Kategorie: Fachbeiträge

  • Pflegebedürftigkeit bei Menschen mit Suchterfahrung

    Pflegebedürftigkeit bei Menschen mit Suchterfahrung

    Vorbemerkung Entstigmatisierende Sprache
    Warum ist Sprache wichtig? Sprache prägt die Art und Weise, wie wir über Menschen denken und sprechen und wie diese sich selbst sehen. Vor allem im Kontext von Sucht kann Sprache ausgrenzen, verletzen oder entlasten. Eine entstigmatisierende Sprache trägt dazu bei, das Leben von Menschen mit Suchterfahrung positiv zu verändern und den Umgang miteinander zu verbessern. Die zentralen Werte von Condrobs e.V. – Vielfalt, Offenheit und Akzeptanz – spiegeln sich in einer bewussten, entstigmatisierenden Sprache wider, einer Sprache, die klar, respektvoll und barrierearm ist – sowohl für Fachpersonen als auch für Betroffene.

    Dieser Beitrag orientiert sich an den Empfehlungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS, 2023) sowie dem Leitfaden zu entstigmatisierender Sprache der Deutschen Aidshilfe (DAH, 2023). Die Begriffe „Sucht“, „Abhängigkeit“ und „Störung“ sind medizinisch-psychiatrische Diagnosen, bei welchen den Betroffenen oft die Fähigkeit zur eigenen Krankheitsbeurteilung abgesprochen wird. Im vorliegenden Text werden wertfreie Beschreibungen bevorzugt, z. B.: Person(en) mit Suchterfahrung, hat Suchterfahrung, ist suchterfahren. Zur besseren Lesbarkeit werden auch Begriffe wie „Suchterkrankung“, „Abhängigkeitserkrankung“ oder „Substanzkonsumstörung“ verwendet, stets ohne wertenden oder diskriminierenden Hintergrund.


    1. Einleitung

    Sarah Theres Schütze
    Christiane Hunstein

    Der Anteil älterer Menschen in unserer Gesellschaft nimmt beständig zu. Aufgrund stetiger Verbesserungen der sozialmedizinischen Versorgungslage erreichen immer mehr Menschen aus gesundheitlichen Risikogruppen ein hohes Alter – so auch diejenigen mit einer langjährigen Suchterkrankung.

    1.1 Anzahl der Betroffenen

    Die Zunahme älterer Menschen mit Abhängigkeitserkrankung zeigt sich im Jahresbericht der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS) deutlich: Allein im Bereich der Opiatabhängigkeit verdoppelte sich der Anteil von Menschen über 50 in den vergangenen Jahren von zehn auf 20 Prozent (siehe zum Vergleich die Jahre 2015/Abb. 1 und 2023/Abb. 2). Laut DSHS liegt das Durchschnittsalter opiatabhängiger Menschen nicht mehr (wie noch 2015) bei Mitte 30, sondern zwischen 40 und 50 Jahren.

    Abb. 1: Altersstruktur nach Hauptdiagnosen, ambulant, 2015 (DSHS 2015, S. 14)
    Abb. 2: Altersstruktur nach Hauptdiagnosen, ambulant, 2023 (DSHS 2023, S. 20)

    Ein gut ausgebautes psychosoziales und medizinisches Netzwerk sorgt demnach dafür, dass Menschen mit Substanzgebrauchsstörung immer älter werden. Eine erfreuliche Entwicklung, welche gleichzeitig jedoch mit einer Reihe von Herausforderungen einhergeht – sowohl für die Betroffenen selbst als auch für die Suchthilfeeinrichtungen, an die sie angebunden sind.

    1.2 Charakteristika der Zielgruppe

    Ältere Menschen mit Suchterkrankungen sind in vielerlei Hinsicht besonders: Ihr Suchtverhalten hat sich über Jahrzehnte entwickelt, und der langjährige Substanzgebrauch führt zu frühzeitig einsetzenden kognitiven, psychischen und körperlichen Beeinträchtigungen. Insbesondere Letztere haben zur Folge, dass Menschen mit Suchterfahrung häufig schon im mittleren Lebensalter von zunehmender Pflegebedürftigkeit betroffen sind.

    Der vermehrte Pflegebedarf spiegelt sich auch in den wachsenden Anforderungen an Suchthilfeeinrichtungen, die diese Menschen betreuen. Im „DHS Jahrbuch Sucht 2025“ heißt es:

    Mit zunehmendem Alter stellen sich vermehrt alterstypische gesundheitliche und psychosoziale Probleme ein, die nicht selten mit Mobilitätseinbußen verbunden sind […] Dadurch verschieben sich sowohl die Themen, die für die Beratung und Betreuung […] relevant sind, als auch die Kooperationspartner, die zur Bewältigung dieser Probleme erforderlich sind. Zunehmend werden ambulante und stationäre Pflege- und Altenhilfeeinrichtungen relevant […] (DHS 2025, S. 31–44)

    Der Umgang mit altersbedingten Krankheitsbildern wie Bluthochdruck, Diabetes und Demenz gehört längst zum Arbeitsalltag vieler Sozialpädagog:innen in der Suchthilfe. Neben suchtspezifischem Fachwissen werden immer häufiger Kenntnisse zu kognitiven und somatischen Erkrankungen des Alters benötigt. Insbesondere im Kontext des ambulant betreuten Wohnens ergeben sich zusätzliche Herausforderungen durch die teils stark eingeschränkte Mobilität der Klient:innen, da ein barrierefreies Wohnen nur in wenigen Einrichtungen vollständig gewährleistet werden kann.

    Hinzu kommt, dass Menschen mit Suchterfahrung immer wieder Diskriminierung, Vorurteile und Stigmatisierung erleben, auch in den psychosozialen und medizinischen Hilfesystemen. Interaktionen mit und Behandlungen von Klient:innen werden dadurch zusätzlich erschwert. Die sich daraus ergebende schwierige Versorgungslage älterer Suchterkrankter wurde bereits 1995 von Gaby Gehl treffend zusammengefasst:

    Ältere suchtkranke Menschen werden von vielen Institutionen, die in der Suchttherapie tätig sind, eher abgelehnt bzw. die Betroffenen fühlen sich ausgegrenzt. Hilflosigkeit und Resignation führen dazu, dass Behandlungsansätze für ältere Suchtkranke fehlen. (Gehl 1995, S. 60)

    1.3 Entwicklung der Versorgungsstrukturen

    Zwar hat sich die medizinische, soziotherapeutische und pflegerische Versorgung von älteren Menschen mit Suchterkrankungen in den letzten Jahren weiterentwickelt, vergleicht man jedoch Gehls Aussagen mit den aktuellen Leitlinien der Suchtpolitik der Landeshauptstadt München, zeigt sich, dass die Versorgung immer noch in vielen Bereichen unzureichend bleibt. In den Leitlinien aus dem Jahr 2010 heißt es:

    Suchtkranke ältere Menschen finden immer noch zu wenig Beachtung – sowohl in der Suchthilfe als auch in Suchtforschung und -politik. Deutlich wird dies an den fehlenden Erkenntnissen über diese Gruppe sowie an einem Mangel an spezifischen Hilfsangeboten. Handlungsbedarf besteht insbesondere angesichts der demographischen Entwicklung, in deren Verlauf die Zahl älterer Menschen mit Suchterkrankung steigen wird. (Gorgas et al. 2010, S. 26)

    Diese Leitlinien blieben – wie auch die Versorgungsangebote für ältere Menschen mit Suchterkrankungen – in den vergangenen 15 Jahren weitestgehend unverändert. Laut einer Ankündigung des Münchner Gesundheitsreferats soll eine aktualisierte Gesundheitsstrategie der Stadt München zum Jahresende 2025 beschlossen werden, welche unter anderem Aspekte der Suchtprävention und Suchthilfe umfasst (leitlinie-gesundheit – Landeshauptstadt München, Zugriff am 15.04.25). Es bleibt zu hoffen, dass die geplanten Aktualisierungen bald ihren Weg in den praktischen Alltag sowie in die sozialpädagogische Arbeit finden, denn die Versorgungslücke ist zum derzeitigen Stand nach wie vor spürbar.

    1.4 Versorgungslücken und Handlungsbedarf

    Es besteht ein erhöhter Bedarf an soziotherapeutischer Beratung und Betreuung für ältere Menschen mit Suchterkrankungen, der durch das aktuelle Angebot nur unzureichend gedeckt werden kann. Ebenso ist die Integration von Akteur:innen der Suchthilfe in die Pflege von zentraler Bedeutung, um Wissen auszutauschen und Synergien zu bilden. Viele ambulante Pflegedienste und stationäre Pflegeeinrichtungen sind nicht ausreichend auf diese besondere Zielgruppe vorbereitet. Es fehlt an ausgebildeten Fachkräften, die in der Lage sind, neben den pflegerischen auch suchtspezifische Anforderungen zu berücksichtigen. Um die Lücke zu schließen, ist die Entwicklung innovativer Konzepte erforderlich, die den besonderen Bedürfnissen älterer Menschen mit Suchterkrankungen gerecht werden. Ein Beispiel für ein solches Versorgungskonzept ist das Betreute Wohnen 40+ des Vereins Condrobs e.V.

    Im Folgenden wird das Spannungsfeld zwischen Pflegebedürftigkeit und Suchthilfearbeit konkretisiert sowie als mögliche Lösung ein Pilotprojekt von Condrobs e.V. dargestellt. Dazu gehören auch ein Fallbeispiel und ein Interview mit einer Mitarbeiterin. Diese Beiträge vermitteln praktische Einblicke in den Alltag des ambulant betreuten Wohnens für ältere Menschen mit Suchterfahrung.

    2 Pflegebedürftigkeit und Sucht

    Wie eingangs beschrieben hat die Verbesserung des psychosozialen und medizinischen Netzwerks zur Folge, dass es immer mehr ältere Menschen mit Konsumerfahrung gibt, die pflegebedürftig werden. Ältere Menschen stehen in der Suchthilfe jedoch bislang ebenso wenig im Fokus wie eine suchtbezogene Perspektive in der Altenhilfe. Dies führt dazu, dass riskanter oder abhängiger Substanzkonsum im Alter häufig unerkannt bleibt oder fälschlich als altersbedingt interpretiert wird. In der Folge werden suchtkranke ältere Menschen in Pflegeeinrichtungen oft nicht bedarfsgerecht und suchtspezifisch betreut. Zur Situation in der Suchthilfe schreibt die DHS in ihrer Versorgungsanalyse:

    In der Suchthilfe zeigt sich die Problematik des erhöhten Pflegebedarfs vor allem in Einrichtungen der Eingliederungshilfe, in denen Menschen mit einer Suchtproblematik betreut werden, die häufig zusätzlich erhebliche körperliche und psychische Einschränkungen haben bzw. durch einen langen Substanzkonsum „vorzeitig gealtert“ sind. (DHS 2019)

    2.1 Voralterung und häufige Krankheitsbilder

    Insbesondere in Einrichtungen der Eingliederungshilfe zeigt sich, dass viele Klient:innen aufgrund des langjährigen Konsums bereits vorzeitig gealtert sind und einen deutlich erhöhten Pflegebedarf aufweisen – häufig verbunden mit körperlichen Einschränkungen, kognitiven Beeinträchtigungen oder psychischen Störungen (DHS 2019). Die Krankheitsbilder sind vielfältig und reichen von Gliederamputationen, Lungenerkrankungen, Leberzirrhosen, Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes und Krebs über Zuckerkrankheit mit schlecht heilenden Wunden bis zu allgemein schlechtem körperlichen Zustand nach Schlaganfall. Jeder dritte Patient mit einer Substanzkonsumstörung ist außerdem von mindestens einer weiteren psychischen Störung betroffen (z. B. depressive Störungen, Angststörungen, PTBS, Persönlichkeitsstörungen und ADHS).

    2.2 Pflegebedarf und Versorgungssituation

    Dieser daraus resultierende spezielle Bedarf an persönlicher Unterstützung übersteigt vielerorts die vorhandenen personellen und konzeptionellen Ressourcen. Obwohl zunehmend Pflegegrade festgestellt werden und somit zumindest ein geringer finanzieller Ausgleich über die Pflegekassen erfolgt, bleibt die tatsächliche Umsetzung zusätzlicher Pflegeleistungen stark eingeschränkt – nicht zuletzt durch regionale Unterschiede, begrenzte Ressourcen und fehlende Konzepte.

    Im Hinblick auf stationäre Pflege älterer Menschen mit Substanzkonsum lässt sich berichten, dass eine Aufnahme in der Regel nicht erfolgt, u. a. liegt das biologische Alter hier meist unter der Altersgrenze für die Aufnahme. Die Vernetzung von Einrichtungen der Eingliederungshilfe mit Pflegeheimen gestaltet sich also schwierig: Die Vermittlung läuft häufig ins Leere. Klient:innen mit Bedarf an Kurzzeit- oder Langzeitpflege werden in den meisten Fällen abgelehnt.

    Eine alternative Möglichkeit, den physischen Einschränkungen und frühzeitigen Alterserscheinungen der Klientel in der Eingliederungshilfe zu begegnen, ist eine Kooperation mit ambulanten Pflegediensten. Hierzu meint die Leiterin eines ambulanten Pflegedienstes in München: „Wenn sie da mal drin sind, unterscheiden sich ältere Süchtige eigentlich gar nicht von meinen sonstigen Pflegefällen. Sie sind eher dankbarer für die Unterstützung.“

    2.3 Lösungsansätze

    Projekte einzelner Träger wie z. B. „Betreutes Wohnen 40+“ von Condrobs e.V. zeigen, dass eine zielgruppenorientierte Versorgung grundsätzlich möglich ist, allerdings nur unter bestimmten strukturellen Voraussetzungen wie etwa einem höheren Personalschlüssel, barrierefreien Umgebungen und niedrigschwelligen Betreuungsangeboten. Auf struktureller Ebene eröffnet die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) neue Chancen zur Verzahnung von Altenhilfe und Eingliederungshilfe. Allerdings bleibt die pflegerische Versorgung älterer suchterfahrener Menschen ein komplexes Handlungsfeld, das gezielte konzeptionelle und politische Weiterentwicklungen erfordert. Aufgrund fehlender öffentlicher Gelder sowie des Fachkräftemangels sind oben genannte strukturelle Voraussetzungen schwer zu erreichen.

    3 Betreutes Wohnen für ältere Menschen mit Suchterfahrung bei Condrobs e.V.

    Ältere Menschen mit Suchterfahrung benötigen eine Wohnform, die neben Sicherheit und Unterstützung im Alltag gleichzeitig einen sensiblen Umgang mit ihrer Erkrankung bietet. Das Angebot „Betreutes Wohnen 40+“ (BW40+) von Condrobs e.V. kann hier eine wichtige Brücke schlagen.


    Über Condrobs e.V.
    Condrobs ist ein überkonfessioneller Träger mit vielfältigen sozialen Hilfsangeboten in ganz Bayern, der benachteiligten Menschen und ihren Angehörigen hilft. Aus einer Selbsthilfeinitiative entstanden, arbeiten heute rund 1000 Mitarbeiter:innen in ca. 70 Einrichtungen. Das breit gefächerte Angebot umfasst innovative Projekte und Einrichtungen der Prävention, Sucht- und Wohnungslosenhilfe, Kinder- und Jugendhilfe sowie Migrationsarbeit. Condrobs ist Ausbilder und bietet betreute Beschäftigungsplätze für Frauen* und Männer*, die nach einer schwierigen Lebensphase wieder ins Arbeitsleben zurückkehren wollen. Die Condrobs-Akademie hält Fortbildungen zu aktuellen Themen für die soziale Arbeit bereit.
    Weitere Informationen unter www.condrobs.de


    Der auf ältere Menschen mit Konsumhintergrund spezialisierte Zweig des Trägers zielt darauf ab, die Klientel bei der Alltagsbewältigung und der Entwicklung neuer Perspektiven zu unterstützen. Dies geschieht entweder aus dem vertrauten Umfeld heraus – der eigenen Wohnung – oder in Therapeutischen Wohngemeinschaften (TWGs). Die Mitarbeiter:innen von BW40+ begleiten und unterstützen ihre Klient:innen bei der Stabilisierung ihrer Gesundheit und ihrer Lebens- und Konsumsituation, sie reflektieren gemeinsam mit ihnen die Auswirkungen der Erkrankung, sind Ansprechpartner:innen in einsamen Zeiten, entwickeln gemeinsam Ideen für die Zukunft und bieten ggfs. einen langfristigen Wohnplatz bis zur letzten Lebensphase.

    3.1 Pilotprojekt: „Intensiv Betreutes Wohnen“ in einer therapeutischen Wohngruppe

    Bereits seit 2007 bietet Condrobs speziell Hilfen für ältere Substanzkonsumierende an – insbesondere in der Form des betreuten Wohnens. Das Angebot „Betreutes Wohnen 40+“ bietet derzeit insgesamt 63 Plätze an. Davon fallen 24 Plätze auf Betreutes Einzelwohnen (BEW), bei dem Menschen in Einzelwohnungen Unterstützung erhalten. Zusätzlich stehen 39 Plätze in verschiedenen Therapeutischen Wohngemeinschaften (TWG) zur Verfügung. Neun dieser Plätze befinden sich in der TWG „Intensiv Betreutes Wohnen“, einer barrierefreien Wohnung, in welcher speziell körperlich stärker beeinträchtigte Personen ein Zuhause finden können. Die barrierefreie TWG wurde im Mai 2021 eröffnet. Der Schwerpunkt liegt auf der Versorgung von Menschen mit Polytoxikomanie, Doppeldiagnosen und Polymorbidität. So können Menschen aufgefangen werden, die aufgrund komplexer Problemstellungen sonst häufig durch das soziotherapeutische Versorgungsnetz fallen.

    Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung bis Pflegegrad 2 können in der intensiv betreuten Wohngruppe aufgenommen werden. Insbesondere richtet sich das Angebot an ältere drogenabhängige Menschen mit einer meist über zehn- bis 40-jährigen Substanzkonsumstörung. Die Bewohner:innen sind entweder ehemals konsumierend oder in einer medizinischen Substitutionsbehandlung. Eine Übersicht der relevanten Charakteristika der Bewohner:innen findet sich in Abbildung 3.

    Abb. 3: Charakteristika der Bewohner:innen der TWG „Intensiv Betreutes Wohnen“

    Die Wohnung befindet sich im Erdgeschoss eines Wohngebäudes und ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut zu erreichen. Die Infrastruktur des Quartiers bietet vielfältige Möglichkeiten, den täglichen Bedarf zu decken, welche die Klient:innen nutzen können. Einkaufsmöglichkeiten, Arztpraxen, ambulante Pflege und Nachbarschaftsangebote sind vorhanden.

    Das Team unterstützt die Bewohner:innen bei Bedarf bei der Suche und Inanspruchnahme von geeigneten ambulanten Pflegediensten. Es fördert die Kooperation, auch durch gemeinsame Fallgespräche. Bewohner:innen der TWG haben ihrerseits die Verpflichtung, diesen und anderen externen Angeboten gegenüber aufgeschlossen zu sein.

    Mit diesem Angebot wird eine Lücke im Hilfesystem für ältere suchtkranke Menschen in München geschlossen, eine Lücke, die durch den erschwerten Zugang zu herkömmlichen Angeboten der Altenhilfe und Pflege besteht. Die TWG „Intensiv Betreutes Wohnen“ wird als Teil der Stadtgesellschaft wahrgenommen, fügt sich ein und wirkt mit, sodass Integration praktisch gelebt wird.

    3.3 Bisherige Erfolge des Pilotprojekts

    Seit der Eröffnung der TWG „Intensiv Betreutes Wohnen“ im Jahr 2021 sind die Plätze fast durchgehend belegt, was den Bedarf widerspiegelt. Viele der Bewohner:innen zeigen eine gute Compliance, die sich positiv auf den Verlauf ihres Aufenthalts auswirkt. Bei etwa 70 Prozent der Bewohner:innen kann eine stabile Entwicklung beobachtet werden, die auf die Unterstützung und die Angebote in der Einrichtung zurückzuführen ist.

    Besonders erfreulich sind die gelungenen Freizeitveranstaltungen, die mittlerweile auch von den Bewohner:innen selbst organisiert werden. Dies fördert nicht nur den Gemeinschaftssinn, sondern auch die Verantwortungsübernahme für die Mitbewohner:innen. Ein weiteres Merkmal ist das weitestgehend harmonische Zusammenleben von abstinenzorientierten und substituierten Personen, was zu einem respektvollen und unterstützenden Umfeld beiträgt.

    4 Stimmen der Beteiligten

    In den folgenden Punkten vermitteln ein Fallbeispiel und ein Interview mit einer Mitarbeiterin Eindrücke und Erfahrungen aus der Praxis.

    4.1 Klienten-Beispiel aus der Praxis des Betreuten Wohnens

    Herr M. lebt seit 18 Monaten in der barrierefreien, intensivbetreuten therapeutischen Wohngruppe von Condrobs e.V. Herr M. ist 56 Jahre alt. Über viele Jahre konsumierte er regelmäßig Heroin und Alkohol in großer Menge. Er ist seit drei Jahren stabil substituiert und abstinent von Alkohol. Zudem leidet Herr M. an einer diagnostizierten Depression sowie einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) infolge früherer Gewalterfahrungen.

    Aufgrund des langjährigen Heroin- und Alkoholkonsum entwickelte Herr M. eine Leberzirrhose sowie eine Polyneuropathie, die mit starken Schmerzen in den Beinen und Gefühlsstörungen einhergeht. Zusätzlich leidet er unter chronischem Bluthochdruck und hat ein metabolisches Syndrom entwickelt. Seine Beweglichkeit ist deutlich eingeschränkt, häufig benötigt er zur Fortbewegung einen Rollator. Aufgrund der Polyneuropathie hat er mehrfach offene Wunden an den Füßen, die nur schlecht heilen und ihn regelmäßig zu Krankenhausaufenthalten zwingen.

    Durch seine Mobilitätseinschränkungen fällt es Herrn M. zunehmend schwer, alltägliche Aufgaben wie Zimmerreinigung oder Einkäufe eigenständig zu erledigen. Er benutzt auch für kurze Strecken den Aufzug, da er Treppen nur unter großer Anstrengung und mit Begleitung bewältigen kann. Herr M. leidet unter wiederkehrenden Erschöpfungszuständen, was ihn zusätzlich in seiner Selbstständigkeit einschränkt. Aufgrund seiner Einschränkungen muss Herr M. für alle Tätigkeiten längere Zeiten einplanen, und er hat das Gefühl, „die Tage würden verschwinden“.

    Die therapeutische Einrichtung von Condrobs e.V. bietet Herrn M. eine barrierearme Umgebung sowie Unterstützung im Alltag durch Betreuer:innen und ambulante Pflegekräfte. Therapeutische Angebote wie Ergotherapie, psychotherapeutische Einzelgespräche und Bewegungsangebote helfen ihm, seine Selbstständigkeit schrittweise zu stabilisieren und seine Lebensqualität zu verbessern. Als besonders wertvoll empfindet Herr M. die Möglichkeit, kurzfristig Unterstützung durch Fachpersonal zu erhalten, und den Kontakt zu seinen Mitbewohner:innen. Die regelmäßigen Kontakte helfen ihm nach eigenen Angaben, „Grübelspiralen“ zu durchbrechen und sich weniger einsam zu fühlen.

    In Bezug auf Kontakt mit medizinischem Personal und Pflegekräften berichtet Herr M. von viel Ablehnung und Stigmatisierung: „Solange die nicht wissen, dass du mit illegalen Drogen zu tun hattest, passt alles. Ansonsten wird man gemieden.“

    4.2 Interview mit einer Mitarbeiterin im Betreuten Wohnen

    Eine Mitarbeiterin aus der ambulanten Suchthilfe mit Schwerpunkt auf älteren suchtbelasteten Menschen gibt im Gespräch Einblicke in die besonderen Herausforderungen, die sich an der Schnittstelle zwischen Pflege und Suchthilfe ergeben:

    Welche gesundheitlichen Herausforderungen beobachten Sie bei Ihren Klient:innen?
    Bei älteren Menschen mit langjährigem Substanzkonsum treten häufig komplexe gesundheitliche und pflegerische Bedarfe auf. Zu den häufigsten Herausforderungen zählt die Versorgung offener Wunden. Auch die regelmäßige und richtige Einnahme von Medikamenten ist von besonderer Bedeutung – nicht zuletzt aufgrund verminderter Behandlungsmotivation und mangelnder Krankheitseinsicht, zwei Punkte, welche regelmäßig in den Einzelgesprächen thematisiert werden. Besonders bei Menschen mit Pflegegrad 2 wird auch die Körperpflege zur täglichen Hürde. Hinzu kommen ernährungsbezogene Herausforderungen, etwa bei Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes Typ II, deren Management durch instabile Lebensverhältnisse und mangelndes Gesundheitsbewusstsein zusätzlich erschwert wird.

    Typische Krankheitsbilder bei dieser Zielgruppe sind nicht nur durch Alterungsprozesse, sondern maßgeblich durch den langjährigen Konsum legaler wie illegaler Substanzen bedingt. In manchen Fällen kommt es zu einer Suchtverlagerung – etwa von Alkohol hin zu exzessivem Essen –, was neue gesundheitliche Probleme nach sich ziehen kann. Der Substanzkonsum kann außerdem die Wahrnehmung des eigenen gesundheitlichen Zustands beeinflussen, sodass Symptome zu spät oder Krankheitsverläufe nicht erkannt werden.

    Wie nehmen Sie die Versorgung der Zielgruppe im Hinblick auf die ambulante Pflege wahr?
    Obwohl Kooperationen mit geriatrischen Abteilungen und ambulanten Pflegediensten teilweise möglich sind, sind diese in der Praxis nicht immer einfach umzusetzen. Viele Pflegedienste und ihre Mitarbeiter:innen sind noch unerfahren im Umgang mit Menschen mit Suchterfahrung und Substitutionsmedikamenten, was zu Berührungsängsten führt.

    Die ambulante Pflege stellt eine wichtige Versorgungsstütze dar – vorausgesetzt, es liegt eine ärztliche Verordnung vor. Besonders relevant sind Leistungen wie die Medikamentengabe, die jedoch in der Praxis mit erheblichen Schwierigkeiten behaftet ist. Die Einnahme lebenswichtiger Medikamente muss laut Vorschrift unter Aufsicht der Pflegekräfte erfolgen, doch Zeitmangel aufseiten der Pflegedienste und geringe Kooperationsbereitschaft bei den Klient:innen machen dies oft unmöglich. Problematisch ist auch die Vergabe von Substitutionsmitteln, die viele ambulante Pflegedienste kategorisch ablehnen. Hier zeigen sich deutlich die Grenzen eines Pflegesystems, das für die Bedürfnisse suchtbelasteter Menschen unzureichend vorbereitet ist.

    Eine der häufigsten Herausforderungen sind die oft sehr plötzlichen gesundheitlichen Verschlechterungen, die zu einem vermehrten Wechsel zwischen Krankenhaus und Einrichtung führen. Kurzfristige und nicht abgesprochene Entlassungen aus dem Krankenhaus in die ambulante Versorgung erfolgen in einigen Fällen ohne Klärung der weiteren Pflege.

    Stationäre Pflegeangebote hingegen bleiben von dieser Zielgruppe oft ungenutzt – entweder, weil die Betroffenen frühzeitig versterben oder eine Vermittlung aufgrund komplexer Problemlagen scheitert. Bei Pflegegraden mit Anspruch auf haushaltsnahe Unterstützungsleistungen scheitert die Umsetzung zudem oft am allgemeinen Personalmangel in der Pflege.

    Welche strukturellen und inhaltlichen Verbesserungsbedarfe sehen Sie?
    Aus Sicht der ambulanten Suchthilfe bedarf es grundlegender struktureller Veränderungen, um die Versorgung älterer Menschen mit Suchterfahrung zu verbessern. Dazu gehören ein intensiverer Austausch zwischen Suchthilfe, Pflegeheimen und Hospizdiensten sowie der Aufbau verbindlicher Kooperationsstrukturen. Insbesondere die Substitutionsvergabe in stationären Einrichtungen ist bislang eine Versorgungslücke.

    Wünschenswert wäre außerdem die Sensibilisierung des Pflegepersonals für die besonderen Bedürfnisse älterer Menschen mit Suchterkrankungen. Substanzkonsum wird aufgrund mangelnder Erfahrung häufig nicht mitgedacht – sei es bei der unreflektierten Ausgabe alkoholischer Getränke in Altenheimen oder dem leichtfertigen Einsatz stark abhängig machender Medikamente wie Opioiden. Eine systematische, interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Suchterkrankungen im Alter in der geriatrischen Versorgung erscheint nötig.

    5 Fazit

    Eine zielgruppenorientierte Versorgung älterer Menschen mit Konsumerfahrung ist möglich – wenn bestimmte strukturelle Voraussetzungen erfüllt sind. Die TWG „Intensiv Betreutes Wohnen“ von Condrobs e.V. zeigt, wie ein solches Versorgungsangebot aussehen kann: Die Einrichtung bietet neben einem barrierefreien Wohnraum ein umfassendes Unterstützungsangebot, das körperliche, psychologische und soziale Bedürfnisse der Klientel berücksichtigt.

    Die Erfolge des Pilotprojekts wie eine hohe Platzauslastung, eine stabile Entwicklung bei einem Großteil der Klient:innen und ein unterstützendes, respektvolles Zusammenleben abstinenzorientierter und substituierter Personen illustrieren die Möglichkeiten, die sich durch eine zielgruppenorientierte Versorgung ergeben. Gleichzeitig zeigen sich Herausforderungen: Hoher Pflegebedarf, komplexe Krankheitsbilder, Mobilitätseinschränkungen und die Notwendigkeit intensiver Begleitung bringen auch erfahrene Mitarbeitende an ihre Grenzen. Insbesondere der Umgang mit medizinischer Versorgung, Medikamentenvergabe und die Kooperation mit ambulanten Pflegediensten bleiben anspruchsvolle Aufgaben – nicht zuletzt wegen bestehender Vorurteile und struktureller Hürden im Pflegesystem.

    Gesamtgesellschaftlich wird deutlich, dass ältere Menschen mit langjährigem Substanzkonsum eine wachsende, jedoch vielfach marginalisierte Zielgruppe darstellen. Hier trifft der demografische Wandel auf ein Hilfesystem, das noch zu wenig auf die besonderen Bedürfnisse dieser Gruppe eingestellt ist. Die Versorgungsrealität ist geprägt von Pflegekräftemangel, fehlender interdisziplinärer Zusammenarbeit, starker Stigmatisierung und einem Fehlen geeigneter Konzepte. Trotz steigender Fallzahlen bleibt der Zugang zu angemessener Pflege und Betreuung vielerorts erschwert – sei es durch einen Mangel an Einrichtungen und finanziellen Mitteln oder durch Ausgrenzung innerhalb der klassischen Altenhilfestrukturen.

    Für die Zukunft braucht es einen systematischen Ausbau suchtsensibler Pflegeangebote sowie tragfähige, verbindliche Kooperationsstrukturen zwischen Suchthilfe, Pflege, Medizin und Politik. Neben einer Erhöhung der personellen und finanziellen Ressourcen ist vor allem eine positive Haltung gefragt: Respekt, Offenheit und ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit und Teilhabe. Projekte wie das „Betreute Wohnen 40+“ können als Vorbild dienen – vorausgesetzt, sie werden nicht als Einzellösung, sondern als Teil einer übergeordneten Strategie verstanden. Damit die besonderen Bedarfe der Zielgruppe künftig systematisch erkannt und adressiert werden können, braucht es ein Umdenken im Hilfesystem – hin zu einer Suchthilfe, die das Alter mitdenkt.

    Kontakt:

    Christiane Hunstein
    Condrobs e.V., Betreutes Wohnen 40+
    Westerhamer Straße 11, 81671 München
    christiane.hunstein(at)condrobs.de

    Angaben zu den Autorinnen:

    Christiane Hunstein: Sozialpädagogin (Studium Soziale Arbeit B.A.), seit 2021 Mitarbeiterin im Betreuten Wohnen 40+ von Condrobs e.V., Bezugsbetreuerin im Rahmen der Soziotherapie; Achtsamkeitslehrerin, Heilpraktikerin für Psychotherapie (nach dem Heilpraktikergesetz);
    Sprachwissenschaftlerin (Studium der engl. Sprachwissenschaft), langjährige selbständige Arbeit als Übersetzerin, Redakteurin und Layouterin von Sachbüchern u. a. im Bereich Gesundheit

    Sarah Theres Schütze: Psychologin (M.Sc.), seit 2025 Mitarbeiterin im Betreuten Wohnen 40+ von Condrobs e.V., Bezugsbetreuerin im Rahmen der Soziotherapie; mehrjährige Tätigkeit als freiberufliche Texterin

    Literatur:
    • DAH Deutsche Aidshilfe (Hg.) (2023) – Edbauer, Philine; Kratz, Dirk; Schäffer, Dirk; Schmolke, Rüdiger; Luther, Antonia; Streck, Rebekka: Drogen Sprache. Eine Einladung zum Gespräch. Online verfügbar unter https://www.aidshilfe.de/de/shop/archiv/drogen-sprache-einladung-gesprach, zuletzt geprüft am 16.05.2025.
    • DHS Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (Hg.) (2019): Die Versorgung von Menschen mit Suchtproblemen in Deutschland. Analyse der Hilfen und Angebote & Zukunftsperspektiven. Update 2019. Online verfügbar unter https://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/dhs-stellungnahmen/Die_Versorgung_Suchtkranker_in_Deutschland_Update_2019.pdf, zuletzt geprüft am 16.05.2025.
    • DHS Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (2023) – Bschor, Tom; Bürkle, Stefan; Janßen, Heinz-Josef; Kemper, Ulrich; Mäder-Linke, Corinna; Rumpf, Hans-Jürgen; Streck, Rebekka; Rummel, Christina: Empfehlungen für stigmafreie Bezeichnungen im Bereich substanzbezogener und nicht-substanzbezogener Störungen. Positionspapier der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS). Online verfügbar unter https://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/2023-09-26-Positionspapier_stigmafreie_Begriffe.pdf, zuletzt geprüft am 16.05.2025.
    • DHS Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (2025): DHS Jahrbuch Sucht 2025. Lengerich: Pabst Science Publishers.
    • Gehl, Gaby (1995): Alter und Sucht. Ein aktueller Überblick zu Ursachen, Formen, Erklärungsansätzen und Prävention. 1. Aufl. Freiburg: Sozial-Verlag (Selbständig Altern).
    • Gorgas, Birgit; Gallas, Josef; Steinack, Vreni (2010): Leitlinien der Suchtpolitik der Landeshauptstadt München. Stand November 2010. München: Landeshauptstadt München, Referat für Gesundheit und Umwelt.
    • Krebs, Marcel; Mäder, Roger; Mezzera, Tanya (2021): Soziale Arbeit und Sucht. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.
    • Schmid, Martin; Vogt, Irmgard; Arendt, Ines; Follmann-Muth, Klaudia (2024): Case Management mit älteren Opioidabhängigen. In: SUCHT 70 (1), S. 31–44. DOI: 10.1024/0939-5911/a000845.
    • Vogt, Irmgard; Schmid, Martin (2020): Sucht im Alter. In: Geriatrie up2date 2 (04), S. 323–336. DOI: 10.1055/a-1230-5811.
  • Gewalt in der Suchthilfe

    Gewalt in der Suchthilfe

    Dr. Elke Alsago
    Prof. Dr. Nikolaus Meyer

    1. Suchthilfe: Eine Einführung ins Arbeitsfeld aus Sicht Sozialer Arbeit

    Die Suchthilfe ist ein eigenständiges, zugleich hochdifferenziertes Handlungsfeld der Sozialen Arbeit (Kempster 2021), das eng mit weiteren sozial- und gesundheitspolitischen Systemen verknüpft ist (Hansjürgens 2016; Hansjürgens et al. 2025). Charakteristisch ist die Einbindung von Angeboten der Suchthilfe direkt wie indirekt in unterschiedliche Sozialgesetzbücher (SGB II, III, V, VI, VIII, IX, XII), was sowohl Zuständigkeiten als auch Handlungskonzepte prägt (Pauly 2024; Abstein 2012). Daraus ergibt sich ein multiprofessionelles Feld, in dem verschiedene Berufsgruppen in differenzierten Zuständigkeiten agieren (Deimel & Hornig 2024).

    Die ambulante Suchthilfe wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vorrangig durch Fachkräfte der Sozialen Arbeit professionalisiert (Helas 1997). Sie ist meist Teil kommunaler Daseinsvorsorge und folgt damit einer sozialarbeiterischen Logik. Demgegenüber ist die stationäre Suchthilfe im Gesundheitssektor verortet, dominiert von medizinischen Berufsgruppen und durch Regelungen der Renten- und Krankenversicherung (SGB V, VI) strukturiert (Deimel & Hornig 2024; Hansjürgens 2016).

    Das ambulante Hilfespektrum reicht von niederschwelligen Kontaktläden und Drogenkonsumräumen über psychosoziale Beratungsstellen – die mit rund 1.500 Einrichtungen den Hauptanteil ausmachen (Deimel & Hornig 2024, S. 20) – bis hin zu betreutem Wohnen und Nachsorgeprojekten. Die ambulanten Einrichtungen sind die erste Anlaufstelle für Betroffene und Angehörige, sie bieten Motivationsklärung, Beratung und Vermittlung in weiterführende Hilfen. Fachkräfte übernehmen hier Einzelfallhilfe, Netzwerkarbeit, Arbeit im Gemeinwesen und in der Prävention (Hansjürgens 2015; Laging 2023). Die stationäre Suchthilfe umfasst qualifizierte Entzugsbehandlungen, Rehabilitation und sozialtherapeutische Wohnangebote. Zwar werden die beiden erstgenannten Leistungen primär medizinisch verantwortet, zunehmend wirken jedoch Sozialarbeiter:innen bei Reintegration, Krisenintervention und Nachsorge mit (Hansjürgens 2015; Hansjürgens 2016).

    Die Trägerlandschaft ist vielfältig: Neben kommunalen Einrichtungen dominieren freie Träger, insbesondere Wohlfahrtsverbände (Abstein 2012). Die Finanzierung erfolgt je nach Angebot über kommunale Mittel, gesetzliche Renten- und Krankenversicherung, Eingliederungshilfe, Landesmittel oder projektbezogene Förderungen. Diese Strukturvielfalt bringt zugleich erhebliche Steuerungsprobleme mit sich, insbesondere bei Übergängen zwischen Hilfeformen.

    Trotz multiprofessioneller Ausrichtung kommt Fachkräften der Sozialen Arbeit eine zentrale Rolle zu. In ambulanten Suchthilfe-Einrichtungen machen sie mit 63,5 Prozent die größte akademische Berufsgruppe aus, während der Anteil an Psycholog:innen (8,3 Prozent) und Ärzt:innen (2,3 Prozent) deutlich geringer ist (Deimel & Hornig 2024, S. 20). Ihre Aufgaben umfassen die Bearbeitung sozialer Problemlagen, Fallsteuerung, Beziehungsgestaltung, sozialrechtliche Beratung und Netzwerkarbeit (Laging 2023). Insbesondere bei vulnerablen Gruppen (z. B. wohnungslose, migrantische oder psychisch erkrankte Personen) sind sie zentral, um Teilhabe zu ermöglichen (Hansjürgens 2016).

    Das Arbeitsfeld Suchthilfe ist nicht nur komplex, sondern auch fragmentiert (Deimel, Moesgen & Schecke 2024): Die Vielfalt an Sozialgesetzbüchern führt zu Überschneidungen, Leerstellen und Zuständigkeitskonflikten, etwa bei jugendlichen Konsument:innen oder Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus. Für Fachkräfte bedeutet das, auch zwischen Systemen zu agieren (Abstein 2012).

    2. Suchthilfe und verletzendes Verhalten

    Gewaltphänomene im Kontext Suchthilfe werden bisher primär bezogen auf das Verhalten von Klient:innen thematisiert (Laging 2023; Sommerfeld 2021). Eine systematische Differenzierung des Auftretens von Gewalt bleibt in vielen Beiträgen jedoch aus (Hornig 2023; Klein 2022; Vogt 2022; DHS 2021). Hier werden entweder einzelne Gewaltformen untersucht oder nur solche, die innerhalb einer spezifischen Gruppe oder zwischen zwei spezifischen Gruppen auftreten. Diese vorliegende Studie greift diese Forschungslücke auf und untersucht anhand einer bundesweiten Online-Befragung, wie häufig Beschäftigte in der Sozialen Arbeit – darunter auch in der Suchthilfe – mit Gewalt konfrontiert sind, wie sie diese bewerten und welche strukturellen Bedingungen verletzendes Verhalten begünstigen (Meyer & Alsago 2025a–e).

    Zur systematischen Erhebung wurden fünf Gewaltformen im Fragebogen definiert und mit Beispielen versehen (Bundschuh 2023):

    • Sexualisierte Gewalt: Dies sind schwerwiegende, nicht einvernehmliche Handlungen wie das Zeigen von Pornografie gegenüber Kindern, das Erzwingen sexueller Handlungen an sich selbst oder Dritten, exhibitionistische Handlungen, ungewollte Berührungen oder Penetration gegen den Willen der Betroffenen (ebd., S. 28).
    • Sexuelle Übergriffe: Dies sind gezielte, grenzüberschreitende Handlungen mit sexuellem Bezug, darunter anzügliche Bemerkungen, Witze über den Körper, unerwünschte Berührungen an Brust, Gesäß oder Genitalien sowie das Aufdrängen von Gesprächen über Sexualität (ebd., S. 30f.).
    • Sexuelle Grenzverletzungen: Diese umfassen unbeabsichtigte oder unangemessene Handlungen, die die Intimsphäre der Betroffenen verletzen (ebd., S. 28f.).
    • Physische Gewalt: Diese Gewaltform beinhaltet beispielhaft Schubsen, Ohrfeigen, Schlagen, hartes Anpacken oder das Werfen von Gegenständen (ebd., S. 26).
    • Psychische Gewalt: Sie umfasst Verhaltensweisen wie das absichtliche Ignorieren von Fragen, das Unterbinden sozialer Kontakte, soziale Isolation, aggressives Anbrüllen, Beschimpfungen, Drohungen oder anhaltendes Schweigen (ebd., S. 27).

    In der Online-Befragung wurden die verschiedenen Gewaltformen vorgestellt und mit Beispielen versehen. Die Befragung fand vom 18.09. bis 23.10.2024 statt und wurde von 6.383 Beschäftigten aus verschiedenen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit beantwortet. Im Fokus standen Gewalterfahrungen der letzten zwölf Monate in der eigenen Einrichtung sowie das berufliche Alltagserleben. Nach der Bereinigung des Datensatzes – etwa durch den Ausschluss unvollständiger oder doppelter Fragebögen sowie von Personen mit weniger als einem Jahr Berufstätigkeit in der Einrichtung – blieben 3.234 auswertbare Fragebögen. Diese wiederum konnten durch die Angabe des Arbeitsfeldes nach diesen geclustert werden. Die Auswertung für die Suchthilfe basiert auf Angaben von 103 Beschäftigten. Trotz der geringen Größe der Stichprobe ist die Teilnehmendenzahl für den explorativen Charakter der Untersuchung zunächst ausreichend. Die Auswertung erfolgte mittels deskriptivstatistischer Verfahren.

    Innerhalb der Suchthilfe-Gruppe verfügen 69,5 Prozent der Befragten über mehr als sechs Jahre Berufserfahrung; 65,2 Prozent arbeiten in Teilzeit, 95,7 Prozent sind unbefristet angestellt. Die Befragten sind zu 86,4 Prozent weiblich. Bezüglich der Trägerschaft arbeiten 33,3 Prozent der Befragten bei freigemeinnützigen Trägern, ebenso viele bei kirchlichen Trägern, 23,8 Prozent sind bei öffentlichen, 9,5 Prozent bei privatwirtschaftlichen Anbietern beschäftigt. Die überwiegende Mehrheit (87 Prozent) arbeitet in ambulanten, 8,7 Prozent in stationären und 4,3 Prozent in teilstationären Einrichtungen. 78,3 Prozent der Befragten sind Sozialarbeiter:innen, gefolgt von Erziehungswissenschaftler:innen (8,7 Prozent) und Heilerziehungspfleger:innen (4,3 Prozent). Die größte Altersgruppe stellen mit 39,1 Prozent die 25- bis 34-Jährigen dar, während die 45- bis 54-Jährigen mit 8,7 Prozent die kleinste Gruppe bilden. Ob diese Verteilung der tatsächlichen Altersstruktur im Arbeitsfeld entspricht, lässt sich mangels amtlicher Daten – wie auch in anderen Bereichen der Sozialen Arbeit – nicht abschließend klären (Meyer 2024).

    3. Gewalt in der Suchthilfe

    Bei den Angaben der Beschäftigten zur erlebten Gewalt in der eigenen Einrichtung während der letzten zwölf Monate zeigen auch die Beschäftigten aus der Suchthilfe, dass gewaltförmige Konstellationen im Alltag vorkommen.

    Abbildung 1: Gewalterfahrungen der Beschäftigten mit Schwerpunkt in der Sozialen Arbeit der Suchthilfe in den vergangenen zwölf Monaten (Angaben in Prozent, eigene Darstellung)

    Abbildung 1 verdeutlicht, dass insbesondere zwischen den Klient:innen alle Formen von Gewalt häufig auftreten, wobei psychische Gewalt mit 91,3 Prozent und physische Gewalt mit 56,5 Prozent besonders häufig genannt werden. Auch verletzendes Verhalten von Klient:innen gegenüber Beschäftigten wird häufig berichtet. Hier zeigt sich die gleiche Verteilung: Am häufigsten tritt psychische Gewalt auf (87 Prozent), gefolgt von physischen Übergriffen (45,5 Prozent) sowie sexuellen Grenzverletzungen (45,5 Prozent). Auch hier zeigt sich – ähnlich wie beim verletzenden Verhalten unter Klient:innen (sexuelle Grenzverletzungen 33,3 Prozent, sexuelle Übergriffe 31,6 Prozent und sexualisierte Gewalt 21,1 Prozent) –, dass sexuelle Gewaltformen keineswegs selten sind: 45,5 Prozent der befragten Beschäftigten berichten von sexuellen Grenzverletzungen durch Klient:innen, 13,6 Prozent von sexuellen Übergriffen und 4,5 Prozent von sexualisierter Gewalt.

    Auffällig sind Unterschiede zwischen den Settings: Psychische und physische Gewalt unter Klient:innen treten besonders häufig in teilstationären Einrichtungen auf. Sexualisierte Gewalt wird hingegen am häufigsten aus stationären Einrichtungen gemeldet – sowohl unter Nutzer:innen als auch in der Beziehung zwischen Nutzer:innen und Beschäftigten. Auch Gewalt durch Nutzer:innen gegen Fachkräfte sowie Gewalt durch Fachkräfte gegenüber Nutzer:innen zeigt sich stärker in stationären Kontexten. Zwischen Trägerarten (kirchlich, frei, öffentlich) ergaben sich hingegen keine signifikanten Unterschiede.

    Ein Vergleich mit der Gesamtstichprobe der Sozialen Arbeit (n = 6.380) macht deutlich, dass die Suchthilfe besonders stark belastet ist. Während im Gesamtdatensatz 80,5 Prozent der Befragten psychische Gewalt durch Nutzer:innen gegenüber Beschäftigten angaben, waren es in der Suchthilfe 87 Prozent. Im Verhältnis zur gesamten Sozialen Arbeit geringer waren dagegen die Angaben zu physischer Gewalt unter Klient:innen (66,1 Prozent vs. 56,5 Prozent).

    4. Gewalt, Belastungen und institutionelle Kontexte – Zusammenhänge und Wechselwirkungen

    Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung machen deutlich, dass gewaltförmige Dynamiken auch in der Suchthilfe eine reale und verbreitete Herausforderung darstellen. Eine vertiefende Auswertung der erhobenen Daten zeigt signifikante statistische Zusammenhänge auf mittlerem Korrelationsniveau zwischen gewaltbezogenen Erfahrungen und verschiedenen Aspekten der Arbeitsbedingungen. Besonders deutlich wird der Zusammenhang zwischen Gewalt (psychische und physische Gewalt sowohl unter Klient:innen als auch durch diese Gruppe gegenüber Beschäftigten) und Faktoren wie Arbeitsüberlastung, unzureichende Beteiligung, fehlende fachliche Rückendeckung sowie strukturelle Defizite im Arbeitsumfeld.

    Psychische Gewalt durch Klient:innen tritt gehäuft dort auf, wo Beschäftigte regelmäßig unbezahlte Mehrarbeit leisten und Arbeitsbedingungen als belastend empfunden werden. In solchen Einrichtungen sind oftmals auch die räumlichen Rahmenbedingungen unzureichend, der Arbeitsalltag ist durch hohen Zeitdruck geprägt (95,9 Prozent) und das Erleben von Ohnmacht und fehlender Wirksamkeit in der eigenen Tätigkeit ist weitverbreitet. 95,7 Prozent der Befragten geben an, sich regelmäßig an der Grenze ihrer Belastbarkeit zu bewegen, während 87 Prozent berichten, dass sie ihre professionellen Standards nicht in vollem Umfang aufrechterhalten können – vielfach (45,5 Prozent) könnte dies durch ein bis zwei zusätzliche Fachkräfte vermieden werden.

    Gewalt und mangelnde Beteiligungsstrukturen

    Ein besonders prägnanter Zusammenhang zeigt sich zwischen dem Erleben von Gewalt und mangelnden Beteiligungsstrukturen: Dort, wo Klient:innen kaum oder gar nicht in Entscheidungsprozesse einbezogen werden (laut 94,1 Prozent der Befragten findet dies nicht statt) und wo Beschäftigte über relevante Veränderungen am Arbeitsplatz nur selten informiert werden (60,9 Prozent), sind psychische, physische und sexualisierte Übergriffe durch Klient:innen signifikant häufiger. Zugleich ist das Kommunikationsklima angespannt: Nur 45,4 Prozent der Beschäftigten geben an, offen über Probleme sprechen zu können, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen.

    Auch innerhalb von Teams, in denen es in den letzten zwölf Monaten verstärkt zu Konflikten mit Klient:innen oder häufigen Beschwerden gegen Mitarbeitende kam (45,5 Prozent), wird psychische Gewalt durch Klient:innen überdurchschnittlich häufig berichtet. Auffällig ist zudem, dass in nur 39,1 Prozent dieser Fälle eine systematische Aufarbeitung im Team erfolgt – ein Indikator für fehlende institutionelle Reflexionsräume.

    Die hohe Belastung spiegelt sich auch in einer auffälligen Personalfluktuation: Durchschnittlich bestand ein Team aus vier Personen, von denen zwei innerhalb eines Jahres die Einrichtung verlassen haben. Lediglich 30,4 Prozent der Teams blieben personell stabil. 30,3 Prozent der Beschäftigten beabsichtigen einen Arbeitsplatzwechsel, 4,3 Prozent zogen sogar einen vollständigen Berufsausstieg in Erwägung.

    Sexualisierte Gewaltphänomene lassen sich ebenfalls in Zusammenhang mit bestimmten institutionellen Rahmenbedingungen bringen. So treten sexuelle Grenzverletzungen durch Klient:innen besonders häufig dort auf, wo Nachtarbeit gefordert ist, wo Fachkräfte auch außerhalb ihrer Arbeitszeit erreichbar sein müssen (52,2 Prozent) und wo es an regelmäßiger Supervision oder externer Beratung mangelt. Auch eine fehlende Unterstützung durch Vorgesetzte erhöht das Risiko: In Einrichtungen, in denen respektloses Verhalten durch Führungskräfte berichtet wird oder die Anerkennung für die geleistete Arbeit ausbleibt, steigt die Wahrscheinlichkeit sexualisierter Gewalt gegen Beschäftigte signifikant.

    Darüber hinaus zeigen die Daten, dass auch Gewalt durch Fachkräfte gegenüber Klient:innen kein randständiges Phänomen darstellt. Insbesondere in Einrichtungen mit strukturellen Mängeln – etwa fehlenden Mitbestimmungsmöglichkeiten bei methodischen Entscheidungen, geringem Zugang zu Fortbildungen, fehlender Supervision, geringer kollegialer Unterstützung und intransparenten Leitungsentscheidungen – häufen sich Berichte über psychische oder sexualisierte Gewalt durch Beschäftigte. Diese Befunde deuten auf wechselseitige Dynamiken hin, strukturelle Defizite können sich in beide Richtungen der Interaktion gewaltsam entladen – ein Hinweis auf ein institutionell dysfunktionales System.

    Besonders verdichtet treten Gewaltphänomene – etwa sexuelle Übergriffe oder sexualisierte Gewalt zwischen Klient:innen – dort auf, wo schlechte Arbeitsbedingungen, Nachtarbeit sowie belastende Umweltfaktoren den Alltag bestimmen. Auch strukturelle Unklarheiten wie unzureichend geklärte Zuständigkeiten, das Fehlen von Rückzugsräumen (nur 5,8 Prozent der Einrichtungen bieten diese für Klient:innen, nur 4,3 Prozent für Beschäftigte) und ein Mangel an Risikoanalysen der Räumlichkeiten (nur in 15,3 Prozent der Schutzkonzepte enthalten) verschärfen die Gefährdungslage.

    Gewalt innerhalb des Teams

    Ein besonders bemerkenswerter Befund der vorliegenden Studie ist der hohe Anteil an Beschäftigten, die von Gewalt innerhalb des Teams, also zwischen Kolleg:innen, berichten. Mehr als jede zweite befragte Person (62,2 Prozent) gibt an, psychische Gewalt durch Kolleg:innen erlebt zu haben, weitere 15,2 Prozent berichten von sexualisierten Grenzverletzungen innerhalb des Teams. Diese Zahlen sind nicht nur auffällig, sondern auch professionspolitisch von Relevanz: Gewalt in der Arbeitsbeziehung zwischen Beschäftigten ist bislang kaum systematisch untersucht worden – weder in der Suchthilfe noch in der Sozialen Arbeit insgesamt.

    Dabei handelt es sich keineswegs um ein exklusives Phänomen der Sozialen Arbeit: Auch in anderen Bereichen wird deutlich, dass betriebsinterne Gewalt – insbesondere psychische Übergriffe – eine unterschätzte, oft tabuisierte Belastung darstellt. Laut Arbeitsunfallstatistik der DGUV werden etwa 30 Prozent der gemeldeten Gewaltunfälle durch betriebsinterne Personen verursacht, wobei davon ausgegangen werden muss, dass die tatsächliche Zahl deutlich höher liegt (DGUV 2023, S. 89; iwd 2021). Gerade Fälle von Mobbing, systematischer Ausgrenzung oder psychischem Druck bleiben häufig unsichtbar, weil sie nicht als meldepflichtige Unfälle erfasst oder von den Betroffenen aus Angst vor Repressalien nicht zur Anzeige gebracht werden (ebd.).

    Fachveröffentlichungen zeigen zudem, dass Gewalt zwischen Kolleg:innen häufig dort auftritt, wo Strukturen der Überforderung, Hierarchie und mangelnden Kommunikation vorherrschen. Wenn Rückhalt durch Leitung fehlt, Konflikte nicht bearbeitet und psychisch belastende Situationen nicht ausreichend reflektiert werden, entsteht ein Klima, in dem Eskalationen wahrscheinlicher werden (Paefgen-Laß 2021). Dies deckt sich mit den vorliegenden Befunden: In Einrichtungen mit angespanntem Kommunikationsklima, fehlender Supervision und geringem Vertrauen in die Leitung berichten Beschäftigte signifikant häufiger von psychischer Gewalt durch Kolleg:innen.

    Schutzkonzepte bekannt machen und umsetzen

    Aus den Daten lassen sich zusammenfassend klare Muster ableiten: Gewalt tritt besonders häufig dort auf, wo strukturelle Unterstützung fehlt, Partizipation unterbleibt, institutionelle Schutzsysteme nicht greifen und die personelle Ausstattung unzureichend ist. Zwar existieren in vielen Einrichtungen formal Schutzkonzepte, jedoch sind diese nur 52,2 Prozent der befragten Personen bekannt. Präventive Maßnahmen sind lediglich in 14 Prozent der Konzepte verankert, konkrete Interventionsstrategien finden sich in 13 Prozent. Systematische Risikoanalysen – bezogen auf räumliche Gegebenheiten sowie auf Interaktionen zwischen Klient:innen und Fachkräften – sind nur in 11,7 Prozent der Schutzkonzepte enthalten.

    Die Suchthilfe hebt sich von anderen Arbeitsfeldern ab, da sie Schutzkonzepten eine vergleichsweise hohe Bedeutung beimisst. Jedoch zeigt sich, dass Risikoanalysen zu zwischenmenschlichen Gefährdungslagen trotz hoher Prävalenz verletzenden Verhaltens nur selten vorgenommen werden (9,2 Prozent). Auch bleibt die praktische Umsetzung häufig unkonkret, was die Wirksamkeit dieser Konzepte erheblich einschränkt.

    Insgesamt wird deutlich: Gewalt stellt in der Suchthilfe kein individuelles, sondern ein strukturell verankertes Risiko dar. Ihre wirksame Reduktion erfordert daher tiefgreifende Reformen bei der Arbeitsorganisation, der Ausstattung mit personellen Ressourcen sowie der Trägerkultur.

    5. Fazit und Ausblick: Gewalt als strukturelle Herausforderung der Suchthilfe

    Die Daten machen deutlich, dass gewaltförmige Konstellationen in der Suchthilfe nicht nur punktuell auftreten, sondern mit hoher Regelmäßigkeit und unter bestimmten strukturellen Bedingungen gehäuft vorkommen. Die Suchthilfe stellt ein besonders vulnerables Handlungsfeld dar – nicht zuletzt aufgrund der häufigen Nähe zu akuten Krisen, zur existenziellen Not ihrer Nutzer:innen und zu enthemmenden Wirkungen psychotroper Substanzen. Hinzu kommen prekäre Arbeitsbedingungen, fragmentierte Finanzierungslogiken und institutionelle Unklarheiten in Zuständigkeit und Steuerung. Die Kombination aus diesen Faktoren schafft ein Spannungsfeld, in dem Fachkräfte mit komplexen Herausforderungen konfrontiert sind, jedoch gleichzeitig selten über ausreichende strukturelle Rückendeckung verfügen. Gewalt tritt besonders häufig dort auf, wo Personal fehlt, Partizipation eingeschränkt ist, Leitungskulturen autoritär oder konfliktmeidend sind und Schutzkonzepte nicht greifen oder unbekannt sind.

    Der Vergleich mit anderen Feldern Sozialer Arbeit bestätigt diese strukturelle Lesart: Auch in der Wohnungslosenhilfe berichten Beschäftigte von einer hohen Quote von verletzendem Verhalten (Meyer & Alsago 2025e). Doch die Daten zeigen zugleich arbeitsfeldspezifische Unterschiede. So ist das Ausmaß sexualisierter Gewalt in der Wohnungslosenhilfe noch deutlich höher.

    Gewalt ist in der Suchthilfe kein Ausnahmefall, sondern Ausdruck eines Systems, das unter struktureller Dauerbelastung steht. Für Praxis und Träger ergibt sich daraus ein klarer Handlungsauftrag: Um Klient:innen und Beschäftigte zu schützen und damit den Grundstein für gelingende Arbeitsbeziehungen zu legen, wird eine grundlegende Neuausrichtung der Rahmenbedingungen der Suchthilfe benötigt. Dazu gehören verbindliche Schutzstandards, ausreichende Personalausstattung, regelmäßige Supervision, niedrigschwellige Beschwerdestrukturen und vor allem eine Trägerkultur, die Gewalt als systemisches Problem anerkennt und aktiv bearbeitet. Die Stärkung von Beteiligung – sowohl der Nutzer:innen als auch der Beschäftigten – ist dabei ebenso zentral wie eine bessere Verzahnung von Schutz- und Unterstützungssystemen.

    Auch die verantwortlichen Politiker:innen sind gefordert. Die derzeitige Unterfinanzierung sowie die projektbasierte Struktur vieler Angebote in der Suchthilfe behindern nachhaltige Qualitätsentwicklung und erhöhen die strukturelle Verwundbarkeit des Systems. Eine auskömmliche, verlässliche und an Schutzstandards geknüpfte Finanzierung ist unerlässlich, wenn die Suchthilfe wirksam schützen und begleiten soll.

    Zur Weiterentwicklung und Reflexion des Systems ist weitergehende Forschung notwendig: Die hier vorgestellten Befunde eröffnen wichtige Einblicke, werfen aber zugleich neue Fragen auf. Künftige Studien sollten vertiefend analysieren, wie sich Gewalt in unterschiedlichen Teilbereichen der Suchthilfe zeigt, welche Rolle Leitung, Geschlecht oder biografische Vorerfahrungen spielen – und wie Schutzmechanismen konkret gestaltet sein müssen, um wirksam zu sein. Insbesondere die Perspektiven der Nutzer:innen und ihre Erfahrungen mit Macht, Grenzziehung und Sicherheit in Einrichtungen der Suchthilfe sind bislang weitgehend unerforscht.

    Weitere Informationen sowie Analysen aus anderen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit können hier aufgerufen werden: https://avasa.verdi.de

    Angaben zu den Autor:innen und Kontakt:

    Prof. Dr. Nikolaus Meyer ist Professor für „Profession und Professionalisierung Sozialer Arbeit“ an der Hochschule Fulda. Kontakt: nikolaus.meyer(at)sw.hs-fulda.de

    Dr. Elke Alsago ist Bundesfachgruppenleiterin Erziehung, Bildung und Soziale Arbeit bei ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft. Kontakt: elke.alsago(at)verdi.de

    Literatur
    • Abstein, H. J. (2012). Suchthilfe − ein klassisches Handlungsfeld der Sozialarbeit. In S. Gastiger & H. J. Abstein (Hrsg.), Methoden der Sozialarbeit in unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Suchthilfe (S. 7–18). Freiburg: Lambertus.
    • Bundschuh, C. (2023). Gewaltverständnisse und begriffliche Einordnungen. In C. Bundschuh & S. Glammeier (Hrsg.), Gewalt in Abhängigkeitsverhältnissen. Grundlagen und Handlungswissen für die Soziale Arbeit (Grundwissen Soziale Arbeit, Bd. 48, S. 15–35). Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
    • Deimel, D. & Hornig, L. (2024). Soziale Arbeit in der Suchthilfe. In D. Deimel, D. Moesgen & H. T. Dirks (Hrsg.), Soziale Arbeit in der Suchthilfe. Lehrbuch (utb Soziale Arbeit Suchthilfe, Bd. 6123, S. 16–43). Köln: Psychiatrie Verlag.
    • Deimel, D., Moesgen, D. & Dirks, H. T. (Hrsg.) (2024). Soziale Arbeit in der Suchthilfe. Lehrbuch (utb Soziale Arbeit Suchthilfe, Bd. 6123). Köln: Psychiatrie Verlag.
    • Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (Hrsg.). (2023). Arbeitsunfallgeschehen 2022. https://publikationen.dguv.de/widgets/pdf/download/article/4759. Zugegriffen: 20. Mai 2025.
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    • Meyer, N. & Alsago, E. (2025e). Zwischen Hilfe und Gewalt: Strukturelle Risiken und professionelle Belastungen in der Wohnungslosenhilfe. wohnungslos, im Druck.
    • Paefgen-Laß, M. (2021). Wenn unter Kollegen die Hand ausrutscht. https://www.springerprofessional.de/konfliktmanagement/gesundheitspraevention/wenn-unter-kollegen-die-hand-ausrutscht/18880346. Zugegriffen: 20. Mai 2025.
    • Pressel, H. (2024). Aggression und Gewalt am Arbeitsplatz. Entstehung, Umgang und Prävention (2. aktualisierte und überarbeitete Auflage). Freiburg: Haufe-Lexware GmbH & Co. KG.
    • Sommerfeld, P. (2021). Soziale Arbeit als massgebliche Kraft in der interprofessionellen Suchthilfe? In M. Krebs, R. Mäder & T. Mezzera (Hrsg.), Soziale Arbeit und Sucht. Eine Bestandesaufnahme aus der Praxis (S. 279–302). Wiesbaden: Springer.
    • Vogt, I. (2022). Gewalttätigkeiten in Partnerschaften – Männer und Frauen mit Suchtproblemen als Opfer und Täter/Täterinnen. Suchttherapie 23 (01), 18–24. doi:10.1055/a-1694-1938
  • ADHS in der Suchtrehabilitation

    ADHS in der Suchtrehabilitation

    Einleitung

    Dr. Ulrich Böhm
    Marcus Breuer

    Mitarbeitende in der Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen sind zunehmend mit AD(H)S als komorbider Störung konfrontiert. Aus Sicht der Rehabilitationseinrichtungen ist dieses Thema herausfordernd. Zum einen stellt das Krankheitsbild selbst eine Herausforderung dar, da die entsprechenden Symptome die Mitwirkungsfähigkeit durchaus beeinträchtigen können. Zum anderen sind die Erwartungen der Rehabilitand:innen hoch, im Zuge der Reha eine gründliche Diagnostik zu erfahren und umfassend behandelt zu werden. Hierbei stoßen die Einrichtungen häufig an die Grenzen ihrer Ressourcen. Auch eine externe Diagnostik steht meistens nicht zeitnah zur Verfügung. Außerdem besteht häufig ein Zielkonflikt: In der Suchtrehabilitation ist die Abstinenz das übergeordnete Behandlungsziel, die wirksamsten zugelassenen Medikamente gegen die ADHS bergen aber oft selbst das Risiko, abhängig zu machen. Ihr Einsatz wird unter Expert:innen unterschiedlich eingeschätzt. Die verschiedenen Herangehensweisen soll dieser Artikel deutlich machen.

    In der letztgültigen S3-Leitlinie ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (Registernummer 028 – 045, Stand 02.05.2017) steht zur Frage der Medikamentierung Folgendes: „Wenn eine medikamentöse Behandlung indiziert ist, sollen Stimulanzien (Methylphenidat, Amfetamin und Lisdexamfetamin), Atomoxetin und Guanfacin als mögliche Optionen zur Behandlung der ADHS in Betracht gezogen werden.“ (Langfassung, S. 69) Weiter ist aufgeführt: „Die medikamentöse Behandlung von Patienten mit ADHS, bei denen zusätzlich ein Substanzmissbrauch oder eine Substanzabhängigkeit besteht, sollte durch einen Spezialisten mit Kenntnissen in der Behandlung von ADHS und Sucht erfolgen.“ (Langfassung, S. 70)

    Es finden also schwierigste Abwägungsprozesse in der Behandlung statt. Auch die Team-Dynamik wird durch das Thema beeinflusst. Es tauchen Fragen auf wie: Gibt es ADHS überhaupt? Werden wir nicht von Rehabilitand:innen manipuliert, damit sie legal Suchtstoffe erhalten? Ist es überhaupt gerechtfertigt, komorbid erkrankte Rehabilitand:innen mit Stimulanzien zu behandeln, welche Wirkung hat das auf die anderen?

    Bei der Idee zu diesem Beitrag war es uns besonders wichtig, keine Spaltungsprozesse zu induzieren, insbesondere medizinischer Dienst (Pflege, Ärzt:innen) und therapeutisch tätiges Personal sollten an einem Strang ziehen. Mit gutem Beispiel voran wurde diese Einführung von einem Psychologen und einem Arzt verfasst! Mit den hier vorgestellten Berichten von Expert:innen möchten wir Ihnen ein breiteres Bild der gelebten Praxis im Umgang mit ADHS in der Suchtrehabilitation bieten.

    Wir danken allen Expert:innen, die uns Auskunft gegeben haben! Dafür haben wir einen standardisierten Fragebogen zusammengestellt. Die ausformulierten Fragen lesen Sie in den ersten beiden Beiträgen, in denen wir selbst aus unseren Einrichtungen berichten. Die folgenden Darstellungen werden durch entsprechende Stichworte gegliedert.

    Wir wünschen Ihnen eine anregende und erkenntnisreiche Lektüre!

    Marcus Breuer & Dr. Ulrich Böhm


    Deutscher Orden Ordenswerke, Würmtalklinik, Gräfelfing

    Dr. Bernward Böhle
    Marcus Breuer

    Die Fragen beantworteten:
    Marcus Breuer, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut/ Sozialmedizin, Klinikleitung und Therapeutische Leitung
    Dr. Bernward Böhle, Facharzt für Innere Medizin, Psychotherapie, Suchtmedizin, Notfallmedizin, Ärztliche Leitung

    Wie gehen Sie in Ihrer Klinik/Einrichtung bei der Behandlung von Rehabilitand:innen mit komorbider ADHS vor? Gibt es z. B. ein systematisches Procedere? Wie sieht dieses aus?

    Es gibt in unserer Klinik einen sogenannten Behandlungspfad „Komorbidität ADHS und Sucht“. Dieser steuert und systematisiert unser Procedere im Umgang mit einer möglichen ADS/ADHS. Der Behandlungspfad beinhaltet folgende Bereiche:

    a) Nach Diagnostik und Ableiten eines Schwerpunktes à modulares Vorgehen

    • Hauptproblembereich: Aufmerksamkeit und Konzentration
    • Hauptproblembereich: Hyperaktivität und Impulsivität
    • Bei Mischtypus à Kombination

    b) Psychoedukation und Störungsmodell

    c) Weitere therapierelevante Bereiche

    Welche „therapeutische Haltung“ zum Umgang mit komorbider ADHS kennzeichnet Ihre Klinik/Einrichtung? Wo liegen z. B. Ihrer Ansicht nach die besonderen Herausforderungen?

    Hier sind mehrere Aspekte zu nennen: Erstens ist die Abwägung der Schwerpunktsetzung zwischen der Behandlung der Abhängigkeitserkrankung einerseits sowie der ADS/ADHS andererseits anspruchsvoll – dies betrifft insbesondere die Psychotherapie. Auch die Dauer der Reha-Behandlung ist hierbei relevant.

    Zweitens ist der Umgang mit der häufig geringen Frustrationstoleranz, der Ungeduld sowie der Hyperaktivität der betroffenen Rehabilitand:innen für das Behandlerteam häufig besonders anstrengend. Dies gilt insbesondere, wenn in Therapiegruppen mehrere Rehabilitand:innen mit komorbider ADHS anwesend und involviert sind.

    Drittens ist die Unterscheidung zwischen Motivationsdefiziten einerseits und Schwierigkeiten in Folge der ADHS manchmal nicht ganz einfach zu treffen.

    Wie erfolgt die Diagnostik in Ihrer Klinik/Einrichtung?

    Wir orientieren uns grundsätzlich an der jeweils gültigen AWMF-Leitlinie. Bei einer fraglich vorliegenden ADS bzw. ADHS verwenden wir – im Rahmen des oben erwähnten Behandlungspfades „ADHS und Sucht“ – mehrere Diagnostik-Bestandteile:

    • die „Adult Self Report Scale“ (ASRS) als Screening-Fragebogen
    • Fremdanamnese
    • Zeugnisse (insbesondere Grundschulzeugnisse)
    • die „Hamburger ADHS-Skalen für Erwachsene“ (HASE); diese beinhalten mehrere Subtests, u. a. die WURS-K (Wender Utah Rating Scale – Kurzform)
    • DIVA – Diagnostisches Interview für ADHS bei Erwachsenen

    Findet eine Medikation bei komorbider ADHS statt? Falls ja, mit welchen Substanzen bzw. Substanzgruppen und mit welchen Substanzen/Substanzgruppen nicht? Wo sind Unterschiede je nach Indikation Alkohol- bzw. Drogenabhängigkeit?

    Ja, es findet – wenn gewünscht, sowie nach erfolgter Diagnostik – ggf. auch eine Medikation der ADHS statt, wir handeln hier ebenso wie auch bei anderen evtl. vorliegenden komorbiden psychischen Störungen. Es kommen hierbei ausschließlich Atomoxetin (Strattera) oder Antidepressiva mit einem noradrenergen Wirkmechanismus (z. B. SNRI, Venlafaxin) zur Anwendung. In unserer Klinik werden keine Methylphendidate und keine Amphetamine/Amphetaminderivate (Dexamphetamine, Lisdexamphetamine etc.) verwendet; das heißt, es gibt bei uns keine Verschreibung von BtM-Medikamenten wie Ritalin, Elvanse o. ä.

    Hintergrund für die Nicht-Verschreibung von Amphetaminderivaten ist die aus unserer Sicht deutlich zu hohe Gefahr einer Suchtverlagerung bzw. eines Missbrauchs dieser ADHS-Medikation.

    Wir unterscheiden in unserem Vorgehen hierbei nicht nach der Erstindikation Alkoholabhängigkeit vs. Drogenabhängigkeit; unser klinischer Umgang ist für beide Subgruppen gleich. Ein unterschiedlicher Umgang wäre in unserem Diagnosen-gemischten Reha-Setting auch nicht umsetzbar.

    Werden im Bereich Psychotherapie besondere Interventionen für Rehabilitand:innen mit komorbider ADHS angeboten?

    Ja, die psychotherapeutischen Interventionen beziehen sich insbesondere auf die Bereiche Aufmerksamkeit, Konzentration, Umgang mit vorhandener Hyperaktivität sowie Impulskontrolle. Neben Psychoedukation und speziellem Skilltraining im Rahmen der Einzeltherapie planen wir, zukünftig in unregelmäßigen Abständen auch ein „Kompaktmodul ADHS“ als indikatives Kleingruppenagebot für betroffene Rehabilitand:innen anzubieten.

    Gibt es darüber hinaus (oder alternativ) besondere Ansätze in den Bereichen Ergotherapie, Sport o. ä.?

    Sport ist häufig eine wesentliche Säule für das Erlernen eines funktionaleren Umgangs mit der eigenen motorischen Unruhe. Insbesondere motorisch anstrengende Aktivitäten („Auspowern“) eignen sich daher gut.

    Bei Interesse besteht in der Ergotherapie die Möglichkeit, innerhalb eines wöchentlichen Angebotes Übungen zur Verbesserung in den Bereichen Konzentration bzw. Aufmerksamkeit durchzuführen.

    Bieten Sie in Ihrer Einrichtung Fortbildungen für Mitarbeitende zum Thema ADHS an?

    Ja, in unregelmäßigen Abständen im Rahmen von teaminternen Fortbildungen.


    Therapiehilfe gGmbH, RehaCentrum Alt-Osterholz, Fachklinik für Suchterkrankungen, Bremen

    Dr. Ulrich Böhm

    Die Fragen beantwortete: Dr. Ulrich Böhm, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie/ Sozialmedizin, Ärztliche Leitung

    Wie gehen Sie in Ihrer Klinik/Einrichtung bei der Behandlung von Rehabilitand:innen mit komorbider ADHS vor? Gibt es z. B. ein systematisches Procedere? Wie sieht dieses aus?

    Im RehaCentrum Alt-Osterholz gibt es einen differenzierten Ansatz mit einem systematischen Procedere. Sollte sich aus der Anamnese und/oder dem klinischen Eindruck der Verdacht auf eine ADHS ergeben, wird dies fachärztlich untersucht und eine Diagnostik eingeleitet.

    Welche „therapeutische Haltung“ zum Umgang mit komorbider ADHS kennzeichnet Ihre Klinik/Einrichtung? Wo liegen z. B. Ihrer Ansicht nach die besonderen Herausforderungen?

    In der Einrichtung besteht eine kritisch-differenzierte Haltung ohne ideologische Scheuklappen. Die Haltung „ADHS gibt es gar nicht“ ist kaum (mehr) spürbar. Dennoch werden insbesondere Rehabilitand:innen, die eine sehr süchtige Struktur mitbringen und mehr oder weniger offensiv für einen Einsatz von Stimulanzien eintreten, dabei eigene psychotherapeutische Anstrengungen vermeiden und das Heil in der Medikation sehen, kritisch in den Blick genommen. Hier sehen wir durchaus eine große Herausforderung.

    Wie erfolgt die Diagnostik in Ihrer Klinik/Einrichtung?

    In der fachärztlichen Untersuchung geht es zunächst um die differentialdiagnostische Einordnung und ein Screening mit dafür geeigneten Testbögen. Sollte sich der Verdacht auf eine ADHS erhärten, werden weitere diagnostische Mittel eingesetzt: Anforderung alter Befunde, Vorlage von Grundschulzeugnissen, wenn möglich eine Fremdanamese. Leider besteht nicht die Möglichkeit einer ausführlichen Diagnostik, weder in der Reha-Einrichtung noch im ambulanten Umfeld. Es erfolgt eine enge Abstimmung zwischen Bezugstherapeut:in und dem fachärztlich psychiatrischen Kollegen, die für sehr wichtig erachtet wird. Insbesondere Verlaufsbeobachtungen im gruppentherapeutischen Kontext sind sehr wertvoll. Bei dringendem Verdacht empfehlen wir eine ausführliche Diagnostik und leiten diese ein, aus Termingründen finden diese Untersuchungen allerdings erst nach der Reha-Behandlung statt. Beim Einsatz von Medikamenten findet eine entsprechende (Vor)Diagnostik statt (Labor, EKG, RR-Kontrollen).

    Findet eine Medikation bei komorbider ADHS statt? Falls ja, mit welchen Substanzen bzw. Substanzgruppen und mit welchen Substanzen/Substanzgruppen nicht? Wo sind Unterschiede je nach Indikation Alkohol- bzw. Drogenabhängigkeit?

    Bei bereits fachärztlich vordiagnostizierter ADHS führen wir zunächst die Vormedikation fort, überprüfen aber auch die Diagnose während der Behandlung und setzen dann ggf. die Medikation ab, dies geschieht gar nicht so selten. Sollte sich die Diagnose klinisch bestätigen, setzen wir die Medikation (auch mit Stimulanzien) während der gesamten Behandlung fort.

    Bei nicht vordiagnostizierter Störung setzen wir bei starken klinischen Hinweisen für ADHS in einem ersten Schritt zunächst keine Stimulanzien ein. Bei Vorliegen einer begleitenden depressiven Symptomatik wird zunächst mit Bupropion behandelt, was häufig gute Effekte auch auf die ADHS bewirkt. Bei keiner komorbiden depressiven Symptomatik wird Atomoxetin eingesetzt. Sollten entweder starke Nebenwirkungen auftreten oder sich die klinische Symptomatik nicht verbessern, wird auch eine Medikation mit Stimulanzien geprüft und nach sorgfältiger Abwägung ggf. eingesetzt. Dabei wird die Indikation bei Menschen mit Alkoholabhängigkeit oder auch mit Drogenabhängigkeit ohne stimulierende Substanzen etwas großzügiger gestellt.

    Werden im Bereich Psychotherapie besondere Interventionen für Rehabilitand:innen mit komorbider ADHS angeboten?

    Jede:r Rehabilitand:in mit ADHS oder dem Verdacht auf eine ADHS erhält einen Betroffenenratgeber, und es finden verhaltenstherapeutische Interventionen statt. Es gibt allerdings keine Indikationsgruppe ADHS.

    Gibt es darüber hinaus (oder alternativ) besondere Ansätze in den Bereichen Ergotherapie, Sport o. ä.?

    Die betroffenen Rehabilitand:innen werden besonders für sporttherapeutische Angebote, insbesondere Ausdauersport, sensibilisiert.

    Bieten Sie in Ihrer Einrichtung Fortbildungen für Mitarbeitende zum Thema ADHS an?

    Es werden in der Einrichtung monatlich interne Fortbildungen angeboten. Eine Fortbildung zum Thema ADHS gab es bisher nicht, ist aber geplant.


    Netzwerk Suchthilfe gGmbH, Fachklinik Release, Ascheberg-Herbern

    Maren Ward

    Die Fragen beantwortete: Maren Ward, M.Sc. Suchttherapie, Therapeutische Leitung

    Umgang mit komorbider ADHS

    Da unsere Einrichtung auf die Behandlung von komorbiden ADHS-Erkrankungen spezialisiert ist, gibt es ein systematisches Vorgehen, sowohl für Rehabilitand:innen mit vorbestehender ADHS-Diagnose als auch für solche, die im klinischen Alltag Anzeichen für das Vorliegen eines ADHS zeigen. Bei bereits vorbestehender Diagnose werden zunächst die bereits erfolgten Behandlungsversuche eruiert. Im direkten Gespräch mit den Rehabilitand:innen erfolgt außerdem eine Sondierung des individuellen Kenntnisstandes über ADHS. Im Rahmen von 1 zu 1 Psychoedukation werden grundlegende Inhalte vermittelt und bestehende Fragen der Rehabilitand:innen beantwortet. Im Anschluss erfolgt eine Integration in die ADHS-Gruppe.

    Im Rahmen der Einzeltherapien werden die Themen der Gruppentherapie aufgegriffen und ergänzt. Ergänzende arbeits-, ergo und sporttherapeutische Bausteine runden das Behandlungskonzept ab. Während der ärztlichen Visiten werden zudem medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten besprochen und eingeleitet.

    Haltung und Herausforderungen

    Wir legen in unserer Einrichtung großen Wert auf eine wertschätzende, ressourcenorientierte Haltung unser Mitarbeiter:innen im Umgang mit unseren Rehabilitand:innen. Ein Großteil der Menschen mit ADHS hat in der bisherigen Biografie erhebliche Selbstwertkränkungen erleben müssen, die teilweise zur Entwicklung weiter psychischer Störungen beigetragen haben. Wir wollen vermitteln, dass ein veränderter Hirnstoffwechsel zunächst nur eine besondere Art zu denken und zu sein bedeutet und dass sich erst über maladaptive Bewältigungsversuche eine Störung im eigentlichen Sinne ergibt. Wir wollen Rehabilitand: innen helfen, ihre Besonderheiten wertschätzend anzunehmen, und vermitteln dies durch die entsprechende Grundhaltung in unserer Mitarbeiterschaft. Wir versuchen, die besonderen Ressourcen, die diese Menschen mitbringen, in den Vordergrund zu rücken und ihnen damit zu ermöglichen, individuelle Defizite bestmöglich auszugleichen.

    Besondere Herausforderungen ergeben sich über die häufig vorliegenden komorbiden Erkrankungen wie z. B. Depressionen oder Angststörungen und die hohe Sensibilität für Selbstwertkränkungen, die sich durch die individuellen Biografien ergeben. Auch die Integration in die Arbeitstherapie erfordert besonderes Fingerspitzengefühl und eine hohe Fachkompetenz, da Rehabilitand:innen mit ADHS durch ihre Symptomatik meist gravierende Probleme haben, sich an die Anforderungen des Arbeitsmarktes anzupassen.

    Rehabilitand:innen mit ADHS profitieren in besonderem Maße von tragfähigen Arbeitsbeziehungen zu unseren Mitarbeiter:innen. Sie benötigen immer wieder persönliche Ansprache und Motivationsarbeit, daher nimmt die Behandlung einen großen Anteil an  personellen Ressourcen in Anspruch.

    Diagnostik

    Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele Rehabilitand:innen ohne bereits vorliegende Diagnose zu uns in die Behandlung kommen. Unsere Mitarbeiter:innen sind daher auf besonders dafür sensibilisiert, ihre Verhaltensbeobachtung entsprechend zu intensivieren. Ergeben sich Hinweise durch Beobachtungen, Anamnese oder Familienanamnese, so erfolgt zunächst ein Screening. Sollte dieses Auffälligkeiten zeigen, folgt eine standardisierte testdiagnostische Phase. Wir arbeiten hierbei sowohl mit den gängigen Fragekatalogen als auch strukturierten Interviews. Um eine ausführliche Erstdiagnostik gewährleisten zu können, arbeiten wir außerdem mit Befragungen der Angehörigen und der Sichtung alter Schulzeugnisse. Die Ergebnisse werden sowohl an ärztliche als auch therapeutische Leitung weitergeleitet. Schließlich werden im Rahmen von Behandlungskonferenzen, im interdisziplinären Team, diagnostische Erkenntnisse besprochen und Behandlungsschritte eingeleitet.

    Medikation

    In vielen Fällen ist eine medikamentöse Einstellung der Rehabilitand:innen erforderlich, um es ihnen zu ermöglichen, auf therapeutischer Ebene an ihren Problemlagen arbeiten zu können. Ist dies aus medizinischer Sicht vertretbar und vom Rehabilitanden erwünscht, erfolgt die Einstellung auf Lisdexamfetamin, Methylphenidat und Atomoxetin. Dabei werden keine generellen Unterschiede zwischen Alkohol- bzw. Drogenabhängigkeit gemacht, da beide Gruppen deutlich von der Behandlung profitieren.

    Psychotherapie

    Unser auf ADHS ausgerichtetes Behandlungskonzept hat in verschiedenen Bereichen speziell angepasste Behandlungsbausteine. Im Rahmen der Psychotherapie finden sowohl im einzel- als auch im gruppentherapeutischen Setting spezifische Angebote statt. Diese beziehen sich auf psychoedukative Inhalte und auf an individuelle Bedürfnisse des Einzelnen oder der Gruppe angepasste Inhalte.

    Besondere Ansätze

    Im Rahmen der Arbeitstherapie kommt es zu individuellen Job-Coachings. Es erfolgt eine Einteilung in an die Fähigkeiten der Menschen angepasste Modelarbeitsplätze. Im Rahmen der Ergotherapie kann bei Bedarf computergestütztes Konzentrationstraining erfolgen. Im Bereich der Sporttherapie nehmen Rehabilitand:innen an angeleiteten Ausdauereinheiten teil. Rehabilitand:innen steht außerdem eine Sauna zur Verfügung, um nach Bedarf durch physikalische Reize Spannungen regulieren zu können.

    Fortbildungsangebote

    Alle Mitarbeiter:innen werden regelmäßig in internen Fortbildungen geschult. Weitere externe Fortbildungsmöglichkeiten bestehen im Bereich Diagnostik. Je nach Bedarf werden weitere Inhalte in die Fortbildungsplanung integriert. Sowohl therapeutische Leitung als auch ärztliche Leitung sind ausgebildete Selbstwerttrainer bei ADHS. In unserer Wissensdatenbank befindet sich außerdem eine große Auswahl an Fachliteratur und Arbeitsmaterialien für verschiedene Berufsgruppen.


    CRT Caritas – Reha und Teilhabe GmbH, Fachklinik Nettetal, Wallenhorst

    Dr. Elke H. Sylvester

    Die Fragen beantwortete: Dr. Elke H. Sylvester, FÄ für Psychiatrie und Psychotherapie/ Sozialmedizin, Chefärztin

    Umgang mit komorbider ADHS und Medikation

    In der Fachklinik Nettetal werden ausschließlich Männer mit der Hauptdiagnose Drogenabhängigkeit behandelt. Die Einrichtung hat 42 Plätze, davon acht in der Adaption.

    Eine ADHS wird als komorbide psychische Störung mitbehandelt. Eine bestehende Medikation mit Methylphenidat, Amfetamin und Lisdexamfetamin sowie Atomoxetin wird weitergeführt. Die Indikationsstellung wird insbesondere bei bekannter Amphetaminabhängigkeit kritisch mit dem Rehabilitanden und bei Bedarf auch im Trialog Rehabilitand, Bezugstherapeut:in, Arzt/Ärztin diskutiert. Dosisanpassungen und Absetzversuche erfolgen unter regelmäßigen Verlaufskontrollen in der ärztlichen Sprechstunde und werden in Fallbesprechungen thematisiert.

    Medikamentöse Neueinstellungen im Rahmen der Rehabilitationsbehandlung erfolgen in der Regel mit Atomoxetin.

    Die medikamentöse Therapie ist eingebettet in den Gesamtbehandlungsplan mit strukturierenden Maßnahmen im Rahmen der Arbeits- und Ergotherapie, Einzel- und Gruppentherapie, der indikativen und edukativen Gruppenangebote sowie der Sport- und Freizeitangebote u.s.w.

    Haltung und Herausforderungen

    Das Konzept der Fachklinik Nettetal sieht die Mitbehandlung weiterer komorbid bestehender psychischer Störungen vor. Es besteht die Haltung, dass eine erfolgreiche Suchtbehandlung nur gelingen kann, wenn alle diagnostizierten psychischen Störungen Berücksichtigung finden. Die besondere Herausforderung bei der ADHS-Therapie liegt aus meiner Sicht in der Akzeptanz der Therapie mit Psychostimulanzien, also Medikamenten, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen und ein eigenes Abhängigkeitspotenzial besitzen. Die kritische Diskussion insbesondere im Hinblick auf eine bestehende Amphetaminabhängigkeit erfolgt regelmäßig in Einzelfall- und Teambesprechungen.

    Diagnostik

    Die Diagnostik in der Fachklinik Nettetal umfasst die klinische Beobachtung, wenn möglich die Vorlage von Grundschulzeugnissen sowie die Durchführung der Homburger ADHS-Skalen für Erwachsene (HASE). Bei positivem Befund erfolgt die Aufklärung des Rehabilitanden über die Diagnose und die therapeutischen Möglichkeiten inklusive der medikamentösen Therapie, die aufgrund der bestehenden Abhängigkeitserkrankung – wie oben erwähnt – vorzugsweise mit Atomoxetin durchgeführt wird.

    Medikation

    Sofern bei Rehabilitanden bereits eine medikamentöse Therapie etabliert ist, wird diese weitergeführt. Dabei kommen wie o.g. Methylphenidat, Amfetamin und Lisdexamfetamin sowie Atomoxetin zur Anwendung. Mit einer medikamentösen Therapie mit Guanfacin bestehen bislang keine Erfahrungen.

    Methylphenidat, Amfetamin und Lisdexamfetamin fallen als Psychostimulanzien unter das Betäubungsmittelgesetz und haben ein eigenes Abhängigkeitspotenzial, so dass die Gabe in einem schützenden Rahmen der Suchtbehandlung der besonderen Sorgfalt bedarf. Auch sollte ein Procedere bei nicht regulärer Entlassung im Vorfeld besprochen werden, um eine unkontrollierte Einnahme bzw. einen Weiterverkauf der Medikamente möglichst zu verhindern.

    Atomoxetin wird von Patienten, die Erfahrungen mit Psychostimulanzien haben, oft als weniger wirksam empfunden.

    Psychotherapie

    Die komorbide ADHS findet Berücksichtigung in der Bezugstherapie bei der Erstellung des Störungsmodells, der Reha-Zielformulierung sowie der Prozessgestaltung. Ein besonderer Fokus wird auf die Alltagsstrukturierung gelegt. Edukative und indikative Gruppenangebote (u. a. Entspannungstraining, Achtsamkeitstraining, Training emotionaler Kompetenzen) werden nach individueller Indikation in den Rehabilitationsplan integriert.

    Besondere Ansätze

    Nach einem Screening wird in der Ergotherapie bei auffälligem Befund ein RehaCom-Training durchgeführt. Die Teilnahme an der Nordic Walking- oder Laufgruppe wird dringend empfohlen, der Zusammenhang zwischen Ausdauersport und psychischer Stabilität wird individuell erläutert.

    Fortbildungsangebote

    In Teamsitzungen werden sowohl anhand von Einzelfällen als auch in kurzen Referaten von  Mitarbeitenden Informationen zu unterschiedlichen Thematiken gegeben, z. B. komorbide psychische Störungen, aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse, neue diagnostische Verfahren, neue Medikamente.


    Drogentherapie-Zentrum Berlin gGmbH, Fachklinik LAGO am Wannsee

    Dr. Frank Puchert

    Die Fragen beantwortete: Dr. Frank Puchert, Chefarzt

    Umgang mit komorbider ADHS

    Grundsätzlich stellen wir fest, dass die mehrmonatige stationäre Behandlung unter recht sicheren abstinenten Bedingungen bei der Diagnostik und Therapie des AD(H)S nachhaltige Vorteile bietet.

    Wir wissen und stellen im Kontakt mit den Rehabilitand:innen fest, dass Aufmerksamkeitsprobleme bei Substanzabhängigen häufig sind. Nicht selten hilft reines Abwarten. Nicht nur bei Cannabisnutzern – bei denen aber besonders häufig – bildet sich das Problem zurück. Wir beobachten quasi gemeinsam mit den Rehabilitand:innen, wie sich kognitive Folgen des Konsums über die Wochen legen. Über die reine Entwöhnung hinaus bestehen keine zusätzlichen Behandlungsnotwendigkeiten bei dieser Gruppe von Betroffenen.

    Es gibt auch andere. Bei einigen lässt sich im engeren Sinne feststellen, dass der Konsum ursprünglich sogar der Versuch war, das Aufmerksamkeitsproblem zu bekämpfen. Betroffene berichten insbesondere bei dem Konsum von Stimulanzien Ungewöhnliches: sie seien darunter ruhiger geworden, sogar strukturierter. Mitunter erwähnen Rehabilitand:innen sogar Teilhabevorteile: sie seien in der Schule besser mitgekommen, hätten nur unter Konsum eine Ausbildung durchgehalten etc. Diese Personen leiden häufig in besonderer Weise unter dem Wegfall der Substanzwirkung.

    Bei dieser Gruppe von Betroffenen sowie bei denen, die klinisch als aufmerksamkeitsbeeinträchtigt auffallen, sind wir zusätzlich therapeutisch herausgefordert. Hier legen wir besonderen Wert auf fokussierende und achtsamkeitsfördernde Therapien wie Entspannungsübungen, kognitives Training, Bogenschießen etc. Sport stellt auch hier einen wichtigen Therapiebestandteil dar.

    Diagnostik

    Bei hartnäckigen und anhaltenden Problemen unternehmen wir weitere diagnostische Schritte beginnend damit, dass wir evaluieren, ob das Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsproblem anamnestisch anhaltend und früh beginnend ist. Wir streben immer fremdanamnestische Daten an in Form von Berichten Angehöriger, Zeugnissen, mitunter auch in Form von Behandlungsberichten z. B. aus kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken.

    Dies wird ergänzt durch Fragebogendiagnostik (ADHS-Selbstbeurteilungsskala von Rösler et al.), die mit dem Problem behaftet ist, dass subjektive Schilderungen (und Überzeugungen) einen großen Stellenwert haben.

    Medikation

    In der Zusammenschau stellen wir behandlungsbedürftige ADHS/ADS-Probleme fest, die aufgrund der Ausprägung und/oder des individuellen Leidensdrucks die medikamentöse Behandlung nahelegen. Leitliniengerecht empfehlen wir Atomoxetin. Dabei sind die ausreichende somatische Diagnostik und die informierte Zustimmung selbstverständlich. Da wir nicht selten beunruhigende Nebenwirkungen sahen, ist uns die Aufklärung darüber besonders wichtig. Häufiger erlebten wir urogenitale Nebenwirkungen wie spontane Ejakulationen. Auch psychische Auffälligkeiten in Form affektiver Beeinträchtigungen sind wichtig. Selten erlebten wir psychotische Symptome.

    Ein großer Teil der Rehabilitand:innen erlebt wenig Nebenwirkungen, ist zufrieden und will die Behandlung nach Entlassung fortsetzen. Dies erfordert frühzeitige Planung, um kompetente verordnende Ärztinnen und Ärzte zu finden sowie aber auch Lieferengpässe zu evaluieren.

    Bei Nichtwirksamkeit der Atomoxetinbehandlung machten wir Behandlungsversuche bspw. mit Bupropion, die uns nicht sehr überzeugt haben.

    Da wir uns entschieden haben, konsequent ohne potenziell Abhängigkeit erzeugende Medikamente zu behandeln, verzichten wir auf die Vergabe von Stimulanzien. Häufig organisieren wir die Weiterbehandlung in Praxen, wo dies dann ambulant ermöglicht werden kann.


    ADV – Rehabilitation und Integration gGmbH, Fachklinik F42, Berlin

    Martin Rüdiger

    Die Fragen beantwortete: Martin Rüdiger, Psychologischer Psychotherapeut, Therapeutische Leitung

    Umgang mit komorbider ADHS

    Wir gehen da immer individuell vor. Die meisten vermeintlichen ADHS-Diagnosen stellen sich als Selbstdiagnosen heraus und erfüllen nur selten die tatsächlichen Kriterien. Sollte sich eine tatsächliche ADHS-Diagnose abzeichnen, geht es zunächst darum, den Leidensdruck, bisherige eigene und professionelle Bewältigungsversuche, Zusammenhänge mit der Abhängigkeitserkrankung sowie Veränderungswünsche der Betroffenen zu eruieren. Danach wird dies in die jeweilige Behandlung implementiert (und eine eventuelle Weitervermittlung nach Ende der Therapie in Betracht gezogen). Zudem wird eine mögliche, der primären Abhängigkeitserkrankung angemessene, Medikation geprüft.

    Haltung und Herausforderungen

    Unserer Erfahrung nach sind die tatsächlichen Veränderungsmöglichkeiten bei dieser Diagnose eher gering, die Abgrenzung zu grundlegenden Bindungsproblemen im Sinne einer komplexen Traumafolgestörung ist schwierig. Insofern geht unsere Arbeit weniger in Richtung Symptomkontrolle, sondern fokussiert auf eine komplementäre, validierende Beziehungsgestaltung und Erkrankungs-Akzeptanz.

    Diagnostik

    Die Diagnostik erfolgt anhand der Anamnese nach Behandlungsbeginn, wenn nötig ziehen wir ein strukturiertes Interview hinzu. Meist scheitert die Diagnosestellung an den objektiven Daten (Zeugnisse etc.) aus der Kindheit.

    Medikation

    Ja, in diesem Fall verwenden wir ausschließlich Atomoxetin.

    Fortbildungsangebote

    Bei Interesse der Mitarbeitenden wird an externe Fortbildungsangebote verwiesen.


    Alida Schmidt-Stiftung, Fachkrankenhaus Hansenbarg, Hanstedt

    Die Fragen beantworteten:
    Dr. Susanne Schulze, Oberärztin
    Bertrand Evertz, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Chefarzt
    Philine Kreter, Psychologin M.sc. und Psychologische Psychotherapeutin in Ausbildung

    Umgang mit komorbider ADHS

    Seit einigen Jahren richten wir in unserer Klinik ein besonderes Augenmerk auf AD(H)S-Symptome und fragen diese bereits im psychiatrischen Aufnahmegespräch sondierend ab. Ergeben sich hierbei anamnestisch oder klinisch Hinweise auf das Vorliegen eines AD(H)S, erfolgt durch die Bezugstherapeutin / den Bezugstherapeuten die gezielte Diagnostik mittels Fragebögen und Interview unter Beachtung möglicher Differentialdiagnosen und Komorbiditäten wie z. B. Persönlichkeitsstörungen und Traumafolgestörungen. Bestätigt sich der Verdacht und lässt sich das AD(H)S als aufrechterhaltender oder erschwerender Faktor für die Abhängigkeitserkrankung identifizieren, erhält die Rehabilitandin / der Rehabilitand nach Ausschluss von Kontraindikationen das Angebot einer medikamentösen Therapie.

    Haltung und Herausforderungen

    Berufsgruppenübergreifend gibt es in unserer Klinik eine offene Haltung gegenüber der Thematik. Im Umgang mit den Rehabilitand:innen nehmen wir die Auswirkungen der Neurodivergenz auf das Verhalten, Erleben und Fühlen (auch auf die Suchtentwicklung) in den unterschiedlichen therapeutischen Bereichen wahr. Diagnostische Hinweise kommen nicht selten auch aus der Arbeits- und Physiotherapie. Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit ADHS fallen in allen Bereichen zumeist primär durch ihre motorische Unruhe und Impulsivität, andererseits aber auch durch Kreativität und Leistungsbereitschaft auf und reagieren oftmals sehr dankbar auf die Diagnosestellung und das Behandlungsangebot. Dies wirkt sich positiv auf die Beziehungsgestaltung aus und ermöglicht oft gute therapeutische Erfolge.

    Herausfordernd stellen sich zuweilen eine mit der Impulsivität einhergehende Aggressivität und Einschränkungen in der Selbststeuerung dar, die insbesondere dann limitierend für den Reha-Erfolg sind, wenn nicht frühzeitig eine adäquate (medikamentöse) Therapie begonnen werden kann.

    Diagnostik

    Bei Vorliegen anamnestischer oder klinischer Hinweise erfolgt die ADHS-Diagnostik mittels Selbstauskunftsbögen bzgl. der Kindheit und der Gegenwart, mittels eines standardisierten klinischen Interviews durch die Bezugstherapeutin / den Bezugstherapeuten und – sofern verfügbar – mittels fremdanamnestischer Einschätzungen durch Angehörige bzw. anhand von Schulzeugnissen. Ergänzend ermöglichen die Teilnahme an einem AD(H)S-Infoseminar und zur Verfügung gestellte Fach- und Selbsthilfeliteratur es den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden selbst, Stellung zu den diagnostischen Einschätzungen zu beziehen.

    Medikation

    In der Behandlung eines klinisch relevanten und für die Prognose der Sucht und anderer psychiatrischer Komorbiditäten sowie der Arbeitsfähigkeit entscheidenden AD(H)S kommen bei uns in erster Linie Methylphenidat und Lisdexamfetamin zum Einsatz. Die leitliniengemäße Behandlung mit Atomoxetin erfolgt eher selten – einerseits auf Grund der vergleichsweise geringeren Wirksamkeit bei ausgeprägtem ADHS und der etwas geringeren Akzeptanz auf Grund von Nebenwirkungen, andererseits auch auf Grund der unsteten Verfügbarkeit mit schwer kalkulierbaren Lieferengpässen.

    Kommt auf Grund somatischer oder psychiatrischer Komorbiditäten eine Behandlung mit den genannten Präparaten nicht in Frage, greifen wir im Einzelfall auf Bupropion zurück, wobei sich dieses in seiner Wirksamkeit oftmals als nicht befriedigend erweist.

    Das Risiko eines Medikamentenmissbrauchs vor dem Hintergrund der Suchterkrankung besteht und wird mit den Rehabilitandinnen und Rehabilitanden offen thematisiert. Insbesondere bei bestehender Drogenabhängigkeit muss die Medikation zuweilen im Verlauf wieder abgesetzt werden, wenn sie sich als „Trigger“ und damit Risikofaktor für einen Rückfall erweist.

    Schwierigkeiten ergeben sich zudem häufig bei der Planung der ambulanten Weiterverordnung im Anschluss an die Reha – einerseits aus krankheitstypischen Gründen: Menschen mit AD(H)S neigen dazu, Aufgaben aufzuschieben, andererseits und vor allem auf Grund der bekannten Hürden bei der Facharztsuche.

    Psychotherapie

    Aktuell wird von psychotherapeutischer Seite einmal monatlich eine interaktionelle Informationsgruppe zu AD(H)S angeboten. In den einzeltherapeutischen Gesprächen wird im Zuge der ADHS-Diagnostik auf individuelle Probleme und Lösungsmöglichkeiten eingegangen. Betroffene Rehabilitand:innen werden ermuntert, auch in gruppentherapeutischen Sitzungen die für sie nützlichen Fidgets zu nutzen. Eine indikative Gruppe zu psychotherapeutischen Interventionsmöglichkeiten und Skills im Umgang mit Konzentrationsstörungen, Impulsivität und Prokrastination ist in Planung.

    Besondere Ansätze

    Bislang sind AD(H)S-spezifische Angebote in der Bewegungs- und Ergotherapie noch nicht etabliert. Individuell wird in diesen Bereichen aber störungssensibel auf die besonderen Bedürfnisse eingegangen.

    Fortbildungsangebote

    Hausintern erfolgen Fortbildungen zu Symptomatik und Diagnostik der AD(H)S und es besteht das Angebot von Fallbesprechungen und Supervision. Die Inhalte externer Fortbildungen einzelner Mitarbeitender werden von diesen im Rahmen von Teambesprechungen präsentiert.


    Deutscher Orden Ordenswerke, Schlosspark-Klinik, Bergisch Gladbach

    Sven Bange

    Die Fragen beantwortete: Sven Bange, FA für Psychiatrie und Psychotherapie, ehem. Leitender Arzt der Schlosspark-Klinik, jetzt: Einrichtungsleitung der Schwarzbachklinik, Ratingen

    Umgang mit komorbider ADHS

    Zunächst erfolgt eine umfassende Anamneseerhebung und Standarddiagnostik, danach werden die klinischen Eindrücke aus den verschiedenen Bereichen zusammengetragen und bei Hinweisen oder Vorbefunden zum ADS/ADHS wird eine Abklärung durch ausführliche Diagnostik (HASE vs. Differentialdiagnostik) und Fremdanamnesen/Zeugnisse usw. durchgeführt. Frühestens ca. vier Wochen nach Aufnahme (keine Entzügigkeit mehr, Umstellungsprozess an die Klinikbedingungen fortgeschritten) erfolgt eine medikamentöse Einstellung, der Behandlungsplan wird entsprechend den individuellen Bedürfnissen angepasst (s. u.).

    Haltung und Herausforderungen

    ADHS wird als Erklärungsmodell eingebaut (Selbstbehandlungsversuch/biografische Einordnung) und damit auch dem Patienten zur Verfügung gestellt. Wir erstellen eine individuelle Behandlungsplanung: Was braucht dieser Patient gerade, was steht für ihn im Mittelpunkt? Oft ist die Behandlung der ADHS als hilfreicher Teil der Rückfallprophylaxe zu verstehen. Auch wenn bei uns die Behandlung der Sucht im Fokus steht, ist dies oft gar nicht so sehr voneinander zu trennen. Herausfordernd ist die medikamentöse Einstellung bei mehreren Diagnosen. Wo fängt man bei der therapeutischen Arbeit an (viele Baustellen)? Eine andere Herausforderung besteht darin, sich nicht vom Patienten „anstecken“ zu lassen und Themen-/Sensations-Hopping mitzumachen.

    Diagnostik

    • HASE (WURS-K, ADHS-SB als Screening, WRI ggf. zur Klarifizierung)
    • Ggf. Leistungsdiagnostik, z. B. d2-R
    • Vorbefunde einfordern (Vorbehandlungen, Grundschulzeugnisse), Fremdanamnese (z. B. Eltern)

    Medikation

    Unserer Erfahrung nach ist eine Medikation oft erst der Schlüssel zur gelingenden Therapieteilnahme. Durch die rasche und bessere Wirksamkeit von Medikinet adult gegenüber den oft Wochen brauchenden „Antidepressiva“ wie Strattera usw. sehen wir hier einen klaren Vorteil. Wir sehen jedoch keinen Vorteil von Elvanse gegenüber Medikinet, insbesondere durch die auch nicht mehr testbare Abgrenzung zum Meth-/Amphetamin-Konsum. Daher setzen wir Elvanse nicht mehr ein und versuchen bei derartiger Vormedikation umzustellen. Zu beachten ist natürlich der mögliche Missbrauch von Medikinet durch nasalen Konsum, Sammeln oder das „Weitergeben“ an Nicht-Betroffene. Das lässt sich durch klare Ausgabestrukturen gut regeln.

    Psychotherapie

    Je nach Patientenschaft bieten wir im Bereich Psychotherapie eine Skillsgruppe für ADHS und psychoedukative Einheiten (z. B. Medizin-Infogruppe) an. Nicht speziell für ADHS besteht ein allgemeines Angebot von anspannungssenkenden Interventionen wie Achtsamkeitstraining, Akupunktur, achtsames Dartspielen und Ausdauertraining. Zu Beginn kann es erforderlich sein, dass tägliche Kurzkontakte mit den Bezugstherapeut:innen zur Strukturierung und einer besseren Einpassung in den Alltag stattfinden. Hierdurch können auch Überforderungssituationen mit Hochanspannung und Konflikten vermieden werden.

    Besondere Ansätze

    Zu Beginn der Therapie wird ein Hirnleistungstraining durchgeführt. Treten dort besondere Defizite auf, bekommen die Patienten ein indikatives Hirnleistungstraining zur Förderung von Konzentration, Durchhaltevermögen und Aufmerksamkeit. Die Zeit wird individuell angepasst und langsam gesteigert. Auch die äußeren Umstände können variiert werden je nach Level der Ablenkbarkeit.

    In der Arbeitstherapie bekommen ADHS-Betroffene zunächst aktivere Aufgaben wie im Bereich Garten und Hof sowie der Holzwerkstatt. Im Laufe der Wochen werden sie Stück für Stück an Aufgaben herangeführt, die ein längeres Sitzen und größere Aufmerksamkeitsspannen erfordern, sowie an künstlerisch meditative Aufgaben, z. B. meditatives Malen oder Mandala. In der Arbeitstherapie wird meist allein gearbeitet, auch um Konflikte durch impulsive Handlungen zu vermeiden und Sicherheit zu vermitteln.

    In den ergotherapeutischen Bezugsgruppenstunden geht es zunächst um das Bremsen des Patienten und das Heranführen an die Bezugsgruppe. Ziel ist, Teamfähigkeit und Teamarbeit zu ermöglichen. Im Verlauf ist eine Erweiterung und Anpassung der ergotherapeutischen Ziele sehr regelmäßig erforderlich, um auf die neu erreichten Fähigkeiten aufbauen zu können.

    In der Sporttherapie ist die Ausdauer-orientierte Laufgruppe mit moderater Intensität meistens hilfreich sowie weitere achtsamkeitsbasierte Einheiten wie Körperwahrnehmungstraining, Entspannungsverfahren, achtsames Dartspielen usw. Bei fortgeschrittenen Patienten wird auch Bouldern zur Fokussierung eingesetzt. Bei Mannschaftssportarten ist insbesondere zu Beginn der Behandlung besonders auf die „explosive“ Gruppendynamik durch beteiligte ADHS-Betroffene zu achten.

    Zusätzlich wird Ohr-Akupunktur und Kurzmeditation je zweimal wöchentlich bei freiwilliger Teilnahme angeboten.

    Fortbildungsangebote

    In wiederkehrenden Zyklen oder bei neuen Mitarbeitenden erfolgen regelhaft Schulungen zu dem Thema, zur Klinikhaltung und unseren Behandlungsansätzen. Im gelebten Alltag wird, wie bei anderen begleitenden Störungsbildern auch, immer wieder am Beispiel des aktuellen Patienten in Teamsitzungen, Supervisionen, Fallkonferenzen oder im direkten Kontakt zwischen Team/Bezugstherapeut:nnen und Klinikleitung der Austausch und die gemeinsame Abstimmung des Umgangs praktiziert.


    MEDIAN Klinik Wilhelmsheim, Oppenweiler

    Dr. Martin Enke
    Prof. Dr. Tillmann Weber

    Die Fragen beantworteten:
    Prof. Dr. Tillmann Weber, ehem. Chefarzt der MEDIAN Klinik Wilhelmsheim, jetzt: Blomenburg Privatklinik Selent, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
    Dr. Martin Enke, Klinikleitung & Leitender Psychologe der MEDIAN Klinik Wilhelmsheim

    Umgang mit komorbider ADHS

    Die MEDIAN Klinik Wilhelmsheim ist eine Rehabilitationseinrichtung für Abhängigkeitserkrankungen von Alkohol, Medikamenten, Cannabis und pathologischem Glücksspiel. Zur Behandlung häufiger, mit der Abhängigkeit eng interagierender psychischer Komorbiditäten bauen wir aktuell ein spezifisches, paralleles Behandlungskonzept für ADHS, Depressionen und Traumafolgestörungen aus. ADHS hat schon seit einigen Jahren aufgrund der in der stationären Entwöhnung hohen Komorbidität von bis zu 20 Prozent einen hohen Stellenwert in der Behandlung in unserer Klinik. Alle neu aufgenommenen Patienten durchlaufen ein Screening auf ADHS. Ziel ist eine frühzeitige Diagnostik bzw. Überprüfung der Vordiagnose, um eine leitliniengerechte medikamentöse und psychotherapeutische Mitbehandlung schon während der Suchtreha zu gewährleisten. Diese ist strukturell und inhaltlich ergänzend zur Abhängigkeitsbehandlung aufgebaut. Die parallele, aber in den Gesamtbehandlungsplan integrierte Behandlung ermöglicht eine gleichwertige Therapie zur Abhängigkeitserkrankung durch separates Fachpersonal.

    Haltung und Herausforderungen

    Erwachsene mit ADHS können unter einer Vielzahl von Einschränkungen leiden, die sich noch aus der kindlichen Entwicklungsstörung, aus nicht selten fehlangepassten Alltagskompensationen und aus den neurobiologisch gegebenen Defiziten der ADHS selbst ergeben. In den Biographien unserer Patienten sehen wir einen oft dysfunktionalen, aufrechterhaltenden Umgang mit diesen Einschränkungen oder eine mangelnde Behandlung der Einschränkungen. Dafür sehen wir aber teilweise frühe Versuche, sich mit dem Konsumieren von Substanzen selbst zu helfen. Im Ergebnis sind ADHS und Abhängigkeit(en) eng verwobene Krankheiten, die ein komplexeres Vorgehen benötigen.

    Als Klinik ist es unser Anspruch, beide Erkrankungen parallel, aber auch deren komplexe Zusammenhänge integrativ zu behandeln. Es entspricht nicht unserer Haltung, lediglich die Abhängigkeit zu extrahieren und die Behandlung der ADHS auf nachfolgende Angebote zu verschieben. Dieses Vorgehen würde höhere Rückfälle und unzureichende Therapien verursachen. Die Herausforderung unseres ganzheitlichen Behandlungsansatzes ist es, die komplexere Symptomatik in der gegebenen Reha-Zeit auch (an)behandeln zu können. Dafür steigern wir in Absprache mit der Rentenversicherung personelle Ressourcen, mit denen eine parallele Diagnostik, psychiatrische Behandlung und psychotherapeutische Einzel- und Gruppentherapie erfolgt.

    Diagnostik

    Innerhalb der ersten ein bis zwei Wochen nach Aufnahme durchlaufen alle Patienten ein Screening auf ADHS mit einer hohen Sensitivität. Das ist wichtig, da ADHS in vielen Fällen sonst unterdiagnostiziert bliebe, da die Betroffenen nachvollziehbar oft wenig Einsicht in die lebenslang begleitende Symptomatik haben. Bei positivem Screening erfolgt eine detailliertere klinische Befragung und psychometrische Diagnostik durch Fachpersonal. Grundlage ist der Nachweis der ADHS in der Kindheit. Meistens müssen wir diese durch anamnestische Erhebungen, Zeugnisse und Fremdbeurteilungen nachträglich feststellen. Die aktuelle Symptomatik muss durch psychometrische Selbst- und Fremdbeurteilungen sowie klinische Interviews bestätigt werden. Aufgrund der häufigen Komorbiditäten und Symptomüberschneidungen wird die endgültige Diagnose in interdisziplinärer Beurteilung von Psychotherapeuten und Psychiatern festgelegt. In einem etwas vereinfachteren Vorgehen überprüfen wir auch Vordiagnosen.

    Medikation

    Grundsätzlich klären wir alle Patienten mit einer ADHS über die psychopharmakologischen Behandlungsoptionen auf und sprechen dann individuelle Empfehlungen aus. Unser medikamentöses Behandlungsspektrum umfasst die in Deutschland zugelassenen Methylphenidate mit verzögerter Wirkstofffreisetzung (Medikinet adult®, Ritalin adult®), Lisdexamphetamin (Elvanse adult®) und Atomoxetin (Strattera®). Selten können unter bestimmten Voraussetzungen auch sog. Off-Label-Medikamente (Bupropion (Elontril®) oder Guanfacin (Intuniv®)) verordnet werden. Eine relative Kontraindikation für Stimulanzien besteht bei Patienten, bei denen ein Stimulanzienmissbrauch oder Weiterverkauf wahrscheinlicher ist, was bei Patienten aus dem Drogenmilieu (z. B. Dealen, Beschaffungskriminalität) häufiger zutrifft.

    Psychotherapie

    Patienten mit ADHS nehmen an einer geschlossenen Gruppentherapie über 15 Sitzungen teil, die während des stationären Aufenthaltes parallel zur Suchttherapie stattfindet. In dieser Gruppentherapie werden neben psychoedukativen Elementen die Introspektionsfähigkeit für die Symptomatik und Anspannung/Nervosität erhöht, Handlungskompetenzen erweitert und Selbstmanagementstrategien für Impulsivität aufgebaut. Es werden Zukunftsperspektiven mit ressourcenorientierten Ansätzen vertieft sowie Fähigkeiten zur Selbstorganisation verbessert. Zum Erreichen der verbesserten Handlungskompetenzen werden derzeit Möglichkeiten zu Einzeltherapiesitzungen aufgebaut, um aufrechterhaltende Faktoren individuell zu behandeln. Eine psychotherapeutische Kleingruppentherapie zur alltagsnahen Behandlung von aufschiebendem Verhalten und Desorganisation ist ebenfalls zeitnah geplant. Für nähere Informationen lesen Sie hier: Sucht und ADHS | MEDIAN Kliniken.

    Besondere Ansätze

    Bewegungs- und nicht sprachliche Therapien haben eine wichtige, adjuvante Rolle in der Behandlung. Sport- und Bewegungstherapie gehören daher zum festen Wochenplan sowie in den ersten Wochen auch samstags. Hinzu kommt die Kunsttherapie einmal pro Woche. Über computergestützte Therapien werden Konzentration und kognitive Kompetenzen trainiert. Insgesamt bieten wir weit über 30 indikative Gruppentherapien an, um individuelle Problembereiche aufzugreifen, die jedoch nicht störungsspezifisch auf die ADHS-Patienten ausgerichtet sind, sondern allen Patienten zur Verfügung stehen.

    Fortbildungsangebote

    Da wir im Rahmen unseres SuchtPlus-Konzeptes u. a. die komorbide ADHS als Therapieschwerpunkt behandeln und dafür Fachpersonal vorhalten, erfolgen regelmäßig interne und externe Fortbildungen.


    Deutscher Orden Ordenswerke, Schwarzbachklinik, Ratingen

    Sebastian Winkelnkemper

    Die Fragen beantwortete: Sebastian Winkelnkemper, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, ehem. Chefarzt der Schwarzbachklinik, jetzt: Chefarzt des MEDIAN Rehazentrums Daun – Thommener Höhe und Altburg

    Umgang mit komorbider ADHS

    Bei uns wird vor allem auf die klinische Beobachtung Wert gelegt. Wir arbeiten in den monatlich stattfindenden Fallbesprechungen die UTAH-Wender Kriterien – Aufmerksamkeitsstörung, motorische Hyperaktivität (z. B. Gefühl der inneren Unruhe), Affektlabilität, desorganisiertes Verhalten, mangelnde Affektkontrolle, Impulsivität, emotionale Überreagibilität – wiederholt „durch“ und achten hierbei auf die Schilderungen aus den unterschiedlichen Bereichen. Die Darstellung aus dem Sport und hierbei insbesondere aus Mannschaftssportarten (Impulsivität) sowie aus der Ergo- und Arbeitstherapie sind von zentraler Bedeutung. Die Einholung einer Fremdanamnese gelingt oftmals nicht, da der Kontakt der Rehabilitand:innen zu den eigenen Eltern nicht immer besteht. Schulzeugnisse sind oftmals ebenfalls nicht einzuholen. Psychologische Testungen wie Impulsivitätsabfragen und der HASE runden die Diagnostik im Bedarfsfall ab, wobei der klinische Eindruck regelhaft im Vordergrund steht.

    Haltung und Herausforderungen

    Sofern eine ADS/ADHS gesichert werden kann, stellen wir regelhaft fest, dass diese vor der Entwicklung der Suchterkrankung bestand. Die Bearbeitung des therapierelevanten Modells wird in diesem Fall beeinflusst und „erleichtert“. Der Konsum erfolgte meist im Sinne einer Selbstmedikation zur Überwindung/Reduktion der Symptome. Mit der Abstinenz ist bei Persistenz der Erkrankung im Erwachsenenalter festzustellen, dass die Symptomatik „durchschlägt“, sich erneut zeigt. Die medikamentöse Behandlung beeinflusst meist lediglich die Konzentrationsfähigkeit und die Fokussierung, so dass anfänglich die Affektlabilität, die Impulsivität und die Desorganisation als Herausforderung zu sehen sind. Die Strukturierung und Begleitung in unserer Einrichtung helfen sicher zur Begleitung und Reduktion der Desorganisation. Eine Herausforderung stellt der Umgang mit Impulsivität und mangelnder Affektkontrolle dar. Anfänglich ist es bei Impulsivität und Emotionalität mitunter erforderlich, „fünfe gerade sein zu lassen“, hier ist es wichtig, therapeutisch darauf einzugehen. Es stellt allerdings eine Überforderung der betroffenen Rehabilitand:innen dar, dies mit der Aufnahme zu erwarten.

    Diagnostik

    Die Anamnese und die klinische Beobachtung aus allen Arbeitsbereichen in der Fachklinik liefern die stimmigsten Hinweise. Wie bereits geschildert, orientieren wir uns an den UTAH-Wender Kriterien und versuchen, die Fremdanamnese einzuholen, auch wenn dies regelhaft misslingt. Ggfs. ergänzen wir die Diagnostik durch die Testung nach HASE und regelhaft durch Impulsivitätsfragebögen.

    Medikation

    Bisher verfügte die Fachklinik leider nicht über die Möglichkeit der BtM-Behandlung. Nachdem wir Anfang 2025 das Pflegezimmer umgebaut haben, können wir zukünftig auch auf Methylphenidate und Lisdexamphetamin zurückgreifen. Bisher haben wir mit Atomoxetin oder bei gleichzeitigem Wunsch der Tabakabstinenz mit Bupropion behandelt. Darüber hinaus haben wir ggfs. „off-label“ Guanfacin verabreicht.

    Psychotherapie und besondere Ansätze

    „Therapeutische Manuale“ verwenden wir nicht. Im Rahmen der Behandlung orientieren wir uns in allen Arbeitsbereichen an der Bearbeitung der Alltagsstrukturierung. Insbesondere die klinische Sozialarbeit und die Ergo- und Arbeitstherapie sind für die Reduktion der Desorganisation von zentraler Bedeutung. Die sportliche Aktivierung thematisiert den Umgang mit Impulsivität und Emotionalität, alle Bereiche arbeiten an der Freizeitgestaltung und hierbei insbesondere am Umgang mit „Langeweile“. Therapeutische Indikativgruppen zielen auf die Steigerung der Konfliktfähigkeit mit Besserung des Umgangs mit Emotionalität ab.

    Fortbildungsangebote

    Unsere Mitarbeiter wurden im Rahmen interner und externer Fortbildungen im Umgang mit der Komorbidität ADS/ADHS geschult. Insgesamt würde ich konstatieren, dass die monatlichen Fallbesprechungen allerdings für alle Mitarbeitenden dauerhaft die beste Schulung darstellen. Die Beobachtung der Verläufe über die Behandlungszeit liefert die wertvollsten Erkenntnisse im Umgang mit psychiatrischen Komorbiditäten und in diesem Fall im Umgang mit ADS und ADHS.


    Katholische Kliniken Ruhrhalbinsel gGmbH, Fachklinik Kamillushaus, Essen

    Tina Behrouzi

    Die Fragen beantwortete: Tina Behrouzi, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Oberärztin der Psychiatrischen Institutsambulanz Fachklinik Kamillushaus

    Umgang mit komorbider ADHS

    In der Fachklinik Kamillushaus in Essen verfügen wir über eine lange Tradition in der Suchtrehabilitation sowie viel Erfahrung in der Diagnostik und Behandlung von AD(H)S. Unsere spezialisierte Ambulanz versorgt pro Quartal über 1.000 AD(H)S-Patient:innen mit und ohne substanzbezogene Störungen. Aufgrund der signifikant höheren Prävalenz von ADHS bei Menschen mit Suchterkrankungen (ca. 21 %, Rohner et al., 2023) führen wir leitliniengerecht bei allen Rehabilitand:innen routinemäßig ein Screening durch. Bei Hinweisen erfolgt zeitnah eine ausführliche Diagnostik sowie eine stringente, integrierte AD(H)S-Therapie.

    Haltung und Herausforderungen

    Unsere therapeutische Haltung basiert auf folgenden Prinzipien:

    ⇒ Diagnostik und Behandlung sollten nicht verschleppt werden; ADHS-Expertise sollte möglichst bald in jeder Einrichtung der Suchtrehabilitation vorhanden sein. Menschen mit komorbider ADHS machen über 20 % der Menschen mit Suchterkrankungen aus und haben schwerere Verläufe (Icick et al., 2020).

    ⇒ Eine individuell abgestimmte Pharmakotherapie bewirkt oft eine signifikante Verbesserung der ADHS-Symptomatik und reduziert teilweise auch Suchtdruck sowie Rückfallrisiko (Barbui et al., 2023, Brynte, 2024). Eine strukturierte Psychotherapie der Suchterkrankung und der ADHS-Symptomatik sollte möglichst parallel erfolgen (Zulauf et al., 2014, Johnson et al., 2021).

    ⇒ Menschen mit AD(H)S leiden unter einem individuellen Profil an Einschränkungen ihrer sogenannten Exekutivfunktionen (EF). Beispiele für EF sind die Unterdrückung und Steuerung von Impulsen, Emotionsregulation, Planung, Steuerung und Bewertung eigener Aktivitäten, Antizipation der Konsequenzen einer Handlung, Aufschieben von Belohnung, Wahrnehmung von Zeit u. a. Eine genauere Kenntnis der individuellen AD(H)S-Kernsymptomatik hilft

    • zu verstehen, wie die individuellen Einschränkungen der Exekutivfunktionen bei einzelnen Patient:innen den Umgang mit der Suchterkrankung erschweren,
    • bei der Kontrolle der Wirksamkeit einer ADHS-Medikation und
    • bei der Erstellung eines personalisierten psycho- und ergotherapeutischen Behandlungsplans.

    ⇒ Unsere Therapieangebote berücksichtigen die durch AD(H)S reduzierte Fähigkeit zur Alltagsorganisation und unterstützen Betroffene durch: Terminerinnerungen, einen Rezepterinnerungsservice, das Zuschicken von Rezepten, Videokonsultationen, schriftliche Medikamentenanweisungen etc.

    ⇒ Unsere psychotherapeutische Arbeit ist bewusst ADHS-informiert, um Fehldeutungen von Überforderung mit der Alltagsorganisation als „Widerstand“ oder „Motivationsmangel“ entgegenzuwirken. Eine besondere Herausforderung ist der zeitliche und fachliche Aufwand für eine gute Differenzialdiagnostik auf der einen Seite und die schlechte Passung mit den aktuell vorhandenen Vergütungsmodellen auf der anderen Seite. Auch finden Patient:innen oft keine Weiterbehandler:innen für AD(H)S. Menschen mit AD(H)S leiden oft unter Schlafstörungen und tun sich deutlich schwerer mit gesunden Lebensgewohnheiten. Der Aufbau von gesunden Routinen erfordert oft viel Coaching in vielen kleinen Schritten.

    Es gibt auch besondere Chancen: Bei starker genetischer Prädisposition für ADHS sollten die Kinder von Rehabilitand:innen früh getestet werden, da eine Behandlung mit Stimulanzien in bestimmten Phasen der kindlichen Entwicklung das Risiko für spätere Suchterkrankungen deutlich senken kann (Groenman et al., 2013 und 2019, Deng & Espiridon, 2024).

    Diagnostik

    Unsere Diagnostik entspricht der aktuellen S3-Leitlinie und umfasst speziell validierte Instrumente für die Diagnostik bei komorbiden Suchterkrankungen. Wichtig ist es, ADHS-Symptome aus der Kindheit und der Zeit vor Entstehung der Suchterkrankung bzw. vor der Entstehung anderer psychischer Störungen sicher zu erfassen, um falsch positive Diagnosen zu vermeiden. Dazu dienen eine ausführliche Entwicklungsanamnese, wenn möglich Fremdanamnese und die Sichtung von Schulzeugnissen und Vorbefunden. Bei Patient:innen ohne Hyperaktivität und mit guter intellektueller Kompensationsfähigkeit bestehen hierbei oft besondere diagnostische Herausforderungen. Auch die Familienanamnese gibt aufgrund der genetischen Komponente Hinweise.

    Medikation

    Die medikamentöse Behandlung der ADHS im Kontext von Suchterkrankungen ist oft mit Vorbehalten belegt. Tatsächlich weist die aktuelle Studienlage darauf hin, dass eine adäquate medikamentöse Therapie – auch mit Stimulanzien – z. B. das Rückfallrisiko reduzieren und die Therapieadhärenz verbessern kann (s. o.).

    Auch wenn Studien über die Verwendung bestimmter Medikamentengruppen bei unterschiedlichen Substanzabhängigkeiten und über die Outcomes in Bezug auf die Suchterkrankung existieren (Fluyau et al., 2021; Paslakis et al., 2010; Chamakalayil et al., 2021; Adler et al., 2010), zeigt die klinische Anwendung, dass Patient:innen oft sehr unterschiedliche AD(H)S-Kernsymptome mit konkreter Auswirkung auf die Suchterkrankung haben (z. B. AD(H)S-bedingte Stimmungsschwankungen, quälende körperliche Hyperaktivität, erschöpfende Reizoffenheit, überschießende emotionale Reaktionen, starkes Prokrastinieren u. a.). Welches Medikament für welches Kernsymptom wirksam ist, muss individuell ausprobiert werden. Auch das Nebenwirkungsprofil macht oft einen Medikamentenwechsel notwendig.

    Nicht-Stimulanzien haben den Vorteil einer kontinuierlichen Wirkung ohne den für Stimulanzien typischen „Rebound“ am Abend. Bei Bedenken bezüglich eines Missbrauchs der Medikation sind folgende Fragen hilfreich: Besteht ein Risiko des Missbrauchs zur kognitiven Leistungssteigerung (hohes Leistungsideal, Student:innen)? Besteht ein Risiko, dass orale Medikamente als Rauschmittel auf anderem Wege appliziert werden? Das ist selten, aber mit gefährlichen Nebenwirkungen verbunden. Für bestimmte Hochrisiko-Gruppen sollten nur Nicht-Stimulanzien eingesetzt werden, ansonsten ist eine gute Aufklärung wichtig, evtl. ist die kontrollierte Abgabe in kleineren Mengen sinnvoll.

    Über Interaktionen von Medikation und Suchtmitteln sollte gut aufgeklärt werden. Unsere Erfahrung zeigt aber, dass bei Rückfällen meist die Medikation gestoppt wird.

    Gerade junge Erwachsene sollten zudem eindringlich über die Gefahren der Weitergabe von Betäubungsmitteln aufgeklärt werden (medizinische Risiken, Verlust des Studienplatzes, Anzeige etc.). Auch in Deutschland scheint es vor allem an Hochschulen immer mehr zum Missbrauch von Stimulanzien zur kognitiven Leistungssteigerung zu kommen. Ein Vorrat an zu großen Mengen an Stimulanzien bei Patient:innen könnte eine unkritische Weitergabe von Medikation fördern.

    Eine Zulassung von Guanfacin in Deutschland für die Indikation AD(H)S wäre als eine weitere Behandlungsoption wünschenswert.

    Psychotherapie

    Wir bieten regelmäßig eine psychologisch geleitet ADHS-Gruppe für stationäre und ambulante Patient:innen an. Zudem unterstützen wir aktuell den Aufbau einer ADHS-Selbsthilfegruppe. In unserer Ambulanz arbeiten wir an einem Therapiekonzept mit spezialisierter Ergotherapie und spezifischen Coaching-/ psychotherapeutischen Interventionen (z. B. ADHS-spezifische DBT-Skills).

    Besondere Ansätze

    Ambulanten Patient:innen empfehlen wir spezialisierte Ergotherapie, insbesondere funktionelles Alltagstraining. Aufgrund der begrenzten Evidenz ist Neurofeedback aktuell nicht prioritär.

    Fortbildungsangebote

    Ja, wir bieten interne Fortbildungen zum Thema ADHS an, um kontinuierlich eine integrative, ADHS-informierte Behandlungskultur zu fördern.

  • Der Beitrag der Suchtberatung zur Entstigmatisierung

    Der Beitrag der Suchtberatung zur Entstigmatisierung

    Der folgende Beitrag ist eine Verschriftlichung des Vortrags, den die Autorin im Rahmen der 34. Niedersächsischen Suchtkonferenz am 28. Oktober 2024 gehalten hat.

    Stigmatisierung: Definition und Dynamik

    Prof. Dr. Rita Hansjürgens

    Stigmatisierung ist ein sozialer Prozess, bei dem Individuen oder Gruppen aufgrund bestimmter Merkmale negativ bewertet und ausgegrenzt werden. Diese Merkmale können physischer, psychischer oder sozialer Natur sein. Betroffene werden auf unerwünschte Eigenschaften reduziert, was ihre gesellschaftliche Teilhabe erheblich beeinträchtigt. Hirschauer (2021) beschreibt Stigmatisierung als eine Form der Humandifferenzierung, die kulturelle Unterscheidungen aufgreift, Personen auf unerwünschte Eigenschaften reduziert und so zu dauerhafter sozialer Ausgrenzung führt. Stigmatisierung fungiert hier als grundlegendes Prinzip sozialer Ordnung, das auf Komplexitätsreduktion und klassifizierenden Zuschreibungen basiert.

    Stigmatisierungen sind auch deshalb so stabil, weil Menschen sie für ihre Selbstbeschreibungen annehmen (Selbststigmatisierung). Dadurch verstärkt sich der Stigmatisierungsprozess. Ein zentrales Konzept in diesem Zusammenhang ist das Thomas-Theorem, das besagt: „Wenn Menschen Situationen als real definieren, sind sie in ihren Konsequenzen real.“ (Thomas & Thomas, 1928) Dies bedeutet, dass die subjektive Wahrnehmung einer Situation das Verhalten der Menschen beeinflusst und somit reale Konsequenzen nach sich zieht. Ein klassisches Beispiel hierfür aus einem anderen Kontext ist ein Bank-Run: Wenn Menschen glauben, dass eine Bank insolvent ist, werden sie massenhaft ihr Geld abheben, was tatsächlich zur Insolvenz der Bank führen kann, selbst wenn sie zuvor finanziell stabil war. Wenn also Menschen eine Selbststigmatisierung aufbauen und die negativen Zuschreibungen für real und gerechtfertigt halten, verhalten sie sich entsprechend und verstärken damit die Zuschreibungen von außen. Aus psychologischer Perspektive ist daher das Konzept der selbsterfüllenden Prophezeiung, das von Merton (1948) eingeführt wurde, eng verbunden mit dem Thomas-Theorem. Eine selbsterfüllende Prophezeiung ist eine Vorhersage, die ihre eigene Erfüllung bewirkt, indem sie das Verhalten der Menschen so beeinflusst, dass die erwarteten Ereignisse eintreten.

    Stigmatisierung von Sucht

    Die Bewertung eines Verhaltens, das als „unmäßig“ beschrieben wird und in Zusammenhang mit dem Konsum psychoaktiver Substanzen, z. B. Alkohol, steht, ist seit der Antike eng mit gesellschaftlichen Normen und Moralvorstellungen verknüpft. In vielen Kulturen wurde ein solches Verhalten als moralisches Versagen oder Charakterfehler angesehen, was zu sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung der Betroffenen führte, z. B. wurden sie als ungeeignet für Verantwortungspositionen eingeschätzt. Diese generalisierende Zuschreibung steht in einem engen Verhältnis mit einem weiteren Konstrukt, das als zentral für menschliches Zusammenleben eingeschätzt wird: Vertrauen. In sozialen Interaktionen ist Vertrauen essenziell. Es bildet die Grundlage für stabile und verlässliche Beziehungen. Hartmann (2020) definiert Vertrauen als das „Akzeptieren einer vulnerablen Position gegenüber einer anderen Person“. Menschen mit einem als unmäßig beurteilten Substanzkonsum, der als Sucht kategorisiert wird oder, wie es heute heißt, als Substanzkonsumstörung, werden oft als unzuverlässig und unberechenbar wahrgenommen. Sie gelten in unsicheren Situationen als „nicht vertrauenswürdig“. Ihnen gegenüber akzeptiert man nicht, in einer vulnerablen Position zu sein, denn es könnte eine Selbstgefährdung bedeuten, auf sie z. B. in der Familie oder am Arbeitsplatz angewiesen zu sein. Insofern haben Menschen, denen ein unmäßiger Konsum unterstellt wird, in sozialer Hinsicht seit der Antike ein Vertrauensproblem.

    Sucht und Krankheit

    Soziologisch betrachtet wird Krankheit als ein vorübergehender Zustand verstanden, der von gesellschaftlichen Normen abweicht und durch Behandlung gemildert oder geheilt werden kann. Für das Phänomen Sucht entsteht im Rahmen dieser Kategorisierung jedoch eine Herausforderung: Die Klassifizierung als „süchtig“ oder „abhängig“ dient einerseits als Voraussetzung für den Zugang zu Hilfsangeboten. Dahinter steht die wichtige Errungenschaft des Bundessozialgerichtsurteils von 1968, mit dem Sucht als Krankheit anerkannt wurde. Andererseits werden die Betroffenen durch die Klassifizierung mit negativen Zuschreibungen konfrontiert, das bestehende Stigma wird also verstärkt, weil es sich um eine klassifizierende Zuschreibung handelt. Diese Doppelfunktion der Krankheitsklassifikation führt dazu, dass Betroffene zwar Unterstützung erhalten können, gleichzeitig aber damit ihre soziale Ausgrenzung weiter vertiefen.

    Schwierige bürokratische Zugänge zu Hilfsangeboten tragen ebenfalls zur Verstärkung des Stigmas bei. Wenn dann noch Hilfeangebote aus Effizienzgründen standardisiert werden, kann dies dazu führen, dass individuelle Lebenslagen und spezifische Bedürfnisse nicht ausreichend berücksichtigt werden, was die Wirksamkeit der Hilfsangebote mindert und das Gefühl der Stigmatisierung bei den Betroffenen verstärkt. Die Etikettierung als „süchtig“ kann auch dazu führen, dass Betroffene von ihrem sozialen Umfeld auf ihre Suchtproblematik reduziert werden. Dadurch werden sie in ihren Aussagen und Wahrnehmungen nicht (mehr) ernst genommen und geraten aus systemischer Sicht in die Rolle einer Indexperson , deren Verhalten als zentrale Ursache für Schwierigkeiten in einem System wie z. B. Familie oder Arbeitsplatz gesehen wird.

    Rolle der Suchtberatung im sektorenübergreifenden Unterstützungssystem

    Teilhabe

    Die Tätigkeit der Suchtberatung ist aus sozialarbeiterischer Perspektive eng mit dem Konzept der Teilhabe verknüpft. Suchtberatung ermöglicht Teilhabe. Teilhabe bedeutet, dass Menschen aktiv am sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben auf der Basis ihrer Fähigkeiten teilnehmen können. Diese Teilnahme wird verstanden als eigene Entscheidung aufgrund einer Wahloption und erfolgt unter Einbringen der vorhandenen Fähigkeiten. Für suchterfahrene Personen bedeutet dies: Sie können selbst Angebote zur professionellen Unterstützung auswählen und auf Basis dessen, was sie mitbringen, daran teilnehmen. Vor dem Hintergrund, dass viele Angebote vor allem im medizinischen Kontext an ein Bekenntnis zu einer abstinenten Lebensweise gekoppelt sind, ist es nicht trivial, suchterfahrene Personen die Teilhabe an Hilfsangeboten zu ermöglichen. Sie gelten in medizinischen Kontexten als „schwierige Patienten“. Häufig kommen weitere Erkrankungen auf körperlicher oder psychischer Ebene (z. B. Schmerzen und/oder Depressionen) dazu, welche in Wechselwirkung mit der Suchterkrankung stehen können. Im medizinischen System Hilfe zu erhalten, ist für suchterfahrene Personen nicht selten mit weiteren Ausgrenzungserfahrungen verbunden, sodass Hilfe erst gar nicht gesucht wird. Oft wird die Ausgrenzung auch schon erwartet, und ein vorweggenommenes Abwehrverhalten (sich nicht an Terminabsprachen halten, intoxikiert kommen, latent aggressives Verhalten) trägt zum oben beschriebenen  Effekt der Selffulfilling Prophecy bei, was wiederum das gegenseitige Misstrauen erhöht.

    Diese Konstellation hat nicht selten zur Folge, dass unbehandelte körperliche oder psychische Erkrankungen sich in Kombination mit dem Konsum weiter verstärken bzw. sich chronifizieren. Die Gesamtsituation kann dann weiter eskalieren, wenn Erwerbsarbeit nicht mehr geleistet werden kann, das Familiensystem die Personen nicht weiter mittragen will oder am Ende der Verlust der Wohnung droht.

    Soziale Nothilfe und zieloffene Beratung

    Anlass für das Aufsuchen von Suchtberatung ist häufig, dass eine soziale Situation eskaliert ist, z. B. der Verlust des Arbeitsplatzes droht oder das familiäre Umfeld mit Ausgrenzung gedroht hat (Partner:in will sich trennen, Kinder dürfen nicht mehr besucht werden). Diese Situation wird von den Betroffenen nicht immer sofort mit dem eigenen Konsumverhalten in Zusammenhang gebracht, erleben sie sich doch eher als Getriebene, deren Spielräume immer enger werden. Vor dem Hintergrund der drohenden sozialen Ausschließung ist ein Hauptziel der Suchtberatung wie im „Ankerwirkmodell Suchtberatung“ herausgearbeitet (Ottmann, Hansjürgens, Tranel, 2024) daher zunächst, solche Eskalationsprozesse zu unterbrechen und die Personen in ihrem sozialen Umfeld zu stabilisieren. Dies gelingt z. B. durch Reflexion potenziell eskalierender Situationen und ggf. durch die Einleitung von Soforthilfe, z. B. durch Unterstützung bei der Integration in medizinische Behandlung oder bei der Kontaktaufnahme mit Ämtern, die Transferleistungen kürzen. Hierzu werden die Netzwerke der Beratungsstelle genutzt.

    Diese soziale Nothilfe in Verbindung mit dem Reflexionsangebot in Bezug auf das Konsumverhalten ermöglicht es den Betroffenen, aus akuten Krisen herauszutreten und einen klareren Blick auf ihre Situation zu gewinnen. Durch zieloffene Beratung werden dann Wege erarbeitet, wie Betroffene ihre Lebenssituation verbessern, ggf. wieder mehr Verantwortung für ihr Leben übernehmen und damit mehr Kontrolle wiedergewinnen können. Die Zieloffenheit der Beratung stellt einen geschützten Raum dar, in dem Betroffene ihre Herausforderungen offen ansprechen können. Gemeinsam mit Berater:innen können sie Lösungen erarbeiten, die ihren persönlichen Bedürfnissen und ihrer Situation entsprechen. Die Berater:innen zeigen Vertrauen in die Fähigkeit der Klient:innen, selbst zur Verbesserung ihrer Situation beitragen zu können, und ermöglichen damit eine Gegenerfahrung zu anderen sozialen Situationen. Dies wiederum kann das Vertrauen der Klient:innen in sich selbst und professionelle Unterstützung wieder erhöhen.

    Förderung selbstverantworteter Entscheidungsprozesse

    Ein weiterer zentraler Aspekt der Suchtberatung ist die Förderung selbstverantworteter, auf die Zukunft gerichteter Entscheidungsprozesse. Dazu gehört z. B., dass sich eine Person entscheidet, ob sie die Krankenrolle annehmen und sich in ärztliche oder psychotherapeutische Behandlungen begeben möchte. Diese Entscheidung ist nicht trivial, weil damit Anforderungen an die Person bzgl. ihrer zukünftigen Lebensgestaltung gestellt werden, z. B. die Entscheidung für eine abstinente Lebensform. Diese Entscheidung hat in der Regel wichtige Konsequenzen für das weitere Leben der Klient:innen. Das Für und Wider wird in der Beratung ergebnisoffen abgewogen. Zentral ist, diese Entscheidung als Entscheidung der Klient:innen zu akzeptieren und im Falle einer Entscheidung gegen die Annahme der Krankenrolle auch weiter Beratung und Unterstützung anzubieten, um die Erfahrung der Ausgrenzung nicht zu wiederholen und gewonnenes Vertrauen nicht wieder zu zerstören. In jedem Fall werden die Betroffenen ermutigt, Veränderungsziele zu definieren und diese in ihrem eigenen Tempo mit Unterstützung der Suchtberatung zu verfolgen. Empowerment-Prozesse, die darauf abzielen, das Selbstbewusstsein und die Fähigkeit zur Lebensbewältigung zu stärken, sind integraler Bestandteil der Arbeit der Suchtberatung. Insofern ist ein Entscheidungsprozess für oder gegen eine medizinische Behandlung zwar ein wichtiger Bestandteil von Suchtberatung, aber auf keinen Fall ihr einziger und wird auch nicht in jeder Beratung angefragt.

    Brücken bauen

    Darüber hinaus hilft die Suchtberatung, Brücken zwischen den suchterfahrenen Personen und ihrem sozialräumlichen Umfeld zu bauen. Dies geschieht beispielsweise durch die Förderung von Selbsthilfegruppen oder durch die Zusammenarbeit mit anderen sozialen und medizinischen Einrichtungen. Netzwerkarbeit trägt dazu bei, soziale Räume zu schaffen, in denen suchterfahrene Menschen als vollwertige Mitglieder akzeptiert werden und sich mit ihren Fähigkeiten einbringen können. Dadurch wird Teilhabe nicht nur ermöglicht, sondern aktiv gefördert.

    Entstigmatisierende Wirkung der Suchtberatung

    Durch die Annahme der Krankenrolle und die Integration in das medizinische Hilfesystem oder durch die aktive Umsetzung von Veränderungswünschen außerhalb des medizinischen Systems können Betroffene wieder Verantwortung für ihr Handeln übernehmen, sich zunehmend wieder als verlässliche Interaktionspartner etablieren und sich für ihr Umfeld wieder als vertrauenswürdig erweisen. Dies gilt auch für die Selbstwahrnehmung und einen Zuwachs an „Selbst-Vertrauen“. In der Folge tragen diese Prozesse mit Blick auf einen gesellschaftlichen Impact zu der Botschaft bei, dass Sucht behandelbar und bewältigbar ist. Indem Menschen durch Selbstreflexion und Unterstützung in die Lage versetzt werden, selbstgewählte Veränderungsprozesse umzusetzen, und ein soziales Umfeld dies auch wahrnehmen kann, wird ein differenzierter Blick auf suchterfahrene Menschen gefördert.

    Die Unterstützung durch Suchtberatungen umfasst neben der individuellen Beratung und Begleitung von längeren Veränderungsprozessen auch die Förderung von Selbsthilfeaktivitäten und die Wiedereingliederung in soziale Netzwerke. Die Netzwerkarbeit der Beratungsstellen mit dem regionalen Unterstützungssystem (z. B. mit dem Jugendamt oder dem Jobcenter) trägt dazu bei, differenzierte Perspektiven auf Sucht auch in öffentlichen Räumen zu etablieren und Vertrauen in die Möglichkeit der Überwindung von Abhängigkeitsstörungen zu schaffen. Dies trägt dazu bei, ein generalisiertes Misstrauen abzubauen. Durch den Aufbau von Kooperationen (z. B. zwischen Selbsthilfe und Schulen) entstehen Gelegenheiten, weitere soziale Räume für suchterfahrene Menschen zu öffnen und ihnen die Möglichkeit zu geben, über ihre Erfahrungen und Veränderungsprozesse zu berichten und selbst aktiv zur Entstigmatisierung beizutragen. Indem suchterfahrende Personen (zu denen auch das soziale Umfeld gezählt werden kann) ermutigt werden, als authentische und verlässliche Interaktionspartner aufzutreten, wird ein Prozess der gegenseitigen Akzeptanz und damit die (Wieder-) Ermöglichung von Teilhabe gefördert.

    Fazit

    Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Suchtberatungen einen wesentlichen Beitrag zur Entstigmatisierung leisten. Sie helfen suchterfahrenen Personen und ihrem sozialen Umfeld, gegenseitiges Vertrauen wieder aufzubauen. Durch die Unterstützung von selbstverantworteten Entscheidungen insbesondere in der Frage, ob eine suchtmedizinische Behandlung angestrebt wird, tragen sie zur Nachhaltigkeit einer solchen Behandlung bei. Darüber hinaus ermöglicht Netzwerkarbeit in den Sozialraum hinein eine differenziertere Wahrnehmung suchterfahrener Personen. Letzteres geschieht sowohl durch Bildungsarbeit als auch durch konkrete Unterstützungsangebote und die Selbsthilfe. Letztlich stellen Suchtberatungen damit eine Plattform bereit, die es suchterfahrenen Personen ermöglicht, selbst aktiv zur Entstigmatisierung beizutragen. Dies kann klassischerweise als ein Beitrag von Hilfe zur Selbsthilfe verstanden werden.

    Angaben zur Autorin und Kontakt:

    Prof. Dr. Rita Hansjürgens
    Professorin für Handlungstheorien und Methoden Sozialer Arbeit und Allgemeiner Pädagogik
    Supervisionsbeauftrage
    Sozialarbeiterin M. A. Professional Studies, Clinical Social Worker & Clinical Mentor (ECCSW)
    Systemische Beraterin
    Alice-Salomon-Hochschule, Berlin
    E-Mail: Hansjuergens(at)ash-berlin.eu

    Literatur:
    • Bartelheimer, P., Behrisch, B., Daßler, H., Dobslaw, G., Henke, J., & Schäfers, M. (2022). Teilhabe – Versuch einer Begriffsbestimmung. In: Wansing, G., Schäfers, M., & Köbsell, S. (Hrsg.): Teilhabe­forschung – Konturen eines neuen Forschungsfeldes, S. 13–34. Wiesbaden: Springer.
    • Hansjürgens, Rita; Ottmann, Sebastian (2025): Ankerwirkmodell Suchtberatung. Wirkannahmen zur Funktion Suchtberatung in: Soziale Arbeit. Berlin: DZI S. 17-24
      DOI: doi.org/10.5771/0490-1606-2025-1-17 (open access)
    • Hartmann, M. (2020). Vertrauen: Die unsichtbare Macht. Frankfurt am Main: S. Fischer
    • Hirschauer, S. (2021). Menschen unterscheiden. Grundlinien einer Theorie der Humandifferenzierung. Zeitschrift für Soziologie, 50, 155–174.
    • Merton, R. K. (1948). The Self-Fulfilling Prophecy. Antioch Review, 8 (2), 193–210.
    • Thomas, W. I., & Thomas, D. S. (1928). The Child in America: Behavior Problems and Programs. New York: Knopf.
  • Wie sind die Koalitionsvereinbarungen der Ampelregierung zum Thema Drogenpolitik umgesetzt worden?

    Wie sind die Koalitionsvereinbarungen der Ampelregierung zum Thema Drogenpolitik umgesetzt worden?

    Dr. Ingo Ilja Michels
    Prof. Dr. Heino Stöver ©B. Bieber Frankfurt UAS

    Einleitung

    Nach dem Bruch der Ampelregierung im November 2024 und vor den Neuwahlen am 23. Februar 2025 ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen: Wie sind die Koalitionsvereinbarungen zum Thema Drogenpolitik umgesetzt worden? Was ist erreicht worden, was nicht und warum nicht? Abschließend geht es in diesem Beitrag auch darum, was eine zukünftige Regierung zu beachten hat.

    Die Koalitionsvereinbarungen der Ampelregierung zum Thema Drogenpolitik konzentrierten sich auf die folgenden Zielsetzungen:

    „Wir führen die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften ein. Dadurch wird die Qualität kontrolliert, die Weitergabe verunreinigter Substanzen verhindert und der Jugendschutz gewährleistet. Das Gesetz evaluieren wir nach vier Jahren auf gesellschaftliche Auswirkungen. Modelle zum Drugchecking und Maßnahmen der Schadensminderung ermöglichen und bauen wir aus.

    Bei der Alkohol- und Nikotinprävention setzen wir auf verstärkte Aufklärung mit besonderem Fokus auf Kinder, Jugendliche und schwangere Frauen. Wir verschärfen die Regelungen für Marketing und Sponsoring bei Alkohol, Nikotin und Cannabis. Wir messen Regelungen immer wieder an neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und richten daran Maßnahmen zum Gesundheitsschutz aus.“

    (Koalitionsvertrag 2021-2025 „Mehr Fortschritt wagen“ vom 7. Dezember 2021, S. 68)

    Die intendierten Maßnahmen in Bezug auf illegale Drogen stützen sich auf viele internationale und nationale Vorschläge zur Aufhebung der Drogenprohibition, insbesondere am Beispiel Cannabis. Viele Staaten bewerten mittlerweile die politische Fokussierung auf das polizeilich umzusetzende Drogenverbot als nicht mehr zeitgemäß – und vor allem nicht effektiv und effizient – und haben Neuregulierungen geschaffen. Dies hat zu einer Erosion des internationalen Drogenverbots (Barop 2023) mit vielen nationalen Sonderregelungen jenseits der internationalen Suchtstoffkontrollübereinkommen geführt (EMCDDA 2002/2023; FES 2015; akzept 2022).

    Auch in Deutschland bestand eine langjährige Opposition gegenüber Drogenverboten, besonders gegenüber dem Verbot von Cannabis. Vor dem Hintergrund, dass der Cannabiskonsum in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, haben alle Parteien im Bundestag (bis auf die Fraktionen CDU/CSU und AfD) seit einigen Jahren drogenpolitische Veränderungen in Richtung Entkriminalisierung und sogar Legalisierung gefordert (Stöver/Michels 2024). Als schließlich die SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen im November 2021 die Regierungsverantwortung übernahmen, haben sie im Koalitionsvertrag eine Legalisierung im Umgang mit Cannabis beschlossen.

    Der bloße Konsum von Betäubungsmitteln ist in Deutschland nicht strafbewehrt; strafbar sind jedoch der Erwerb und der Besitz von Drogen, die der Konsumhandlung in der Regel vorausgehen. Der Gesetzgeber hat nun auf der Basis der Koalitionsvereinbarungen zwar Cannabis aus dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG) herausgenommen (allerdings nur bis zu einer Menge von 25 Gramm bzw. 50 Gramm zum Eigenkonsum), aber alle anderen psychoaktiven Substanzen, die in den internationalen Suchtstoffabkommen als „gesundheitsgefährdend“ und „therapeutisch ohne Nutzen“ eingestuft werden, unterliegen weiterhin dem BtMG oder sind nur in sehr wenigen und streng kontrollierten Fällen zu wissenschaftlichen Zwecken erlaubt (wie etwa neuerdings einige Psychedelika). Diese Gefährlichkeitseinschätzung hat nichts mit wissenschaftlicher Evidenz zu tun (vgl. hierzu neuere Forschungen zur Risikoabschätzung von psychoaktiven Substanzen; Nutt et al. 2010; Bonnet et al. 2021 und 2022).

    Eine künftige Reform der Drogenpolitik muss sich also gerade auf die Menschen fokussieren, die andere verbotene Substanzen als Cannabis konsumieren. Bei ihnen sind die gesundheitlichen, sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Folgen der Prohibition besonders deutlich. Das Verbot der Drogen schädigt die Menschen mehr als der Konsum der Drogen selbst. Wir konstatieren ein Problem der Drogenpolitik und nicht des Drogenkonsums an sich. Wenn auch in den letzten Jahren vermehrt der Blick auf das Schädigungspotenzial der prohibitiven Drogenpolitik gerichtet worden ist, so ist dieser zumeist nur angewendet worden auf Cannabis – u. a., weil die Zahl der Cannabiskonsumierenden mittlerweile eine Rekordhöhe erreicht hat und Cannabiskonsum aus unserer Kultur nicht mehr wegzudenken ist. Aus unserer Sicht brauchen Heroin-, Kokain- und Crackkonsumierende ebenfalls einen Rahmen, der ihnen keine weiteren Probleme außerhalb des Drogenkonsums selbst bringt.

    Umsetzung der Koalitionsvereinbarungen – was ist erreicht worden?

    1. Kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften

    Das Konsumcannabisgesetz wurde am 21. Februar 2024 im federführenden Gesundheitsausschuss beraten und mehrheitlich verabschiedet. Es wurde dann vom Plenum mit Mehrheit der Ampelkoalition am 23. Februar 2024 beschlossen und trat am 1. April 2024 in Kraft. Seit dem 1. Juli 2024 können Anbauvereinigungen gegründet werden. Damit sind der Eigenanbau von Cannabis und die Cannabisabgabe über Anbauvereinigungen legalisiert worden, der Besitz von 25 Gramm in der Öffentlichkeit und von 50 Gramm zuhause ist straffrei gestellt worden. Noch wissen wir nicht, wie die Umsetzung gegen z. T. massive Widerstände von Ländern und den Oppositionsparteien im Bundestag, aber auch nach wie vor von Ärzte- und Richterverbänden, von Staatsanwaltschaften und selbst von Kleingartenverbänden, gelingt.

    In der Anfangsphase der Koalition beabsichtigte das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) eine Cannabislegalisierung (Abgabe in lizenzierten Fachgeschäften etc.; BMG 2022). Nachdem dies aus europarechtlichen Gründen nicht möglich schien, hat man das ursprüngliche Gesetzesvorhaben in zwei „Säulen“ aufgeteilt, wovon nur die „Säule 1“, also die Abgabe über Anbauvereinigungen bzw. Eigenanbau, übriggeblieben ist. Die „Säule 2“ sah vor, dass Cannabis in Modellprojekten in lizenzierten Fachgeschäften abgegeben werden sollte – dies wurde jedoch nicht umgesetzt.

    Die wissenschaftlich begleitete Abgabe von Cannabis in lizenzierten Fachgeschäften ist jetzt über eine Verordnung des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft möglich geworden (Konsumcannabis-Wissenschafts-Zuständigkeitsverordnung, KCanWV, vom 10. Dezember 2024). Die Verordnung, die der Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen), im Dezember 2024 unterzeichnet hat, regelt, dass die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) künftig als Behörde Forschungsanträge im Bereich Konsumcannabis und Nutzhanf prüfen und genehmigen wird.

    Wissenschaftliche Einrichtungen und Unternehmen können Anträge für entsprechende Projekte bei der BLE einreichen – und haben dies bereits getan (Stand: 28.01.2025). Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL 2024) teilte ausdrücklich mit, dass die nun erlassene KCanWV der BLE ermöglicht, im Zusammenhang mit Cannabis stehende Forschungsanträge zu prüfen und die genehmigten Projekte zu überwachen. Zuvor lag diese Aufgabe beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Das BfArM bleibt laut BEL zuständige Behörde für Forschung mit medizinischem Cannabis.

    Forschung an und mit Konsumcannabis ist ab jetzt wieder möglich, aber erlaubnispflichtig, teilte das Ministerium mit. Forschungsanträge über einen fünfjährigen Zeitraum sind bereits eingereicht worden aus Frankfurt (geplant: vier Fachgeschäfte) und Hannover (geplant: drei Fachgeschäfte) (siehe Institut für Suchtforschung ISFF). Bremen, Berlin u. a. bereiten dies vor.

    Auch wenn diese Anträge durch die BEL genehmigt werden, ist eine weitere Reform in Bezug auf Cannabis vor der Beendigung dieser fünfjährig geplanten Forschungsprojekte nicht zu erwarten. Im Gegenteil: CDU und CSU haben in ihr Wahlprogramm aufgenommen, das Konsumcannabisgesetz der Ampelkoalition wieder abzuschaffen (vgl. Süddeutsche Zeitung, 29.12.2024) – was dann aus den möglicherweise schon eingerichteten lizenzierten Fachgeschäften wird, bleibt unklar.

    Fazit: Das Koalitionsvorhaben, Cannabis in lizenzierten Geschäften zu Genusszwecken an Erwachsene abzugeben, ist nur unzureichend umgesetzt worden. Geblieben sind – bis jetzt – die Legalisierung des Eigenanbaus und die Abgabe innerhalb von Anbauvereinigungen. Weitere Reformschritte sind in weite Ferne gerückt. Trotzdem muss die Cannabis-Teillegalisierung als erster, aber sehr wichtiger Schritt zur Entkriminalisierung des Konsums, Erwerbs und Besitzes von psychoaktiven Substanzen gesehen werden (Michels, Stöver 2024).

    Eine dringend notwendige grundsätzliche Reform der Prohibitionslogik im Umgang mit psychoaktiven Substanzen war nicht beabsichtigt und wird von den Verbänden der Drogenhilfe weiter eingefordert werden müssen.

    2. Modelle zum Drug-Checking und Maßnahmen der Schadensminderung sollen ermöglicht und ausgebaut werden

    Länder wie die Niederlande, Schweiz u. a. zeigen es: Die diskrete Analyse von Drogensubstanzen auf gefährliche Zusammensetzungen hin kann helfen, die Risiken des Drogenkonsums deutlich zu verringern. Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (seit Juli 2024 „Europäische Drogenagentur“ bzw. „European Drug Agency“, EUDA) empfiehlt deshalb die Umsetzung solcher Analysemöglichkeiten – diskret, anonym und effektiv – zum Schutz der Konsument:innen. Am 19. Juli 2023 wurde mit der Implementierung des § 10b in das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) ein bundesgesetzlicher Rahmen für die Umsetzung von Drug-Checking für alle Bundesländer geschaffen.

    Wie bei der Legalisierung von Drogenkonsumräumen müssen die Bundesländer für die Umsetzung von Drug-Checking Rechtsverordnungen erlassen, und dies ist bis Januar 2025 nur in einem Bundesland passiert, nämlich in Mecklenburg-Vorpommern (Ministerium für Soziales, Gesundheit und Sport, Pressemitteilung vom 04.06.2024). Der Stadtstaat Berlin und das Bundesland Thüringen haben bereits vorher Modellprojekte zum Drug-Checking gestartet, unabhängig von den Initiativen auf Bundesebene (vgl. Fonfara et al. 2024; Hirschfeld et al. 2024). Flächendeckend sollten von öffentlichen Stellen, z. B. von Gesundheitsämtern, Apotheken oder Landschaftsverbänden, Angebote zur Qualitäts- und Risikokontrolle von Drogensubstanzen geschaffen werden, deren Ergebnisse von Drogengebraucher:innen eingesehen werden können (Verbraucherschutz).

    Die Ergebnisse der Modellprojekte in Thüringen und Berlin sind positiv. Die Evaluation des Berliner Projekts hält fest: „Die Ergebnisse zeigen, dass das Berliner Drug-Checking-Modellprojekt effektiv dazu beiträgt, Gesundheitsrisiken zu reduzieren und einen bewussteren Umgang mit psychoaktiven Substanzen zu fördern. Die hohen Akzeptanzwerte und die positiven Wirkungseffekte unterstreichen die Wirksamkeit des Angebots.“ (Evaluationsbericht 2024)

    Mit der Implementierung des neuen § 10b des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) eröffnet der Gesetzgeber den Bundesländern nicht nur die Möglichkeit, sondern verpflichtet sie auch dazu, Drug-Checking-Angebote rechtlich abzusichern und zu fördern. Es ist nun an den Landesregierungen, ihrer gesetzlichen Pflicht nachzukommen. Die Wirksamkeit von Drug-Checking zur Vorbeugung von konsumassoziierten Gefahren ist belegt und die gesetzlichen Rahmenbedingungen sind geschaffen. Jetzt ist es an der Zeit, diese Möglichkeit zu nutzen und die Gesundheit und Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt zu stellen. Die Implementierung von Drug-Checking ist nicht nur ein rechtlicher Imperativ, sondern auch ein Ausdruck eines modernen, humanen und evidenzbasierten Ansatzes in der Drogenpolitik (Hirschfeld et al. 2024).

    Als weiteren Schritt zur Schadensminimierung lässt sich noch die Bundesförderung der Take-Home-Naloxonvergabe einordnen. Zur Bewältigung des opioidbedingten Drogennotfalls (Überdosis) und zur Senkung der Mortalität unter Opioidkonsument:innen soll Naloxon, ein bewährtes Mittel zur Behandlung des Drogennotfalls, flächendeckend als Take-Home- Rezept verfügbar gemacht werden – für Menschen mit riskantem Opiatkonsum. Das BMG-geförderte bundesweite Modellprojekt NALtrain (https://www.naloxontraining.de/) hat dazu Materialien erstellt, Trainings organisiert etc. Tatsächlich gibt es aber nach wie vor keine flächendeckende Versorgung mit Naloxon, wobei eine große Hürde die Verschreibungspflicht und die mangelnde Kooperation mit Ärztinnen und Ärzten darstellt (Fleißner et al. 2024; Fleißer, Stöver, Schäffer 2023; Wodarz 2024).

    Darüber hinaus setzte sich der Drogenbeauftragte der Bundesregierung für die medikamentengestützte Behandlung Opioidabhängiger ein. Allerdings bleiben die Erfolge begrenzt. Weiterhin bleibt es bei einer großen Abnahme der Zahl der Ärztinnen und Ärzte, die überhaupt eine solche Behandlung anbieten.

    Der Drogenbeauftragte hat weitere Missstände der Drogenpolitik aufgezeigt und Verbesserungen angeregt, z. B.:

    • Forderung „Weg mit dem Begleiteten Trinken!“
    • Diskussion um die Heraufsetzung des Zugangs zu Alkohol auf 18 Jahre
    • Regulierung der Zugänglichkeit zu Lachgaskartuschen
    • Diskussion um den Einbezug einer schadensminimierenden Strategie in die Tabakkontrollpolitik
    • Umgang mit Crack-Konsumierenden
    • und vieles mehr

    Gesetzliche Veränderungen, strukturelle Verbesserungen, v. a. im Bereich der Schadensminimierung, sind daraus nicht erwachsen.

    3. Alkohol- und Nikotinprävention: verstärkte Aufklärung mit besonderem Fokus auf Kinder, Jugendliche und schwangere Frauen

    Tabak und Alkohol sind legal und in unserer Kultur verankert. Das Abhängigkeitspotenzial dieser Volksdrogen ist gleichwohl hoch und sie führen zu enormen gesundheitlichen und sozialen Schäden. Allein an den Folgen des Alkohols sterben pro Jahr etwa 74.000 Menschen, an den Folgen des Tabakkonsums 110.000. Beide Substanzen zählen zu den Hauptrisikofaktoren bei Krebs und anderen tödlichen Erkrankungen. Die volkswirtschaftlichen Schäden summieren sich auf Milliardensummen. Im Vergleich mit anderen Ländern tut Deutschland wenig, um die zerstörerischen Folgen für Individuen und Gesellschaft zu reduzieren. Im Gegenteil: Alkohol ist omnipräsent in der Gesellschaft. Bei der Zahl der Zigarettenautomaten – in anderen Ländern längst verschwunden – sind wir Weltmeister. 340.000 Automaten animieren im öffentlichen Raum zum Zigarettenkauf. Bei der Tabakkontrolle liegen wir laut Tabakatlas des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) auf einem der letzten Plätze in Europa. Beim Alkohol-Pro-Kopf-Verbrauch sind wir auf den vorderen Rängen.

    Wir könnten Menschen Unterstützung anbieten, die das Rauchen einschränken oder Gesundheitsrisiken verringern möchten, ohne aufzuhören – mit Maßnahmen, die zu ihrem Lebensstil passen. So führt zum Beispiel nach aktuellen Studien die E-Zigarette bei einem Teil der Raucher:innen zur Verringerung oder Aufgabe des Tabakkonsums. Zugleich zieht sie kaum neue Konsumierende an, animiert also nicht zum Rauchen. In einem wissenschaftlich fundierten Diskussionsprozess gilt es nun, Chancen und Risiken der E-Zigarette abzuwägen, um dann klare Botschaften an (potenzielle) Konsumenten zu senden (Steimle, Grabski, Stöver 2024).

    Die Elefanten im Raum der Drogenpolitik und Drogenhilfe bleiben also Alkohol, Tabak und Medikamente. Für all diese Substanzen mit massiven Auswirkungen auf die psychische und körperliche Gesundheit der Konsumierenden, ihrer Kinder und anderer Angehörige sowie ihres sozialen Umfeldes insgesamt hat die Ampelkoalition nicht einmal wichtige, evidenzbasierte Maßnahmen der Verhältnisprävention im Koalitionsvertrag formuliert, so weit weg ist man davon, die verursachten Gesundheitsprobleme zu adressieren – von den entstandenen volkswirtschaftlichen Schäden ganz zu schweigen!

    Spürbare Maßnahmen zur Verbesserung der Alkohol- und Nikotinprävention sind in der letzten Legislaturperiode nicht erfolgt.

    4. Verschärfung der Regelungen für Marketing und Sponsoring bei Alkohol, Nikotin und Cannabis

    Auch zu dieser letzten Zielsetzung der Koalitionsvereinbarungen der Ampelregierung ist eigentlich nichts passiert. Das Gesundheitsministerium hat eine eigens beauftragte Studie zum Thema „Werbeverbot für Alkohol“ weder veröffentlicht, noch ist es deren Erkenntnissen gefolgt. Die Studie empfahl ein komplettes Werbeverbot (vgl. Manthey et al. 2024; vgl. tageschau.de, 08.01.2025). Dabei hatte die Regierung in ihrer Vereinbarung doch gerade explizit angekündigt, wissenschaftliche Erkenntnisse zu prüfen: „Wir messen Regelungen immer wieder an neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und richten daran Maßnahmen zum Gesundheitsschutz aus.“

    Wichtige, evidenzbasierte Änderungen in der Alkoholpolitik sind in den letzten Jahren nicht erfolgt: Die letzten entscheidenden Gesetzesänderungen gab es in der Zeit der rot-grünen Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder. Damals wurde die Promillegrenze im Straßenverkehr von 0,8 auf 0,5 gesenkt sowie die Alkopop-Steuer eingeführt (tageschau.de vom 08.01.2025.

    Was muss eine neue Bundesregierung im Bereich Drogenpolitik tun, um Suchtgefährdungen entgegenzuwirken? Was muss sie tun, damit Menschen mit Abhängigkeitsstörungen früher beraten und behandelt werden?

    Hier seien nur einige Bereiche benannt, die für eine verbesserte Aufklärung und Kontaktaufnahme sowie für eine bessere Beratung und Behandlung von Menschen mit Substanzgebrauchsstörungen wichtige Voraussetzungen bilden.

    1. Umstrukturierung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zum Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit

    Im Koalitionsvertrag ist festgelegt: „Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung geht in einem Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit am Bundesministerium für Gesundheit auf, in dem die Aktivitäten im Public-Health Bereich, die Vernetzung des ÖGD und die Gesundheitskommunikation des Bundes angesiedelt sind. Das RKI soll in seiner wissenschaftlichen Arbeit weisungsungebunden sein.“ (S. 65)

    Das bedeutet, dass auch die Maßnahmen im Schwerpunkt der Drogen- und Suchtprävention der BZgA auf ihre Wirksamkeit überprüft und neue Konzepte zum Ausbau der Risikokompetenzförderung erprobt werden sollten. Beispielhaft sei hier auf den österreichischen risflecting®-Ansatz verwiesen (Koller 2015; https://risflecting.eu/).

    Die BZgA hat eine Reihe von guten wissenschaftlichen Analysen publiziert und gute Präventionsprogramme entwickelt (wie HaLT, drugcom, Kenn Dein Limit. etc.), aber diese waren häufig nicht ausgerichtet auf risikoreiche Lebensbedingungen, sondern mittelschichtsorientiert, sodass in der Prävention des Cannabis- oder Tabakkonsums nicht die konsumentschlossenen Menschen erreicht wurden und Glaubwürdigkeitslücken existierten. Das sollte untersucht werden, um die Maßnahmen stärker auf die Vermittlung von Risikokompetenzen auszurichten und weniger auf die Verhinderung des Konsums. Diesen Prozess sollte der Drogenbeauftragte in enger Abstimmung mit dem Fachreferat Drogen und Sucht des BMG begleiten.

    Überprüft werden sollte auch die Mitfinanzierung von Kampagnen im Bereich der Alkoholprävention durch die private Krankenversicherung (PKV), die damit auch versucht hat, die Entwicklung einer Bürgerversicherung zu behindern.

    2. Suchtprävention und Suchthilfe stärken!

    Laut einer aktuellen Studie der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) können etwa drei Viertel der Suchtberatungsstellen nicht kostendeckend arbeiten. Stellen werden abgebaut, Beratungs- und Betreuungszeiten gekürzt – das alles führt zu Wartezeiten, Abweisungen etc. Frühzeitige Hilfen, besonders bei Störungen mit hohem Chronifizierungspotenzial, sind ebenso notwendig wie verlässliche und nachhaltige Hilfen im kommunalen Suchthilfeverbund. Welche fatalen Folgen würde ein weiteres Zusammensparen der kommunalen Drogenhilfe haben!

    Ein gut ausgebautes Hilfesystem rettet Leben! Die Suchthilfe braucht ein stabiles Fundament und muss angesichts jüngster Entwicklungen ausgebaut werden – unabhängig von Konjunkturen und Haushaltslagen. Es gibt den Vorschlag, Suchtberatung mit Prävention, psychosoziale Begleitung bei Substitution sowie Therapie und Selbsthilfeunterstützung für Konsument:innen und begleitende Angehörige als Pflichtaufgabe für die Kommunen zu erklären und stabil zu finanzieren. Die Krankenkassen sind angemessen zu beteiligen. Die Begleitung ist unbürokratisch und niedrigschwellig zu finanzieren. Den besonderen Schwierigkeiten bei der Inanspruchnahme des Bundesteilhabegesetzes durch Konsument:innen mit Hilfebedarf ist mit niedrigschwelligen Hilfeplanverfahren, ggfs. Fallpauschalen, zu begegnen (DHS 2023).

    3. Bündelung der Steuerungskapazitäten der Drogenpolitik

    Das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen mit beschränkten Ressourcen und geringen Befugnissen kann so nicht länger aufrechterhalten werden! Benötigt wird eine Bündelung der Kompetenzen innerhalb einer arbeitsfähigen, interministeriell und interdisziplinär besetzten Organisation, zu deren Mitgliedern Vertreter:innen des Bundes, der Länder und Kommunen, der Verbände der Selbsthilfe sowie der Forschung und Wissenschaft gehören. Denn: Sucht- und Drogenprobleme sind ein zu großes Feld der Gesundheitspolitik (8,2 Millionen Menschen in Deutschland sind abhängig von Substanzen, Medien oder Glücksspiel etc.; 13 Millionen Menschen konsumieren Substanzen missbräuchlich), als dass man sie verstreut über mehrere Ministerien oder nur pflichtschuldig auf Minimalniveau (nur notwendige Anpassungen an EU-Vorgaben etc.) bearbeiten kann. Selbst die zuständigen Regulierungsbehörden kommen mit der Geschwindigkeit, den Dynamiken und Herausforderungen des illegalen und legalen Drogenmarktes nicht zurecht. Jüngstes Beispiel ist die Einweg-E-Zigarette, die v. a. unter jungen Menschen immer größere Verbreitung findet, weil fast jede/r Rapper:in in den Social Media ein eigenes Label mit kinder- und jugendaffiner Werbung hat. Auch eine Lachgas-Regulierung lässt auf sich warten.

    Zusammenfassung

    Die Koalitionsvereinbarungen der Ampelregierung sind aus unterschiedlichen Gründen nur zu einem geringen Teil umgesetzt worden. Im Wesentlichen waren sie unscharf formuliert, so dass einiges nicht operationalisierbar/messbar war. Zum Teil standen rechtliche Hürden einer Umsetzung im Weg. Die in den Koalitionsvereinbarungen formulierten Zielsetzungen spiegelten auch nur einen kleinen Teil der notwendigen Entwicklungsschritte der Drogenpolitik wider. Diese Selektivität der Zielsetzungen im Kontext dringend benötigter Reformen zeigt auch, dass diese Ziele nicht wissenschaftlich fundiert, praxisorientiert oder aus fachpolitischen Diskursen generiert worden sind, sondern sie sind jenseits und unabhängig davon formuliert worden.

    Die hier vertretenen Auffassungen geben die Meinung der Verfasser wieder und entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion.

    Hinweis: LEAP Deutschland (Law Enforcement Against Prohibition Deutschland e. V.) hat die Wahlprogramme der Parteien, die nach den vorliegenden Einschätzungen in den nächsten Bundestag einziehen können, in Bezug auf die Aussagen zur Drogenpolitik untersucht. Die Ergebnisse finden Sie HIER.

    Angaben zu den Autoren und Kontakt:

    Dr. Ingo Ilja Michels: Soziologe, Experte für HIV/AIDS-Prävention und Suchtbehandlung; Internationaler wissenschaftlicher Koordinator des DAAD-Programmes „SOLID – Soziale Arbeit und Stärkung von Nichtregierungsorganisationen in der Entwicklungszusammenarbeit zur Behandlung von Drogenanhängigkeit“ an der Frankfurt University of Applied Sciences; früherer Leiter des Büros der Bundesdrogenbeauftragten im Bundesministerium für Gesundheit in Berlin; jetzt: Bonn, Deutschland
    E-Mail: ingoiljamichels(at)gmail.com

    Prof. Dr. Heino Stöver: Frankfurt University of Applied Sciences, geschäftsführender Direktor des Instituts für Suchtforschung (ISFF), Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit; u. a. Berater der Weltgesundheitsorganisation WHO und des United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) für das Programm „Gesundheit im Strafvollzug“ (Health in Prisons Programme)
    E-Mail: Heino.stoever(at)fb4.fra-uas.de

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  • Chemsex und seine Relevanz in der Drogen- und Suchtberatung

    Chemsex und seine Relevanz in der Drogen- und Suchtberatung

    Das Phänomen Chemsex wurde 2020 von Grümer und Iking (vgl. S. 6) als neue Herausforderung für die Suchthilfe beschrieben und früher als ein spezielles Thema der Communityberatungen behandelt. Inzwischen hat es auch eine Relevanz in der Drogen- und Suchtberatung erlangt. Der vorliegende Artikel widmet sich dem Überblick über das Phänomen Chemsex und beschreibt praxisorientierte Ansätze für die Beratung von Männern*, die Chemsex praktizieren und Beratungsstellen aufsuchen. Die Schreibweise Männer* bzw. die Verwendung der maskulinen Form mit Genderstern weist darauf hin, dass alle gemeint sind, die sich selbst als männlich positionieren, und nicht nur Cis-Männer.

    Überblick

    Herkunft und Bedeutung des Begriffs

    Der Begriff Chemsex ist eine aus dem Englischen entlehnte Wortneuschöpfung, welche sich aus den Worten „chemicals“ (engl. Substanzen) und „sex“ zusammensetzt. Die Kombination der beiden Begriffe führte zum Akronym Chemsex (vgl. Haslebacher et al. 2022, o. S.). Sander und Gamsavar (vgl. 2022, S. 5) beschreiben das Phänomen als eine spezifische kulturelle Praxis von Männern*, die Sex mit Männern* haben (MSM*), bei der häufiger in privaten Settings psychotrope Substanzen im sexuellen Kontext konsumiert werden. Erstmals wurde das Phänomen zu Beginn des Jahrtausends beschrieben. Nach David Stuart (2016) entstand der Begriff Chemsex auf Dating-Apps für homosexuelle Männer* und wurde vom Bereich der sexuellen Gesundheit übernommen.

    Obgleich die mediale Aufmerksamkeit dazu geführt haben mag, dass der Begriff in einer Weise verwendet wird, die den Konsum von Drogen in sexuellen Kontexten durch eine beliebige Gruppe an Menschen beschreibt, bezeichnet Chemsex tatsächlich die Verwendung von bestimmten Substanzen von Männern*, die Sex mit Männern* haben (MSM*), vor oder während des Geschlechtsverkehrs. Zu diesen Substanzen gehören unter anderem Crystal Meth, Mephedron, GHB/GBL und Ketamin (vgl. Stuart 2016, S. 295; Bourne et al. 2014a, S. 3 f.). Der Konsum der genannten Substanzen erfolgt in erster Linie oral, nasal oder durch Inhalation. Darüber hinaus wird auch ein intravenöser Konsum beobachtet, insbesondere von Methamphetamin (vgl. Deimel/Stöver 2015, S. 66). Der intravenöse Gebrauch von Substanzen wird durch den Begriff „Slamming“ beschrieben. Im deutschen Sprachgebrauch wird der Begriff mit „(zu)knallen“ assoziiert, da die Wirkung unmittelbar einsetzt (vgl. DAH 2014, o. S.). Allerdings wird der intravenöse Konsum lediglich von einer Minderheit der MSM* praktiziert (vgl. Deimel et al. 2017, S. 255).

    Motive des Konsums

    Die Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung (Clubdrug Studie von Graf et al. 2016) legen dar, welche Motive hinter dem Substanzkonsum im sexuellen Setting bei MSM* stehen können. Die Befragten berichten von der Erfahrung von Entgrenzung, einer Steigerung der sexuellen Leistungsfähigkeit sowie einem intensiveren sexuellen Erleben. Zudem wird von einem Abbau von Scham und Tabus  berichtet (vgl. Deimel et al. 2017, S. 255).

    Im Laufe der Zeit hat sich die Perspektive auf die Praktik gewandelt und es konnten weitere Merkmale bzw. Motive identifiziert werden. Im Rahmen der Chemsexkonferenz (2016) wurde dargelegt, dass Klienten* einen starken Wunsch nach Intimität, Beziehung und Nähe hegen oder dass die Praktik eine Art des Eskapismus darstellt, da MSM* mit verschiedenen Stressoren konfrontiert sind. Der Konsum von Substanzen diene dazu, Unsicherheiten in Bezug auf den eigenen Körper und die sexuelle Praxis zu reduzieren (Sander & Gamsavar 2022, S. 5). Des Weiteren bewegen sich überproportional viele Männer* mit HIV in diesem Kontext. Dies lässt darauf schließen, dass es hier keine Stigmatisierung von HIV-positiven Männern* gibt (ebd.). Das Phänomen Chemsex bzw. die „sexuelle Subkultur“ kann auch als kollektiver psychologischer Abwehrmechanismus gegen Selbstwertkonflikte, Scham, Angst oder Selbstzweifel betrachtet werden (Großer 2022, S. 9). In der Folge kann die These aufgestellt werden, dass Chemsex als Strategie genutzt wird, um sich zeitweise der gesellschaftlichen und subkulturellen Optimierung zu entziehen (vgl. Sander & Gamsavar 2022, S. 5).

    Gesundheitsrisiken

    Der Konsum von Substanzen im Kontext sexueller Aktivitäten wird mit einem erhöhten Risiko für HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen (STI) assoziiert. Diese Annahme basiert auf der Hypothese, dass die Wirkung von Substanzen dazu führen kann, dass MSM* nicht mehr ausreichend Safer-Sex- und Safer-Use-Strategien anwenden (vgl. Deimel et al. 2017, S. 253). Tatsächlich kann der Konsum im sexuellen Setting zu Infektionen führen. Doch solche monokausalen Erklärungsmuster sollten in der Beratung vermieden werden (vgl. Bochow et al. 2011, S. 131 f.). Neben anderen physischen Auffälligkeiten wie Herz-Kreislauf-Beschwerden, Schlafproblemen und Entzugserscheinungen beschreiben die MSM*, die in der Untersuchung von Deimel et al. (2017) befragt wurden, psychische Folgen wie „Panikattacken, Angstzustände und Psychosen“ (S. 256 f.).

    Globalisierung und Digitalisierung – Zugang zur schwulen Sexkultur

    Das Phänomen Chemsex manifestiert sich nicht ausschließlich in spezifischen geographischen Regionen, sondern muss aufgrund von Globalisierung und Digitalisierung international betrachtet werden (vgl. Großer 2022, S. 11). Aufgrund der globalen Mobilität, der Sexarbeit sowie des international verfügbaren Zugangs zur Pornoindustrie hat sich eine global agierende schwule Sexkultur entwickelt (vgl. ebd.). In dieser Kultur wurden Verhaltensregeln, Rituale und Substanzen etabliert, die gemeinschaftsbildende Erfahrungen und sexuelle Erlebnisse ermöglichen. Chemsex kann als Subkultur innerhalb der schwulen Sexkultur definiert werden, deren Verbreitung größtenteils über digitale Plattformen erfolgt (ebd.). Eine Besonderheit digitaler Kontaktseiten besteht darin, dass die Suche nach Sexpartnern nicht mehr örtlich oder zeitlich beschränkt ist. So werden Möglichkeiten geschaffen, dass MSM* in ländlichen Räumen mit schwacher Infrastruktur Zugang zur schwulen Sexkultur haben und Teil der schwulen Lebenswelt der Metropolen sein können (vgl. Großer 2022, S. 11). Es lässt sich jedoch ein Zusammenhang zwischen der Stadtgröße und dem Anteil von Usern* mit problematischem Substanzgebrauch feststellen (vgl. Sander, Gamsavar 2022, S. 5).

    Ein Thema für verschiedene Professionen

    Es ist insgesamt festzuhalten, dass Chemsex nicht ausschließlich als Subkultur innerhalb der schwulen Sexkultur zu werten ist, sondern auch als Praktik, die in verschiedenen Professionen thematisiert werden kann. So ist auch die Soziale Arbeit gefordert, wenn Männer* die negativen Konsequenzen ihres Substanzkonsums im sexuellen Kontext erleben und Unterstützung im System suchen. Daher sind nicht nur Projekte, die sich an der schwulen Lebenswelt orientieren, gefragt, sondern auch allgemeine Drogen- und Suchtberatungen, die sich der Dimensionen von Sexualität und Substanzkonsum bewusst sind (vgl. Deimel et al. 2017, S. 257 f.). Infolgedessen betrifft das Thema Chemsex verschiedene professionelle Handlungsfelder, darunter Drogenhilfe, sexuelle Gesundheit und psychosoziale Beratung. Die Nutzung digitaler Räume hat die Reichweite und Sichtbarkeit des Themas deutlich erhöht. Zudem beschränkt sich die Thematik nicht nur auf Großstädte, sondern stellt ein globales Phänomen dar.

    Praktische Ansätze für die Drogen- und Suchtberatung

    Die Beratung von Männern*, die zum Thema Chemsex Rat und Hilfe suchen, erfordert eine flexible und vernetzte Herangehensweise. Im Folgenden werden mögliche praktische Ansätze in der Beratung vorgestellt, die in Betracht gezogen werden sollten. Diese Ansätze wurden ausführlich im Rahmen einer Abschlussarbeit mit dem Titel „Rekonstruktion der professionellen Wissensbasis in der Drogen- und Suchtberatung zum Thema Chemsex – Substanzkonsum im sexuellen Setting bei Männern*, die Sex mit Männern* haben“ (Keßler 2023) beschrieben.

    Sensibilisierung, Wissensaufbau und Arbeitsbeziehung

    Von essenzieller Bedeutung ist, dass die Beratenden für das Thema sensibilisiert sind und eine Grundidee von der Lebenswelt der Klientel haben. Hierdurch können Missverständnisse und erneute Outingprozesse vermieden werden. Es ist für Beratende unerlässlich, die sozialen und individuellen Dimensionen von Chemsex zu verstehen, um erfolgreich handeln zu können. Fortbildungen müssen sowohl die Substanzkunde als auch die Dynamiken von Chemsex-Settings abdecken. Im Weiteren sollten Beratende mit den Begriffen vertraut sein, die in Chemsex-affinen Räumen verwendet werden, um möglichst gezielte Fragen stellen zu können und eine Offenheit dem Thema gegenüber zu signalisieren. Zum Beispiel werden Substanzen nicht immer unter ihren eigentlichen Namen genannt, sondern oft codiert. So wird Methamphetamin als „Tina“ bezeichnet, während GHB/GBL den Namen „Gina“ trägt. Zudem kann auf Dating-Apps durch Abkürzungen wie „PnP“ („Party and Play“) signalisiert werden, dass man für Chemsex offen ist.

    Von besonderer Relevanz ist die Auseinandersetzung mit Stigmata und Vorurteilen, denen die Klientel potenziell ausgesetzt ist. Die Entwicklung eines Verständnisses für die Lebenswelt der Männer* erleichtert den Klienten* den Zugang zur Beratung. Dies setzt außerdem voraus, dass ein Raum geschaffen wird, in dem sich die Klienten* verstanden und wertfrei angenommen fühlen.

    Dabei ist es nicht das Ziel, dass jede*r Beratende unzählige Fortbildungen zu dem Thema absolviert und zur Expert*in wird. Vielmehr geht es darum, eine wertschätzende Haltung zu entwickeln, die es ermöglicht, in einen Dialog zu treten. Der Aufbau einer respektvollen, vertrauensvollen und vorurteilsfreien Beziehung ist essenziell für eine effektive Beratung im Kontext von Chemsex. Viele Klienten* erleben aufgrund ihres Substanzkonsums im sexuellen Setting Scham, Schuldgefühle und Angst vor Stigmatisierung, was ihre Bereitschaft, offen über ihre Situation zu sprechen, beeinträchtigen kann. Beratende sollten eine Atmosphäre schaffen, die Offenheit, Sicherheit und Akzeptanz signalisiert. Eine affirmierende Haltung gegenüber den Lebensrealitäten von LGBTQI*-Personen umfasst nicht nur die Vermeidung von Vorurteilen, sondern auch ein aktives Verständnis und die Anerkennung der spezifischen Herausforderungen und Bedürfnisse, mit denen die Klientel konfrontiert sein kann. Dazu gehört das Wissen um die kulturellen und sozialen Aspekte der LGBTQI*-Community ebenso wie die Sensibilität für Themen wie Diskriminierung, Minderheitenstress und die Rolle von Substanzen in diesem Kontext. Das Ziel ist, eine Beratungsbeziehung zu etablieren, in der sich Klienten* angenommen fühlen und ihre Bedürfnisse, Ängste und Ambivalenzen frei äußern können.

    Thematisierung von Konsummustern und Sexualität

    In der Beratung ist es entscheidend, Substanzkonsum und Sexualität als eng miteinander verknüpfte Themen zu betrachten. Viele der User* erleben Herausforderungen, die aus dieser Dynamik entstehen, wie beispielsweise keine Lust mehr zu empfinden, wenn der Substanzgebrauch wegfällt. Eine klare, wertschätzende und wertfreie Ansprache ist unerlässlich, um Hemmungen und Schamgefühle zu verringern. Sensibilität gegenüber den Themen Sexualität und Konsum ist besonders wichtig, da diese von Stigmatisierung und Schuldgefühlen begleitet werden können. Beratende sollten darauf achten, dass die Gespräche Raum für Offenheit bieten, ohne den Eindruck von Beurteilung oder moralischer Ablehnung zu vermitteln. Durch eine behutsame Thematisierung können Klienten* nicht nur ihre Konsummuster besser verstehen, sondern auch mögliche Risiken und Folgen erkennen, was eine Grundlage für Veränderungsprozesse schaffen kann.

    Förderung von Safer-Use- und Safer-Sex-Strategien

    Ein zentraler Bestandteil der Beratung im Kontext von Chemsex ist die Förderung von Safer-Use- und Safer-Sex-Strategien. Praktische und alltagstaugliche Maßnahmen zur Risikoreduktion tragen dazu bei, gesundheitliche Schäden zu minimieren und die Klientel dabei zu unterstützen, ein bewussteres Verhalten zu entwickeln. Die Bereitstellung und Vermittlung von Informationen über die sichere Nutzung von Konsumutensilien ist, insbesondere bei Praktiken wie dem Slamming, von Bedeutung. Das umfasst die Weitergabe von Informationen über die Bedeutung steriler Spritzen und Nadeln, um Infektionen wie HIV oder Hepatitis C zu vermeiden, sowie Informationen zur sicheren Entsorgung von gebrauchten Utensilien, um das Risiko für andere Personen zu minimieren. Darüber hinaus sollten risikoärmere Konsumformen empfohlen werden wie z. B. nasaler Konsum statt intravenöser Applikation, und es sollten Anwendungsformen wie „up your bum“ (Drogenapplikation in den Anus) thematisiert werden.

    Die Mischung verschiedener Substanzen im Chemsex-Kontext kann erhebliche gesundheitliche Risiken bergen wie z. B. unerwartete Wechselwirkungen oder Überdosierungen. Beratende sollten auf riskante Kombinationen bestimmter Substanzen hinweisen und über Symptome von Überdosierungen und Erste-Hilfe-Maßnahmen informieren. Auch in diesem Zusammenhang wird deutlich, dass das Zusammendenken von Substanzgebrauch und Sex erforderlich ist, da die Förderung sexueller Gesundheit ein integraler Bestandteil der Beratung sein sollte. Beratende können mit den Klienten* ins Gespräch gehen und auf gängige Safer-Sex-Strategien wie die Nutzung von Kondomen etc. hinweisen. Im Weiteren können Informationen über die Anwendung der PrEP (Prä-Expositionsprophylaxe) oder PEP (Post-Expositionsprophylaxe) unterstützend sein. Neben der Beratung zu diesen präventiven Maßnahmen sollten Beratende wissen, in welchen Institutionen die Klienten* einfachen Zugang zu diesen Maßnahmen haben, wo zum Beispiel niederschwellige Check-ups in Anspruch genommen werden können, um frühzeitig Infektionen zu erkennen und behandeln lassen zu können.

    Interdisziplinäre Zusammenarbeit und Netzwerkbildung

    Hilfe und Beratung im Zusammenhang mit Chemsex erfordert eine interdisziplinäre Herangehensweise, um die vielfältigen Bedarfe der Klienten* zu adressieren. Beratende sollten enge Kontakte zu spezialisierten Einrichtungen wie HIV- und STI-Beratungsstellen, sexuellen Gesundheitsdiensten und LGBTQI*-Organisationen pflegen. Zentrale Aufgaben der Beratenden sind die gezielte Weiterleitung von Klienten*, die Unterstützung bei organisatorischen Hürden sowie die Koordination zwischen den beteiligten Stellen. Interdisziplinäre Fallbesprechungen können bei komplexen Situationen hilfreich sein, um gemeinsame Lösungsstrategien zu entwickeln. Die Zusammenarbeit in Netzwerken stärkt nicht nur die Betreuung der Klienten*, sondern fördert auch den Austausch und die Weiterbildung der Fachkräfte, wodurch die Versorgungsqualität nachhaltig verbessert wird. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Berliner Chemsex-Netzwerk, das sich aus verschiedenen Professionen zusammensetzt und in regelmäßigen Abständen zusammenkommt, um sich zu aktuellen Themen in Bezug auf Chemsex auszutauschen und zu kooperieren.

    Begleitung und Rückfallprävention

    Für Männer* mit komplexen Problemlagen im Zusammenhang mit Chemsex können langfristige Unterstützungsprozesse erforderlich sein. Wenn Klienten* sich z. B. für eine Veränderung der Konsummuster entschieden haben, kann eine Rückfallprävention darauf abzielen, dass sie Strategien zur Stressbewältigung und Selbstfürsorge vermittelt bekommen. Essenziell ist hierbei, individuelle Auslöser und Risikofaktoren für Rückfälle zu identifizieren und entsprechende Maßnahmen zu erarbeiten, die sich an der tatsächlichen Lebensrealität der User* orientieren. An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass Rückfallprävention nicht gleich Abstinenzerhaltung bedeutet.

    Mit Motivierender Gesprächsführung (Motivational Interviewing, MI) können Beratungsstellen  Veränderungsprozesse unterstützen. Die MI bietet Orientierung, um die Klientel in ihrem Veränderungsprozess zu begleiten und ihre Motivation zu stärken. Langfristige Begleitung bedeutet auch, den Männern* eine verlässliche Anlaufstelle zu bieten, zu der sie im Falle von Krisen oder Rückfällen jederzeit zurückkehren können.

    Fazit

    Die Themenbereiche rund um Chemsex erfordern in der allgemeinen Drogen- und Suchtberatung an bestimmten Punkten ein spezialisiertes Wissen, Empathie und eine gute Vernetzung. Als eine der ersten Anlaufstellen spielen Beratungsstellen eine entscheidende Rolle, indem sie der Klientel niedrigschwelligen Zugang und gezielte Unterstützung bieten. Die Förderung von Sensibilisierung der Beratenden, die Vermittlung spezifischer Strategien und die interdisziplinäre Zusammenarbeit sind essenziell, um die Beratungsqualität zu steigern und die Lebenssituation der Klientel nachhaltig zu verbessern. Die beschriebenen Maßnahmen sollten stets individuell auf die Lebensrealitäten und Bedürfnisse der Klienten* abgestimmt sein. Ein pragmatischer Ansatz, der nicht auf Abstinenz als alleiniges Ziel festgelegt ist, sondern die schrittweise Reduktion von Risiken in den Fokus rückt, schafft eine niedrigschwellige und akzeptierende Beratungsatmosphäre.  Klienten* sollten dabei unterstützt werden, eigenverantwortlich und informiert Entscheidungen zu treffen, um ihre physische und psychische Gesundheit zu schützen. Eine nicht pathologisierende Haltung ist dabei zentral, um Vertrauen und Offenheit zu fördern.

    Über das Beratungssetting hinaus sollte das Thema auch in einem breiteren Kontext berücksichtigt werden, also auch in Rehabilitationseinrichtungen, im Eingliederungsbereich, im Qualifizierten Entzug oder im Bereich der Weiterbildung Suchttherapie.

    Veranstaltungshinweis:
    Chemkon Berlin 2025
    Bundeskonferenz sexualisierter Substanzkonsum
    28.-29. März 2025
    Charité Campus Mitte, Berlin
    https://biss-chemsex.com/chemkon/

    Kontakt:

    Tizian Keßler
    tizian.kessler(at)vistaberlin.de

    Angaben zum Autor:

    Tizian Keßler (M.A. Praxisforschung in Sozialer Arbeit und Pädagogik / B.A. Soziale Arbeit) leitet eine Beratungsstelle der vista gGmbH in Berlin.

    Literatur:
    • Bochow, M., Lenuweit, S., Sekuler, T. & Schmidt, A. J. (2011). Schwule Männer und HIV/AIDS. Lebensstile, Sex, Schutz- und Risikoverhalten. Berlin: Deutsche AIDS-Hilfe e.V.
    • Bourne, A., Reid, D., Hickso, F., Torres Rueda, S. & Weatherburn, P. (2014). Die Chemsex Studie: Drogenkonsum in sexuellen Umfeldern unter schwulen und bisexuellen Männern in Lambeth, Southwark & Lewisham. Zusammenfassung der Studie in HIVreport Nr.3/2014. Abgerufen am 12.07.2022: http://www.hivreport.de/sites/default/files/documents/2014_03_hiv_report.pdf
    • DAH – Deutsche Aids Hilfe (2014). Slamming – Risiken senken beim Spritzen von Chems. Abgerufen am 19.12.2024: http://www.iwwit.de/wissenscenter/drogen/slamming
    • Deimel, D. & Stöver, H. (2015). Drogenkonsum und Gesundheitsverhalten in der homo- und bisexuellen Community. In akzept e.V., Deutsche Aids-Hilfe, Jes e.V., 2. Alternativer Drogen- und Suchtbericht (S. 66-70). Lengerich: Pabst Science Publishers
    • Deimel, D., Dichtl, A. & Graf, N. (2017). Methamphetaminkonsum von Männern, die Sex mit Männern haben, in sexuellen Settings. In H. Stöver, A. Dichtl & N. Graf, Crystal Meth (S. 253-260). Frankfurt am Main: Fachhochschulverlag
    • Graf, N., Dichtl, A., Hößelbarth, S., Deimel, D. & Stöver, H. (2016). Die Clubdrug Studie – Drogenkonsum und Gesundheitsverhalten von Männern, die Sex mit Männern haben. 10.13140/RG.2.1.4238.6167
    • Großer, J. (2022). Good To Know! Eine Einführung in das Phänomen Chemsex. In U. Gamsavar, & D. Sander, Handbuch zur Durchführung von quapsss-Gruppen für ChemSex praktizierende Männer* (S. 9-12). Berlin: Deutsche Aidshilfe e.V.
    • Grümer, K. & Iking, A. (2020). Neue Herausforderung für die Suchthilfe: MSM mit Chemsex-Konsummustern. SUCHT (66), S. 303-308
    • Haslebacher, A., Brodmann Maeder, M. & Blunier, S. (2022). Chemsex – mehr als Sex unter Drogen. www.medicalforum.dh. Abgerufen am 19.12.2024: https://doi.org/10.4414/smf.2022.09061
    • Keßler, T. (2023). Rekonstruktion der professionellen Wissensbasis in der Drogen- und Suchtberatung zum Thema Chemsex – Substanzkonsum im sexuellen Setting bei Männern*, die Sex mit Männern* haben. Berlin: Alice Salomon Hochschule
    • Sander, D. & Gamsavar, U. (2022). Einleitung. In U. Gamsavar & D. Sander, Handbuch zur Durchführung von quapss-Gruppen für ChemSex praktizierende Männer* (S. 5-7). Berlin: Deutsche Aidshilfe e.V.
    • Stuart, D. (2016). A chemsex cruisble: the context and the controversy. BMJ Sexual & Reprodutive Health, S. 295-296
  • Der kleine Unterschied?

    Der kleine Unterschied?

    *Der Fachbeirat Statistik der DSHS ist derzeit vertreten durch Rudolf Bachmeier, Heike Timmen, Eva Egartner, Wolfgang Klose, Corinna Mäder-Linke, Anja Mevius, Peter Raiser, Gabriele Sauermann, Iris Otto und Detlef Weiler

    Einleitung

    2021 hatten laut Epidemiologischem Suchtsurvey (ESA) 8,8 % der erwachsenen Wohnbevölkerung in Deutschland binnen der letzten 12 Monate Cannabis konsumiert, wobei die Konsumprävalenz unter Männern (10,7 %) höher war als unter Frauen (6,8 %) (1). Bei knapp einem Drittel der Konsumenten bzw. knapp einem Viertel der Konsumentinnen wurde das Konsumverhalten als problematisch eingestuft (1). Langfristiger Konsum von Cannabisprodukten begünstigt die Entwicklung von Cannabinoidkonsumstörungen (CUD) (2).

    Eine wichtige Anlaufstelle für Menschen mit CUD ist die (ambulante) Suchthilfe. Der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS) zu Folge wurden 2023 in ambulanten Suchthilfeeinrichtungen 26.633 Betreuungen aufgrund von CUD begonnen, wobei etwa 4 von 5 Fällen auf Männer entfielen. Nur im Bereich von Alkoholkonsumstörungen (73.746 Fälle) war das Betreuungsvolumen noch größer (3). Trendanalysen auf Basis der DSHS zeigten, dass sich die Anzahl der Betreuungsfälle aufgrund von CUD seit der Jahrtausendwende verdreifacht hat (2001: 10,1 Fälle pro Einrichtung, 2021: 33,2 Fälle pro Einrichtung), der Frauenanteil unter den Betreuten aber nur minimal gestiegen ist (2001: 15,6 %; 2021: 18,1 %) (4).

    Entwicklungen innerhalb der Gesamtheit der Hilfesuchenden mit CUD werden somit stark durch Entwicklungen bei hilfesuchenden Männern geprägt. Ob sich bei weiblichen Hilfesuchenden andere Trends zeigen, soll diese Arbeit beleuchten.

    Methodik

    Datenquelle

    Im Rahmen der vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS) werden seit etwa 45 Jahren routinemäßig Daten aus ambulanten Suchthilfeeinrichtungen, stationären Rehabilitationseinrichtungen und Einrichtungen der Sozialen Teilhabe gesammelt und aufbereitet. Unsere Analysen nutzen Daten, die ambulante Suchthilfeeinrichtungen von 2001 bis 2023 für die DSHS zur Verfügung gestellt haben. Die an der DSHS teilnehmenden Einrichtungen spiegeln dabei jedes Jahr etwa 70 % aller ambulanten Suchthilfeeinrichtungen (5-7), wobei die Anzahl und Zusammensetzung des Teilnehmerpools leicht schwankt („offene Kohorte“).

    Die Datenerhebung erfolgt nach den bundesweit einheitlichen Standards des Deutschen Kerndatensatzes zur Dokumentation in der Suchthilfe (KDS) und umfasst soziodemographische und klinische Daten sowie Informationen zum Versorgungsverlauf samt Ergebnis. Eine detaillierte Auflistung der im KDS erhobenen Variablen und ihrer Ausprägungen findet sich im jährlich aktualisierten zugehörigen Manual (8). Um nationalen und internationalen Bedarfen Rechnung zu tragen, wird der KDS regelmäßig weiterentwickelt, so dass die analysierten Daten auf unterschiedlichen (miteinander kompatiblen) KDS-Versionen beruhen: 2001 – 2006: KDS; 2007 – 2016: neuer KDS 2.0; 2017 – 2023: KDS 3.0.

    Die DSHS nutzt keine personenbezogenen Daten, sondern Aggregatdaten: In jeder teilnehmenden Einrichtung werden die Daten fallweise gebündelt und in Form von Pivot-Tabellen aufbereitet. Die entsprechenden Tabellen werden anschließend über alle an der DSHS teilnehmenden Einrichtungen hinweg zu einem einzigen Gesamtdatensatz zusammengefasst. Somit stehen für jeden einzelnen Parameter geschlechts- und Hauptdiagnosebezogene Häufigkeitsverteilungen zu Verfügung (z. B. Anzahl Erstbetreuungen unter Männern mit CUD, Anzahl Betreuungen bei unter 30-jährigen Männern mit CUD), es ist aber nicht möglich, die einzelnen Informationen miteinander zu verknüpfen (z. B. Anzahl Erstbetreuungen bei unter 30-jährigen Männern mit CUD). Aufgrund der fallweisen Dokumentation können konkrete Personen mehrfach in den Datensatz eingehen. Eine ausführlichere Beschreibung der Prozesse innerhalb der DSHS wurde anderweitig publiziert (9). Die Ergebnisse aus den Routineläufen der DSHS sind in Form von Excel-Tabellenbänden öffentlich verfügbar (https://suchthilfestatistik-datendownload.de/Daten/download-CDS-2.html).

    Statistische Analyse

    Unsere Analysen schließen alle Betreuungszugänge aufgrund von Cannabinoidmissbrauch (ICD10-Diagnose: F12.1) und Cannabinoidabhängigkeit (ICD10-Diagnose F12.2) ein. Die Betreuungen wurden für die einzelnen Jahre getrennt nach (biologischem) Geschlecht aufbereitet und ausgewertet. Um die Relevanz von CUD in der ambulanten Suchthilfe zu spiegeln, haben wir zunächst

    • den Anteil an CUD-bedingten Betreuungen an allen Betreuungen im Zeitverlauf sowie
    • die durchschnittliche Anzahl an CUD-bedingten Betreuungen pro Einrichtung

    abgebildet. Anschließend wurden Trends hinsichtlich

    • Alter bei Betreuungszugang (in Jahren),
    • ausgewählter soziodemographischer Parameter (zusammenlebend mit minderjährigen Kindern, Abitur, Arbeitslosigkeit),
    • Erstbetreuung (d. h. ohne Vorerfahrung mit der Suchthilfe; ja/nein) und
    • Betreuungsergebnis (verbesserte Symptomatik ja/nein)

    bei hilfesuchenden Männern und Frauen gegenübergestellt.

    Hierfür wurden zunächst Anteilswerte bei Beginn (2001) und Ende (2023) des Beobachtungszeitraums erfasst und mögliche Unterschiede anhand nicht-überlappender 95 %-Konfidenzintervalle (KI) bewertet. Diese Intervalle geben eine Spannweite an, in der der wahre Parameterwert mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 % liegt. Sobald sich Konfidenzintervalle überlappen, lässt sich ein Unterschied nicht statistisch nachweisen. Anschließend wurde für alle Variablen der geschlechtsspezifische Gesamttrend über Joinpoint-Analysen (Joinpoint Trend Analysis Software Version 4.9.1.0 (10)) ermittelt. Im Rahmen von Joinpoint-Analysen lassen sich Bruchpunkte in Zeitreihen (sog. Joinpoints (JP)) identifizieren, an denen sich die Trendrichtung oder Trendstärke signifikant verändert (11-13). Für unsere Analysen wurde ein Signifikanzniveau von 5 % gewählt.

    Ergebnisse

    Relevanz von CUD in der ambulanten Suchthilfe in Deutschland

    2001 erfolgten bei Männern 7,7 % [95 %-KI: 6,8 %; 8,6 %] der 40.288 Betreuungszugänge aufgrund von CUD, bei Frauen waren es 5,0 % [3,2 %; 6,8 %] der 11.554 Betreuungszugänge. Bis 2023 hatte sich der entsprechende Anteil bei beiden Geschlechtern in etwa verdreifacht, bei Männern auf 19,8 % [19,3 %; 23,3 %] (von 107.411 Betreuungszugängen) und bei Frauen auf 13,6 % [12,7 %; 14,5 %] (von 39.102 Betreuungszugängen). Damit wurden 2001 in jeder Einrichtung im Mittel 8,5 CUD-bedingte Betreuungen bei Männern durchgeführt, 2023 waren es 23,7. Für Frauen lagen die entsprechenden Werte bei 1,6 und 5,9 (siehe Abbildung 1).

    Abbildung 1: Relevanz von CUD in der ambulanten Suchthilfe, 2001 – 2023

    Alter bei Betreuungsbeginn

    2001 lag das Durchschnittsalter der wegen CUD betreuten Männer mit 21,8 Jahren ähnlich hoch wie das der wegen CUD betreuten Frauen mit 21,7 Jahren. Bis 2023 stieg das Durchschnittsalter bei Männern auf 25,9 Jahre und bei Frauen auf 26,4 Jahre. Hierbei wechselten bei beiden Geschlechtern stabile Phasen mit Phasen des Anstiegs (siehe Abbildung 2).

    Abbildung 2: Durchschnittsalter der wegen CUD betreuten Männer und Frauen, 2001 – 2023

    Lebenssituation

    2001 teilte einer von 20 wegen CUD betreuten Männern (4,8 %; [1,1 %; 8,4 %]) bzw. eine von 7 wegen CUD betreuten Frauen (14,6 %; [6,6%; 22,5 %]) den Haushalt mit minderjährigen Kindern. Während bei Männern bis 2023 ein beständiger Anstieg auf nahezu das Doppelte des Ausgangswertes zu beobachten war (8,1%; [6,7 %; 9,5 %]), blieb der Anteilswert bei Frauen auf einem im Vergleich dazu signifikant höheren Niveau stabil (16,6 %; [14,0 %; 19,3 %]) (siehe Abbildung 3).

    Abbildung 3: Mit minderjährigen Kindern zusammenlebende wegen CUD betreute Männer und Frauen, 2001 – 2023

    Schulabschluss Abitur

    Das (Fach-)Abitur hatte 2001 einer von 20 wegen CUD betreuten Männern (4,5 %; [0,8 %; 8,3 %]) bzw. eine von 14 wegen CUD betreuten Frauen (7,0 %; [0,0%; 15,6 %]). Diese Anteilswerte werden statistisch als vergleichbar eingestuft. 2023 hatten Männer in einem Siebtel der Fälle (13,6 %; [12,1 %; 15,2 %]) und damit häufiger das (Fach-)Abitur als 2001. Bei Frauen lag der entsprechende Anteil bei einem Sechstel (17,7 %; [7,0 %; 28;4 %])wobei statistisch kein Unterschied zu 2001 nachweisbar war. Auch 2023 bestand kein Geschlechtsunterschied hinsichtlich des Anteils mit (Fach)Abitur. Im Beobachtungszeitraum wechselten bei beiden Geschlechtern Anstiegsphasen und stabile Phasen (siehe Abbildung 4).

    Abbildung 4: (Fach-)Abitur bei wegen CUD betreuten Männern und Frauen, 2001 – 2023

    Erwerbsstatus

    Der Anteil an Arbeitslosen unter wegen CUD betreuten Männern war 2001 mit einem Fünftel (20,4 %; [16,0 %; 24,8 %]) ähnlich hoch wie 2023 mit einem Viertel (24,8 % [23,6 %; 26,1 %]). Wegen CUD betreute Frauen waren 2023 in 3 von 10 Fällen arbeitslos (29,7 % [27,2 %; 32,2 %]) und damit signifikant häufiger als 2001, als ein Sechstel arbeitslos war (15,8 % [4,8 %; 26,9 %]). Somit war Arbeitslosigkeit unter Frauen und Männern 2001 ähnlich weit verbreitet, 2023 waren Frauen aber signifikant häufiger arbeitslos als Männer. Nach einem anfänglichen Anstieg ist bei beiden Geschlechtern der Anteil an Arbeitslosen in den letzten etwa 15 Jahren des Beobachtungszeitraums rückläufig (siehe Abbildung 5).

    Abbildung 5: Arbeitslosigkeit bei wegen CUD betreuten Männern und Frauen, 2001 – 2023

    Erstbetreute

    Während 2001 jeweils etwa 4 von 5 wegen CUD betreuten Männern (79,2 %; [77,5 %; 80,9 %]) bzw. Frauen (82,2 % [78,5 %; 85,9 %]) mit der laufenden Betreuung erstmalig in Kontakt zum Suchthilfesystem traten, waren Erstbetreuungen 2023 mit jeweils 5 von 9 Fällen sowohl bei Männern (55,2 % [54,2 %; 56,2 %]) als auch Frauen (58,9 %; [57,0 %; 60,8 %]) signifikant seltener. Nach einem anfänglichen starken Rückgang hat sich der Anteil an Erstbetreuungen bei beiden Geschlechtern ab 2008 bzw. 2009 stabilisiert (siehe Abbildung 6).

    Abbildung 6: Erstbetreute unter wegen CUD betreuten Männern und Frauen, 2001 – 2023

    Ergebnis bei Betreuungsende

    2001 hatte sich die CUD-Problematik bei Betreuungsende bei 4 von 9 Männern (55,2 % [51,0 %; 59,4 %]) verbessert. Bei Frauen lag der Anteil mit etwa der Hälfte der Fälle (51,8 %; [40,1 %; 63,6 %]) ähnlich hoch. 2023 war bei jeweils knapp 2 von 3 betreuten Männern (61,0 % [59,9 %; 62,0 %]) bzw. Frauen (60,6 % [58,5 %; 62,7 %]) eine Verbesserung zu verzeichnen. Bei Männern überstieg dieser Anteil den Ausgangswert signifikant, bei Frauen war er vergleichbar. Der Anteil an Betreuungen, die mit einer verbesserten Suchtproblematik enden, geht bei beiden Geschlechtern nach einem anfänglichen Anstieg seit 2007 leicht zurück (siehe Abbildung 7).

    Abbildung 7: Anteil an mit verbesserter Suchtproblematik beendeten Betreuungen unter wegen CUD betreuten Männern und Frauen, 2001 – 2023

    Diskussion

    Die nach Geschlecht stratifizierten Analysen unterstreichen, dass sich der Anteil CUD-bedingter Betreuungen in der ambulanten Suchthilfe bei Männern wie Frauen von 2001 bis 2023 verdreifacht hat – bei Männern aber von einem deutlich höheren Ausgangsniveau aus. Das Durchschnittsalter der Hilfesuchenden hat sich von Anfang auf Mitte 20 erhöht. Der Anteil an Erstbetreuungen war, nach einem anfänglichen Rückgang, in den letzten 15 Jahren des Beobachtungszeitraums stabil. Zeitgleich sinkt der Anteil an Betreuungen, die mit einer verbesserten CUD-Symptomatik enden – wobei die entsprechenden Anteilswerte bei Männern noch über dem Ausgangsniveau bzw. bei Frauen auf dem Ausgangsniveau liegen. All diese Trendverläufe sind bei Männern und Frauen nahezu deckungsgleich, weswegen die in der Hauptpublikation (4) diskutierten Erklärungsansätze für beide Geschlechter greifen dürften.

    Das steigende Durchschnittsalter der Hilfesuchenden könnte damit zusammenhängen, dass auch Cannabiskonsumierende im Mittel älter werden (14). Ein zweiter Erklärungsfaktor dürfte das erhebliche Rückfallrisiko (15) sein, das sich auch im gesunkenen Anteil an Erstbetreuungen spiegelt. Naturgemäß sind Hilfesuchende bei jeder neuen Betreuungsepisode älter als bei der vorhergehenden. Dass Betreuungen seltener mit einer verbesserten CUD-Problematik enden, sollte im Kontext der rückläufigen Erstbetreuungen gesehen werden und nicht als abnehmende Effektivität der Suchthilfe missinterpretiert werden. Menschen, die wiederholt wegen CUD Suchthilfe nachfragen, dürften eine höhere psycho-soziale und medizinische Problemlast haben als Erstbetreute. Die Chance für eine Verbesserung im Zuge der Betreuung dürfte bei komplexeren Fällen geringer sein (16-19).

    Zugleich zeigen sich gewisse soziodemographische Unterschiede zwischen den wegen CUD betreuten Männern und Frauen. So leben Frauen durchwegs häufiger mit minderjährigen Kindern zusammen als Männer, obgleich bei Männern diesbezüglich ein gewisser „Aufholeffekt“ zu beobachten ist. Zudem haben hilfesuchende Frauen tendenziell häufiger das (Fach-)Abitur, wobei die „Abiturquote“ bei beiden Geschlechtern im Zeitverlauf steigt. Diese Entwicklungen dürften teilweise durch das steigende Durchschnittsalter miterklärbar sein. Zugleich scheinen ungünstige Arbeitsmarktentwicklungen Frauen eher zu treffen als Männer, da der Anstieg im Anteil an Arbeitslosen bei Frauen stärker bzw. der Rückgang dieses Anteils schwächer ausgeprägt ist als bei Männern.

    Eine Einordnung dieser Beobachtungen erscheint aufgrund fehlender Vergleichsstudien herausfordernd: Der Mikrozensus 2019 geht davon aus, dass ein Fünftel der Erwachsenen mit minderjährigen Kindern in einem Haushalt lebt (20). Unter wegen CUD hilfesuchenden Männern und Frauen ist diese Lebenssituation seltener zu finden. Allerdings ist zu bedenken, dass das Gros der Betreuten jünger als 35 Jahre ist, während der Mikrozensus alle Altersgruppen einschließt. Eventuell befindet sich die hilfesuchende Klientel überwiegend in einer Altersspanne vor der Familiengründung. Vor dem Hintergrund, dass elterliche CUD ein wichtiger Prädiktor für dysfunktionale Erziehungsstrategien und späteren Cannabiskonsum der eigenen Kinder ist (21), sollte der steigende Anteil an Männern, die mit minderjährigen Kindern zusammenleben, in der Betreuungsarbeit aktiv aufgegriffen werden.

    Der steigende Anteil an Hilfesuchenden mit Abitur ist im Kontext der steigenden (Fach-)Abiturquote auf Bevölkerungsebene zu sehen. In der Altersgruppe der unter 35-Jährigen haben Frauen häufiger das (Fach-)Abitur als Männer (22), was sich mit der Beobachtung deckt, dass wegen CUD betreute Frauen tendenziell häufiger das (Fach-)Abitur haben als ihre männlichen Pendants. Auch der Trend bezüglich Arbeitslosigkeit in der hilfesuchenden Klientel spiegelt auf höherem Ausgangsniveau weitgehend Entwicklungen auf Bevölkerungsebene. Allerdings ist anders als auf Bevölkerungsebene (23) Arbeitslosigkeit unter betreuten Frauen weiter verbreitet als unter betreuten Männern. Daher sollte gerade in der Betreuung von Frauen die (Re-)Integration in den Arbeitsmarkt gezielt thematisiert werden.

    Fazit

    Zwar erlauben die Aggregatdaten der DSHS keine Rückschlüsse auf wechselseitige Einflüsse zwischen einzelnen Parametern, dennoch geben sie tragfähig Aufschluss, wie sich die Rolle von CUD in der ambulanten Suchthilfe und das soziodemographische Profil der Hilfesuchenden seit der Jahrtausendwende verändert hat. Hierbei zeigen sich bei Männern und Frauen zwar grundsätzlich ähnliche Entwicklungen, allerdings unterscheidet sich das Ausgangsniveau bzw. die Trendstärke zwischen beiden Geschlechtern. Bei der Interpretation ist zu beachten, dass die Punktschätzer in der weiblichen Klientel bedingt durch kleine Fallzahlen mit vergleichsweise großer Unsicherheit behaftet sind, was den statistischen Nachweis augenscheinlicher Unterschiede erschwert. Da 4 von 5 CUD-bedingten Betreuungen Männer betreffen, stellt sich die Frage, ob bestimmte Themen (z. B. Elternschaft, Arbeitslosigkeit), die für Frauen eine andere Relevanz haben, angemessen adressiert werden. Hier besteht nachgelagerter Forschungsbedarf.

    Literatur
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    23. Statistisches Bundesamt (Destatis). Erwerbslosenquote: Deutschland, Monate, Geschlecht, Altersgruppen, Original- und bereinigte Daten (Code: 13231-0003) 2024 [21.11.2024]. Available from: https://www-genesis.destatis.de/datenbank/online/statistic/13231/table/13231-0003.
    Kontakt:

    PD Dr. Larissa Schwarzkopf
    Leiterin Forschungsgruppe Therapie und Versorgung
    IFT Institut für Therapieforschung
    Leopoldstraße 175
    80804 München
    www.ift.de
    schwarzkopf(at)ift.de

    Angaben zu den Autorinnen:

    PD Dr. Larissa Schwarzkopf, IFT Institut für Therapieforschung München, Leiterin der Forschungsgruppe Therapie und Versorgung
    Alisa Stampf, IFT Institut für Therapieforschung München, Forschungsgruppe Therapie und Versorgung
    Prof. Dr. Eva Hoch, IFT Institut für Therapieforschung München, Institutsleiterin

  • Digitale Aufklärungsarbeit: Suchtforschung und Suchthilfe nahbar machen

    Digitale Aufklärungsarbeit: Suchtforschung und Suchthilfe nahbar machen

    Stefanie Bötsch

    Die mediale Aufbereitung des Konsums psychoaktiver Substanzen prägt für einen Großteil der Allgemeinbevölkerung das Bild von konsumierenden Menschen und Sucht. Vor allem der Konsum illegalisierter Substanzen wird häufig in Verbindung mit Kriminalität, sozialen Schwierigkeiten und gesundheitlichen Problemen dargestellt (Hughes et al. 2011) und trägt somit einen beachtlichen Teil zur Stigmatisierung konsumierender Menschen bei.

    Um dem Stigmatisierungsprozess entgegenzuwirken, können auf der einen Seite Journalist:innen mit Fachwissen, das durch Interviews oder Hintergrundgespräche vermittelt wird, bei ihrer Recherche unterstützt werden. Auf der anderen Seite hat die professionelle Suchthilfe die Möglichkeit, selbst mit attraktiven und zielgruppengerechten Angeboten die breite Aufklärung in die Hand zu nehmen und somit vollständig den Einfluss auf die Inhalte zu behalten. Um möglichst viele Menschen zu erreichen, eignen sich hier vor allem digitale Angebote. Allerdings bringt die digitale Aufklärungsarbeit über psychoaktive Substanzen einige Hürden mit sich, die berücksichtigt werden müssen. In diesem Artikel werden diese Herausforderungen beleuchtet und praxisnahe Einblicke anhand des Psychoaktiv-Podcasts gegeben.

    Das bietet der Psychoaktiv-Podcast

    Der Psychoaktiv-Podcast wird seit 2020 von der Suchttherapeutin und Sozialarbeiterin Stefanie Bötsch produziert. In Substanzkundefolgen werden unterschiedliche psychoaktive Substanzen porträtiert, während in den anderen Folgen Themen aus den Bereichen Substanzgebrauchsstörung, Drogenpolitik, Safer Use oder Suchttherapie behandelt werden. Regelmäßig sind auch Expert:innen aus Forschung und Praxis zu Gast und berichten über ihr jeweiliges Fachgebiet. Ziel des Podcasts ist es, nicht nur wissenschaftsbasierte Inhalte rund um psychoaktive Substanzen einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, sondern auch die professionelle Suchthilfe nahbarer zu machen, um Menschen den Weg in die Suchtberatung bei Bedarf zu erleichtern.

    Der Podcast erreicht aktuell ca. 100.000 Menschen im Monat. Die Zuhörerschaft besteht sowohl aus Konsumierenden und Angehörigen als auch aus Fachpersonal. Begleitend werden Beiträge auf Social Media (Instagram und TikTok) erstellt.

    Digitale Angebote nicht nur für Jugendliche!

    Wenn in der Suchthilfe ein Angebot geplant wird, ist eine der ersten Fragen, welche Zielgruppe man überhaupt erreichen möchte. Vor allem bei digitalen Angeboten stehen häufig Jugendliche und junge Erwachsene im Fokus. Für die Plattform TikTok ergibt das sicherlich Sinn. Bei der ARD/ZDF-Onlinestudie aus dem Jahr 2023 gaben 41 Prozent der 14- bis 29-Jährigen an, TikTok mindestens einmal pro Woche zu nutzen, während nur noch 18 Prozent der 30- bis 49-Jährigen TikTok wöchentlich nutzen. Auf Instagram sind jedoch auch Altersgruppen über 30 häufiger vertreten. Zwar sind die Jungen die größte Gruppe, 79 Prozent der 18- bis 29-Jährigen nutzen die Plattform wöchentlich, aber auch 46 Prozent der 30- bis 49-Jährigen sind mindestens ein Mal die Woche auf Instagram aktiv (Koch, 2023).

    Vor allem bei Podcasts lohnt sich die Überlegung, bewusst auch eine ältere Zielgruppe anzusprechen. 45,9 Prozent der 14- bis 29-Jährigen hören Podcasts und sind damit auch hier die Altersgruppe, die am stärksten vertreten ist. Allerdings zeigt die Studie „Online-Audio-Monitor (OAM) 2023“ bei dieser Altersgruppe einen absteigenden Trend, während bei den Altersgruppen 30 bis 49 Jahre und 50+ seit 2021 eine steigende Tendenz zu beobachten ist, wie in Abbildung 1 zu sehen ist (mindline media GmbH, 2023).

    Abb. 1: Regelmäßige Nutzung von Podcasts und Radiosendungen zum Nachhören. Eigene Darstellung nach mindline media GmbH (2023)

    Auch in der Altersverteilung der Hörer des Psychoaktiv-Podcasts lässt sich erkennen, dass über die Hälfte zwischen 35 und 54 Jahre alt ist. Den geringsten Anteil machen die 18- bis 24-Jährigen und die Altersgruppe über 65 Jahren aus (s. Abb. 2). Jetzt könnte sich die Annahme aufdrängen, dass dies daraus resultiert, dass der Podcast auch vermehrt von Fachpersonal gehört wird. Es ist zwar nicht möglich, diese Annahme komplett zu widerlegen, anhand von privaten Rückmeldungen aus der Zuhörerschaft wird jedoch deutlich, dass die stark vertretene Altersgruppe 35 bis 54 Jahre auf jeden Fall nicht nur von Fachpersonal ausgefüllt wird.

    Abb. 2: Altersverteilung im Psychoaktiv-Podcast vom 04.07.2023 bis 04.07.2024. Eigene Darstellung

    Hürden bei der digitalen Wissenschaftskommunikation

    Bei Aufklärungsarbeit zu psychoaktiven Substanzen und Sucht auf Instagram, TikTok oder auch YouTube kommt es häufig zu dem Problem, dass diese Plattformen Beiträge zu diesen Themen entweder in ihrer Reichweite drosseln oder entfernen. Ferner, und für die klassische Aufklärungsarbeit nicht ganz so wichtig, können diese Themen auch von Monetarisierungsprogrammen ausgeschlossen werden. Aus diesem Vorgehen der Plattformen ziehen die Creators (die Ersteller:innen der Inhalte) unterschiedliche Konsequenzen. Um die Themen trotzdem ansprechen zu können, werden entweder andere Begriffe verwendet (sehr bekanntes Beispiel ist der Begriff „Brokkoli“ anstatt Cannabis) oder drogenspezifische Stichworte z. B. durch einen Piep-Ton ersetzt. So wird es für Algorithmen schwieriger, die Inhalte zu erkennen, und die Inhalte können sich verbreiten.

    Ein Beispiel aus der Praxis: Auf der TikTok-Seite des Psychoaktiv-Podcasts werden seit acht Wochen Kurzvideos erstellt. In dieser Zeit werden drei Videos von TikTok gesperrt, und der Kanal wird mit Warnungen versehen (ab zwei Warnungen wird das komplette Profil gelöscht). Weitere zwei Videos werden von der Reichweite her erheblich gedrosselt. Auf Widerspruch der Produzentin werden all diese Maßnahmen zurückgenommen, und eine Löschung des Kontos kann verhindert werden. TikTok zeigt sich zumindest sehr transparent dahingehend, welche Konsequenzen bei Verstoß gegen die Community Richtlinien angewendet werden, und bietet eine niedrigschwellige Möglichkeit des Widerspruchs. Trotz des aktiven Vorgehens von Seiten TikToks gegen den Inhalt auf der Psychoaktiv-Seite haben einige Videos eine hohe bis virale Reichweite erreicht.

    An dieser Stelle zeigt sich der große Vorteil von Podcasts, wenn es um die Wissenschaftskommunikation rund um psychoaktive Substanzen geht. Podcasts werden über einen RSS-Link auf unterschiedliche Podcast-Plattformen verteilt. Die Macht einzelner Plattformen ist dadurch deutlich reduziert, da diese bei Podcasts keine Monopolstellung einnehmen. Zwar nutzen die unterschiedlichen Plattformen auch Algorithmen, z. B., um ihre Charts zu generieren, doch es scheint, dass inhaltliche Einschränkungen nur sehr begrenzt angewendet werden. Auf Anfrage von Seiten des Psychoaktiv-Podcasts bei Spotify gibt die Plattform an, keine inhaltsbezogene Reichweitendrosselung vorzunehmen.

    Chancen und Risiken einer digitalen Community

    Wenn ein Podcast, ein Instagram- oder TikTok-Account oder ein YouTube-Kanal wächst, steigt in der Regel auch die Interaktion mit den Nutzer:innen. Dann bietet es sich an, eine Brücke zu einem professionellen Hilfeangebot zu bauen, seien es digitale Kurzinterventionen, Motivationsarbeit, Onlineberatung oder Ähnliches. Auch kann es sein, dass die Community anfängt, sich untereinander zu unterstützen, und somit eine digitale Selbsthilfe rund um das Format entsteht.

    Die Kehrseite der Medaille kann jedoch darin bestehen, dass es zu konsum- und drogenverherrlichendem Verhalten, Werbung für den Kauf illegalisierter Substanzen oder abwertenden Kommentaren gegenüber konsumierenden Menschen kommen kann. Vor allem, wenn ein Beitrag viral geht, kann es in kurzer Zeit zu einer hohen Anzahl an Kommentaren kommen, die kontrolliert und sortiert werden müssen. Für ein erfolgreiches Community-Management gilt es dementsprechend, vorab zu planen, wie mit unterschiedlichen Situationen umgegangen werden kann und welche eigenen Community-Regeln man bei den Kommentaren anwenden möchte.

    Da Podcasts auf zahlreichen Plattformen publiziert werden und Interaktionsmöglichkeiten nur eingeschränkt und auch nicht auf jeder Plattform vorhanden sind, verschiebt sich die Interaktion mit der Zuhörerschaft in der Regel auf andere begleitende Plattformen wie z. B. Instagram. Dies erschwert es, mit dem Endkonsumenten/der Endkonsumentin in Kontakt zu treten, und kann eine Hürde für die Bildung einer interaktiven Community darstellen. Allerdings sind dann auch die Risiken deutlich geringer.

    Fazit

    Digitale Aufklärungsarbeit birgt viele Chancen – sei es die Reduktion von Stigmatisierung, die Werbung für die Suchthilfe oder die Möglichkeit, für unterschiedliche Altersgruppe passende Formate zu entwickeln. Trotz allem braucht vor allem die Aufklärung zu psychoaktiven Substanzen viel Fingerspitzengefühl, um gegen Algorithmen anzukommen, die darauf abzielen, Inhalte, die vermeintlich gegen Community-Richtlinien verstoßen, abzustrafen.

    Kontakt und Angaben zur Autorin:

    Stefanie Bötsch
    M.A. Suchttherapie und Sozialmanagement
    Produzentin des Podcasts „Psychoaktiv“
    Stefanie Bötsch | Der Podcast für Suchtprävention
    info@stefanieboetsch.de

    Quellen:
  • Public Health in der Suchthilfe und Suchtprävention

    Public Health in der Suchthilfe und Suchtprävention

    Mathias Speich

    Public Health gilt in vielen Bereichen der modernen Arbeit im Gesundheitswesen als „der“ Lösungsansatz. Doch woher kommt dieser Gedanke und warum ist er auch für die Suchthilfe entscheidend? Ist dieser Ansatz wirklich neu? Um es vorwegzunehmen: nicht neu, aber interessant. Und er erklärt, warum aktuelle Entwicklungen die Qualität der Suchthilfe und Suchtprävention gefährden könnten. Natürlich kann in einem relativ kurzen Artikel wie diesem kein Anspruch auf Vollständigkeit bestehen. Aber vielleicht macht er ein wenig neugierig und lädt zum Diskutieren ein: über das Thema öffentliches Gesundheitswesen, die Sichtweise der Weltgesundheitsorganisation, bestehende Strukturen und die sich daraus ergebenden Chancen.

    Perspektivwechsel

    Die Suchthilfe und Suchtprävention in Deutschland ist in vielen Bereichen, vermutlich ohne ihr Wissen, ein schönes Beispiel dafür, wie der Grundgedanke von Public Health in den Praxisalltag des Sozial- und Gesundheitssystems Einzug gehalten hat. Die Suchthilfe mit all ihren Facetten ist ein Tätigkeitsfeld, welches seit Jahren die „öffentliche Gesundheit“ prägt. Viele Faktoren, die Public Health ausmachen, werden hier gelebt. Vereinfacht dargestellt versucht der Public Health-Ansatz, den Erhalt der Gesundheit in den Vordergrund zu rücken, wohingegen die Medizin das Erkennen und die Behandlung einer Krankheit in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt.

    Dies ist ein relativ einfacher Perspektivwechsel, der aber einige Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Public Health bezieht sich dabei auf die Definition von Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Diese hat bereits im Jahr 1948 ihre Sichtweise auf das Thema Gesundheit deutlich erweitert. Damals und auch mit Blick auf die verheerende Geschichte musste man anerkennen, dass es neben den medizinischen und biologischen Faktoren deutlich mehr Einflüsse gibt, die zum Erhalt der Gesundheit und zum Entstehen von Erkrankungen beitragen. Umweltbedingungen, die soziale Lebenswelt, der Lebensstil und die Zugänge zu einem funktionierenden Gesundheitssystem gehören beispielsweise primär dazu.

    Es blieb nicht bei der Definition der WHO, denn die daraus gefolgerten Zusammenhänge zwischen Lebenswelt und Gesundheit führten im Jahr 1986 zur Ottawa-Charta. Darin wird Gesundheitsförderung als Prozess definiert, der Menschen befähigt, ihre Gesundheit zu verbessern und mehr Kontrolle darüber zu erlangen. In der Charta wird deutlich, dass Gesundheit ganzheitlich zu betrachten ist. Sie entsteht in einem partizipativen Prozess zwischen den Menschen und dem Sozial- und Gesundheitssystem. Politik hat den Auftrag, diesen Raum zu gestalten, wozu viele professionelle und interdisziplinäre Ansätze benötigt werden. Dabei werden individuelle, aber auch soziale und ökologische Faktoren berücksichtigt. Deutschland hat sich den Zielen der Ottawa-Charta angeschlossen (vgl. Kaba-Schönstein, 2018), und das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) versuchte, diese bis Ende 2023 auch umzusetzen (vgl. Deutscher Bundestag, 2021). Die Formulierung von Gesundheitszielen, eine interdisziplinäre Gesundheitsförderung, Aktionspläne der Länder und Kommunen sowie Forschung und die Evaluation von Maßnahmen beruhen auf dieser Charta und ließen Hoffnung aufkommen. Viele Professionen konnten seitdem aus ihrer Perspektive das Thema Gesundheit erforschen, Erkenntnisse gewinnen und das Gesundheitssystem stetig weiterentwickeln.

    Ein Baustein von vielen

    Die WHO setzte mit ihrem erweiterten Blickwinkel deutlich früher an, als eine einzelne Profession das gekonnt hätte. Sie „beschränkte“ sich dabei nicht mehr auf die Behandlung einzelner Erkrankungen und ihrer Symptome. Nur um Missverständnisse zu vermeiden: Das Erkennen und Behandeln von Erkrankungen ist eine große Wissenschaft und genießt zu Recht höchste Anerkennung. Im gesamten Gesundheitswesen ist die Medizin aber ein Baustein von vielen. Es zeigte sich, dass ein interdisziplinärer Ansatz deutlich effektiver war. Wenn im Fachbereich Public Health von Gesundheit gesprochen wird, geht es um die Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen und Professionen auf Augenhöhe. Die Suchthilfe praktiziert dies in vielen Bereichen schon seit Jahrzehnten. Exemplarisch seien an dieser Stelle die Fachbereiche Soziale Arbeit, Pflege, Pädagogik, Therapie, Medizin, aber auch Pharmakologie erwähnt, die gut ineinandergreifen. Über viele Jahre hinweg wurde unter Beteiligung einer Reihe von Professionen (und vor allem durch die Partizipation der Betroffenen) ein vielseitiges professionelles und ehrenamtliches Hilfesystem aufgebaut und stetig weiterentwickelt. Natürlich ist dies weiterhin deutlich ausbaufähig, und allein der Blick auf die aktuelle Zahl der Drogentoten und die sich stark verändernden Konsumgewohnheiten zeigt, dass sich dieses System in einem dauerhaften Wandel befindet und befinden muss. Ohne dieses interdisziplinäre Hilfesystem würden viele Veränderungen viel zu spät erkannt.

    Erhalt von Lebensqualität

    Der Perspektivwechsel stellt nicht nur die Gesundheit in den Vordergrund, sondern definiert auch neue Ziele. Eines davon ist der Erhalt und im besten Falle auch die Steigerung der Lebensqualität trotz bzw. mit einer bestehenden Erkrankung. Der Suchthilfe ist dieser „akzeptierende“ Gedanke durchaus bekannt. Trotz einer Diagnose geht das Leben in den meisten Fällen glücklicherweise weiter, aber wie geht man mit dieser Einschränkung um? Ab wann gilt ein Mensch als „krank“, ab wann als „gesund“? Circa 40 Prozent (vgl. Stiftung Gesundheitswissen, 2022) aller Deutschen leben mit einer chronischen Erkrankung, die wenigsten von ihnen werden sich im Alltag als dauerhaft „krank“ bezeichnen. Vor allem Leser:innen mit „mehr Lebenserfahrung“ werden dies gut nachvollziehen können. Das subjektive Empfinden bei vielen Erkrankungen ist, dass diese zwar als störend und unangenehm wahrgenommen werden, viele Menschen es aber schaffen, dies im Alltag zu kompensieren. Vor allem die Stärkung der positiven Faktoren reduziert die Wahrnehmung der Beeinträchtigung deutlich. Dies ist selbstverständlich immer abhängig von der Art und Schwere der Erkrankung. Aber auch bei schwerstkranken Menschen trägt jede einzelne Minute, in der die Erkrankung ihre Dominanz verliert, positiv zur subjektiven Lebensqualität bei. Deutlich sollte werden: Es gibt einen gestaltbaren Raum zwischen „krank“ oder „gesund“. Wie ein Mensch seine gesundheitliche Situation erlebt, ist sehr individuell und temporär bedingt.

    Da die Lebensqualität subjektiv wahrgenommen wird, liegt es an den betroffenen Menschen selbst, diese auch zu definieren. Selbst wenn eine Person sehr schwer erkrankt ist, bestimmt sie das Ziel, die Geschwindigkeit und die damit verbundenen Hilfen. Der Ansatz von Public Health besteht darin, die vielen Einflussfaktoren zu identifizieren und mit den Betroffenen selbst Strategien zu entwickeln, das Positive zu stärken und die negativen Auswirkungen zu reduzieren. In der Suchthilfe wird dies seit Jahren unter dem Begriff Akzeptanzorientierung und Harm Reduction praktiziert, gleichzeitig bleibt die Möglichkeit einer medizinischen Behandlung bestehen. Das entlastet die betroffenen Menschen und eröffnet neue Möglichkeiten. Denn gleichzeitig können nun auch die Beratungs- und therapeutischen Angebote der Suchthilfe versuchen, mit den Betroffenen gemeinsam die Konsumanlässe zu reduzieren. Drohender Wohnungsverlust, Schulden, bestehende Strafverfahren, Konflikte in der Familie – es gibt viele Auslöser für einen unkontrollierten Konsum. Vom Erkennen eines Problems bis zur Lösung und deren Aufrechterhaltung (vgl. Transtheoretisches Modell der Veränderung, TTM) ist es ein weiter Weg. Hier zeigt sich, wie wichtig dieser interdisziplinäre Gedanke ist.

    Prävention und Salutogenese

    Betrachtet man Public Health allgemein in Bezug auf die Gesellschaft, so steht natürlich die Vermeidung von Erkrankungen, die Förderung und letztendlich der Erhalt der Gesundheit im Fokus. Das gilt besonders für Suchterkrankungen. Sie haben eine enorm hohe Morbiditäts- und Mortalitätsrate. Alkohol, Nikotin und andere psychoaktive Substanzen lösen nachweislich schwere Erkrankungen aus. Dazu gehören beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Infektionskrankheiten, Krebs, psychische Störungen u.v.a. Die Liste ist lang, die Fallzahlen sind hoch, und für die Suchthilfe ist es keine neue Erkenntnis.

    Für die Prävention stellt sich die Frage, wie die vielen Formen potenzieller Schädigungen vermieden werden können. Ein einfacher Hinweis auf den Verzicht ist in einer Konsumgesellschaft bei Weitem nicht ausreichend. Dem Konzept der Salutogenese (vgl. Faltermaier, 2023) entsprechend richtet der Public Health-Ansatz auch hier den Fokus auf den Erhalt der Gesundheit und nicht auf eine der vielen potenziell möglichen schweren Erkrankung, die in einen Zeitraum von vielen Jahren auftreten können. Aus der Perspektive vieler Kinder und Jugendlicher ist eine Gefahr in ferner Zukunft kaum greifbar. Neue Präventionsansätze gehen deshalb gezielt auf Zielgruppen zu und versuchen, mit ihnen gemeinsam Bewältigungsstrategien zu entwickeln, um beispielweise mit Stressoren besser umgehen zu können. Anstatt sich auf zukünftige Risiken zu konzentrieren, werden Ressourcen und Stärken von Individuen und Gemeinschaften in den Mittelpunkt gestellt. Das Ziel ist u. a., das Kohärenzgefühl und die Selbstwirksamkeit junger Menschen zu stärken, damit eine Suchterkrankung und die sich daraus ergebenden sozialen und gesundheitlichen Folgeschäden nach Möglichkeit vermieden werden. Moderne Präventionsprojekte wie beispielweise MOVE, FreD und HaLT basieren fast alle auf diesem Ansatz.

    Unterschiedliche Präventionsansätze für unterschiedliche Zielgruppen

    Neben der Verschiebung der Perspektive wurden auch die Zielgruppen präziser gefasst. Klaus Hurrelmann unterteilte schon vor vielen Jahren in Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention. Heute wird bevorzugt von universeller, selektiver und indizierter Prävention gesprochen. Wie werden Zielgruppen angesprochen, in welchem Alter, mit welchen Hintergrund, wann und wo? Wir wissen, dass schlecht gemachte Informationskampagnen auch Schaden anrichten können. Vor allem bei der Primärprävention besteht ein schmaler Grat zwischen Informationskampagne und Neugierig-Machen. Nicht ohne Grund gibt es mittlerweile Suchtpräventionsfachkräfte, die mit pädagogischen Interventionen und Sozialer Arbeit Zielgruppen und Risikofaktoren identifizieren und geeignete Maßnahmen bereitstellen. Dabei ist bei vielen erfolgreichen Projekten ein Methodenmix z. B. aus den Bereichen der Pädagogik, Sozialen Arbeit und der Psychologie entstanden.

    Nicht nur die Verhaltensprävention wurde in den letzten Jahrzehnten deutlich präzisiert, auch wurde der Bereich der Verhältnisprävention gestärkt. Die soziale Umwelt hat einen massiven Effekt auf die Entstehung einer Suchterkrankung. Die Steuererhöhung bei den Alkopops und der erschwerte Zugang zu Nikotin zeigten deutliche Effekte, auch bei Kindern und Jugendlichen. Die Möglichkeiten, hier mit wenigen Veränderungen viel zu bewegen, sind enorm. Dabei geht es nicht um Prohibition, was gerne unterstellt wird, sondern um den gezielten Schutz von vulnerablen Gruppen. Die sinkenden Fallzahlen bei Alkohol- und Nikotinkonsum bei Kindern und Jugendlichen machen Hoffnung (vgl. Alkoholsurvey der BZgA 2022 und Drogenaffinitätsstudie der BZgA 2023). Gleiche Effekte über gezielte Verhaltensprävention zu erreichen, wäre mit den bestehenden Ressourcen praktisch unmöglich.

    Aktuelle Entwicklungen führen in die Vergangenheit

    Umso spannender wurde es Ende 2023, als aus dem BMG ein erster Arbeitsentwurf zur Errichtung eines Bundesinstituts mit Schwerpunkt Prävention auftauchte. Durch den Koalitionsvertrag war bekannt, dass Veränderungen kommen würden. Hier wurde das neue Institut als „Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit“ bezeichnet, mit direktem Bezug zu Aktivitäten im Public Health-Bereich (vgl. „Mehr Fortschritt wagen“, Koalitionsvertrag 2021–2025, S. 65). Dieser Prozess war im Vorfeld relativ still verlaufen, und grundsätzlich gab es gegen mehr Prävention und Public Health in Deutschland keine Einwände. Die durch das BMG schließlich erfolgte Namensgebung „Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin“ (BIPAM) überraschte jedoch und ließ Zweifel aufkommen, denn der Schwerpunkt wurde nun auf eine einzige Profession gelegt. Der Widerspruch zum oben beschriebenen Gesundheitsbegriff und Präventionsansatz liegt schon im Titel. Dennoch sparte man bei der öffentlichen Ankündigung nicht mit Schlagwörtern wie „Public Health“, „interdisziplinär“ und „Primärprävention“. Dem Beauftragten für die Errichtung des „Bundesinstituts für Prävention und Aufklärung in der Medizin“ wurde zudem die Leitung der BZgA übertragen (vgl. Interview mit Dr. Johannes Nießen auf KONTUREN online). Es ist anzunehmen, dass dies deutliche Auswirkungen auf die bisherige mehrdimensionale Sichtweise von Gesundheit haben wird.

    Die Fachöffentlichkeit reagierte darauf mit einem offenen Brief an Bundesgesundheitsminister Lauterbach, den fachübergreifend über 150 Organisationen und Professionen aus Praxis, Wissenschaft und Forschung unterzeichneten. Darin begrüßen sie die Gründung eines zentralen Instituts für öffentliche Gesundheit ausdrücklich, fordern aber eine andere Strategie, „eine ganzheitliche, krankheitsübergreifende, an einem dynamischen Verständnis von Gesundheit und Wohlbefinden ausgerichtete Strategie, die […] eine Institution befähigt, in dynamischen, komplexen Systemen zu denken und zu handeln und die sich daher nicht auf medizinische Sachverhalte beschränkten darf.“ (Götz & Rosenbrock, 2023, S. 3) Die bisherige Reaktion des BMG ist überschaubar.

    Eigentlich könnte man mit guten Gewissen auf die Suchthilfe als Vorbild verweisen. Das bio-psycho-soziale Modell wird in der Praxis seit vielen Jahren professionsübergreifend gelebt. Als problematisch stellt sich aber die Vielzahl der Kostenträger im deutschen Gesundheitssystem und der Suchthilfe mit ihren unterschiedlichen Zuständigkeiten und Qualitätskriterien heraus. Dazu gehört auch die zunehmende Fokussierung auf evidenzbasierte Medizin (EbM). Während EbM in der medizinischen Behandlung und Forschung als Gold-Standard gehandelt wird, greift sie bei der Bewertung von Maßnahmen im Bereich der sozialen Gesundheit zu kurz, da pädagogische und therapeutische Interventionen nur sehr aufwendig quantitativ zu messen sind. Statistisch ist dies zwar möglich, aber um wirklich (hoch) signifikante Aussagen treffen zu können, ist der Forschungsaufwand um ein Vielfaches höher. Das beinhaltet die Gefahr, dass Projekte oder neue Arbeitsansätze allein aufgrund des deutlich höheren Aufwandes bei der Evaluation bei der notwendigen Förderung oder anschließenden Refinanzierung weniger Beachtung finden. In Erinnerung sollte aber auch gebracht werden, dass die sehr gute Methode der evidenzbasierten Medizin in der Form vermutlich nie für diesen breiten professionsübergreifenden Einsatz vorgesehen war.

    Die Suchthilfe hat aber mit dem Deutschen Kerndatensatz (KDS) ein interessantes Evaluationstool als Ass im Ärmel. Dieser wird aktuell angepasst und könnte vor allem aus dem Blickwinkel von Public Health viele Potenziale beinhalten. Optimierungsbedarf besteht aktuell noch in der Unterscheidung der einzelnen Arbeitsgebiete. So wird im KDS primär von Behandlung und Betreuung gesprochen, obwohl die ambulante Suchthilfe mit großem Abstand die meisten Fallzahlen in der Beratung (vgl. Schwarzkopf et al., 2023, Abbildung 1., S. 9) vorweist (ca. 68 Prozent; vgl. Martens & Neumann-Runde, 2023, Abbildung 2, S. 18). Diagnosen, die in der stationären Suchthilfe und Therapie eine zentrale Rolle spielen, sind in der ambulanten Beratung weniger relevant (ca. 5 Prozent aller Mitarbeitenden der ambulanten Suchthilfe verfügen über eine entsprechende Qualifikation; vgl. Martens & Neumann-Runde, 2023, Abbildung 2, S. 18) und in der Suchtprävention kaum von Bedeutung. Zurzeit wird noch wenig deutlich, dass je nach Setting der Kontakt zu den Klient:innen zwischen Tagen und Jahren beträgt. Auch ist der KDS bisher wenig dynamisch in der Erfassung von Beratungs- und Behandlungsverläufen. Die zunehmende Digitalisierung der Suchthilfe und auch die Möglichkeiten der Verarbeitung beinhaltet große Potenziale. Mit dem KDS steht ein flächendeckendes gutes Instrument zur Verfügung, welches nur an die aktuellen Gegebenheiten angepasst werden muss.

    Im Sinne von Public Health und der Ottawa-Charta sollte zukünftig aber ein sehr großes Interesse darin bestehen, die geleistete Arbeit professionsübergreifend zu begleiten und zu bewerten. Immerhin geht es hier um die Entwicklung von passenden kurz-, mittel- und langfristigen bio-psycho-sozialen Angeboten für die betroffenen Menschen. Die Datengrundlage dient an entscheidenden Stellen als Argument in Verhandlungen zu Förderung und Forschung, und natürlich werden hier Impulse für die Verwaltung und Politik gesetzt (siehe Ottawa-Charta). Ganz direkt geht es auch um Definitionshoheiten und um die Verteilung von knappen Ressourcen (vgl. Notruf Suchtberatung, 2019).

    Doch bei aller – konstruktiv gemeinter – Kritik: Es sind Feinheiten, die es zukünftig zu optimieren gilt. Die Suchthilfe ist mit der Deutschen Suchthilfestatistik und vielen evaluierten Projekten in der Lage, schon jetzt die Betroffenen und die Wirksamkeit der Hilfen wissenschaftlich evaluiert sichtbar zu machen (vgl. Deutsche Suchthilfestatistik (DSHS)). Damit sind die Suchthilfe und Suchtprävention vielen anderen Bereichen im Sozial- und Gesundheitswesen weit voraus.

    Fazit

    Abschließend: Der Public Health-Ansatz hatte sich in den letzten Jahrzenten bewusst oder unbewusst als gute, konstruktive Perspektive im Gesundheitssystem, der Suchthilfe und Suchtprävention herausgestellt. Die interdisziplinäre Sichtweise und der Perspektivwechsel eröffneten im Praxisalltag neue Ideen, die unterschiedlichen Positionen und Professionen ergänzen sich gegenseitig. Dass das in der Suchthilfe und Suchtprävention nicht immer nur ein „harmonieorientierter“ Diskurs war und ist, weiß jeder/jede, der/die schon länger in dem Bereich tätig ist. Veränderung ist auch hier ein Prozess. Dennoch, es zählt das Ergebnis: Die Lebensqualität von vielen betroffenen Menschen hat sich verbessert, die Suchtprävention hat sich deutlich weiterentwickelt und erreicht in höherem Maße und präziser ihre Zielgruppen. Das gute Netzwerk der ehrenamtlichen und professionellen Suchthilfe ist in der Lage, schnell auf Veränderungen in der Suchtmittelszene zu reagieren. Das BMG kann man nur ermutigen, nicht nur über Public Health zu reden, sondern es vor dem Hintergrund der vielen nationalen und internationalen positiven Erfahrungen der letzten Jahrzehnte im Sinne der WHO konsequenter umzusetzen.

    Die hier vertretenen Auffassungen geben die Meinung des Verfassers wieder und entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion.

    Kontakt:

    Mathias Speich
    Der Paritätische NRW
    Marienstraße 12
    33332 Gütersloh
    Speich(at)paritaet-nrw.org

    Angaben zum Autor:

    Mathias Speich: Master of Public Health, Dipl.-Sozial- und Umweltpädagoge. Seit über 20 Jahren aktiv in der Suchthilfe und Suchtprävention. Fachreferent der Suchthilfe und der Hilfen nach § 67 SGB XII des Paritätischen NRW. Mitglied im Arbeitsausschuss Drogen und Sucht NRW, im Beirat der Suchtkooperation NRW, im Fachausschuss Gefährdetenhilfe und aktiv in vielen weiteren kleinen und großen engagierten Gremien der Suchthilfe, landes- und bundesweit.

    Literatur:
  • Apps zu Substanzkonsum, Glücksspiel und psychosozialer Gesundheit

    Apps zu Substanzkonsum, Glücksspiel und psychosozialer Gesundheit

    Das Smartphone haben die meisten Menschen ständig dabei – ein Umstand, der zur Förderung der Gesundheit genutzt werden kann. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl an Apps, die bei Problemen mit Substanzkonsum und exzessiven Verhaltensweisen sowie im Bereich psychosoziale Gesundheit Hilfe und Unterstützung anbieten. Zwei Apps zur Rauchstopp-Unterstützung wurden bereits in das Verzeichnis für digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA-Verzeichnis) des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) aufgenommen.

    KONTUREN online hat das Angebot an sucht- und Mental Health-bezogenen Apps in den Blick genommen und einige Anbieter gebeten, ihre Apps anhand eines standardisierten Fragebogens vorzustellen. Die vorliegende Übersicht stellt selbstverständlich nur einen kleinen Ausschnitt eines schnell wachsenden Angebotes dar, und nicht alle angeschriebenen Anbieter haben geantwortet. Mit den vielfältigen Steckbriefen möchten wir einen Impuls geben, sich dieses Feld an Hilfemöglichkeiten zu erschließen und neue, effektive Wege der Prävention und Behandlung zu erkunden.

    Über folgende Apps können Sie sich hier informieren:

    • SUBSTANZKONSUM: MINDZONE-App „sauberdrauf!“, Elma-App, CariTapp, coobi care
    • GLÜCKSSPIEL: PlayOff
    • PRÄVENTION / PSYCHISCHE GESUNDHEIT: blu:app, ready4life, „Cyber-Mobbing Leichte Hilfe“-App, belinu
    • RAUCHEN: NichtraucherHelden, Smoke Free – Rauchen aufhören

    SUBSTANZKONSUM

    MINDZONE-App „sauberdrauf!“

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Verfügbar bei Google Play für Android oder im App-Store für Betriebssystem iOS bzw. iPhone. Weitere Infos unter: https://mindzone.info/aktuelles/update-mindzone-app-sauberdrauf/

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Speziell: Themenbereich Freizeitdrogen bzw. Partydrogen und Suchtrisiken
    Allgemein: Prävention und Gesundheitsförderung im Partysetting

    3. An wen richtet sich die App?
    An drogenaffine, konsuminteressierte Partygängerinnen und Partygänger im Alter zwischen 14 und 30 Jahren sowie an informations- und ratsuchende Angehörige und Bezugspersonen von Betroffenen. Die Mindzone-App richtet sich zudem an Fachkräfte aus dem Sucht- und Jugendhilfebereich.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die App ist quasi eine mobile Version der Mindzone-Homepage: https://mindzone.info/. Diese kann direkt auf dem Smartphone installiert werden und ist dann mobil abrufbar ohne Browser-Zugriff.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Umfassende Informations-Plattform rund ums Thema Partydrogen (Substanzinfos A-Z), aktuelle Substanzwarnungen, Pillen-Finder, Drogennotfall-Infos, Online-Beratung über Kontaktformular, kostenfreie Bestellung von Info-Materialien

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Ja, der Pillen-Finder, er ist das am häufigsten genutzte Tool: umfangreiche Datenbank mit Suchfilter-Funktion gibt eine Übersicht zu besonders hochdosierten bzw. gesundheitsschädlichen Ecstasy-Pillen (z. B. unerwartete Wirkstoffe, gefährliche Streckmittel), siehe auch unter https://mindzone.info/aktuelle-infos/pillenwarnungen/

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Nein, es gibt keine Zugangsvoraussetzungen oder Beschränkungen.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Es handelt sich um eine Gratis-App.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die App wurde vom App-Entwickler vmapit.de aus Mannheim in Form eines Sponsorings komplett kostenlos für Mindzone entwickelt. Siehe auch weiterführende Infos zum Sponsoring-Angebot unter: https://www.vmapit.de/1000-apps-fuer-1000-vereine

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Ja, im Rahmen der Mindzone-Evaluation 2023 durch das IFT Institut für Therapieforschung, München, wurde u. a. auch die App evaluiert, siehe Auszug aus IFT-Evaluationsbericht, S. 42 f.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Die App selbst ist nicht in anderen Sprachen verfügbar. Aber auf der Mindzone-Homepage ist direkt auf Startseite (oben rechts) ein mehrsprachiger Google-Translator installiert: https://mindzone.info Die mobile Web-Version der Mindzone-Homepage inklusive Google-Translator ist auch problemlos über die App abrufbar.

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Im September 2016 wurde die Mindzone-App erstmals veröffentlicht und ist seitdem als Gratis-App erhältlich. Im Jahr 2023 (nachdem die Mindzone-Evaluationsergebnisse feststanden) wurde die Funktionalität der App verbessert, das System wurde upgedatet und die App anwenderfreundlicher gestaltet, z. B.: übersichtlichere Struktur, mittels automatisierter Push-Nachrichten erhalten Nutzerinnen und Nutzer aktuelle Substanzwarnungen, neue Live-Chat-Funktion (ist allerdings wegen fehlender Personalressourcen momentan nicht aktiv), direkte Verlinkungen zu Social-Media-Profilen von Mindzone auf Instagram, Facebook und X, neue Feedback-Funktion, Anfahrt bzw. Wegbeschreibung über Google-Maps, neues App-Weiterempfehlungs-Tool.

    Die Fragen beantwortete Sonia Nunes, Fachliche Projektleitung, Projekt MINDZONE, München.

    Elma-App

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Elma steht für Elternsein motiviert und abstinent. Die Elma-App kann im Google Play Store und im Apple App Store heruntergeladen werden. Zur Aktivierung benötigen die Nutzer:innen einen Code, dieser kann unter elma@zi-mannheim.de angefordert werden.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Die App richtet sich an suchterkrankte Mütter und Väter sowie werdende Eltern mit einer Abhängigkeitserkrankung und unterstützt diese bei der Erlangung und Aufrechterhaltung einer stabilen Abstinenz sowie bei der Stärkung der Erziehungskompetenzen.

    3. An wen richtet sich die App?
    Die App richtet sich an die Betroffenen. Der Angehörigenbereich kann gemeinsam mit den Kindern genutzt werden. Hier erhalten sie auf eine kindgerechte Art Informationen zur elterlichen Erkrankung.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Es werden die Themenbereiche Abhängigkeitserkrankung und Kindererziehung behandelt. Alle Themenbereiche sind gegliedert in einen „Werde Experte“-Teil und einen „Werde aktiv“-Teil. Im „Werde Experte“-Teil erhalten die Nutzer:innen Informationen zu den jeweiligen Themenbereichen, der „Werde aktiv“-Teil dient zur Reflexion über die eigene Situation mit vielen Mitmachmöglichkeiten. Die Inhalte sind multimedial und mehrsprachig aufbereitet.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Die Elma-App enthält
    – eine Tagebuchfunktion zum Monitoring von Abstinenz, Stimmung, Stimmung in der Familie und Schlaf sowie
    – einen Erfolge- und einen Zielebereich, in dem sich die Nutzer:innen eigene Ziele oder Erfolgsmeilensteine setzen können.
    Außerdem kann ein individueller Notfallplan für Suchtdruck- und Rückfallsituationen erstellt werden.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Alle Textbausteine sind auch als Audios in der App integriert. Die Elma-App ist mehrsprachig gestaltet.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Die Elma-App ist kostenfrei unbegrenzt lange nutzbar. Es muss für die Nutzung ein Aktivierungscode unter elma@zi-mannheim.de angefordert werden.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Die App ist kostenlos ohne Rezept nutzbar.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die App wurde am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit entwickelt, das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit ist Herausgeber der App. Webadresse unseres Projekts: https://www.elma-app.de/

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Die Elma-App-Einführung wird in einer Begleitstudie aktuell evaluiert, sowohl unter den Nutzer:innen als auch unter den Fachkräften.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Ja, in Englisch, Französisch, Polnisch, Russisch, Ukrainisch, Italienisch, Spanisch

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Alle Eingaben der Nutzer:innen werden nur lokal auf deren Endgerät gespeichert, es erfolgt keine Speicherung auf einem zentralen Server.

    Die Fragen beantwortete Prof. (apl.) Dr. Anne Koopmann, Oberärztin der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim

    CariTapp

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Die App ist grundsätzlich im Google Play Store und im Apple App Store verfügbar. Aktuell ist es so, dass wir die App von einem ursprünglich semiprivaten Account auf einen offiziellen Caritas-Account überführen wollen. Deshalb wird die App vorübergehend nicht im Apple App Store erhältlich sein.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich
    Die App kommt beim Thema Sucht zum Einsatz. Sie ist zur Begleitung einer Suchttherapie oder Suchtberatung entwickelt worden.

    3. An wen richtet sich die App?
    An Menschen mit Abhängigkeitserkrankung, die sich im besten Fall in einem Beratungs- oder Behandlungsprozess befinden, und an Berater:innen und Behandler:innen.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die CariTapp unterstützt und erleichtert den Therapieprozess und hilft dabei, motiviert zu bleiben, um sein Suchtverhalten nachhaltig zu verändern. Die Leistungen und Funktionen sind sehr umfangreich. Die Wichtigsten wären: Motivation, Selbstbeobachtung, Rückfallvermeidung, Arbeit an den Therapiezielen und viele mehr … Auf unserer Website gibt es ein Erklärvideo: https://www.caritas-suchtambulanz-junge-muenchen.de/de/caritapp Um es anschauen zu können, muss man die Marketing-Cookies akzeptieren.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Tracken von Stimmung, Verlangen und Konsum. Vereinbarungen und Therapieziele inkl. Zwischenzielen formulieren und ergänzen. Es steht eine Fotobox zur Verfügung, in der man sich wichtige Bilder abspeichern kann. Dazu kann man verschiedene Ordner anlegen, z. B. „Privat“ oder „Therapie“ etc. Außerdem bietet die App: ein Quiz, einen Notfallbutton, Frühwarnsignale, einen Zugang zur Onlineberatung.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Nein

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Nein

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Kostenlos

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die Caritas Fachambulanz für junge Suchtkranke der Erzdiözese München und Freising.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Ja, mit positivem Ergebnis. Das Ergebnis ist während eines Hackerangriffs verloren gegangen.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Nein

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Es war die allererste App zur Therapiebegleitung auf dem Markt. Die Fachambulanz für junge Suchtkranke hat die App on top zum Alltagsgeschäft realisiert.

    Die Fragen beantwortete Ralf Hermannstädter, Einrichtungsleitung, Caritas Fachambulanz für junge Suchtkranke, München. 

    coobi care

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Im Rahmen einer Testphase erhältlich ab Ende August 2024. App Store & Google Play Store (Für einen Zugangscode kontaktieren Sie bitte julian@coobi.health.)

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    coobi care bietet eine digitale Unterstützung für die Nachsorge von Abhängigkeitserkrankungen nach einer Entwöhnungstherapie. Die erste Version richtet sich an Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit. In den nächsten Monaten wird die App auch für Nutzer:innen mit anderen substanzgebundenen Abhängigkeitserkrankungen, problematischem Konsum und Verhaltenssüchten angepasst.

    3. An wen richtet sich die App?
    – Betroffene Personen ≥18 Jahre in der Nachsorge
    – Nachsorge-Gruppenleiter:innen können mit Zustimmung der Betroffenen coobi care-Daten erhalten (mehr unter „Dashboard für Therapeut:innen“)

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die App soll in Synergie mit Nachsorge-Gruppengesprächen einen wertvollen Beitrag zur langfristigen Aufrechterhaltung der Abstinenz und zur Rückfallprävention leisten.
    Die App unterstützt folgende Kernaufgaben der Nachsorge: kontinuierliche Unterstützung direkt nach der Rehabilitation, Aufrechterhaltung der Abstinenzmotivation, Förderung der Eigenaktivität, Erkennen von Krisensituationen und Bereitstellung geeigneter Konfliktlösungsstrategien bei drohenden oder aktiven Krisen, Förderung sozialer Kontakte, Einbeziehung von Bezugspersonen.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?

    • Chatfunktion für die Nachsorgegruppe: Chat mit Nachsorgegruppe zur Verbesserung der Compliance und sozialen Integration durch selbsthilfeähnliche Kommunikation zwischen den Nachsorgegesprächen.
    • Module: Nutzer:innen haben Zugang zu einer Reihe von kurzen Modulen, die verschiedene nachsorgebezogene Themen abdecken. Die Module beinhalten Übungen, Videos und Texte zu Themen wie z. B. Suizidalität, Umgang mit Rückfällen, Emotionen, Selbstsicherheitstraining.
    • Craving-Bereich: Im Falle eines akuten Cravings können Nutzer:innen schnelle Unterstützung durch Reflexion und Bewältigungsstrategien im Craving-Bereich finden.
    • Motivation: Zur Aufrechterhaltung der Motivation bietet die App Streaks zu Abstinenz, tägliche Übungen und Reflexion.
    • Zielsetzung: Nutzer:innen werden angehalten, sich erreichbare tägliche Ziele zu setzen, und können Langzeitziele erarbeiten und verfolgen.
    • Abend Check-Out: Abends können Nutzer:innen ihren Tag hinsichtlich der Aspekte Abstinenz, Craving, Trigger, Stimmung und Tagesziel reflektieren.
    • Trends: In diesem Bereich können Nutzer:innen ausgewertete Daten der abendlichen Check-Ins und Wearable-Messungen einsehen und analysieren. Dadurch gibt coobi care einen Überblick über Parameter wie Schlaf, Aktivität, Stimmung, Stress und Craving. Über dieses Biofeedback kann coobi care die Eigenaktivität der Nutzer:innen fördern und sie dabei unterstützen, Problembereiche und Trigger zu erkennen und Krisensituationen bewusst wahrzunehmen.
    • Werkzeugkasten: Nutzer:innen können im Werkzeugkasten freigeschaltete Übungen, Konfliktlösungsstrategien für unterschiedliche Problembereiche und favorisierte Inhalte schnell zugänglich finden.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?

    • Die App wird in einem Paket mit einem Garmin Wearable angeboten.
    • Dashboard für Therapeut:innen: Damit coobi care auch in den Nachsorgegesprächen einen Mehrwert leisten kann, werden wir die gesammelten Daten bei Zustimmung der Nutzer:innen in regelmäßigen Berichten für Therapeut:innen zugänglich machen. Durch Einblicke in Daten zu Schlaf, App-Nutzung, Aktivität, Stress, Craving und selbstberichteten Rückfällen können Therapeut:innen Anomalien und Problembereiche erkennen und in kritischen Situationen intervenieren.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?

    • ≥18 Jahre alt
    • Teilnahme an der Nachsorge (für Selbstzahler:innen ist dies keine Zugangsvoraussetzung)
    • Nachsorgedauer ist sechs Monate, mit Verlängerung zwölf Monate. coobi care wird für diesen Zeitraum begleitend angeboten. Nach Beendigung der Nachsorge kann coobi care von Selbstzahler:innen weiter genutzt werden.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Wir befinden uns derzeit in einer kostenlosen Testphase. Um Zugang zur App zu erhalten oder die App mit Ihrer Nachsorgegruppe zu testen, wenden Sie sich bitte an Julian@coobi.health. In Zukunft streben wir an, coobi care über ein digitales Nachsorgekonzept von der DRV erstatten zu lassen. Damit könnten alle nachsorgeberechtigten Rehabilitand:innen dieses Nachsorgekonzept wählen. Wir wollen in den nächsten Monaten auch ein Angebot für Selbstzahler:innen schaffen. Der Preis steht noch nicht fest.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Stigma Health GmbH – ein junges Start-up-Unternehmen mit Sitz in Berlin, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, mitfühlende und zugängliche Lösungen anzubieten, die die komplexen Herausforderungen, mit denen Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen konfrontiert sind, wirklich verstehen und berücksichtigen und eine unterstützende und integrative Gemeinschaft fördern. Das Team vereint Fachwissen aus den Bereichen Medizin, Psychologie, Informatik und Wirtschaft.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    coobi care befindet sich gerade in einer ersten Testphase. Nach Zustimmung der DRV wollen wir coobi care in einem Modellprojekt erproben. Wir konnten für das Modellprojekt bereits einige wichtige Kliniken gewinnen und sind nun auf der Suche nach weiteren Kollaborationspartnern. Falls Sie als Nachsorgeeinrichtung, Rehabilitationsklinik, Entzugsklinik oder Forschungsinstitut Interesse an einer Teilnahme am Modellprojekt oder einer anderen Zusammenarbeit haben, wenden Sie sich bitte an Julian@coobi.health.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Deutsch & Englisch

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Datenschutz: Das Datenschutzkonzept von coobi care basiert auf vollständiger Anonymität. Der Zugang zur App erfolgt über einen Code. Eine E-Mail-Adresse oder Telefonnummer wird nicht benötigt. coobi care sammelt keinerlei persönliche Daten. Die Identität der Nutzer ist coobi also nicht bekannt, und alle erhobenen Daten sind immer anonym. Um den Zugriff durch Dritte zu verhindern, wird der Nutzer vor dem Öffnen der Anwendung biometrisch authentifiziert. Die Übertragung aller Daten erfolgt über eine gesicherte Verbindung (SSL-Verbindung), so dass die Daten vor dem Zugriff Unbefugter geschützt sind. Der Gruppenchat wird vollständig mit einer Ende-zu-Ende-Verschlüsselung verschlüsselt.

     Die Fragen beantwortete Dr. Julian Kruse, Co-Founder & CMedO.


    GLÜCKSSPIEL

    PlayOff

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    PlayOff ist eine von der Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern (LSG) entwickelte App, die für alle iOS- und Android-Geräte im Google Play Store und Apple App Store kostenlos heruntergeladen werden kann.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    PlayOff ist eine Selbsthilfe-App vor allem für Betroffene eines problematischen Glücksspielverhaltens. Sie kann darüber hinaus von allen Nutzer:innen von Glücksspielen genutzt werden, die ihr Spielverhalten kontrollieren, reduzieren oder beenden möchten.

    3. An wen richtet sich die App?
    PlayOff richtet sich an Nutzer:innen von Glücksspielen aller Altersgruppen, die ihr Spielen entweder komplett beenden möchten oder versuchen möchten, kontrolliert und in einem persönlich festgelegten Ausmaß weiterzuspielen. Die App kann auch begleitend zu einer Beratung oder Therapie eingesetzt werden (die Tagebucheinträge und damit die Angaben zum Glücksspielverhalten können als PDF exportiert werden) und ist damit auch für Profis interessant.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    PlayOff basiert auf verhaltenstherapeutischen Methoden und bietet zahlreiche Features wie eine Tagebuchfunktion, einen Wochenplan und eine Auswertung des eigenen Spielverhaltens. Diese Features können bei der Kontrolle und Reflexion des Spielverhaltens wie auch bei der Bewältigung von Glücksspielproblemen helfen.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?

    • Erfassen des aktuellen Glücksspielverhaltens
    • Erfassen persönlicher Gründe fürs Glücksspielen
    • Individuelle Zielsetzung, das Spielen aufzugeben, zu reduzieren oder in einem festgelegten Rahmen fortzuführen
    • Auswahl von Lebensbereichen, auf die sich die Nutzer:innen als Alternative zum Glücksspielen verstärkt konzentrieren möchten
    • Wochenplan zum Gestalten der glücksspielfreien Zeit und zum Festlegen der Spielzeit bei kontrolliertem Konsum
    • Tagebuch zum Erfassen von Aktivitäten, darunter die für Glücksspiele aufgewendete Zeit, das verspielte Geld und die Situation, in der die Entscheidung zum Spielen getroffen wurde

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?

    • Aktivitätsvorschläge für eine abwechslungsreiche Freizeitgestaltung
    • In-App-Alerts zum aktuellen Spielverhalten und Erfolg bei der Zielerreichung
    • Risikoprofil zur Auswertung der Umstände, die häufig zu ungeplantem Glücksspielen führen
    • Wertvolle Hinweise, wie das ungeplante Spielen künftig verhindert werden kann
    • Wechselnde Tipps zur Änderung des eigenen Glücksspielverhaltens und für eine zufriedenstellende Gestaltung des Alltags
    • Weitere Informationen und Hilfemöglichkeiten bei Problemen durch übermäßiges Glücksspielen

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Es bestehen keine Zugangsvoraussetzungen, die App ist kostenfrei und ohne Anmeldung nutzbar. Die Nutzungsdauer ist nicht limitiert, Nutzer:innen können sich von PlayOff dauerhaft begleiten lassen.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    PlayOff ist kostenlos und rezeptfrei erhältlich.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    PlayOff wurde von der Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern (LSG) entwickelt. Die LSG ist die zentrale Schnittstelle für alle an der Prävention, Suchthilfe, Suchtforschung und Beratung bei Glücksspielsucht beteiligten Organisationen und Akteure. Beteiligt an der LSG sind die Bayerische Akademie für Sucht- und Gesundheitsfragen BAS Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt), das IFT Institut für Therapieforschung und der Betreiberverein der Freien Wohlfahrtspflege Landesarbeitsgemeinschaft Bayern für die Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern e. V. Die LSG wird vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit, Pflege und Prävention finanziert, ist nicht weisungsgebunden und arbeitet fachlich unabhängig.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    2017/2018 hat die Geschäftsstelle der Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern (LSG) die Nutzer:innen der Selbsthilfe-App PlayOff befragt und zusätzliche Daten aus einem (anonymen) Datentracking gemeinsam mit dem IFT Institut für Therapieforschung ausgewertet. Zusammengefasst zeigen die Ergebnisse, dass die App zwar nur von einem Teil der Personen, die sie sich herunterladen, langfristig und regelmäßig genutzt wird, dass sie von diesen jedoch als hilfreiches Instrument zur Bearbeitung des Spielverhaltens bewertet und gut angenommen wird. Vor allem die Tagebuchfunktion der App ist hier hervorzuheben. Auch die in die App eingetragenen Daten weisen darauf hin, dass die Nutzer:innen während der Verwendung von PlayOff ihren Geldeinsatz und ihre Spieldauer reduzieren. Zum vollständigen Evaluationsbericht geht es hier.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    PlayOff kann in der aktuellen Version auf Deutsch oder Türkisch verwendet werden.

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    2019 wurde PlayOff mit dem Sozialpreis der Bayerischen Landesstiftung ausgezeichnet.
    Die App wird Ende 2024 neu aufgesetzt und dabei einerseits vereinfacht und andererseits um weitere Funktionen ergänzt. So können künftig neben dem Spielen auch das Verlangen zu spielen und damit einhergehend Bewältigungsstrategien bei „Spieldruck“ erfasst und ausgewertet werden. Außerdem fließen erledigte therapeutische „Hausaufgaben“ und ein zuverlässiges Führen des Tagebuchs in einen neuen Erfolgsmesser ein. Das Kapitel Risikoprofil/Auswertung wird erweitert und neu strukturiert. Außerdem wird die App direkt mit einem Zugang zu der Online-Beratungsplattform der LSG PlayChange und mit einem persönlich gestaltbaren „Notfallpass“ bei Spieldruck ausgerüstet.

    Die Fragen beantwortete Lisa Mehrbrodt, Fachstellenbetreuung und Projektentwicklung, Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern, München.


    PRÄVENTION / PSYCHISCHE GESUNDHEIT

    blu:app

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Die „blu:app“ ist auf allen gängigen Smartphones über den Google Play Store oder Apple App Store kostenlos erhältlich. Auch während der Nutzung entstehen keine Zusatzkosten. Die blu:app ist ein Produkt von blu:prevent. Als Teil des Blauen Kreuzes e.V. in Deutschland und durch Förderungen sowie Spendengelder können wir die Plattform kostenfrei zur Verfügung stellen.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    3. An wen richtet sich die App?
    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Die blu:app richtet sich an alle Personen, die sich informieren und eine Meinung zum Thema Konsum bilden möchten. Das Ziel der integrierten Plattform blu:base ist, ein an das Kommunikations- und Nutzerverhalten der Gen Z angepasstes Portal für Hilfsangebote primär der Suchtprävention zu etablieren. Dabei werden sowohl Informationen als auch der Erstkontakt mit dem Hilfesystem niedrigschwellig bereitgestellt.

    Die App bietet vollen Zugang zur Plattform blu:base, die viele Infos rund um die Themen Cannabis, Alkohol, Mental Health, Fitness, Sexualität, Mobbing etc. beinhaltet. Durch den intelligenten Chatbot gelangen Nutzer:innen schnell zu den für sie jeweils relevanten Beiträgen! Zudem findet man schnell und einfach digitale und lokale Hilfsangebote. Einfach die Postleitzahl eingeben und das passende Angebot in der Nähe finden. Außerdem bietet die blu:app Zugang zu den beiden digitalen Tools blu:interact und fred_online.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Um über die App blu:interact und fred_online zu nutzen, benötigt man einen Kenncode, der die Verbindung zwischen den Anwendungen herstellt. Dieser wird während der durch eine Fachkraft geführten Präventionseinheit über die Moderatorenansicht von blu:interact / fred_online angezeigt. Die Nutzung der blu:base hingegen funktioniert ohne Anmeldung.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die blu:app wird gemeinsam mit den Angeboten blu:base und blu:interact / fred_online stets weiterentwickelt und optimiert. Die Entwicklung und Verwaltung der blu:app liegt bei blu:prevent. Die technische Umsetzung/Programmierung erfolgt durch externe Partner.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Zur Wirksamkeit der App liegen noch keine Daten vor. Eine Prüfung der Wirksamkeit ist jedoch für das nächste Frühjahr angedacht.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Die App ist im Moment ausschließlich in deutscher Sprache verfügbar. Für die Zukunft ist eine Übersetzung der Seite in mehrere Sprachen jedoch nicht ausgeschlossen.

    Die Fragen beantwortete Benjamin Becker, Leitung blu:prevent.

    ready4life

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Bezugsquelle des ready4life-App: App Store (Apple); Google Play Store (Android) – ebenso wird ready4life seit dem 01.08.2024 auch zielgruppengerecht auf Instagram (ready4life.ch) begleitet.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Förderung der Lebenskompetenzen und Stärkung der Widerstandsfähigkeit gegenüber Suchtmitteln. Adressierte Themen (Wording in der App „Module“) sind: Stress, Sozialkompetenz, Bewegung, Tabak & Nikotin, Cannabis, Alkohol, Social Media & Gaming

    3. An wen richtet sich die App?
    An alle Jugendlichen zwischen 15 und 25 Jahren.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    ready4life ist ein Smartphone-App-basiertes Programm zur Prävention des Suchtmittelkonsums und zur Förderung von Lebenskompetenzen für Jugendliche in der Schweiz, Österreich und Liechtenstein. Auf Basis einer am Smartphone durchgeführten Befragung erstellt die App ein individualisiertes Kompetenzprofil, aus dem für die Teilnehmenden hervorgeht, in welchen Bereichen sie über ausreichend Ressourcen verfügen und in welchen ein Coaching- oder Beratungsbedarf besteht.
    Aus den sieben Modulen Stress, Sozialkompetenz, Tabak & Nikotin, Alkohol, Social Media & Gaming, Bewegung sowie Cannabis können die Teilnehmenden basierend auf ihrem Profil zwei Module auswählen und erhalten zu diesen ein Coaching durch ein automatisiertes Dialogsystem, einen sogenannten Chatbot. Nach Beendigung der ersten beiden Module können alle weiteren adressierten Module bearbeitet werden.  Der virtuelle Coach motiviert die Teilnehmenden zum Aufbau von Lebenskompetenzen und zu einem sensiblen Umgang mit Suchtmitteln, gibt regelmäßig Feedback und informiert in Dialogen, innerhalb von Contests mit anderen Teilnehmenden (Bilderupload und Voting) und interaktiven Challenges (Umsetzen eines Verhaltensziels).
    In einem separaten Chat innerhalb der App beantworten Expert:innen persönliche Fragen zum jeweiligen Modul (Ask the Expert). Um das Präventionsangebot noch attraktiver zu machen, werden am Ende vom Schuljahr tolle Preise verlost (je mehr Credits gesammelt werden, desto höher die Gewinnchance).

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    s.o. Im Folgenden werden noch die einzelnen Features aufgelistet, welche die App neben dem eigentlichen Coaching via Chatbot bietet:

    • Alkoholtagebuch führen: Getränke in einer gamifizierten Trinkbar auswählen und protokollieren, jede Woche gibt es Feedback von der App zum Trinkverhalten. Ziel: Trinkverhalten sichtbar machen und dadurch reflektieren
    • Bewegungstagebuch führen: Schrittzähler kann verbunden werden, Einträge können manuell gesetzt werden, es können Ziele aufgestellt werden etc. Ziel: Bewegung bewusst eintragen und reflektieren/ Bewegung ggf. erhöhen
    • Social Media-Tagebuch: Dauer, Plattform und Gefühl nach Mediennutzung kann eingetragen werden. Ziel: bewusst Medienkonsum eintragen und feststellen/ beobachten, wie man sich danach gefühlt hat
    • Ask the Expert: User können ihre individuellen Fragen an eine Fachperson stellen.
    • User-Lifehacks: User können Strategien von anderen als top oder flop bewerten (top: sie werden bei ihnen als Inspiration im Profil gesammelt, flop: Strategie verschwindet). User kann selbst auch Strategien hochladen. Beispiel-Frage: „Was motiviert dich, weniger zu kiffen oder sogar mit dem Kiffen aufzuhören? Lade ein Bild hoch.“
    • Cannabis Control: Es werden zu gewünschten Zeiten Tipps geschickt, wie man sich am besten auf einen Cannabisstopp vorbereitet.
    • Alkoholfrei werden
    • „Mein Feedback“: Hier sehen die User ihre Ampelfarbe zu den ausgewählten Modulen und wie sich ihre Ressourcen im Laufe des Coachings verbessern.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Hinter der App steht ein qualitativ hochwertiges Netzwerk, das sowohl bei der Weiterentwicklung als auch bei Ask the Expert involviert ist. Ebenso bietet ready4life viele Themen zum Bearbeiten an und bietet somit ganzheitliche Prävention innerhalb einer App. Ziel: Erhöhung des Interesses und der Relevanz von Gesundheitsthemen bei Jugendlichen durch Identifikation und Wahlfreiheit. Indem eine Vielzahl von Gesundheitsthemen abgedeckt wird, wird deutlich, dass Gesundheit durch viele Faktoren beeinflusst wird. Dies erweitert ihr Verständnis von Gesundheit und macht sie für verschiedene Themen sensibler und Zusammenhänge werden erkannt.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Die Nutzer:innen benötigen einen Zugangscode und müssen mind. 15 Jahre alt sein.
    Ein Modul (und somit ein Coaching) dauert 14 Tage – im Idealfall dauert die Begleitung durch die gesamte App also 14 Wochen. Weitere wichtige Funktionen (wie Ask the Expert) können das ganze Jahr über genutzt werden. Zum 1. August eines jeden Jahres erscheint eine neue weiterentwickelte Version von ready4life.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Für die Nutzer:innen ist der Zugang kostenlos. Unter (Bundes-)Ländern/ Kantonen gibt es (Lizenz)-Vereinbarungen.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    ready4life ist ein Projekt der Lungenliga, das 2016 durch das Schweizer Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung (ISGF) initiiert wurde. Die Inhalte der App wurden mit Fachpersonen der Lungenligen (LL) und folgenden Partner:innen entwickelt: Universitäre Psychiatrische Dienste Bern (UPD), Universität Zürich (UZH), Zürcher Fachstelle zur Prävention des Suchtmittelmissbrauchs (ZFPS), Suchtprävention Dietikon & Affoltern (SUPAD), Blaues Kreuz (BLK), Schweizer Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung (ISGF).

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert? Ergebnisse?
    Das ISGF hat ready4life 2021/2022 evaluiert und festgestellt, dass die App wirkt (signifikant bei den Modulen Stress, Alkohol und Social Media & Gaming).

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Deutsch, Französisch, Italienisch

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Seit dem 01.08.2024 erscheint ready4life in einem neuen Design. Ebenso wurden Erklärvideo, Website und Social-Media-Auftritt erneuert.

    Die Fragen beantwortete Pia Nobis, Nationale Projektleitung ready4life, Lungenliga beider Basel.

    Cyber-Mobbing Leichte Hilfe

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Die „Cyber-Mobbing Leichte Hilfe“-App ist über den Apple App Store und den Google Play Store zu beziehen.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Die App stellt primär ein Hilfsangebot bei Betroffenheit von Cybermobbing und digitaler sexualisierter Gewalt dar. Im Wesentlichen geht es um erste Schritte nach einem Angriff. Es werden Beratungsstellen aufgeführt, es gibt Videotipps zu ersten Schritten, Anleitungen zum Blockieren, Melden und Löschen von Angreifer:innen sowie Vorschläge zur Aufmunterung.
    Gleichzeitig soll die App potenziell Betroffene für diese speziellen Formen der Gewalt sensibilisieren und gibt einige Tipps, wie man sich im Internet schützen kann.

    3. An wen richtet sich die App?
    Die App richtet sich primär an erwachsene Menschen mit Beeinträchtigung, kann aber ebenso von älteren Personen oder Personen, die noch nicht so gut Deutsch sprechen, genutzt werden.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die App bietet in erster Linie Hinweise und Informationen zum Verhalten bei digitaler Gewalt in einfacher und zum Teil auch Gebärdensprache.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Nutzer:innen können sich Videotipps in einfacher Sprache und in Gebärdensprache zum Umgang mit digitaler Gewalt ansehen und erhalten Informationen zum Thema Cybermobbing und digitale sexualisierte Gewalt. Außerdem enthält die App Anleitungen zum Blockieren, Melden und Löschen von Angreifer:innen auf sechs unterschiedlichen Social-Media-Plattformen (WhatsApp, Instagram, Facebook, TikTok, YouTube und Discord). Nutzer:innen bekommen eine Übersicht von spezialisierten Beratungsangeboten zum Thema digitale Gewalt, die aus der App heraus angerufen werden können. Zudem gibt es eine Videoanleitung zur Erstellung einer Online-Anzeige in Berlin und eine Linksammlung zu sämtlichen Internetwachen aller Bundesländer.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Alle Videotipps liegen in einfacher Sprache und in Gebärdensprache vor. Die App wurde partizipativ erarbeitet. Das bedeutet, dass die Inhalte (Texte, Videos, Design) mit und von Menschen mit Beeinträchtigungen der Werkstätten in Berlin erarbeitet wurden.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Es bestehen keine speziellen Zugangsvoraussetzungen. Die App begleitet Nutzer:innen so lange diese dies wünschen und benötigen.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Die App ist kostenlos.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die App wurde im Rahmen einer Kooperation von klicksafe https://www.klicksafe.de/ und der Landesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen Berlin e. V. erarbeitet.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Eine Evaluation der App steht noch aus.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Die App liegt bisher noch nicht in anderen Sprachen vor, ist aber angedacht.

    Die Fragen beantwortete Sascha Omidi, Fachberater für Gewaltprävention, Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für Menschen mit Behinderung Berlin e. V.

    belinu

    belinu – Abkürzung für believe in yourself. Während meiner eigenen Trauerzeit war der Glaube an mich selbst, um diese herausfordernde Zeit zu überwinden, sehr prägend und wichtig. Da es so wichtig ist, an sich selbst zu glauben, besonders in herausfordernden Zeiten und persönlichen Krisen, liegt uns diese Botschaft sehr am Herzen. Deshalb haben wir auch die App danach benannt.

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    belinu ist im App Store und Google Play Store verfügbar.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Wir haben uns auf die Themenbereiche Trauer, Einsamkeit, Stress und Überforderung sowie Probleme in Beziehungen spezialisiert. Für diese Themen gibt es zahlreiche Videokurse und Übungen, die wir speziell für die App mit unseren Expert:innen entwickeln. Hier arbeiten wir mit verschiedensten Psycholog:innen, Trauerbegleiter:innen und anderen ausgebildeten Expert:innen zusammen.

    3. An wen richtet sich die App?
    Die App richtet sich an Betroffene, die mit einem oder mehreren unserer Themengebiete zu kämpfen haben. Alle unsere Themengebiete lassen sich nicht auf ein Alter beschränken, weshalb wir keine bestimmte Altersgruppe haben. Allerdings richtet sich die App an Erwachsene und ist somit erst ab 18.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    belinu ist in zwei Hauptbereiche aufgeteilt. Zum einen gibt es die Video-Mediathek mit zahlreichen praktischen Übungen und Anwendungsfällen zu den genannten Themengebieten. Zum anderen gibt es einen Community Bereich. Hier können sich Betroffene austauschen, Erfahrungen und Informationen teilen. Hierfür wählen die Nutzer:innen aus, über welches Thema, mit welcher Altersgruppe oder mit welchem Geschlecht sie sich gerne austauschen möchten. Anschließend wird eine Liste mit Menschen, die vor ähnlichen / gleichen Herausforderungen stehen, vorgeschlagen, und die Nutzer:innen können selbst entscheiden, mit wem sie sich vernetzen möchten. Hierbei können die Nutzer:innen so viel sie von sich preisgeben, wie sie möchten, und die App auch anonym nutzen.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Die Nutzer:innen können sich aktiv mit der Community austauschen und das Schwarmwissen der Community nutzen. Zusätzlich können sie Übungen aus den verschiedenen Kursen direkt in ihren Alltag integrieren, da die Kurse sehr praktisch sind und der Fokus auf der direkten Umsetzungsmöglichkeit im Alltag liegt. Zusätzlich gibt es ein Tagebuch mit Stimmungstracking. Täglich kann eine Emotion des Tages und der Grund für diese Emotion erfasst werden. Das ermöglicht einen guten Überblick über die eigenen Gefühle und die Gründe für diese Gefühle.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Unser Merkmal ist die Bandbreite an Expert:innen und unterschiedlichen Menschen. Was für den einen passt, ist für den anderen unpassend. Deshalb arbeiten wir mit verschiedensten Expert:innen und erweitern unsere Videokurse laufend. Auch unsere Community wächst stetig, was einen Austausch mit verschiedensten Personen ermöglicht.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    belinu ist für Nutzer:innen ab 18 Jahren geeignet. Weitere Voraussetzungen bestehen nicht. Wie lange die App die Nutzer:innen begleitet, ist von Nutzerin zu Nutzer unterschiedlich. Jede:r entscheidet selbst, mit welchem Tempo und in welcher Intensität er/sie die App nutzen möchte.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    belinu ist in zwei Abo-Varianten erhältlich. Nutzer:innen können zwischen einem Quartals-Abo (38,90 €) und einem Jahres-Abo (94,90 €) entscheiden. Bisher ist die App nicht auf Rezept erhältlich.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    belinu wurde vollständig von uns selbst in Kooperation mit verschiedenen Expert:innen und Psycholog:innen entwickelt.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Hier sind wir dran. Bisher noch kein Start einer Studie.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Die App ist im DACH Raum verfügbar, bisher nur in deutscher Sprache.

    Die Fragen beantwortete Lisa Mutvar, Gründerin von belinu.


    RAUCHEN

    NichtraucherHelden

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Die NichtraucherHelden-App ist als Präventionsprogramm im jeweiligen Store von Apple und Google erhältlich und kann auch über einen Browser auf www.nichtraucherhelden.de genutzt werden. Zuerst war die App als Präventionsprogramm für Unternehmen im Rahmen ihres BGM-Angebots (Betriebliches Gesundheitsmanagement) sowie für Krankenkassenversicherte erhältlich. Inzwischen gibt es auch eine Variante als DiGA (Digitale Gesundheits- Anwendung), diese kann somit als „App auf Rezept“ von Ärzten und Ärztinnen verordnet werden. Im Folgenden wird nur auf die als DiGA auf Rezept erhältliche NichtraucherHelden-App eingegangen.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Bei Personen, die sich das Zigarettenrauchen abgewöhnen wollen, kommt die NichtraucherHelden-App zum Einsatz. Sie kann entweder als eigenständiges Hilfsmittel genutzt werden, aber auch in Verbindung mit Medikamenten. Ansprechpartner dazu ist dann zwingend der Arzt. Die App informiert und motiviert die Anwender:innen, um den Entschluss des Rauchstopps besser und erfolgreicher umsetzen zu können und Entzugserscheinungen und mit dem Rauchen verbundenen Gewohnheiten bewusst zu begegnen.

    3. An wen richtet sich die App?
    Die NichtraucherHelden-App richtet sich an Zigarettenraucher:innen, die tabakabhängig sind und sich das Rauchen abgewöhnen wollen. Es gibt dabei keine Einschränkung bezüglich Personengruppen oder Alter. Die NichtraucherHelden-Anwendung ist nicht geeignet bei Personen mit psychiatrischen Erkrankungen mit Zeichen der akuten Depressivität oder Suizidalität sowie bei Erkrankungen mit akuten deliranten oder akuten psychotischen Störungen.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die NichtraucherHelden-App bietet mit informativen Videos und lehrreichen Aufgaben eine umfangreiche Vorbereitung auf den Rauchstopp. Anschließend folgen verschiedene Angebote nach dem Rauchstopp, z. B. was tun, wenn Entzugserscheinungen eintreten, Verlangen nach einer Zigarette auftritt, gegen mögliche Gewichtszunahme und Ähnliches. Sehr gerne wird die moderierte NichtraucherHelden-Community genutzt, die im Rahmen der App angeboten wird. Darin tauschen sich die Anwender und Anwenderinnen aus, beantworten sich gegenseitig Fragen und geben und finden Motivation.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Neben informativen und motivierenden Coaching-Videos haben die Benutzer und Benutzerinnen die Möglichkeit, sportliche Übungen mitzumachen und gesunde Rezepte auszuprobieren. In der NichtraucherHelden-Community können die Anwender und Anwenderinnen sich austauschen. Im Rahmen der täglichen Betreuung fordert die App die Benutzer:innen auf, Aufgaben abzuarbeiten und sich seiner Gewohnheiten bewusst zu werden und sie gegebenenfalls zu ändern. Zur Belohnung gibt es Informationen, was man erreicht hat und wie viel Geld man an nicht gerauchten Zigaretten gespart hat.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Die Vorgehensweise im Programm basiert auf einem eigens entwickelten Ansatz des „Medical Story Telling“. In Videos werden medizinische Informationen mit Filmszenen aus dem Leben und Tipps zum Nichtrauchen angeboten. Zusammen mit Aufgaben zur Selbstanalyse wird dem Benutzer und der Benutzerin bewusst, welche schädlichen Folgen das Rauchen hat, und es wird eine starke Motivation erzeugt, mit dem Rauchen aufzuhören. Durch tägliche Abfragen trägt der Anwender und die Anwenderin eigenes Feedback ein, womit die NichtraucherHelden-App auf jeden individuellen Fall angepasst wird.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Nachdem der Arzt oder die Ärztin ein Rezept ausgestellt hat, wird dieses vom Patienten oder der Patientin bei der Krankenkasse eingereicht. Die Kasse gibt dem Patienten oder der Patientin einen Zugangs-Code, mit dem man sich bei den NichtraucherHelden anmelden kann. Zuvor muss man nur die App aus dem jeweiligen Store auf sein Smartphone laden und installieren, und es kann losgehen. Die Nutzungsdauer der App ist angelegt auf drei Monate, das heißt Vorbereitung zum Rauchstopp, die Phase des Rauchstopps sowie die Begleitung und Unterstützung hinterher. Es kann jederzeit ein Folgerezept ausgestellt werden, sodass die App jeweils weitere drei Monate genutzt werden kann.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Nach Feststellen der Nikotinabhängigkeit durch den Arzt oder die Ärztin wird ein Rezept für den Patienten oder die Patientin ausgestellt. Dies belastet das Budget des Arztes bzw. der Ärztin nicht. Durch das Rezept wird die Nutzung der App für drei Monate freigeschalten. Für den Patienten oder die Patientin entstehen keine Kosten.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die Firma Sanero Medical GmbH aus Stuttgart ist ein Startup, das sich auf medizinische Apps auf Rezept spezialisiert hat. Die NichtraucherHelden-App wurde gemeinsam mit Medizinern und Fachleuten entwickelt und wird von Sanero Medical vermarktet.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Damit die NichtraucherHelden-App als DiGA dauerhaft zugelassen werden konnte, wurde eine umfangreiche klinische Studie durchgeführt. Das Ziel der Studie war die Evaluierung der Wirksamkeit der Digitalen Gesundheitsanwendung (DiGA) NichtraucherHelden. Als Schlussfolgerung aus der Studie kann man zusammenfassen, dass der Rauchstopp mit Hilfe der NichtraucherHelden-App die Abstinenzquote verdoppelt.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Aktuell ist die NichtraucherHelden-App nur in Deutsch verfügbar. Inzwischen führen weitere Länder Programme für eine App auf Rezept ein, ähnlich der DiGA in Deutschland. Entsprechend ist geplant, die App in weiteren Sprachen für andere Länder anzubieten.

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Anfang 2024 ist die NichtraucherHelden App bei der Stiftung Warentest Testsieger geworden und mit Top-Noten bewertet worden. Aktuell ist die NichtraucherHelden-App die einzige DiGA zur Rauchentwöhnung, die vom Bundesamt für Arzneimittel (BfArM) eine dauerhafte Zulassung erhalten hat. Auf der Internetseite von NichtraucherHelden (www.nichtraucherhelden.de) findet man interessante Erfahrungsberichte von Personen, die mit der Nichtraucherhelden-App aufgehört haben zu rauchen.

    Die Fragen beantwortete Rainer Ott, Sales und Partner Manager, Firma Sanero Medical GmbH.

    Smoke Free – Rauchen aufhören

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Die App ist im Apple App Store und Google Play Store verfügbar. Es gibt keine Web-Version.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Smoke Free wird im Bereich der Rauchentwöhnung eingesetzt. Sie ist eine evidenzbasierte, digitale Therapie, die als Smartphone-App angeboten wird und darauf abzielt, Menschen beim Aufhören mit dem Rauchen zu unterstützen. Sie kann von Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen beim Vorliegen einer Tabakabhängigkeit (ICD 17.2) als Digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) verordnet werden. Die App hilft, die nötige Motivation aufzubauen und aufrechtzuerhalten, um dem Rauchverlangen zu widerstehen und dauerhaft rauchfrei zu bleiben.

    3. An wen richtet sich die App?
    Smoke Free richtet sich an Erwachsene zwischen 18 und 65 Jahren, die direkt von der Tabakabhängigkeit betroffen sind und mit dem Rauchen aufhören möchten.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die App zielt darauf ab, die Motivation der Nutzer:innen zu steigern und ihr Selbstbewusstsein zu stärken, indem sie Feedback zu Fortschritten gibt und den Rauchstopp als einen Prozess mit möglichen Rückschlägen betrachtet. Dazu bietet sie eine Vielzahl an Leistungen:

    • Tägliche Missionen und Belohnungssystem: Nutzer:innen erhalten bereits sieben Tage vor dem Rauchstoppversuch tägliche Missionen, um sich auf den Rauchstopp vorzubereiten und diesen erfolgreich zu absolvieren. Im Verlauf des Rauchstoppversuchs nimmt die Frequenz der Missionen ab. Darüber hinaus lassen sich Abzeichen verdienen, was zur Steigerung des Selbstbewusstseins beiträgt und die Motivation aufrechterhält.
    • Unterstützung durch Community und Chatbot: Die App bietet Unterstützung durch einen Chatbot, der rund um die Uhr verfügbar ist und den Rauchstopp begleitet. Der Chatbot vermittelt praktische Tipps und passende Strategien, zum Beispiel im Umgang mit Rauchverlangen. Er basiert auf einem etablierten Protokoll zur Rauchentwöhnung, das in Face-to-Face-Rauchentwöhnungsangeboten im Vereinigten Königreich genutzt wird. Außerdem gibt es eine Community, in der sich unsere Nutzer:innen gegenseitig motivieren und unterstützen können.
    • Fortschrittsverfolgung: Nutzer:innen können verfolgen, wie lange sie rauchfrei sind, wie viel Geld sie gespart haben und welche gesundheitlichen Verbesserungen sie bereits mit der rauchfreien Zeit erzielt haben.
    • Ablenkung: Nutzer:innen können in einem virtuellen Haustierspiel Ablenkung finden, bis ein aufgekommenes Rauchverlangen vorbeigeht. Mit der Nutzung verschiedener Aspekte der App schaltet man dazu noch Gegenstände frei, die zur individuellen Dekoration des eigenen Haustiers genutzt werden können.
    • Analyse von Auslösern für Rauchverlangen und Stress-Tracking: Nutzer:innen werden ermutigt, aufgekommene Rauchverlangen in die App einzutragen und sowohl die Stärke des Verlangens als auch Uhrzeit, Ort oder Tätigkeiten zu notieren. Die Rauchverlangen können dann im Anschluss räumlich, zeitlich und situativ ausgewertet werden, um kritische Situationen zu identifizieren und diese besser bewältigen zu können. Darüber hinaus bietet die App ein Stress-Tracking, um Veränderungen im Stresserleben, die zu einem möglichen Rückfall führen könnten, frühzeitig zu erkennen und dem entgegenzuwirken.
    • Verhaltenstherapeutische Techniken: Die App integriert Techniken zur Verhaltensänderung, die auf psychologischen Theorien zur Verhaltensänderung basieren. Dies schließt Erkenntnisse aus der kognitiven Verhaltenstherapie, aber auch der Motivationspsychologie ein.
    • Wissenschaftlich nachgewiesene Wirksamkeit: In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass die Nutzung der App die Erfolgsrate beim Rauchstopp signifikant erhöhen kann.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?

    • Tägliche Missionen: Nutzer:innen können tägliche Aufgaben absolvieren, die speziell darauf ausgelegt sind, die Rauchgewohnheiten zu durchbrechen und die Motivation zu steigern. Diese Missionen sind wissenschaftlich fundiert und konnten in einer Studie die Erfolgschancen beim Rauchstopp verdoppeln.
    • Generelle Unterstützung bei Rauchverlangen: Die App bietet Tools und Tipps, um mit Rauchverlangen umzugehen, einschließlich eines Chatbots, der rund um die Uhr Unterstützung bietet.
    • Soziale Unterstützung: In der App haben Nutzer:innen Zugang zu einer Community, in der Tipps und Strategien zum Rauchstopp ausgetauscht werden können sowie Erfolge gemeinsam gefeiert werden.
    • Spielerische Unterstützung (Haustierspiel): Nutzer:innen können ihren eigenen virtuellen Drachen großziehen und diesen pflegen. Dies kann vor allem dann hilfreich sein, wenn die Dauer eines Verlangens überbrückt werden soll. Generell bietet das Spiel aber auch einen Anreiz, andere Teile der App zu nutzen, da man damit Gegenstände für den Drachen freischalten kann.
    • Analytische Unterstützung: Die App ermöglicht es den Nutzer:innen, ihren Fortschritt zu überwachen, indem sie sehen, wie lange sie rauchfrei sind, wie viel Geld sie gespart haben und welche gesundheitlichen Verbesserungen sie erzielt haben. Darüber hinaus können die Nutzer:innen die eingetragenen Rauchverlangen nach Ort, Zeit und auslösenden Situationen analysieren.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Die App umfasst sowohl off- als auch online nutzbare Funktionen. Das ist besonders im Kontext der Rauchentwöhnung wichtig, da Rauchverlangen nicht immer nur dann auftreten, wenn eine gute Internetverbindung vorhanden ist. Allgemein versteht sich die App nicht als Onlinekurs, bei dem Lerninhalte (z. B. im Videoformat) vermittelt werden, sondern als Begleiter auf dem Weg ins rauchfreie Leben. Deshalb wird viel Wert auf eine therapeutische Allianz zwischen App und Nutzer:in gelegt.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Es bestehen keine Zugangsvoraussetzungen. Die Zusatzfunktionen der App begleiten die Menschen beim Rauchstopp für den Verschreibungszeitraum (90 Tage, Folgeverschreibungen sind möglich). Die Basisfunktionen sind dauerhaft kostenfrei verfügbar und bieten im Anschluss an einen Verschreibungszeitraum weiterhin Unterstützung.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Die App Smoke Free enthält sowohl kostenlose Basisfunktionen als auch kostenpflichtige Zusatzfunktionen. Nutzer:innen können die App kostenlos im App-Store herunterladen und die Zusatzfunktionen für eine Woche unverbindlich testen. Nach der einwöchigen Testphase ist für die Zusatzfunktionen ein Rezept nötig. Dies kann von Ärzt:innen oder Psychotherapeut:innen ohne Kontraindikationen verordnet werden. In diesem Fall übernehmen sowohl gesetzliche Krankenkassen als auch viele private Krankenversicherungen die Kosten, sodass die App für die Nutzer:innen kostenlos ist. Selbstzahler:innen zahlen 389,00 € für den Nutzungszeitraum von 90 Tagen.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die App wurde von Dr. David Crane entwickelt, der auch als Gründer und CEO des Unternehmens fungiert. David hat einen Hintergrund in den Verhaltenswissenschaften und hat die App als Teil seiner Dissertation im Bereich der digitalen Gesundheitslösungen entwickelt.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Verschiedene Aspekte der App wurden bereits in größeren RCTs mit der englischsprachigen Version evaluiert. Hier zeigte sich, dass sowohl die Missionen als auch der Chatbot die Chance, erfolgreich aufzuhören, etwa verdoppeln konnte. Die App wird darüber hinaus im englischen Kontext stetig evaluiert, da dies von den Kooperationspartnern vorausgesetzt wird (siehe unten). In der letzten derartigen Evaluation wurden beispielsweise Aufhörraten von 40 % nach drei Monaten ermittelt. Für die deutschsprachige Version mit Zusatzfunktionen liegen erste Ergebnisse im Rahmen der vorläufigen Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis vor. Momentan sind wir in der Abschlussphase der bis dato größten DiGA-Evaluationsstudie mit über 1.450 Teilnehmenden, um die Voraussetzungen für eine dauerhafte Listung zu erfüllen. Die Ergebnisse der Studie werden in den kommenden Monaten veröffentlicht.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Die Zusatzfunktionen in der App sind auch auf Englisch verfügbar. Die Basisfunktionen werden auch noch in weiteren Sprachen (momentan Spanisch, Französisch, Russisch und Portugiesisch) angeboten, wobei wir das Angebot stetig ausbauen wollen.

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Die App wird sowohl im deutschen als auch im englischen Gesundheitssystem genutzt. Dort bestehen Kooperationen unter anderem mit dem britischen National Health Service (NHS) und dem National Centre for Smoking Cessation and Training (NCSCT).
    Die App ist bereits seit über zehn Jahren erhältlich und verzeichnet mehr als sieben Millionen Downloads, wovon mehr als eine Million Downloads auf Deutschland fallen. Sie gehört zu den bestbewerteten Rauchstopp-Apps mit mehr als 185.000 5-Sterne-Bewertungen.

    Die Fragen beantwortete Dr. Lucas Keller, Lead Researcher.