiel für eine gelungene breit aufgestellte Kooperation, bei der die Suchthilfe im Gefüge der kommunalen Organe eine aktive, tragende Rolle spielt, ist das Projekt SoS – Sozialraumorientierte Suchthilfe, das die Drogenhilfe Nordhessen e.V. zusammen mit verschiedenen Landkreisen und Städten durchführt (s. Kasten).
Die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre hat mit dazu geführt, dass sich Menschen mit psychosozialen Einschränkungen vermehrt an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen. Die Politik hat dies erkannt und ist bestrebt, den Zusammenhalt der Gesellschaft stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Sie weiß um die Bedeutung von Initiativen und Organisationen, die sich für die Teilhabe aller an unserer Gesellschaft einsetzen.
SoS – Sozialraumorientierte Suchthilfe Der Leitsatz des Projektes SoS lautet: „Finden die Menschen nicht in das System, so muss das System die Menschen finden!“ Ziel des Projektes ist es, in ländlichen Gebieten Menschen mit Suchtproblemen zu erreichen, die durch das konventionelle Hilfesystem nicht erreicht werden oder von sich aus nicht in der Lage sind, sich Hilfe zu suchen, und ihnen Behandlungsangebote zu machen. SoS ist eine aufsuchende und nachgehende Hilfeform. Das Projekt startete 2015 in Form von zwei halben Stellen für Sozialarbeiter im Landkreis Hersfeld-Rotenburg und im Schwalm-Eder-Kreis mit drei Jahren Laufzeit und einer Förderung durch das Land Hessen. Mittlerweile trägt sich das Projekt selbst über Partner auf kommunaler Ebene.
Was ist das Besondere? SoS initiiert aktiv eine breit aufgestellte Kooperation der Suchthilfe mit allen Bereichen öffentlicher Daseinsvorsorge – Jugendämtern, Sozialämtern, Arbeitsämtern – und dem Gesundheitswesen – Arztpraxen, Krankenhäuser. Die Suchthilfe bietet ihre Unterstützung und Expertise sowohl den dort anzutreffenden Kund*innen und Patient*innen an als auch den Mitarbeiter*innen und Führungskräften dieser Dienste. Eine ebensolche Zusammenarbeit besteht mit der Polizei und Rettungsdiensten. Zeigt sich bei deren Klientel ein Suchtproblem, werden die SoS-Mitarbeiter*innen ins Boot geholt. Mittlerweile verteilt die Polizei bei entsprechenden Einsätzen (häuslicher Gewalt, Fahren unter Alkoholeinfluss) SoS-Flyer.
Dauerhafte Finanzierung Handlungsmaxime von SoS ist eine die unterschiedlichen Hilfesysteme vernetzende Kooperation im Sozialraum. Ziel ist, dass bei erkanntem Suchtmittelproblem zeitnah, niedrigschwellig und in einem aufsuchenden und verlässlichen Setting Hilfe erfolgt. Das bedeutet, dass die Betroffenen notwendige Hilfen aus unterschiedlichen Sozialsystemen (Jugendhilfe, Suchthilfe, Gesundheitswesen, Rentenversicherung) erhalten. Da unterschiedliche soziale Sicherungssysteme, aber auch Betriebe, partizipieren und profitieren, ergibt sich die Chance, die Gesamtkosten für die Weiterführung des Projektes auf mehrere Kostenträger zu verteilen (öffentliche Hand, Gesundheitswesen und Wirtschaft). Ein weiterer Baustein der Finanzierung sind Dienstleistungen im Bereich betriebliches Gesundheitsmanagement und betriebliches Eingliederungsmanagement.
Die Leistung an Mann* und Frau* bringen Psychosoziale Hilfen sind von unschätzbarem Wert – für Individuen, Familien, Gemeinden und Arbeitgeber. Sie müssen in der Breite angeboten und publik gemacht werden. Sie brauchen einen dienstleistungsorientierten Vertrieb! So können sie sich ausdehnen und ein Versorgungsnetz bilden, das Hilfe leistet, wo Hilfe gebraucht wird. Und dieser „Service“ hat gute Chancen, finanziert zu werden.
Um zukünftig weiterhin betroffenen Menschen die notwendigen Suchthilfeangebote bieten zu können, muss eine positive und zielgruppenspezifische Darstellung der eigenen Arbeit einen größeren Raum einnehmen. Vor allem der Gewinn dieser Arbeit für die Allgemeinheit und die Geldgeber ist dabei gegenüber der Öffentlichkeit und der Politik stärker herauszustreichen.
Als Begleiterscheinung der Pandemie hat auch im Bereich der Suchthilfe die Digitalisierung einen enormen Schub erfahren. Neue Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und der Betreuung mit digitalen Tools wurden ausprobiert und haben derzeit vielerorts die vorhandenen Präsenzangebote ergänzt. Die Umsetzung digitaler Formate in der Arbeit mit Klient*innen innerhalb kurzer Zeit ist hervorragend gelungen, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Suchthilfe nach wie vor großer Bedarf herrscht, sich zeitgemäß und attraktiv im digitalen Raum zu präsentieren. Manche Homepage führt noch immer ein Schattendasein und ist für Nutzer*innen wenig attraktiv, soziale Medien werden kaum bedient. Doch gerade auch diese Kommunikationskanäle dienen der öffentlichen Darstellung der Einrichtung und werden von der Politik und der Öffentlichkeit wahrgenommen, d. h., auch bei der Kommunikation im virtuellen Raum ist es sinnvoll, die politischen Entscheider als Adressaten mitzudenken.
Neben kommunalen Mitteln werden Suchtberatungsstellen auch mit Mitteln der Länder finanziert. Vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklungen ist es auf dieser Ebene wichtig, sich frühzeitig mit den jeweiligen Landtagsfraktionen in Verbindung zu setzen und für die Erhaltung der Angebote und Strukturen zu werben. Auch hier helfen konkrete und überzeugende Beispiele, mit denen demonstriert werden kann, welche Vorteile die vorhandenen Angebote neben denen für die Individuen auch für die Regionen und das soziale Gefüge bieten.
Mögliche Einsparungen im Bereich der Suchtberatungsstellen könnten sich aktuell doppelt negativ auswirken: Aufgrund des pandemischen Geschehens ist damit zu rechnen, dass in den nächsten Jahren zusätzliche Suchtberatungsangebote benötigt werden. Die psychosozialen Kollateralschäden und Langzeitfolgen der Pandemie für vulnerable Zielgruppen sind derzeit noch nicht absehbar. Durch die Pandemie hervorgerufene persönliche Krisensituationen mit dem Konsum von Alkohol, Drogen, Glücksspielen oder dysfunktionalen Internetaktivitäten zu bewältigen, ist jedoch naheliegend. Erste Befunde hierzu liegen schon vor (Studie „Psychische Gesundheit in der Krise“ der pronova BKK; Manthey et al. 2020). Angesichts eines solchen Szenarios wäre den politischen Entscheidungsträger*innen zeitnah zu vermitteln, dass es nicht zielführend ist, Unterstützungsangebote gerade für diese Zielgruppen zu reduzieren.
Die Realisierung der genannten Aufgaben benötigt Ressourcen. Allerdings reicht es nicht, deren Bereitstellung als Selbstverständlichkeit von den Geldgebern zu erwarten. Vielmehr liegt es primär in der Verantwortung eines Zuwendungsempfängers, die erfolgreiche Arbeit auch entsprechend zu kommunizieren und zu publizieren, wenn er den Wunsch hat, dass die Zuwendung weitergeführt wird.
Große Träger sind im Vorteil
Viele Träger von Suchtberatungsstellen agieren im oben beschriebenen Sinne seit vielen Jahren mit gutem Erfolg. Dabei zeigt sich, dass es sich vielfach um größere Träger handelt, die mehrere Beratungsstellen, Angebote der Eingliederungshilfe oder sogar stationäre Therapieeinrichtungen vorhalten. Zusätzlich arbeiten diese Träger nicht nur mit suchtkranken Menschen, sondern bieten auch Leistungen im Rahmen der Jugendhilfe oder sozialpädagogische Familienhilfe an. Diese Leistungen werden individuell mit den kommunalen Trägern abgerechnet und bieten i.d.R. eine verlässliche Finanzierungsquelle.
In einer größeren Organisation sind finanzielle Deckungslücken zudem einfacher auszugleichen. Eine aktive Personalentwicklung ist leichter umzusetzen, und damit lässt sich auch dem in der Suchthilfe bestehenden Fachkräftemangel besser begegnen. Für Geldgeber zusätzlich attraktiv ist die Tatsache, dass größere Träger auf aktuelle Bedarfsänderungen schnell reagieren können. Vielfach agieren diese gemeinnützigen Träger, die es in vielen Bundesländern gibt, zudem überregional.
Aus diesen Aspekten abgeleitet stellt sich die Frage, ob und wie kleine Beratungsstelleneinheiten den bevorstehenden Herausforderungen zukünftig begegnen können.
Strukturveränderungen diskutieren und anstoßen
In den Institutionen, die die Interessen der Suchthilfe vertreten, sollte deshalb der Diskurs über mögliche oder sogar notwendige Strukturveränderungen begonnen werden, um konkrete Vorschläge zu entwickeln und an die politischen Entscheider zu adressieren. Das Beharren auf einem „Weiter so“ wird in Anbetracht der anstehenden finanziellen Aufgabenstellungen wenig zielführend sein, wenn es gilt, zukunftsfähige Perspektiven für Suchtberatungsstellen zu entwickeln.
Die anstehenden Herausforderungen für die Suchthilfe sind also enorm. Ob zu ihrer Bewältigung auch Strukturveränderungen und eine neue Haltung in der Angebotslandschaft notwendig wären, darf in dem anstehenden Diskurs nicht ausgeblendet werden. Mit konstruktiven Vorschlägen, die den geänderten Rahmenbedingungen Rechnung tragen, sollten umfassende und abgestimmte Aktivitäten der Suchhilfe auf Länder- und Bundesebene an die Politik adressiert werden. Ein solches Vorgehen bietet die Chance, dass Menschen mit Suchtproblemen weiterhin ein kompetentes, differenziertes und umfängliches Angebot erhalten, und zwar von gemeinnützigen öffentlich geförderten Suchtberatungsstellen, denen damit eine zukunftsfähige Perspektive eröffnet wird.
Kontakt:
Wolfgang Rosengarten
w.rosengarten@t-online.de
Angaben zum Autor:
Wolfgang Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration in Wiesbaden. Vorher war er über 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.
Welche Erkrankungen tragen in Deutschland maßgeblich zur Sterblichkeit bei und wie viele Lebensjahre gehen jeweils durch sie verloren? Im Rahmen des Projekts BURDEN 2020 haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Robert Koch-Instituts dies nun für Deutschland berechnet. Insbesondere Tumore und Herz-Kreislauf-Erkrankungen tragen dazu bei. „Mit der Berechnung der durch Tod verlorenen Lebensjahre steht für Deutschland auch auf regionaler Ebene ein Indikator zur Verfügung, der es ermöglicht, Krankheiten zu vergleichen und ihren Einfluss auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung zu messen“, sagt RKI-Präsident Prof. Dr. Lothar H. Wieler. Die Studie wurde im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht: https://www.aerzteblatt.de/archiv/218057/Verlorene-Lebensjahre-durch-Tod
Welche Erkrankungen und Todesursachen erheblich zur Sterblichkeit beitragen, wird anhand des Indikators Verlorene Lebensjahre (Years of life lost – YLL) gemessen. Verlorene Lebensjahre (YLL) sind ein Maß für die vorzeitige Sterblichkeit, welches sowohl die Häufigkeit der Todesfälle, das Alter in dem sie auftreten und außerdem die statistische Restlebenserwartung berücksichtigt. Die Ergebnisse ermöglichen die Auswirkungen unterschiedlicher Todesursachen auf die Gesundheit der Bevölkerung vergleichend zu bewerten sowie Prävention und Versorgung zu verbessern.
Berechnungszeitraum für die RKI-Studie war das Jahr 2017. Die gut 930.000 Sterbefälle resultierten den Ergebnissen zufolge in Deutschland in rund 11,6 Millionen YLL, 42,8 Prozent entfielen auf Frauen, 57,2 Prozent auf Männer. Die größten Anteile wiesen (bösartige) Tumore (35,2 Prozent), Herz-Kreislauf-Erkrankungen (27,6 Prozent), Verdauungserkrankungen (5,8 Prozent) und neurologische Störungen (5,7 Prozent) auf. Sterbefälle in jüngerem Alter wirken sich erwartungsgemäß stärker auf die Bevölkerungsgesundheit aus: Während 14,7 Prozent der Sterbefälle bei den unter 65-Jährigen zu verzeichnen waren, entfielen 38,3 Prozent der verlorenen Lebensjahre auf diese Altersgruppe. Häufige Sterbeursachen waren in dieser Gruppe Unfälle, Selbstschädigung und Gewalt, bösartige Tumore sowie Alkohol-assoziierte Erkrankungen.
Vergleicht man die reinen Sterbefallzahlen und Verlorenen Lebensjahre (YLL), so zeigten sich Unterschiede in der Rangordnung wichtiger Todesursachen: Beispielsweise nehmen die Auswirkungen von Brustkrebs bei Frauen und von Alkoholkonsum-induzierten Störungen bei Männern auf die Bevölkerungsgesundheit bei Betrachtung der YLL im Vergleich zu den Sterbefällen deutlich an Bedeutung zu. Insgesamt entfiel ein bedeutender Teil der YLL auf jüngere und mittlere Altersgruppen. „Die Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit, gerade bei jungen Menschen mit Präventionsangeboten anzusetzen, um frühe Todesfälle zu verhindern und auch Risikofaktoren für Krankheiten zu reduzieren, die erst im Alter auftreten“, betont Prof. Dr. Wieler.
Mit dem Projekt „BURDEN 2020 – die Krankheitslast in Deutschland und seinen Regionen“ werden in Deutschland erstmals Analysen zur gesundheitlichen Lage anhand der Krankheitslast (Burden of Disease) in Deutschland erstellt. Die Studie wird vom RKI in Kooperation mit dem Umweltbundesamt und dem Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) durchgeführt. Im Rahmen des Projekts hat das RKI bereits die Krankheitslast von COVID-19 für Deutschland berechnet und ebenfalls im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht. Weitere Ergebnisse zur den durch gesundheitliche Einschränkungen verlorenen Lebensjahre (Morbidität) sollen in Kürze veröffentlicht werden.