Autor: Simone Schwarzer

  • Trans und Sucht

    Trans und Sucht

    Cornelia Kost

    Transgeschlechtliche Menschen gehören einer gesellschaftlichen Minderheit an, also einer Gruppe mit einer erhöhten Anfälligkeit für eine mögliche Suchtentwicklung und problematische Substanzkonsummuster. Sie sind von Risikofaktoren und suchtfördernden Umständen betroffen. Die Gründe für ihre gesellschaftliche Benachteiligung liegen in sozio-ökonomischen, kulturellen und psychosozialen Faktoren. Die für die Bewältigung der vielfältigen Belastungen unzureichenden Ressourcen werden in ihrer Gesamtheit Minderheitenstress genannt (vgl. auch „Minoritätenstressmodell“, Brewster et al. 2013).

    Besondere Stresserfahrungen von transgeschlechtlichen Menschen sind familiäre Ablehnung, Diskriminierungserfahrungen und mangelnder Zugang zu einer geschlechtsbejahenden Gesundheitsversorgung. Die kumulative Wirkung von Minderheitenstress ist mit einer erhöhten Komorbidität verbunden. Zu diesen Komorbiditäten gehören schwerwiegende psychische Erkrankungen und Suchtmittelabhängigkeit. Transgeschlechtliche Menschen sind neben dem Risiko für eine Suchterkrankung mit weiteren erheblichen gesundheitlichen Risiken wie HIV und sexualisierter Gewalt belastet (vgl. James et al. 2016, S. 10). Das Risiko, sich mit HIV zu infizieren, ist für trans Personen deutlich erhöht (Clark et al. 2017). In den USA beträgt die HIV-Rate bei trans Menschen 1,4 % zu 0,3 % bei der Gesamtbevölkerung. Darüber hinaus ist das Erleben mehrerer Minderheitsstressoren mit einer dramatisch höheren Prävalenz von Suiziden und Suizidversuchen und einer erhöhten Prävalenz von nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten (NSSV) verbunden.

    Trans Menschen profitieren von herkömmlichen Angeboten der Suchthilfe zu wenig und werden ungenügend erreicht. Sie erleben häufig Stigmatisierung und Diskriminierung aufgrund von mangelnder Fachkenntnis (European Union Agency for Fundamental Rights 2014).

    Deshalb hat der Träger Therapiehilfeverbund in Hamburg die Beratungsstelle 4Be (gesprochen „for be“ im Sinne von „Für das Sein“, „Weil es dich gibt, sind wir für dich da“) gegründet und bietet seit April 2019 Beratungen für geschlechtsdiverse Menschen an. 4Be praktiziert einen nicht pathologisierenden und in der Behandlung nicht diskriminierenden Ansatz (Austin et al 2015) und unternimmt verstärkte Anstrengungen, der gesundheitlichen Ungleichheit entgegenzuwirken (Austin & Craig 2015).

    Damit soll das umfassende Konzept von Gesundheitsförderung der WHO berücksichtigt werden. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Setting-Ansatz, der neben der Stärkung der individuellen Ressourcen auch auf die aktive Gestaltung gesundheitsfördernder Lebenswelten abzielt (Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit 2017).

    Suchthilfe

    Transgeschlechtliche Menschen haben nur beschränkt Zugang zu Angeboten der Suchthilfe, sie gelten als „schwer erreichbar“. Für die eingeschränkte Erreichbarkeit sind beeinträchtigende Faktoren auf Seiten der Suchthilfe, sozial-strukturelle Hindernisse sowie Unzulänglichkeiten der jeweiligen Settings verantwortlich.

    Geschlechtsdiverse Menschen werden im Hilfesystem regelhaft mit starren Vorstellungen von Geschlecht konfrontiert, die sich an binären Biologismen orientieren (Renner et al. 2020). Diese werden von den Genitalien abgeleitet, die gleichsam eine eindeutige geschlechtliche Identifizierung erzeugen sollen, entweder weiblich oder männlich. Menschen werden damit von der Geburt an identifiziert und lebenslang unterscheidbar angesprochen. Diese binäre Klassifizierung als Mann oder Frau erscheint als natürlich und nicht diskutierbar. Deshalb müssen trans Menschen nicht nur erleben, dass sie dem falschen Geschlecht zugeordnet werden und/oder von ihnen mit dem falschen Pronomen gesprochen wird (misgendern), sondern v. a. dass ihre geschlechtliche Wahrnehmung grundsätzlich in Frage gestellt und negiert wird.

    Zu den erschwerenden sozial-strukturellen Hindernissen gehört ein geringerer sozioökonomischer Status, der einhergeht mit Schwierigkeiten am Arbeitsplatz wie Mobbing oder Aufstiegshindernisse oder gleich ganz dem Verlust des Arbeitsplatzes. Dazu kommen Fehlzeiten aufgrund von Behandlungsterminen und wiederholte Krankenhausaufenthalte mit zum Teil längeren Erholungsphasen z. B. nach einer Operation. Die Versorgungssituation ist beschränkt auf wenige Anlaufstellen in Ballungsräumen. Für diese wenigen Plätze bestehen in der Regel lange Wartezeiten. In der Fläche gibt es selten therapeutische oder endokrinologische Hilfsangebote. Dabei ist die Situation für die unter 18-Jährigen noch schlechter.

    Für die Arbeit mit Transsexuellen sind die S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit (AWMF 2018) und darüber hinaus die Richtlinie des Medizinischen Diensts des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS) (Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen 2020) bindend. Sie schreiben Mindestqualifikationen der Mitarbeiter_innen vor, die in den meisten Beratungssettings nicht erbracht werden können.

    Grundsätzlich ist es heikel, transgeschlechtliche Menschen auf ihre Sucht-Gefährdung anzusprechen und zu versuchen, sie für spezifisch auf sie ausgerichtete Maßnahmen zu gewinnen. Es besteht das Risiko der Stigmatisierung und Schuldzuweisung („Blaming the victim“), und es besteht die Gefahr, eine vorhandene Vulnerabilität zusätzlich zu verstärken (Montada et al. 1988). Das Angebot von 4Be ist deshalb in der Ansprache der Menschen und der Umsetzung zeit- und ressourcenintensiver als andere Angebote. Der Fokus darf ja nicht nur auf konkrete, bereits vorhandene riskante Konsummuster ausgerichtet sein, denn die anzugehenden Risiken und vor allem die Komorbiditäten sind vielfältiger und komplexer.

    Die Ansprache dieser Zielgruppe durch 4Be hat deshalb drei Ziele:

    1. Zugang zu den Menschen schaffen, die Menschen erreichen;
    2. Akzeptanz gewinnen, die Menschen lassen sich auf das Angebot ein;
    3. Wirkung erzielen, es kommt zu Veränderungen und Verbesserungen beim Suchtmittelkonsum und den Komorbiditäten.

    Peerkonzept

    Das Angebot im Bereich Genderdiversität von 4Be integriert alle relevanten Inhalte rund um das Thema. Dazu ist eine spezifische Fachkompetenz notwendig, durch die ein Suchtproblem identifiziert werden kann, und die handlungsfähig macht. Dafür bietet sich ein Peer-Angebot an, das auf die ressourcenstärkende Beziehung zu einer Bezugsperson aus der Community setzt.

    Für die Suchtarbeit bedeutet dieser Ansatz allerdings Neuland, und die Suchtberatung verlässt die gewohnten Pfade. So müssen Kommunikationsmittel und -wege speziell auf diese Zielgruppen ausgerichtet werden. Hier spielen das Internet und die sozialen Medien eine besondere Rolle. Dabei entsteht ein Spannungsfeld zwischen Anforderungen des Datenschutzes und gruppenorientierter Kommunikation. Auch in diesem Kontext bietet das Peer-Angebot Entwicklungsmöglichkeiten, da sich die Peers unmittelbar in der Community aufhalten.

    Unter dem Wort „Peer“ versteht man einen „Gleichrangigen“, es geht also um ein Angebot auf Augenhöhe. Dieses Angebot eignet sich besonders für Menschen, die sich mit jemandem austauschen möchte, die_der ähnliche Erfahrungen gemacht hat und die eigenen Erfahrungen dadurch auf besondere Art nachvollziehen kann. In der Peer-Beratung unterstützen und beraten Menschen, die eigene seelische Krisen erfahren haben, nach einer Beratungsausbildung andere Betroffene. Peer-Berater_innen hören vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung zu und bieten Beistand in Krisensituationen.

    Sucht

    Es gibt nur wenige valide Zahlen zur Suchtmittelabhängigkeit genderdiverser Menschen. Zahlen aus der Allgemeinbevölkerung zur Prävalenz von Suchtmittelabhängigkeit heranzuziehen, bildet den Minderheitenstress nicht hinreichend ab. In einer Studie in den USA berichteten 26,3 % der teilnehmenden trans Personen, in der Vergangenheit Drogen oder Alkohol in schädlicher Weise konsumiert zu haben, um mit transbezogener Diskriminierung umzugehen (Klein & Golub 2016).

    In einer weiteren, internetbasierten Studie aus den USA zum Substanzkonsum bei erwachsenen trans Personen in den letzten drei Monaten machten 21,5 % der Teilnehmenden Angaben über exzessiven Alkoholkonsum, 24,4 % über Cannabiskonsum und 11,6 % über den Konsum anderer Drogen (Gonzalez et al. 2017). Ergebnisse aus der Hamburger ENIGI-Studie zeigen, dass der Alkoholkonsum von trans Personen nicht als grundsätzlich auffällig oder klinisch relevant eingestuft werden kann. Bei insgesamt 6,9 % der befragten Stichprobe wurde der Alkohol- oder Drogenkonsum als schädlich oder abhängig eingestuft (Kürbitz et al. 2018).

    Abb. 1: Jahresauswertung 2020 von 4Be – Suchtverteilung

    Die Daten der Jahresauswertung 2020 von 4Be beruhen auf den Selbsteinschätzungen der Klient_innen, die über einen Fragebogen erhoben wurden, und den Feststellungen der Peers (N=186). Im Wesentlichen dürften Menschen mit Suchtthematik eine entsprechende Beratung aufsuchen. Allerdings konnten bei 34 % (2019: 39 %) keine Feststellungen zu Suchtmitteln gemacht werden. Das liegt vor allem an den Einmalberatungen, bei denen kein Fragebogenrücklauf erfolgen konnte. Die Quote der Menschen mit einer Suchtthematik ist im Jahr 2020 leicht auf 66 % gestiegen (2019: 61 %).

    Die Verhaltenssüchte und vor allem nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) stehen an erster Stelle der Befunde in der Beratung. Zusammen mit Internet-basierten Süchten und Kaufsucht machen sie 28 % (2019: 21 %) der Nennungen von süchtigem Verhalten aus.

    Problematischer Alkoholkonsum konnte bei 14 % der Klient_innen festgestellt werden und verzeichnet damit einen spürbaren Rückgang im Vergleich zu 2019 (36 %). Die Zahlen bewegen sich damit in Richtung der Ergebnisse der ENIGI-Studie (Köhler et al. 2019).

    An dritter Stelle der Suchterkrankungen stehen die Essstörungen mit 10 % in der Reihung Anorexie (5 %), Binge Eating (3 %) und Bulimie (2 %). Beim Cannabiskonsum liegt mit 9 % eine Steigerung der Feststellungen im Vergleich zu 2019 (7 %) vor. Alle anderen Suchtformen spielen nur noch eine untergeordnete Rolle. Nikotin und Medikamentenabhängigkeit haben als Thematik mit jeweils 1 % gegenüber den Zahlen aus 2019 (7 % und 6 %) keine Relevanz mehr.

    Abb. 2: Jahresauswertung 2020 von 4Be – Alters- und Geschlechterverteilung

    Für eine Suchtberatungsstelle ist ein Durchschnittsalter von 26,5 Jahren niedrig. Die trans Männer (bei der Geburt weiblich zugewiesen) haben einen Anteil von 44 % und ein Durchschnittsalter von 23,4 Jahren. Sie stellen damit die jüngste Gruppe. Die trans Frauen (bei der Geburt männlich zugewiesen) haben einen Anteil von 40 % und sind im Durchschnitt 29,2 Jahre alt. Die kleinste Gruppe bilden Menschen, die sich nicht binär verorten. Zu dieser Gruppe zählten sich 16 % mit einem Durchschnittsalter von 28,7 Jahren. Mit dieser Altersverteilung haben wir bezogen auf das Suchtmittel ungefähr eine Drittelung: 38 % haben nicht stoffgebundene Süchte, 28 % haben stoffgebundene Süchte und 34 % sind ohne Befund in der Beratung. Die Bedeutung von Verhaltenssüchten steigt, seitdem wir diese spezielle Arbeit machen.

    Suizidalität

    Die Häufigkeit von Suizidversuchen ist in der Suchtberatung für genderdiverse Menschen eine besondere Herausforderung. Bei trans Suchterkrankten zählen zu den häufigsten Belastungsfaktoren Diskriminierung und vor allem sexuelle Gewalt. Suizidprophylaxe gehört zu den Standardinterventionen in der Beratungsarbeit.

    Im Jahr 2017 starben in Deutschland 9.241 Menschen durch einen Suizid (Statista 2019), das sind 0,0114 % der Bevölkerung (Wagner & Hofmann 2020). In der Lebenszeitprävalenz hatten 8 % der Bevölkerung Suizidgedanken und 1,5 % versuchten sich das Leben zu nehmen.

    Die umfangreichste Studie zur Suizidalität bei Transsexuellen stammt aus den USA (Herman et al. 2019). Diese Studie zeigt, dass die Prävalenz von Suizidgedanken und -versuchen bei trans Erwachsenen signifikant höher ist als in der US-amerikanischen Allgemeinbevölkerung. So hatten die trans Erwachsenen bezogen auf die letzten zwölf Monate eine fast zwölfmal höhere Prävalenz von Suizidgedanken und eine etwa 18-mal höhere Prävalenz von Suizidversuchen.

    Die US-amerikanische Transgender-Umfrage (USTS) von 2015, die bislang größte Umfrage unter Transgender-Personen in den USA, ergab, dass 81,7 Prozent der Befragten in ihrem Leben jemals ernsthaft über Selbstmord nachgedacht hatten, während 48,3 Prozent dies im vergangenen Jahr getan hatten. 40,4 Prozent gaben an, irgendwann in ihrem Leben Suizidversuche unternommen zu haben, und 7,3 Prozent gaben an, im vergangenen Jahr Suizidversuche unternommen zu haben (James et al. 2016).

    Der Hauptrisikofaktor ist die kumulative Wirkung von Minderheitenstress. 97,7 Prozent derjenigen, die im vergangenen Jahr mindestens vier unterschiedliche diskriminierende oder gewalttätige Erfahrungen gemacht hatten, gaben an, ernsthaft über Suizid nachgedacht zu haben, und 51,2 Prozent haben einen Suizidversuch unternommen.

    Diese Raten sinken übrigens schnell, wenn die Betroffenen im sozialen Umfeld und in den Familien Unterstützung bekommen, wenn sie eine Hormontherapie und/oder chirurgische Versorgung wünschten und anschließend auch erhielten und wenn sie in einem Staat mit einem Nichtdiskriminierungsgesetz zur Geschlechtsidentität leben.

    Nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV)

    Selbstverletzendes Verhalten (NSSV) wurde als Forschungsdiagnose im DSM-5 (American Psychological Association 2013) aufgenommen. Die Forschungen sollen überprüfen, ob NSSV eine eigenständige psychische Störung oder ein transdiagnostisches Phänomen darstellt, welches mit vielen psychischen Störungen einhergehen kann. In der ICD-10 ist das selbstverletzende Verhalten eines der Diagnosekriterien der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung des Borderline-Typus. Zudem besteht die Möglichkeit, auf der 4. Achse eine „vorsätzliche Selbstschädigung“ zu kodieren. Mit der derzeitigen Veröffentlichung der ICD-11 ist die nichtsuizidale Selbstverletzung (MB23.E) unter den Symptomen oder Merkmalen, welche das Erscheinungsbild oder Verhalten umfassen (MB23), in der Kategorie „Mortality and Morbidity Statistics“ aufgeführt.

    Die Arbeit im ersten Jahr in der Beratungsstelle hat gezeigt, dass in der Gruppe der Jungerwachsenen Zwänge in Form von selbstverletzendem Verhalten (NSSV) mit dem Störungsbild einer Verhaltenssucht häufig sind. NSSV steht mit Suizidalität und vermehrtem Alkohol- und Drogenkonsum im Sinne einer Symptomverschiebung im Zusammenhang (In-Albon et al. 2015). Dem wird in der weiteren Arbeit besondere Aufmerksamkeit zu widmen sein.

    Nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) wird im DSM-5 definiert als direkte, sich wiederholende, sozial nicht akzeptierte Zerstörung oder Veränderung des Körpergewebes ohne suizidale Absicht. Die häufigsten Methoden sind Schneiden, Ritzen und Sich-selbst-Schlagen. Bei der Geburt weiblich einsortierte Jugendliche schneiden sich häufiger (Cutting-Type), und bei der Geburt männlich einsortierte Jugendliche schlagen sich häufiger (Hitting-Type) (In-Albon et al. 2020). NSSV wird häufig zur Selbst- und Emotionsregulation genutzt, z. B. dient das Fühlen von Schmerz dazu, unangenehme Gefühle zu beenden.

    NSSV tritt insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen häufig auf. Zwischen 25 und 35 % der Jugendlichen in der Allgemeinbevölkerung haben sich bereits mindestens einmal selbst verletzt, wiederholend und damit mit suchtartigem Charakter verletzen sich circa 4 % (In-Albon et al. 2020). Für die Arbeit von 4Be ist bedeutsam, dass die Prävalenzraten bei Angehörigen sexueller Minderheiten mit durchschnittlich 40,5 % (In-Albon et al. 2020) deutlich erhöht sind. Man kann sagen, dass NSSV neben Suizidalität und Sucht eine der wesentlichen begleitenden psychischen Störungen bei jugendlichen trans ist.

    Corona

    Die beiden Lockdowns im Rahmen des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (Corona-Pandemie) von März bis Mai und seit Oktober 2020 führten zu vermehrten Aufnahmen im Vergleich zu den durchschnittlichen Aufnahmen. Im März gab es eine Steigerungsrate von 14 % und im Oktober eine Steigerung um 21 %. Die Krise hat dazu geführt, dass spürbar mehr Menschen sich Hilfe gesucht haben.

    Vor allem bei den unter 18-Jährigen in der Beratung bei 4Be gab es Auswirkungen. Ihr Anteil liegt bei 12 % mit 31 laufenden Betreuungen. 77 % (24) sind trans männlich, 16 % (5) sind trans weiblich und 3 sind geschlechtsdivers. Die Bedürfnisse geschlechtsdiverser Kinder werden in der Pandemie kaum berücksichtigt. Viele sind durch die Kontaktbeschränkungen sehr belastet, sie fühlen sich einsam und haben wenig Struktur im Alltag. Kinder und Jugendliche verbringen während der Pandemie viel mehr Zeit zu Hause. Plötzlich spielen familiäre Konflikte im Kontext Transgeschlechtlichkeit eine viel wichtigere Rolle, weil das Thema zu Hause immer greifbar ist. In Hamburg warten viele Kinder und Jugendliche vergeblich auf einen Therapieplatz, um ihre Transgeschlechtlichkeit zu behandeln.

    Kinder, die vor der Corona-Pandemie ihre Transgeschlechtlichkeit irgendwie im Griff zu haben glaubten – durch die Struktur im Alltag mit Schulbesuch, Hausaufgaben, Freunden und diversen Hobbies –, hatten bzw. haben nun viel mehr Zeit übrig und fühlen sich einsam, und ihre Gedanken kreisen nur noch um ihr Geschlecht. Der entstehende Druck äußert sich in einer erheblichen Zunahme der Nutzung sozialer Medien, Internetkonsum, Essstörungen, selbstverletzendem Verhalten und einer Steigerung der Suizidalität.

    Vor allem bei Jugendlichen, die in einem nicht supportiven Umfeld leben, in dem von den Eltern oder im Rahmen einer öffentlichen Betreuung nicht anerkannt wird, dass Transgeschlechtlichkeit ernst zu nehmen ist und behandelt werden muss, eskaliert die Situation. Hinzu kam im ersten Lockdown ein Aufnahmestopp in den Jugendhilfeeinrichtungen, der die Jugendlichen und unsere Einrichtung vor große Probleme stellte.

    Fazit und Ausblick

    Beratungsarbeit im Kontext von Transgeschlechtlichkeit und Komorbiditäten wie Sucht steht in mehreren Spannungsfeldern.

    Für die Konzepte von „Diagnostik“ und „Komorbidität“ ist das Verständnis von Transgeschlechtlichkeit als Krankheit Bedingung. Die seit dem 09.10.2018 in Kraft getretene S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit räumt dem diagnostischem Prozess großen Raum ein.

    So sagt sie zwar einerseits, dass es weder aus klinischer noch aus wissenschaftlicher Sicht Kriterien oder Differentialdiagnosen gibt, die eine Geschlechtsinkongruenz und/oder Geschlechtsdysphorie (GIK/GD) von vornherein ausschließen. Bei begleitenden psychischen Störungen wie beispielsweise einer affektiven Störung, einer sozialen Phobie oder Selbstverletzungsverhalten ist eine Verzögerung der Einleitung körpermodifizierender Behandlungen nicht zielführend, da es durch die Einleitung entsprechender Maßnahmen (z. B. Hormon- und/oder Epilationsbehandlung) in vielen Fällen zu einer Remission sowohl der GIK/GD-Symptomatik als auch der psychischen Störung kommen kann. Erst im Behandlungsverlauf lässt sich unterscheiden, ob die Symptomatik reaktiv ist oder unabhängig von der GIK/GD besteht (vgl. AWMF 2018, S. 22).

    Allerdings sei ein längerer diagnostischer Prozess vor der Einleitung körpermodifizierender Behandlungen gerechtfertigt, wenn ein begründeter Verdacht besteht, dass die begleitende psychische Störung die GIK/GD wesentlich mitbeeinflusst. Das gilt insbesondere bei vorliegender aktueller psychotischer Symptomatik, Sonderformen der Dissoziativen Störung mit verschiedengeschlechtlichen Ego-States oder einer umfassenden Identitätsunsicherheit und bei einem akuten, klinisch relevanten Substanzmissbrauch (vgl. AWMF 2018, S. 22).

    Es ist immer wieder zu beobachten, dass vorhandene Komorbiditäten zum Anlass genommen werden, die transsexuellen Menschen in Behandlungen zu zwingen. Es wird unterstellt, dass die Komorbiditäten in einem Zusammenhang mit der GIK/GD stehen oder stehen könnten. Die medizinisch notwendigen Modifikationen der körperlichen Geschlechtsmerkmale werden den Menschen verwehrt und damit die Chancen, sie irgendwie doch zu erreichen, ungünstig beeinflusst.

    Diagnostik ist vor allem durch die Vorgaben der MDS-Richtlinie an ein binäres Paradigma der Transgeschlechtlichkeit (Mann zu Frau, Frau zu Mann) gekoppelt. Auch die Vorstellung von einer Transition als linearem Behandlungsverlauf der körperlichen und sozialen Anpassung von Mann zu Frau oder von Frau zu Mann fördert eine starke Erwartungshaltung bei den Behandler_innen und Klient_innen gleichermaßen (vgl. Renner et al. 2020). Es gibt das Ideal eines Prozesses, an dessen Anfang ein komorbiditätsfreier transgeschlechtlicher Mensch steht, der am Ende den gesellschaftlichen Identitätsvorgaben des Zielgeschlechtes körperlich und seelisch soweit wie möglich entsprechen soll.

    Die diagnostischen Kriterien verwischen die Diversität von trans Personen hinsichtlich ihrer geschlechtlichen Selbstwahrnehmung und ihren Behandlungsanliegen. Nicht alle trans Personen halten körpermodifizierende Behandlungen für notwendig. Wenn sie sich als non-binär oder genderqueer verstehen, verfolgen sie teilweise ausgewählte Modifikationen. Dogmatismus und cis heteronormative Vorstellungen bringen Menschen dazu, vorgezeichnete Wege zu gehen. Biografien werden entsprechend modifiziert, um in ein schwarz/weiß-Schema zu passen.

    Diagnostik von Transgeschlechtlichkeit erfährt international einen Paradigmenwechsel, denn die Begriffe und die diagnostischen Kriterien verändern sich in Richtung einer Entpathologisierung. Gegenüber der ICD-10-Diagnose Transsexualismus, die für das deutsche Gesundheitssystem weiterhin sozialrechtlich verbindlich ist, ist die Geschlechtsinkongruenz in der ICD-11 nicht mehr als psychische Störung, sondern in einem neuen Kapitel „Conditions related to sexual health“ (World Health Organization 2018) aufgenommen. Nach DSM-5 (American Psychiatric Association 2013) liegt eine Geschlechtsdysphorie vor, wenn die Geschlechtsinkongruenz zu einem klinisch bedeutsamen Leidensdruck führt. Grundlage einer Behandlung ist nicht mehr die Trans-Identität, sondern die Geschlechtsdysphorie, also das Leiden unter der Geschlechtsinkongruenz. Genauso wie die ICD-11-Diagnose Geschlechtsinkongruenz beschränkt sich die DSM-5-Diagnose Geschlechtsdysphorie nicht auf binäre Vorstellungen von Geschlechtlichkeit und schließt non-binäre Geschlechter ein.

    Weltweit besteht fachlicher Konsens darüber, dass trans Menschen eine ganzheitliche Gesundheitsförderung mit dem Zugang zu einer multimodalen, trans-informierten Gesundheitsversorgung erhalten sollen (Coleman et al. 2012; T’Sjoen et al. 2020; World Medical Association 2015). Transitionsunterstützende Behandlungen umfassen damit ein weites Spektrum möglicher Maßnahmen. Nicht zuletzt erreichen wir bei 4Be Menschen in einem sehr frühen Stadium von Suchterkrankung. Es bleibt damit Zielsetzung und Hoffnung zugleich, dass wir mit unseren Ansätzen progrediente Verläufe wirksam verhindern oder abmildern können.

    Der Artikel ist in einer kürzeren Fassung bereits auf „Partnerschaftlich. Das Online-Magzin des GVS“ erschienen.

    Kontakt:

    Cornelia Kost
    4Be – TransSuchtHilfe
    Böckmannstraße 4
    20099 Hamburg
    Tel. 040/2000 10 5422
    info@4be-trans.de
    https://www.therapiehilfe.de/for_be_trans_sucht_hilfe.html

    Angaben zur Autorin:

    Cornelia Kost ist Psychotherapeutin, Lehrtherapeutin und Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft der Suchtfortbildungsinstitute, Vorstandsmitglied der Hamburgischen Landesstelle für Suchtfragen, Gerichtsgutachterin im TSG-Verfahren, Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. und dem Bundesverband Trans* e.V. Sie leitet seit 2019 „4Be TransSuchtHilfe“ in Hamburg.

    Literatur:
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    • AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften). Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit: S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung; AWMF-Register-Nr. 138-001; Stand: 09.10.2018 , gültig bis 08.10.2023
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  • Deutlich mehr Medienzeit im Coronajahr 2020

    Das Jahr 2020 hat den Alltag von Jugendlichen auf den Kopf gestellt: Die meisten Freizeitbeschäftigungen waren nicht möglich, Schulen waren über Wochen und Monate geschlossen und es wurde teilweise im Fernunterricht gelernt. Dies ließ entsprechend auch Änderungen im Medienverhalten von Jugendlichen erwarten. Die JIM-Studie 2020 (Jugend, Information, Medien) hat die wichtigsten Kennzahlen zu Mediennutzung, Medienbesitz, Medienumgang und Nutzungsdauer untersucht. Auch der Medieneinsatz in der Schule bzw. für die Schule unter den Voraussetzungen der Pandemie ist Teil der aktuellen JIM-Studie. Für die repräsentative Studie wurden vom 8. Juni bis 20. Juli 2020 1.200 Jugendliche im Alter von zwölf bis 19 Jahren in Deutschland telefonisch oder online befragt.

    Im Jahr 2020 erfuhren die Jugendlichen einen deutlichen Schub in der Ausstattung mit Mediengeräten. Der persönliche Besitz eines Computers oder Laptops stieg von 65 auf 72 Prozent, der eines eigenen Tablets von 25 auf 38 Prozent. Jeder dritte Jugendliche hat inzwischen einen Fernseher mit Internetzugang.

    Die spezielle Situation des Jahres 2020 resultierte auch in deutlich höheren Mediennutzungszeiten. Die tägliche Internetnutzungsdauer ist nach Einschätzung der Jugendlichen von 205 Minuten im Jahr 2019 auf 258 Minuten in 2020 deutlich gestiegen. Dabei entfällt mit einem Drittel der größte Anteil der Onlinenutzung auf den Bereich der Unterhaltung. Fast gleichauf liegen die Bereiche Kommunikation (27 Prozent) und Spiele (28 Prozent). Der geringste Anteil der Onlinezeit entfällt mit elf Prozent auf die Informationssuche. Die höhere Nutzungszeit für unterhaltende Inhalte im Netz spiegelt sich auch in der Nutzung von Streamingdiensten wider. 2020 sehen 87 Prozent regelmäßig Videos auf Streaming-Plattformen (mindestens mehrmals pro Woche), im Vorjahr lag dieser Anteil noch bei 74 Prozent. Bei der Nutzung von Sendungen, Serien und Filmen im Internet stehen bei den Zwölf- bis 19-Jährigen Netflix und YouTube an erster Stelle.

    Neben der Unterhaltung im Internet erfuhr das Fernsehen bei den Jugendlichen einen Zuwachs: In der Selbsteinschätzung der Zwölf- bis 19-Jährigen stieg die durchschnittliche werktägliche Fernsehdauer 2020 erstmals wieder auf mehr als zwei Stunden an. Betrachtet man die verschiedenen Ausspielwege für Fernsehinhalte zeigt sich, dass 45 Prozent der Jugendlichen regelmäßig (mindestens mehrmals pro Woche) das klassische lineare Fernsehen nutzen – also Fernsehinhalte zum Zeitpunkt ihrer Ausstrahlung am Fernsehgerät. Jeder Fünfte sieht sich regelmäßig die Inhalte in Mediatheken der Fernsehsender an. 14 Prozent nutzen regelmäßig aufgezeichnete Fernsehsendungen und 13 Prozent sehen Sendungen per Live-Stream über das Internet an.

    Auch die durchschnittliche Nutzungsdauer von digitalen Spielen ist 2020 um 40 Minuten auf 121 Minuten gestiegen. Hier zeigen sich noch deutlicher als bisher Unterschiede zwischen den Geschlechtern: Jungen spielen mit 159 Minuten fast doppelt so lange wie Mädchen (81 Minuten).

    Was die Kommunikation unter Jugendlichen betrifft, bleibt WhatsApp weiterhin der bedeutendste Online-Dienst. 94 Prozent der Jugendlichen nutzen WhatsApp mindestens mehrmals in der Woche, um sich mit anderen auszutauschen. 87 Prozent der Schüler*innen haben eine WhatsApp-Gruppe mit ihrer Klasse. Instagram wird von 72 Prozent der Jugendlichen mindestens mehrmals in der Woche genutzt – mit steigender Tendenz. Auch bei Snapchat, Pinterest und Twitter lassen sich gegenüber dem Vorjahr Steigerungen feststellen. Zu den größten Gewinnern zählt aber die chinesische Plattform TikTok – hier hat sich die regelmäßige Nutzung um 19 Prozentpunkte erhöht. Aktuell kommuniziert jeder vierte Junge und zwei Fünftel der Mädchen regelmäßig über TikTok. Jeder Zehnte zählt TikTok inzwischen zu einem seiner Lieblingsangebote im Netz.

    Die Studienreihe JIM (Jugend, Information, Medien) wird vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest (mpfs) seit 1998 jährlich in Zusammenarbeit mit dem Südwestrundfunk (SWR) durchgeführt. Die repräsentative Studie bildet das Medienverhalten der Jugendlichen in Deutschland ab. Alle Ausgaben der JIM-Studie von 1998 bis 2020 sind als PDF auf www.mpfs.de abrufbar.

    Der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest ist eine Kooperation der Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg (LFK) und der Medienanstalt Rheinland-Pfalz (LMK).

    Pressemitteilung des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest, 4.12.2020

  • Exzessive Mediennutzung im Jugendalter nimmt zu

    Die problematische Computerspiel- und Internetnutzung ist bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen seit 2015 gestiegen. Dies zeigen die Ergebnisse der Drogenaffinitätsstudie 2019 der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Die Repräsentativbefragung wurde zwischen April und Juni 2019 unter 7.000 jungen Menschen im Alter von 12 bis 25 Jahren erhoben. Die Situation während der Coronavirus-Pandemie im Jahr 2020 war nicht Teil des Erhebungszeitraums dieser Studie und ist darin nicht abgebildet.

    Die Studiendaten bestätigen, dass für Jugendliche und junge Erwachsene bei der Internetnutzung nach wie vor Kommunikation und Unterhaltung im Vordergrund stehen. 12- bis 17-Jährige nutzen Computerspiele und das Internet durchschnittlich 22,8 Stunden pro Woche und 18- bis 25-Jährige durchschnittlich 23,6 Stunden pro Woche privat – also nicht für Schule, Studium oder Arbeit.

    Im Zeitraum von 2015 bis 2019 ist der Anteil der 12- bis 17-Jährigen und 18- bis 25-Jährigen mit einer problematischen Internetnutzung nochmals gestiegen. Er hat sich bei den Jugendlichen von 21,7 Prozent im Jahr 2015 auf 30,4 Prozent im Jahr 2019 und bei den jungen Erwachsenen von 15,2 Prozent in 2015 auf 23,0 Prozent in 2019 erhöht.

    Internetbezogene Störungen treten im Jahr 2019 bei 7,6 Prozent der 12- bis 17-Jährigen auf. Im Jahr 2015 lag dieser Wert bei 5,7 Prozent. Sie treten aktuell bei 4,1 Prozent der 18- bis 25-Jährigen auf und lagen im Jahr 2015 bei dieser Altersgruppe bei 2,6 Prozent.

    Unter den 12- bis 17-jährigen weiblichen Jugendlichen und den 18- bis 25-jährigen jungen Frauen ist die internetbezogene Störung beziehungsweise die problematische Nutzung im Jahr 2019 etwas weiter verbreitet als unter männlichen Jugendlichen und jungen Männern entsprechenden Alters.

    Die BZgA-Studie „Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland 2019 – Teilband Computerspiele und Internet“ steht zum Download bereit unter: www.bzga.de/forschung/studien/abgeschlossene-studien/studien-ab-1997/suchtpraevention/

    Die BZgA hat zur Prävention der exzessiven Mediennutzung im Jugendalter ihre Kampagne „Ins Netz gehen“ um weitere Angebote ergänzt. So berichten beispielsweise Bloggerinnen und Blogger über ihre persönlichen Erfahrungen mit der Mediennutzung. Auch für Eltern, Lehrkräfte sowie Fachkräfte für Suchtprävention bietet die BZgA hilfreiche Informationen und eine individuelle E-Mail-Beratung.

    Weitere Informationen:

    Quelle: Gemeinsame Pressemitteilung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 15.12.2020

  • Prävention von computerspiel- und internetbezogener Störung

    Das Jahr 2020 hat coronabedingt medial viele Neuerungen mit sich gebracht und viele bestehende Techniken selbstverständlich werden lassen. Homeschooling, Onlinemeetings, virtuelle Konferenzen, Videochats mit der Familie gehören mittlerweile zu unserem Sprachgebrauch und (Arbeits-)Alltag. Gleichzeitig steht die Anerkennung verschiedener Verhaltenssüchte, so auch der Computerspielsucht, als Krankheitsbild im ICD 11 durch die WHO bevor. Dies hat der Fachverband Medienabhängigkeit e.V. zum Anlass genommen, sein Positionspapier Prävention zu überarbeiten und um aktuelle politische Forderungen zu ergänzen.

    Die umfassende Ausdehnung der Nutzungsmöglichkeiten des Internets ist gerade in Zeiten von Kontaktbeschränkungen ein Zugewinn in vielen Lebensbereichen. Auch wenn der Internetgebrauch bei der Mehrheit der Nutzenden keine gesundheitlichen Probleme erzeugt, sind aktuell bei einem zu hohen Bevölkerungsanteil problematische bis suchtartige Nutzungsmuster feststellbar. Es muss jedoch auch eine genaue Definition einer so genannten internetbezogenen Störung und insbesondere einer Abgrenzung von einer lediglich intensiven Nutzung getroffen werden. Die Covid-Pandemie hat dazu geführt, dass Verhaltenssüchte insgesamt durch den Wegfall bzw. die Einschränkung terrestrischer Angebote und Aktivitäten, die soziale Isolation und die erzwungene Inaktivität sowie durch den Bedeutungsgewinn von Onlineangeboten deutlich zugenommen haben (vgl. Rumpf et al., 2020; Bilke-Hentsch et al., 2020).

    Aufgrund der vermehrten, aktuell notwendigen Verlagerung des Freizeit- und Berufslebens ins Digitale ist es wichtig, diesen Bereich in den Fokus zu nehmen und Menschen frühzeitig dabei zu stärken, ihre digitale Balance zwischen ON und OFF zu erkennen oder diese wieder zu erlernen. Durch eine flächendeckende professionelle Präventionsarbeit muss sichergestellt werden, dass alles getan wird, damit die Nutzung der digitalen Medien ein Zugewinn für die Gesellschaft sowie jeden Einzelnen bleibt und die Risiken und möglichen negativen Gesundheitsfolgen so gering wie möglich gehalten werden. Verschiedene Forschergruppen weisen inzwischen darauf hin, dass es eine dringende Notwendigkeit für Verhaltens- und Verhältnisprävention gibt, damit den sich entwickelnden problematischen Nutzungsmustern frühzeitig vorgebeugt wird.

    Der Fachverband Medienabhängigkeit e.V. hat deshalb sein Positionspapier aus dem Jahr 2009 zur Prävention von computerspiel- und internetbezogener Störung aktualisiert. Es werden folgende Punkte erläutert:

    • Präventionsbedarf
    • Forderungen
    • Begriffsklärung
    • Versorgungsauftrag
    • Verhaltensprävention einer computerspiel- und internetbezogenen Störung (Ziele)
    • Grundprinzipien wirksamer Suchtprävention

    Das Positionspapier steht auf der Website des Fachverbandes Medienabhängigkeit e.V. zum Download zur Verfügung.

    Pressemitteilung des Fachverbandes Medienabhängigkeit, 1.12.2020

  • Die Psyche in Zeiten der Corona-Krise

    Klett Cotta-Verlag, Stuttgart 2020, 246 Seiten, 25,00 €, ISBN 978-3-608-98411-8

    Für die gegenwärtige Akutsituation werden dringend psychotherapeutische Innovationen benötigt. Für Menschen mit psychischen Erkrankungen wie zum Beispiel Depressionen und Ängsten stellt die Pandemie ein besonderes Problem dar. Therapeut*innen suchen nach Lösungen, wie sie, obwohl Therapien zum großen Teil auf persönlichem Kontakt beruhen, weiterhin gut behandeln können und was präventiv geleistet werden kann. Präventiv deshalb, weil Belastungsreaktionen mit bis zu sechsmonatiger Verzögerung auftreten können. Das vorliegende Buch zeigt:

    • allgemeine psychotherapeutische Möglichkeiten
    • Maßnahmen für spezifische Personengruppen
    • Möglichkeiten der Prävention und der Früherkennung von Belastungsfolgen
    • Einsatzmöglichkeiten von Online-Psychotherapie

    Im ersten Teil beschäftigt sich das Buch mit Modellen der psychosozialen Notfallversorgung und deren Anpassung an die gegenwärtige Pandemie-Situation. Der zweite Teil geht auf spezifische Adaptionen in der Corona-Pandemie ein und beschäftigt sich mit Fragen der Online-Psychotherapie und anderen digitalen Interventionsangeboten (E-Mental Health), mit Ängsten und Albträumen und verschiedenen therapeutischen Verfahren wie der Lichttherapie und Übungen. Der dritte Teil beschreibt die Therapie für spezifischen Zielgruppen und Risikopatienten, zum Beispiel Kinder und Jugendliche, Alleinerziehende, alte Menschen und die große Gruppe der helfenden Berufe.

  • Gemeinsame Position der Suchtfachverbände

    Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat am 22./23. Dezember 2020 den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (Teilhabestärkungsgesetz) an Verbände und Organisationen versandt, um diesen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Die Suchtfachverbände haben folgende Stellungnahme abgegeben:

    Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales
    Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (Teilhabestärkungsgesetz)

    Gemeinsame Position der Suchtfachverbände

    fdr+, Fachverband Drogen und Suchthilfe e.V.
    FVS, Fachverband Sucht e.V.
    buss, Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V.
    CaSu-Caritas Suchthilfe, Bundesarbeitsgemeinschaft der Suchthilfeeinrichtungen im Deutschen Caritasverband
    GVS, Gesamtverband für Suchthilfe e.V. – Fachverband der Diakonie Deutschland

    SGB IX § 99 Abs. 4 und 5 Leistungsberechtigung in der Eingliederungshilfe

    Die Suchtfachverbände begrüßen die Anpassung der Kriterien für die Leistungsberechtigung der Eingliederungshilfe durch Orientierung an den Begrifflichkeiten und der Intention der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) sehr, da diese eine negative Veränderung der Möglichkeiten der Teilhabe des leistungsberechtigten Personenkreises ausschließt und nunmehr auch die Teilhabechancen für abhängigkeitskranke bzw. -gefährdete Menschen (die Begriffe Abhängigkeitskranke und Suchtkranke werden im Text synonym verwendet) verbessert. Der Personenkreis der abhängigkeits- kranken und -gefährdeten Menschen sollte ebenfalls in einer Rechtsverordnung zur Konkretisierung der Leistungsberechtigung in der Eingliederungshilfe Berücksichtigung finden und analog der bestehenden Eingliederungshilfeverordnung explizit benannt werden.

    SGB IX § 6 Abs. 3 und § 19 – Rehabilitationsträger und Teilhabeplan

    Der Referentenentwurf soll maßgeblich auf die Stärkung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen abzielen. U.a. auch in dem unter § 6 Abs. 3 eingefügten Satz „Die Bundesagentur für Arbeit stellt den Rehabilitationsbedarf fest. Sie beteiligt das zuständige Jobcenter nach § 19 Absatz 1 Satz 2 und erstellt einen Eingliederungsvorschlag. Das Jobcenter entscheidet unter Berücksichtigung des Eingliederungsvorschlages über die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben.“ fehlt den Suchtfachverbänden der partizipative/beteiligende Ansatz der Betroffenen. Änderungsvorschlag:

    „Die Bundesagentur für Arbeit stellt den Rehabilitationsbedarf fest. Sie beteiligt das zuständige Jobcenter nach § 19 Absatz 1 Satz 2 und erstellt gemeinsam mit dem leistungsberechtigten Menschen einen Eingliederungsvorschlag. Das Jobcenter entscheidet unter Berücksichtigung des Eingliederungsvorschlages sowie des Wunsch- und Wahlrechts über die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben.“

    Grundsätzlich möchten wir die Bedeutung einer partizipativen Perspektive/Formulierung hinsichtlich der Einbeziehung der Leistungsberechtigten in Entscheidungsprozesse betonen und um entsprechende Korrekturen im gesamten Referentenentwurf bitten.

    SGB II und SGB III – Verbesserung der Betreuung von Rehabilitandinnen und Rehabilitanden

    Bislang erfolgte die Erbringung der kommunalen Eingliederungsleistungen wie Schuldner- und Suchtberatung, in den entsprechenden Beratungsstellen und teilweise bzw. regional unterschiedlich, direkt in den Jobcentern oder in Kooperation der Jobcenter mit den Suchtberatungsstellen. Die Suchtfachverbände begrüßen die Bestrebungen, Leistungen nach §§ 16 a ff SGB II verbindlich neben einem Rehabilitationsverfahren in den Jobcentern anzubieten. Zur Erbringung von sozialintegrativen Leistungen und zur Teilhabe am Arbeitsmarkt sollten die zuständigen Träger der Leistungen jedoch keine eigenen Einrichtungen und Dienste neu schaffen, sondern geeignete, etablierte und qualifizierte Einrichtungen und Dienste der Träger der freien Wohlfahrtspflege nutzen und unterstützen. Diese langjährige und kommunal effektive Kooperation sollte nicht gefährdet bzw. verändert werden.

    Gerade für suchterkrankte Menschen ist die Parallelorganisation von Maßnahmen zur Wiedereingliederung in das Erwerbsleben (Teilhabe am Arbeitsmarkt) sowie von sozialintegrativen Leistungen während einer stationären Suchtrehabilitationsmaßnahme von besonderer Bedeutung. Die bisherigen Katamnesen haben gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit einer Abstinenz (nach einem Jahr) überaus deutlich mit der Tatsache, ob eine Beschäftigung aufgenommen werden konnte, korreliert. Die Möglichkeit, Leistungen nach den §§ 16 a ff. SGB II neben einem Rehabilitationsverfahren zu erbringen, ist sinnvoll, muss jedoch auch tatsächlich nahtlos erfolgen und für den von einer Abhängigkeitserkrankung Betroffenen nicht nur grundsätzlich möglich, sondern vor dem Hintergrund seiner aktuellen Lebens- und Gesundheitssituation faktisch realisierbar sein. Die Koordination der Leistungen ist explizit zu beschreiben.

    Ein digitaler Zugangsweg zu den Beratungsleistungen während einer Rehabilitationsmaßnahme ist nicht nur während der außergewöhnlichen Zeiten der Pandemie erforderlich, sondern sollte auch darüber hinaus gewährleistet sein. Eine Aufnahme in das Teilhabestärkungsgesetz im Sinne von: „digitale Zugangswege zur Beratung auf der Ebene der Jobcenter sind zu implementieren“ wäre mehr als hilfreich.

    SGB IX § 47a – digitale Gesundheitsanwendungen

    Die Änderungen beziehungsweise Ergänzungen im SGB IX § 47 a zum Thema Digitale Gesundheitsanwendungen sehen eine Integration von neuen (digitalen) Angeboten vor, was sehr zu begrüßen ist. Dabei beschreibt § 47 a Abs. 1 Satz 2 den Vorbehalt der Anerkennung unter der Berücksichtigung, dass der Erfolg einer Heilbehandlung zu sichern ist. Diesen Vorbehalt erfüllen u.a. digitale Nachsorgeangebote nach einer stationären und ambulanten Suchtrehabilitationsmaßnahme.

    Die Einschränkung jedoch, dass die digitalen Gesundheitsanwendungen nach §§ 42 Abs. 2 Nummer 6a nur diejenigen sind, die in das Verzeichnis nach § 139 Abs. 1 SGB V aufgenommen wurden und primär ärztliche Leistungen beschreiben, engt die Einsatzmöglichkeiten für die Behandlung von suchtmittelabhängigen Patientinnen und Patienten stark ein. Grundsätzlich sollte der Fokus auf die Erfüllungskriterien hinsichtlich der Erreichung der Ziele über den rein medizinischen Bereich hinaus gesehen werden. Hier wären z. B. auch die psychosoziale Komponente sowie die Stabilisierung bzw. Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit mit einzubeziehen, ganz im Sinne einer bio-psycho-sozialen Betrachtungsweise bzw. einer ICF-Orientierung.

    Abhängigkeitskranke Menschen sind eine leistungsberechtigte Personengruppe, weshalb digitale Gesundheitsanwendungen, z. B. in Form von Apps, auch für diese erbracht werden müssen, u. a. um den Zugang zu Hilfeleistungen zu erleichtern, den Behandlungserfolg nachhaltig zu sichern, ihre Teilhabechancen zu erhöhen sowie die Versorgung der Leistungsberechtigten um eine weitere (digitale) Komponente zu ergänzen. Eine Ausweitung der in diesem Zusammenhang anerkannten Berufsgruppen um Psycholog*innen und Suchttherapeut*innen ist daher dringend erforderlich.

    SGB IX – Budgets für Ausbildung

    Die Suchtfachverbände begrüßen es, den anspruchsberechtigten Personenkreis für das Budget für Ausbildung (§ 61a SGB IX) sachgerecht zu erweitern. Demnach können nun Menschen mit Behinderungen, die sich schon im Arbeitsbereich der Werkstatt für behinderte Menschen oder eines anderen Leistungsanbieters befinden, das Budget für Ausbildung in Anspruch nehmen. Zu diesem Personenkreis zählen auch abhängigkeitserkrankte Menschen.

    Berlin, 06.01.2021

    Friederike Neugebauer, Geschäftsführerin, fdr+ e.V.
    Dr. Thomas Klein, Geschäftsführer, FVS e.V.
    Corinna Mäder-Linke, Geschäftsführerin, buss e.V.
    Stefan Bürkle, Leiter Geschäftsstelle, BAG CaSu im DCV
    Ralf Klinghammer, stellvertretender Vorsitzender GVS e.V.

    Download der Stellungnahme als PDF

  • Corinna Mäder-Linke ist neue Geschäftsführerin des buss

    Corinna Mäder-Linke, seit 1.1.2021 neue Geschäftsführerin des buss

    Am 1. Januar 2021 hat Corinna Mäder-Linke die Geschäftsführung des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss) übernommen. Die 46-Jährige bringt umfassende Fachkenntnis und langjährige Erfahrung sowohl in der praktischen als auch in der verbandspolitischen Arbeit im Bereich der Suchthilfe mit. Zuletzt war sie drei Jahre als Geschäftsführerin des Gesamtverbandes für Suchthilfe e.V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland tätig.

    Davor hat sie u.a. als Bereichsleiterin der Suchtkrankenhilfe in einem deutschlandweit agierenden Unternehmen – vorwiegend in Thüringen – verschiedene suchtspezifische Einrichtungen unterschiedlicher Leistungsträger aufgebaut und geleitet und in dieser Zeit ebenfalls therapeutisch mit abhängigkeitskranken Menschen gearbeitet.

    Frau Mäder-Linke ist ausgebildete Diplom-Sozialpädagogin, Sozialtherapeutin – Sucht, Master of Arts (Arbeits- und Organisationspsychologie) und Supervisorin. Vielen in der Suchthilfe Tätigen ist sie auch als stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) bekannt. Außerdem ist sie Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Weiterbildung Suchttherapie.

    Seit 2012 lebt Frau Mäder-Linke mit ihrer Familie in Berlin. Zu ihrem Start beim buss sagt sie: „Ich freue mich sehr darauf, von nun an gemeinsam mit dem buss und seinen Mitgliedern für die Belange der von einer Abhängigkeitserkrankung betroffenen Menschen einzutreten und die berechtigten Interessen der Einrichtungen, die Suchtkranke behandeln, betreuen oder begleiten, gegenüber der Politik, der Öffentlichkeit und den Leistungsträgern zu vertreten. All mein Engagement, meine Expertise und gesammelten Erfahrungen in der praktischen, aber auch in der Verbandsarbeit, bringe ich jetzt gerne in meine Tätigkeit als Geschäftsführerin des buss ein.“

    Ihr Vorgänger, Gero Skowronek, verlässt den buss nach zweieinhalb Jahren, um sich anderen Aufgaben zu widmen. Zu seiner Verabschiedung dankt ihm die Vorstandsvorsitzende, Dr. Wibke Voigt, für seine hervorragende Arbeit in diesem herausfordernden Jahr 2020. Das „Feld sei nun gut bestellt“ für Frau Mäder-Linke als neue Geschäftsführerin. „Ihr offenes und sympathisches Zugehen auf andere Menschen konnten wir im Vorstand und in der Geschäftsstelle schon erleben.“ Der Verband freut sich auf die Zusammenarbeit!

    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss), 6.1.2021

  • Digitale Arbeit während der COVID-19-Pandemie

    Die COVID-19-Pandemie beeinflusst den Berufsalltag und das Privatleben ganz massiv. Viele Menschen arbeiten plötzlich in großen Teilen von zu Hause aus, müssen die Kinderbetreuung, Arbeit und andere private Verpflichtungen unter einen Hut bekommen. Viele Termine, die sonst im physischen Raum stattfinden, werden plötzlich digital abgehalten. Die völlig neue Arbeitssituation verändert auch das Empfinden digitalen Stresses für Erwerbstätige.

    Um besser zu verstehen, wie sich der digitale Stress und dessen Ursachen während der letzten Monate verändert haben, wurden 1.000 Erwerbstätige befragt, die bereits an einer Vorgängerstudie (Veröffentlichung im Jahr 2019, KONTUREN online berichtete) teilgenommen hatten.

    Kernergebnisse der aktuellen Studie „Digitale Arbeit während der COVID-19-Pandemie. Eine Studie zu den Auswirkungen der Pandemie auf Arbeit und Stress in Deutschland“ sind:

    Kernergebnis 1: Arbeit wird weniger, aber länger

    Die Arbeitsmenge und berufliche Anforderungen sinken aufgrund der veränderten Arbeitssituation durch COVID-19. Dazu zählen netto Arbeitsstunden, emotionale Anforderungen durch die Berufstätigkeit sowie die Anzahl sozialer Konflikte, die alle deutlich gesunken sind. Dennoch verlängern sich die Zeiträume, in denen gearbeitet wird, durch die stärkere Vermischung von Arbeits- und Privatleben.

    Kernergebnis 2: Private Anforderungen steigen

    Private Anforderungen steigen in vielen Dimensionen, insbesondere die finanziellen Sorgen und die quantitativen privaten Anforderungen (i.S.v. zu Hause ist viel zu tun), aber auch emotionale Anforderungen. Gleichzeitig finden die Befragten innerhalb des eigenen Haushalts weniger Unterstützung, da viele Haushaltsmitglieder gleichermaßen betroffen sind. Die Auswirkungen zeigen sich unter anderem in einem erhöhten Work-Home-Konflikt.

    Kernergebnis 3: Gegenläufige Entwicklungen bei digitalen Belastungsfaktoren

    Während manche digitalen Belastungsfaktoren steigen, sinken andere. Probleme, die der digitalen Arbeit zuzuordnen sind, wie die Nicht-Verfügbarkeit von Technik, mangelnde Erfolgserlebnisse oder die Omnipräsenz nehmen zu. Dagegen nehmen Aspekte, die auf Unerfahrenheit im Umgang mit IT zurückzuführen sind, wie Verunsicherung oder Jobunsicherheit ab.

    Kernergebnis 4: Digitaler Stress im Homeoffice ist sehr individuell

    Wie Menschen mit der veränderten Arbeitssituation klarkommen, ist hochgradig individuell. So sind bspw. Menschen mit Führungsverantwortung stärker an die digitale Arbeit gewöhnt, Menschen mit Kindern leiden stärker, und Menschen mit Erfahrung bzw. Zuversicht im Umgang mit digitalen Technologien und Medien kommen besser mit der Homeoffice-Situation zurecht.

    Die Studie wurde im Rahmen des vom Bundesforschungsministerium geförderten Projektes „Prävention für sicheres und gesundes Arbeiten mit digitalen Technologien – PräDiTec“ durchgeführt. Sie steht zusammen mit vielen weiteren Ergebnissen des Projekts – z. B. einer systematischen Darstellung von Belastungsfaktoren der digitalen Arbeit – auf der Projektwebsite https://gesund-digital-arbeiten.de/ zur Verfügung.

    Quelle: Newsletter Gesund Digital Arbeiten 12/2020; „Zusammenfassung“ (S. 5) in: Gimpel, H. et al. (2020), Digitale Arbeit während der COVID-19-Pandemie. Eine Studie zu den Auswirkungen der Pandemie auf Arbeit und Stress in Deutschland, Augsburg: Projektgruppe Wirtschaftsinformatik des Fraunhofer FIT. https://doi.org/10.24406/FIT-N-618361

  • Sucht & Selbstkonzepte

    transcript Verlag, Bielefeld 2020, 556 Seiten, 55,00 €, ISBN 978-3-8376-5268-0, auch als E-Book erhältlich

    Getreu dem Motto „Sex & Drugs & Rock’n’Roll“ scheint der Konsum von Drogen geradezu prototypisch zum Lifestyle vieler Musiker*innen dazuzugehören. Auffällig ist, dass es immer wieder musikalische Vertreter*innen des Typus „Junkie“ sind, die zu Weltstars und Ikonen werden. Doch warum ist dieser Lebenswandel und dabei ausgerechnet der Konsum von Heroin so populär (gewesen)? Durch die Rekonstruktion individueller Lebensgeschichten heroinabhängiger Musiker in Los Angeles bestimmt Melanie Ptatscheck nicht nur sozialpsychologische und musikspezifische Suchtfaktoren. Ebenso zeigt sie auf, durch welche individuellen Bedürfnisse und gesellschaftlichen Narrative die Selbstvorstellungen dieser Musiker geprägt sind.

  • DBDD-Bericht 2020 zur Situation illegaler Drogen

    Kurzbericht
    Workbook Drogen

    Am 9. Dezember hat die Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD) ihren jährlichen Bericht veröffentlicht (Datenjahr 2019/2020). Dieser bietet einen vollständigen Überblick über das Konsumverhalten in der Altersgruppe der 12- bis 64-Jährigen. Darüber hinaus fasst er Hintergrundinformationen sowie aktuelle Entwicklungen in den Bereichen Prävention, Beratung, Behandlung, Schadensminimierung und Angebotsbekämpfung zur Verbreitung illegaler Drogen in Deutschland zusammen.

    Einen knappen Überblick über aktuelle Entwicklungen bietet der ca. zehnseitige deutschsprachige Kurzbericht. Einen noch kürzeren Einblick in ausgewählte Themen gibt das Factsheet illegale Drogen. Ausführliche Informationen zu den einzelnen Themen finden sich in den jeweiligen Workbooks. Um internationale Vergleiche zu erleichtern, erscheinen diese in einer europaweit einheitlichen Struktur. Alle Dokumente stehen über die Website der DBDD zur Verfügung.

    Prävention, niedrigschwellige Hilfen, Schadensminderung

    2019 verstarben 1.398 Menschen an den Folgen des Konsums illegaler Drogen. Für fast die Hälfte der Fälle sind Opioidvergiftungen ursächlich. Aus diesem Grund empfiehlt neben der WHO auch die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, das Notfallmedikament Naloxon an Laien auszugeben. Die Naloxon-Vergabe an Laien hat sich in Deutschland trotz einiger Modellprojekte bisher nicht flächendeckend durchgesetzt.

    Dazu die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig: „Der Bericht der Drogenbeobachtungsstelle verdeutlicht, wie wichtig der Ausbau der Prävention gerade auch im Hinblick auf illegale Drogen ist. Wir müssen konsequenter und früher intervenieren, wenn Drogenkonsum beginnt, sowie das Angebot der Substitutionsbehandlung ausbauen. Auch das Nasenspray Naloxon, welches sich bereits in einem sehr erfolgreichen Modellprojekt in Bayern bewährt hat, muss deutschlandweit eingesetzt werden. Ich setze mich sehr dafür ein, dass das in dieser Legislaturperiode noch gelingt!“

    Für die Schadensminderung bei Schwerstabhängigen spielen zudem Drogenkonsumräume eine entscheidende Rolle. Derzeit stehen 25 stationäre Konsumräume sowie drei Drogenkonsummobile in acht Bundesländern zur Verfügung.

    Unerlässlich im Rahmen der Schadensminimierung und Behandlung ist ein breites und stabiles Angebot substitutionsgestützter Behandlungen für Menschen mit einer Opioidabhängigkeit. Während die Anzahl substituierter Patientinnen und Patienten seit Jahren in etwa stabil ist, nimmt die Zahl der Ärztinnen und Ärzte in diesem Bereich ab. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, wurden bereits 2017 in der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung Regelungen geschaffen, um die Verschreibung flexibler zu gestalten und den Ärzten bei der Substitutionstherapie mehr Freiräume zu lassen.

    Konsum illegaler Drogen

    Basierend auf aktuellen Bevölkerungsumfragen haben in Deutschland im Jahr 2018 etwa ein Drittel der Erwachsenen (15,2 Mio.) im Alter von 18 bis 64 Jahren mindestens einmal in ihrem Leben eine illegale Droge konsumiert. Cannabis nimmt unter den illegalen Drogen weiterhin die prominenteste Rolle ein. Im Jahr 2019 haben 10,4 Prozent der 12- bis 17- jährigen Jugendlichen und 46,4 Prozent der 18- bis 25-jährigen Erwachsenen in einer Repräsentativbefragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) angegeben, mindestens einmal Cannabis konsumiert zu haben.

    Dazu der Leiter der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht, Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel: „Auch wenn Cannabis nach wie vor die am weitesten verbreitete illegale Droge ist, sehen wir auch beim Konsum von Stimulanzien und im Bereich Neuer Psychoaktiver Stoffe Hinweise auf eine wachsende Verbreitung. Daher ist es von Bedeutung, auch hier in den nächsten Jahren insbesondere die Präventionsmaßnahmen zu intensivieren.“

    Das Dokumentationssystem „Dot.sys“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) stellt seit 2006 umfangreiche Informationen zu Maßnahmen der Suchtprävention in Deutschland zur Verfügung. Die über 25.000 „Dot.sys“-Daten 2019 zeigen, dass cannabisbezogene Präventionsmaßnahmen seit 2016 die größten Zuwächse verzeichnen. Diese richten sich insbesondere an Jugendliche und junge Erwachsene und finden meist im Setting Schule statt. Zentrale Ziele sind die Zunahme an Wissen und Stärkung bzw. Veränderung von suchtrelevanten Einstellungen. „Dot.sys“ wird den Fachkräften der Suchtprävention von der BZgA kostenlos und in laufend modifizierter Version angeboten unter: https://www.dotsys-online.de

    Der Bericht der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht erscheint jährlich und fasst als Teil des Europäischen Drogenbeobachtungssystems die Situation illegaler Drogen in Deutschland zusammen.

    Gemeinsame Pressemitteilung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung und der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD), 9.12.2020