Kategorie: Fachbeiträge

  • „Die Zukunft hat begonnen“

    „Die Zukunft hat begonnen“

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten
    Wolfgang Schmidt-Rosengarten

    Seit geraumer Zeit stößt man in den Medien auf den Begriff Industrie 4.0. Er beschreibt die schon eingeläutete nächste Stufe der industriellen Revolution, auf der sich die physikalische und die virtuelle Welt noch stärker verbinden. Im „Internet der Dinge“ (IoT – Internet of Things) kommunizieren Menschen, Maschinen, Gegenstände und Softwaresysteme miteinander. Das IoT trägt sowohl den Ansprüchen von Kunden Rechnung, die Produkte verlangen, die immer mehr ihren eigenen individuellen Vorstellungen entsprechen, als auch den Anforderungen an Unternehmen, kostengünstig zu produzieren (vgl. http://industrie-wegweiser.de/industrie-4-0/).

    Weil im Rahmen von Industrie 4.0 zunehmend Maschinen Arbeiten verrichten, die vorher von Menschen durchgeführt wurden – bei gleichbleibender oder sogar gesteigerter Produktivität – werden bereits Forderungen nach einer ‚Robotersteuer‘ laut. Auch wenn die Idee, die Wertschöpfung von Robotern zu besteuern und im Gegenzug die Besteuerung von Arbeit zu verringern, sehr kontrovers diskutiert wird, zeigt es, dass die anstehenden Entwicklungen grundlegende Änderungen für die bisherigen Arbeits- und auch Angebotsstrukturen bedeuten (vgl. Balser, 2016).

    Veränderungen durch die Digitalisierung

    Ganze Branchen, die derzeit aus dem Alltag nicht wegzudenken sind, werden sich auflösen oder sich grundlegend wandeln, und das nicht nur im produzierenden Gewerbe. Die Veränderungen, die durch die Digitalisierung möglich werden, betreffen alle Lebensbereiche, wie die folgenden Beispiele zeigen:

    • Die gesamte Struktur des Einzelhandels ändert sich, wenn Güter und Lebensmittel im Internet geordert und innerhalb weniger Stunden per Drohnen ins Haus geliefert werden.
    • Start-up-Unternehmen, so genannte FinTechs (Financial Tech), beginnen derzeit, die etablierte Banken- und Versicherungsbranche durcheinanderzuwirbeln, indem sie Finanzdienstleistungen mit einem Minimum an Personal und unter gänzlichem Verzicht auf repräsentative Immobilien per Internet preiswert anbieten. Im Deutsche Bank Research „Fintech – Die digitale (R)evolution im Finanzsektor“ (Teil 1, 2014, S. 5) heißt es: „So gerät der Finanzsektor in diesen Bereichen also nicht durch eigene, der Branche zugehörige Finanzdienstleister in Bedrängnis, sondern zunehmend durch technologiegetriebene Unternehmen, die sich digital und mit großer Dynamik in den Markt für leicht zu standardisierende Finanzprodukte und -dienste drängen, um Kunden und Marktanteile zu gewinnen.“
    • Die Autoindustrie muss ihr Geschäftsmodell, immer mehr Autos zu produzieren, umstellen, wenn durch die Verbreitung der „Sharing Economy“ via Internet nicht mehr der persönliche Besitz eines Fahrzeugs wichtig ist, sondern nur der Wunsch, schnell, unkompliziert und jederzeit von A nach B zu kommen. Längst haben deshalb Autohersteller wie beispielsweise BMW mit „DriveNow“ und Daimler mit „car2go“ eigene Mobilitätsdienste aufgebaut oder sind daran beteiligt wie z. B. Volkswagen an „Greenwheels“. Auch andere Autohersteller denken bereits darüber nach, in Zukunft eigenes Carsharing anzubieten (vgl. http://www.carsharing-news.de/).
    • Meist unbemerkt ist der 3D-Druck heute schon im Alltag von Millionen Menschen angekommen. So stammen Hörgeräte und Zahnersatz inzwischen sehr oft aus 3D-Druckern. Beim 3D-Druck werden die Werkstücke computergesteuert aus einem oder mehreren flüssigen oder festen Werkstoffen nach vorgegebenen Maßen und Formen gefertigt. Die Bauteile oder Ersatzteile können auch in kleinen Margen „just in time“ selbst hergestellt werden. Zulieferer und Lagerkapazitäten werden hierbei nicht mehr gebraucht. Ein Grund, weshalb diese Technik auch in Gasturbinen und Flugzeugtriebwerken Anwendung findet.
    • Die Taxibranche wird weltweit durch Unternehmen wie Uber in ihrer Existenz bedroht, denn mit den Möglichkeiten des Internts kann jeder Autofahrer zum Taxifahrer werden.
    • Vom Urlaub aus die eigene Wohnung überwachen, vom Büro aus die Heizung zu Hause regulieren, ein Kühlschrank, der meldet, wenn Lebensmittel nachgekauft werden müssen: Im Bereich Smart Home macht das Internet der Dinge via App all dies heute schon möglich.
    • Die Überalterung der Gesellschaft und die steigende Lebenserwartung bei gleichzeitiger Ausdünnung der Infrastruktur im ländlichen Bereich sowie der Wunsch von immer mehr Menschen, ihren Gesundheitsstatus permanent selbstständig überwachen zu können, führen zu einer immensen Dynamik im Bereich E-Health. Immer neue Anwendungen kommen auf den Markt, bei denen der Kontakt zwischen Behandler/in und Patient/in per App über das Internet hergestellt wird.
    • Fachkräftemangel im Pflegebereich und der Wunsch vieler Menschen, möglichst lange in den eigenen vier Wänden wohnen zu können, bieten einen enormen Markt für internetgestützte Assistenzsysteme.
    • Im Bereich E-Mental-Healthcare (Gesundheitsversorgung per Internet für Menschen mit psychischen Erkrankungen) gibt es erste Untersuchungen, die das positive Potenzial internetbasierter Nachsorge nach einer stationären Therapie belegen (vgl. https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/index.php?id=137792). Therapieangebote per Internet z. B. bei Depressionen oder Angststörungen werden in der Literatur als wirksam und nachhaltig bewertet (Knaevelsrud, Wagner & Böttche, 2016).

    Die oben genannten Beispiele sind schon jetzt Realität, und es ist unrealistisch anzunehmen, die Bereiche der Suchthilfe und Suchtprävention wären von solchen tiefgreifenden Veränderungen, die zum Verschwinden ganzer Branchen und Strukturen führen, komplett ausgenommen. Suchthilfe und Suchtprävention bestehen zu weiten Teilen aus Kommunikation. Und wenn die Kommunikation zwischen Menschen bei der Inanspruchnahme von Dienstleistungen ebenso wie die Rezeption von Informationen immer stärker per Internet geschieht, müssen Suchthilfe- und Suchtpräventionsangebote diesem Verhalten und den damit verbundenen Erwartungen Rechnung tragen. Die Suchthilfe ist deshalb gefordert, Konzepte für eine nachfragegerechte Gestaltung der derzeitigen Angebote und Dienstleistungen zu entwickeln.

    Anforderungen an die Suchthilfe

    Voraussichtlich werden auch im Bereich der Suchthilfe mithilfe der Digitalisierung sehr schnell Geschäftsmodelle möglich, die Kundeninteressen oder Kostenträgerinteressen befriedigen und dafür die aktuellen Strukturen, Einrichtungen und Mitarbeitenden nicht mehr in dem Umfang benötigen, wie es zurzeit noch der Fall ist. Die Einführung der Smartphones, deren Existenz heute nicht mehr wegzudenken ist und mit denen viele der digitalen Möglichkeiten ‚in der Hosentasche‘ transportiert werden können, liegt erst neun Jahre zurück. Ein Indiz, das zeigt, wie rasant die aktuellen Entwicklungen vorangehen.

    Deshalb ist es eine dringende Aufgabe für die Suchthilfeverbände, sich an zentraler Stelle mit dem aktuellen Stand der digitalen Transformation und speziell mit den Entwicklungen und Möglichkeiten im Bereich E-Mental-Healthcare auseinanderzusetzen. In einem ersten Schritt sollten die bereits existierenden Angebote im Bereich der Suchthilfe und Suchtprävention (Online-Beratung per E-Mail oder Chat, Foren, interaktive Homepages, internetgestützte Selbstkontrollprogramme, Apps etc.) strukturiert erfasst und die gemachten Erfahrungen ausgewertet werden. Neben Angeboten aus Deutschland sollten aufgrund der langjährigen Erfahrungen mit entsprechenden Angeboten auch solche aus der Schweiz und den Niederlanden einbezogen werden. Problemstellungen im Bereich des Datenschutzes müssen mitdiskutiert und praktikable Lösungen gefunden werden.

    Anschließend sollten Modelle konzipiert werden, wie bereits heute Elemente der digitalen Kommunikation im Bereich der Suchthilfe und Suchtprävention den Einrichtungen vor Ort zur Verfügung gestellt werden können, beispielsweise die Online-Buchung von verfügbaren Terminen, die die Klient/innen selbst vornehmen können. Das Team der Beratungsstelle braucht so weniger Zeit für Telefonate, und durch kurzfristige Absagen frei gewordene Termine können durch die Internetbuchung schnell wieder belegt werden. Entsprechende Programme sind verfügbar und werden in Arztpraxen bereits vielfach verwendet.

    Bei dem einzuleitenden Prozess sollte das Hauptaugenmerk immer darauf gerichtet sein, wie die digitalen Interventionsmöglichkeiten mit den Face-to-Face-Kontakten kombiniert werden können, um die Versorgung von Betroffenen sinnvoll zu ergänzen bzw. junge Zielgruppen mit suchtpräventiven Botschaften besser zu erreichen.

    Kontakt:

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten
    Hessische Landesstelle für Suchtfragen e. V. (HLS)
    Zimmerweg 10
    60325 Frankfurt a. M.
    Tel. 069/71 37 67 77
    wsr@hls-online.org
    www.hls-online.org

    Angaben zum Autor:

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten ist Erziehungswissenschaftler und Suchttherapeut. Seit 1998 ist er Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e. V. (HLS).

    Literatur und Links:
  • Das Selbstkontrolltraining SKOLL

    Das Selbstkontrolltraining SKOLL

    Sabine Bösing
    Sabine Bösing

    Wer etwas für seinen Rücken tun will, trainiert im Fitnessstudio, wer seine Kondition steigern möchte, geht in eine Laufgruppe. Aber welches Angebot bietet sinnvolle Unterstützung, um besser mit dem eigenen Suchtmittelkonsum oder suchtbezogenen Verhalten umzugehen? Hier hilft das Selbstkontrolltraining SKOLL.

    Seit 2006 wird das vom Caritasverband Osnabrück entwickelte SKOLL-Training von Präventions- und Suchtfachkräften in unterschiedlichen Settings (z. B. Schule und Ausbildung, Jobcenter, Betriebe, JVAen, Bewährungshilfe) bundesweit angewendet. SKOLL schließt eine Angebotslücke für die Menschen, die sich zwischen Absichtslosigkeit und Absichtsbildung befinden (Gastpar, Mann, Rommelsbacher 1999) und sich in einer Gruppe darüber klar werden wollen, ob ihr suchtmittelbezogenes Konsum- und Verhaltensmuster schon problematisch ist. Mehrere wissenschaftliche Untersuchungen (Bruns 2007; Bösing et al. 2012; Görgen, Hartmann 2013) haben die Wirkung dieses Trainings nachgewiesen. Zum Beispiel konnte das Risikoverhalten der Teilnehmenden bei Alkohol im Mittel um bis zu 50 Prozent stabil über mehrere Monate verringert werden. In den letzten zehn Jahren wurden die zahlreichen Erfahrungen der SKOLL-Trainerinnen und -Trainer und die Ergebnisse der Evaluation zur Weiterentwicklung genutzt.

    Dieser Artikel verfolgt das Ziel, die Stärken des Trainingsformats für Fachkräfte in der Suchthilfe und die Teilnehmenden herauszuarbeiten. Eingegangen wird deshalb vor allem auf die Besonderheit des Trainings und die Rolle der Trainerin/des Trainers.

    Ziele des SKOLL-Trainings

    logo-skollDas SKOLL-Selbstkontrolltraining ist ein Programm für den verantwortungsvollen Umgang mit Suchtmitteln und anderen Suchtphänomenen. Es richtet sich an Jugendliche und Erwachsene mit riskantem Konsumverhalten. Die Grundlagen bilden die Prinzipien der Motivierenden Gesprächsführung (Miller & Rollnick 1999), das Selbstmanagement aus dem Bereich der Kognitiven Verhaltenstherapie (Kanfer, Reinecker, Schmelzer 1996), die Grundidee des Empowerments, bewährte psychoedukative Verfahren im Rahmen von Suchtprävention und die interaktionelle Methode zur Steuerung der Gruppendynamik.

    SKOLL umfasst zehn Trainingseinheiten à 90 Minuten im wöchentlichen Rhythmus. Dabei werden die jeweiligen Ziele der Teilnehmenden erfasst, es wird ein individueller Trainingsplan erstellt und das Wahrnehmen von Risikosituationen geübt. Die Teilnehmenden erlernen hilfreiche Gedanken sowie einen gesundheitsförderlichen Umgang mit Stress, Konflikten und Rückschritten. Gemeinsam werden Möglichkeiten der Gestaltung von Beziehungen und Freizeit sowie stabilisierende Rituale erarbeitet.

    Aufbau und Inhalte des Trainings

    „Menschen lassen sich viel eher durch Argumente überzeugen, die sie selbst entdecken, als durch solche, auf die andere kommen.“ (Blaise Pascal) Das Zitat von Blaise Pascal drückt einen wesentlichen Leitgedanken des SKOLL-Programms aus. SKOLL zeichnet sich durch folgende Inhalte und Merkmale aus:

    1.  Es ist ein Training – keine Behandlung oder Therapiegruppe. Krisen, biografische Themen oder gar traumatische Lebenssituationen können hier nicht bearbeitet werden. Das Training ermöglicht den Teilnehmenden, neugierig auf sich selbst zu werden, Angebote zur Bearbeitung ihrer Themen in der Gruppe als hilfreich anzunehmen und sich von anderen inspirieren zu lassen.

    2. Das Training steht allen offen, die in einer Gruppe ihre Konsum- und Verhaltensformen reflektieren wollen. Dabei spielen Alter, Geschlecht, Konsummittel und/oder Verhaltensform keine Rolle. Im Gegenteil, je heterogener die Gruppenzusammensetzung, desto lebendiger die Gruppe und desto stärker die Wirkung für die Einzelne und den Einzelnen. Das verbindende Element ist der Wunsch, einen Umgang mit der problematischen Situation zu finden, die durch den Konsum von Suchtmitteln oder eine Verhaltensform ausgelöst wurde. Die unterschiedlichen Lebensphasen und Lebenserfahrungen der Teilnehmenden offenbaren einen Pool an Ressourcen und Kompetenzen, der das Training bereichert.

    3. Die Durchführung des Trainings basiert auf einem strukturierten Manual. Es gibt so genannte Kernelemente, die sich in allen Trainingsmodulen wiederholen. Diese Kernelemente sind:

    • Trainingsplan: Er wird in der zweiten Trainingseinheit erstellt und ist sehr individuell gestaltet. Zur Festlegung der Ziele werden die SMART-Kriterien (Spezifisch, Messbar, Akzeptabel/Angemessen, Realistisch, Termingebunden) verwendet.
    • Treppe zum Ziel: Sie dient zur Sicherung der Erkenntnisse in den jeweiligen Einheiten. Die Teilnehmenden können auf Arbeitsblättern mit symbolisierten einzelnen Treppenstufen – entsprechend der Module – ihren ganz persönlichen Prozess während des Trainings festhalten.
    • Dokumentation: Sie ist ein wichtiges Hilfeinstrument zur Selbstkontrolle, weil damit die Erreichung des eigenen Vorhabens kontrolliert wird.
    • Situationsanalyse: Mit der Analyse erlebter Situationen können die eigenen Veränderungsmöglichkeiten besser erkannt und Risikosituationen besser gemeistert werden.

    Die Teilnehmenden können mit ihrem Risikoverhalten experimentieren, alternative Verhaltensweisen einüben, neue Erfahrungen sammeln, sich selbst beobachten lernen, alltägliche Situationen analysieren, Gefühle benennen und Gedanken identifizieren – kurz: ihr eigenes Verhalten kritisch wahrnehmen. Durch den Einsatz der Kernelemente in jeder Trainingseinheit kommt es zu einer Verinnerlichung wirksamer Verhaltensänderungen. Damit wird die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Veränderungen auch im Alltag umgesetzt werden.

    4. Die Teilnehmenden legen ihre Ziele selbst fest. Die Trainerin/der Trainer und die Gruppe begleiten und bestärken die Einzelne/den Einzelnen dabei. Die Arbeit in der Gruppe orientiert sich an den persönlichen Zielen der Teilnehmenden. So kann es z. B. ein legitimes Ziel sein, keinen Ärger mit dem Jobcenter zu haben oder mit der Freundin. Andere kommen mit der Absicht zu überprüfen, ob sich der Alkoholkonsum noch in einem ‚normalen Rahmen‘ befindet. SKOLL hilft bei der Zielerreichung durch ein gesundheitsbezogenes Selbstmanagement und allgemeine Problemlösungsfertigkeiten. Dadurch erhöht sich die Kontrolle über das Risikoverhalten, und die Gesundheit der Teilnehmenden verbessert sich. SKOLL ist deshalb für unterschiedlich motivierte Teilnehmende geeignet und wirksam.

    5. Die Trainerinnen und Trainer werden in einem mehrtägigen Seminar geschult und bei Bedarf begleitet. Zur kontinuierlichen Durchführung des Trainings werden Tandems gebildet. Im Fokus der Trainerschulung stehen die handlungsorientierte Vermittlung der einzelnen SKOLL-Module sowie die Einübung einer akzeptierenden Grundhaltung. Bei der Gestaltung der Trainingseinheiten gibt es ausreichend Raum, um die jeweils eigenen fachlichen Ressourcen und Kompetenzen miteinzubringen.

    Die Rolle der SKOLL-Trainerin/des SKOLL-Trainers

    Hier einige Aussagen von Trainerinnen und Trainern:

    „Für mich war das Schwierigste, mich zurückzunehmen, meine Trainerrolle zu finden, doch dann stellte ich fest, dass der Austausch innerhalb der Gruppe sehr spannend ist und eine große Gruppendynamik entsteht.“
    „Es hat auch was Erfrischendes.“
    „Das Training birgt viel Abwechslung, davon profitieren eigentlich alle.“

    Aufgaben der Trainingsleitung:

    1. Die Trainerinnen bzw. Trainer schreiben die Inhalte und die Struktur des Trainings vor. Sie sind die ‚Impulsgeber‘ für die Teilnehmenden und fördern die Interaktion in der Gruppe. Das Training bezieht seine Stärke aus dieser lebendigen Interaktion. Umso mehr sich die Trainingsleitung auf ihre beobachtende und impulsgebende Rolle zurückzieht, umso mehr kann zwischen den Teilnehmenden geschehen. Dabei sind es oft kleine Erkenntnisgewinne, die große Wirkung entfalten.

    2. Bei Verstößen gegen die Gruppenregeln, die von den Teilnehmenden im Rahmen der Gruppendynamik nicht eigenständig korrigiert werden können, obliegt der Trainerin/dem Trainer die Aufgabe der Intervention.

    3. Um Über- und Unterforderungen zu vermeiden, ist ein offener Blick für die individuellen Ressourcen und Bedürfnisse wichtig, um ggf. durch Aufgabenverteilung eine Ausgewogenheit herzustellen.

    4. Die Trainingsleitung stärkt die positiven Veränderungen und trägt wertfrei die als Teil des Prozesses zu akzeptierende Stagnation bzw. auch Rückschritte mit.

    Die wichtigsten Faktoren für die Gestaltung der Beziehung der Trainerin/des Trainers zu den Teilnehmenden sind Empathie, Wertschätzung und gegenseitiges Vertrauen. Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit der Teilnehmenden werden stets betont. Selbstheilungskräfte, vorhandene Ressourcen, gesunde Verhaltensmuster und Bewältigungsstrategien werden gefördert und genutzt.

    Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass die SKOLL-Trainerin/der SKOLL-Trainer ein förderndes Klima für die Teilnehmenden schafft, damit diese selbstbestimmt handeln, eigene Ziele festlegen und eine eigene Entscheidung über ihr weiteres Vorgehen treffen können. Jede/jeder trainiert die eigenen Stärken und Fähigkeiten, um wieder die Macht zu spüren, die eigene Geschichte beeinflussen zu können.

    Die SKOLL-Fachkräfte verstehen sich als ‚Verbündete‘ der Teilnehmenden, ohne vorzugeben, die richtige Methode, die zum Ziel führt, zu kennen. Für die erfolgreiche Implementierung von Trainings in den unterschiedlichen Institutionen ist es notwendig, dass diese Haltung nicht nur von den Trainerinnen und Trainern getragen wird, sondern auch von der dortigen Leitung und dem Team.

    Die Verbreitung von SKOLL

    Der Transfer des Trainings erfolgte bisher durch die Etablierung in seinem ursprünglichen Kontext der Suchthilfe und erfuhr dann eine Ausweitung in weitere Bereiche wie z. B. Schulen, Job-Center und die Wohnungslosenhilfe. Unter dem Gesichtspunkt der nachhaltigen Qualitätssicherung wurden erfahrene SKOLL-Trainerinnen und -Trainer zu SKOLL-Lehrtrainerinnen und -Lehrtrainern geschult. So können bundesweite Schulungen angeboten werden. Die Lehrtrainerinnen und -trainer  erfüllen das notwendige Qualifikationsprofil, um das evidenzbasierte Manual, die in der Fläche nachgewiesenen Wirkfaktoren und die daraus erstellten Qualitätsstandards weiterzuvermitteln.

    logo-skoll-spezialEine Weiterentwicklung des bewährten SKOLL-Konzepts stellt SKOLL-SPEZIAL dar. SKOLL-SPEZIAL ist ein Angebot für Menschen, die sich gezielt mit Alkohol und Nikotin auseinandersetzen möchten. Das Training wurde von der Zentralen Prüfstelle Prävention der GKV als Maßnahme nach § 20 SGB V anerkannt. Die Kosten für die Teilnahme können bei den Krankenkassen abgerechnet werden.

    Die letzte wissenschaftliche Untersuchung (Görgen, Hartmann 2013) zeigte, dass SKOLL nicht nur als Intervention bei Menschen mit substanz- und verhaltensbezogenen Problemlagen Nutzen bringt. Auch die Fachkräfte selbst – aus der Sucht- und Drogenhilfe, aber auch aus angrenzenden Arbeitsfeldern – profitieren von der Ausbildung zu SKOLL-Trainerinnen und -trainern. Die Ausbildung enthält hohe Anteile selbstreflexiver Elemente, die geeignet sind, das eigene Selbstverständnis, die verfolgten Ziele und angewendeten Methoden zu hinterfragen und weiterzuentwickeln.

    So gilt es, SKOLL-Trainings in den unterschiedlichen Settings weiter zu implementieren, mehr motivierte Trainerinnen und Trainer zu finden und das SKOLL-Programm damit zu einem flächendeckenden, entstigmatisierenden Angebot in der Suchtprävention und Frühintervention zu machen.

    SKOLL und SKOLL-SPEZIAL wurden entwickelt vom Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V. Weitere Informationen zum Training und zu Schulungen sind unter www.skoll.de zu finden.

    Kontakt:

    Sabine Bösing, Berlin
    s.boesing@gmx.net

    Angaben zur Autorin:

    Sabine Bösing ist Diplom-Sozialpädagogin, Suchttherapeutin (DRV-anerkannt), systemische Coachin und Beraterin für Organisationsentwicklung/Changemanagementprozesse. Sie hat langjährige Erfahrung in der Entwicklung und Umsetzung von Landes- und Bundesprogrammen zur Prävention und Gesundheitsförderung und war Bundesmodellkoordinatorin von SKOLL. Heute ist sie als Referentin beim Paritätischen Wohlfahrtsverband tätig und als freie Trainerin und Ausbilderin für SKOLL, SKOLL-SPEZIAL und zum Thema Empowerment.

    Literatur:
    • Bösing, S., Kliche, T., Tönsing, C. (2012): Transfer und Evaluation des SKOLL-Selbstkontrolltrainings in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung von Wirksamkeit, Umsetzung und Versorgungsaspekten, insbesondere im ländlichen Raum (Abschlussbericht 2012, Caritasverband für die Diözese Osnabrück e. V.).
    • Bruns, B. (2007): SKOLL – SelbstKOntroLL-Training. Eine Studie zur Effektivität des Frühinterventionsmodells bei substanz- und verhaltensbezogenen Störungen im Auftrag des Deutsch-Niederländischen Suchthilfeverbundes. Fachhochschule Norddeutschland, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Osnabrück.
    • Gastpar, M. H., Mann, K. H., Rommelspacher, H. H. (1999): Lehrbuch der Suchterkrankungen. Stuttgart, New York.
    • Görgen, W., Hartmann, R. (2013): Befragungen im Rahmen einer nachhaltigen Qualitätssicherung des SKOLL-Selbstkontrolltrainings im Zusammenhang seiner flächendeckenden Umsetzung. FOGS, Gesellschaft für Forschung und Beratung im Gesundheits- und Sozialbereich, Köln.
    • Kanfer, F. H., Reinecker, H., Schmelzer, D. (1996): Selbstmangement-Therapie. Ein Lehrbuch für die klinische Praxis. Berlin.
    • Kliche, T., Boye, J., Griebenow, B., Richter, S. (2009): Bundesmodellprojekt SKOLL: Evaluation eines übergreifenden Trainingsprogramms bei riskantem Konsum von Suchtmitteln. Erste Befunde zur Umsetzung aus der Nutzerbefragung 2008-09. Unveröffentlichtes Manuskript.
    • Miller, W., Rollnick, S. (1999): Motivierende Gesprächsführung. Ein Konzept zur Beratung von Menschen mit Suchtproblemen. Freiburg.
    • Petermann, M. (2010): Möglichkeiten und Grenzen von Selbstmanagement im Rahmen ambulanter Suchtberatung und -behandlung unter besonderer Berücksichtigung des Selbstkontrolltrainings (SKOLL). Diplomarbeit an der Berufsakademie Sachsen, Staatliche Studienakademie Breitenbrunn.
  • Drogenabhängige zwischen Therapie und Strafe

    Seit über 45 Jahren gibt es ‚Drogenhilfe‘ in Deutschland. Eine der ersten Drogenberatungsstellen wurde 1972 in München eröffnet. Federführend dabei: Alexander Eberth, damals Vereins-, heute Aufsichtsratsvorsitzender von Condrobs e. V., einem der größten deutschen Suchthilfeträger. Im Hauptberuf ist er seit 1972 Rechtsanwalt und hat sich als Experte für Betäubungsmittelrecht einen Namen gemacht. Ein ‚Betäubungsmittelgesetz‘ gibt es in Deutschland seit 1971. 1981 wurde es um die heftig umstrittenen Therapiebestimmungen für betäubungsmittelabhängige Straftäter ergänzt.

    In einem KONTUREN-Interview gab Alexander Eberth Anfang November Auskunft darüber, was in den vergangenen 35 Jahren aus den „Therapie statt Strafe“-Regelungen im Betäubungsmittelgesetz geworden ist. Angesichts der Doppelbelastung, die drogenabhängige Menschen durch ihre Abhängigkeitserkrankung und die Strafbestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes erleben, erläuterte er, was Fachkräfte bei der Beratung und Behandlung Drogenabhängiger unbedingt berücksichtigen müssen. Schließlich formulierte er seine Wünsche an die Zukunft der Rechtsprechung im Bereich Betäubungsmittelkriminalität.

    Es bleibt ein desillusionierendes Fazit: Das Betäubungsmittelgesetz mit seinen Therapiebestimmungen hat sich in den vergangenen 35 Jahren zu einem Strafverfolgungsrecht verdichtet. Die Interessen der Drogenabhängigen – Verbesserung und Schutz ihrer Gesundheit – verlieren sich heute in einer rigorosen Verfolgung und dem (Irr)Glauben, durch Verknappung und verschärftes Recht das Drogenproblem in den Griff bekommen zu können. Alle Maßnahmen, die bisher eingeleitet wurden, sind kontraproduktiv, weil sie Drogenabhängige daran hindern, Hilfeangebot anzunehmen, denn sie müssen bei einer Offenlegung ihrer Abhängigkeit immer damit rechnen, dass strafrechtliche Konsequenzen gezogen werden. Das Interview führte Jost Leune vom Fachverband Drogen- und Suchthilfe e. V.

    Jost Leune

  • Dieses Spiel muss ein Ende haben!

    Dieses Spiel muss ein Ende haben!

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten
    Wolfgang Schmidt-Rosengarten

    Nach einer aktuellen Repräsentativerhebung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) gelten in Deutschland über 200.000 Menschen als glücksspielabhängig. Zusätzlich zeigen 240.000 Menschen ein zumindest problematisches Spielverhalten. Als Risikofaktoren für eine Glücksspielproblematik gelten: männliches Geschlecht, Alter bis 25 Jahre, niedriger Bildungsstatus und Migrationshintergrund. 16 Prozent der glücksspielsüchtigen Klienten in Beratungsstellen haben eine Verschuldung von bis zu 25.000 Euro, zehn Prozent sogar bis 50.000 Euro. Die Suizidrate ist bei Glücksspielabhängigen im Vergleich zu anderen Suchterkrankungen signifikant höher.

    Das Glücksspiel mit dem höchsten Suchtrisiko

    Die Deutsche Suchthilfestatistik weist aus, dass ca. 75 Prozent der Menschen, die von Glücksspielen abhängig sind und sich in Behandlung begeben, durch Geldspielautomaten abhängig geworden sind. Das Spiel an Geldspielautomaten gilt als das Glücksspiel mit dem höchsten Suchtrisiko. Erst 2012 hat die Politik im Glücksspielstaatsvertrag das Automatenspiel als Glücksspiel definiert, nachdem es der Branche jahrzehntelang gelungen war, der Politik und der Öffentlichkeit Geldspielautomaten als „Unterhaltungsgeräte mit Geldgewinnmöglichkeiten“ zu verkaufen.

    Als im April 2014 Hessen als erstes Bundesland flächendeckend ein Spielersperrsystem für alle Spielhallen verpflichtend eingerichtet hatte, beschwerte sich der Hessische Münzautomatenverband schon vor Jahresablauf darüber, dass die Umsätze bereits um 26 Prozent zurückgegangen wären. In wenigen Monaten hatten sich in Hessen 7.000 Menschen als Eigenschutzmaßnahme vor den Folgen ihrer Glücksspielabhängigkeit selbst sperren lassen. Derzeit umfasst die Sperrdatei in Hessen ca. 12.000 Menschen. Der Anteil der dabei von Spielhallenbetreibern ausgesprochenen Fremdsperren ist dabei mit 120 äußerst gering.

    Die Universität Hamburg hat internationale Studien ausgewertet und ist zu dem Schluss gekommen, dass etwa 15 Prozent der Spieler in Spielhallen 70 Prozent der Umsätze generieren. Das heißt, das Geschäftsmodell der Spielhallen basiert auf wenigen Intensivspielern, die glücksspielabhängig und somit krank sind.

    Die Liberalisierung der Spielverordnung 2006 hat der Spielhallenbranche enorme Expansionsmöglichkeiten geboten. Die Anzahl der Spielhallen und deren Umsätze sind in der Folge regelrecht explodiert: von 2,4 Milliarden Euro (2005) auf 4,7 Milliarden Euro (2014). Inzwischen umfassen die Spielhallenbruttospielerträge fast die Hälfte des gesamten Glücksspielmarktes in Deutschland.

    Wirksame Präventionsmaßnahmen führen automatisch zu Umsatzrückgängen

    Eine Korrektur dieser Entwicklung sollten im Jahre 2012 der Glücksspielstaatsvertrag und entsprechende Länderspielhallengesetze erreichen. Darin wurde u. a. festgelegt, dass – nach einer Übergangszeit von fünf Jahren – zwischen zwei Spielhallen ein Mindestabstand liegen muss, je nach Bundesland zwischen 100 und 500 Metern. Darüber hinaus darf in einem Gebäude nur noch eine Spielhalle mit maximal zwölf Geräten existieren. Nach Ablauf der Übergangsfrist steht im Jahre 2017 in vielen Bundesländern nun die Umsetzung dieser gesetzlichen Vorgaben an. Dies führt seit geraumer Zeit in der Branche zu vielfältigen Aktivitäten im Rahmen der ‚politischen Landschaftspflege‘. Alle Register der politischen Lobbyarbeit werden gezogen, um die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben zu verhindern: Der Politik wird mit der Vernichtung von Arbeitsplätzen und Steuerausfällen gedroht, langwierige juristische Auseinandersetzungen werden angedeutet, aber auch Selbstverpflichtungen angeboten. Das „gemeinsame Ziel“, die Zahl der pathologischen Spieler in Deutschland gering zu halten, wird beschworen und das Bemühen der Branche um Prävention in den Mittelpunkt gestellt.

    Dabei ist klar, dass wirksame Präventionsmaßnahmen in Spielhallen automatisch zu massiven Umsatzrückgängen führen müssen: Würden die glücksspielsüchtigen Intensivspieler konsequent davon abgehalten zu spielen, wären viele Spielhallen nicht mehr überlebensfähig. Deshalb widersprechen effektive Präventionsmaßnahmen dem Gewinnstreben der Spielhallenbetreiber. Im Umkehrschluss kann man davon ausgehen, dass die Präventionsaktivitäten und Selbstverpflichtungen der Branche letztlich ineffektiv sind und nur dazu dienen, Imagepflege zu betreiben, Zeit zu gewinnen und möglichst weiter ungestört enorme Umsätze zu generieren.

    Rückendeckung für die Kommunalpolitik

    Vor allem die Kommunalpolitik ist jetzt gefragt, standhaft zu bleiben und für den Vollzug der anstehenden gesetzlichen Vorgaben vor Ort sorgen. Die damit verbundene Reduzierung von Spielstätten war mit den Änderungen der Gesetzgebung 2012 vom Gesetzgeber gewollt. Die damit verbundenen Rückgänge der kommunalen Steuereinnahmen stehen in keinem Verhältnis zu den jährlichen volkswirtschaftlichen Kosten von 1,9 bis 3,6 Milliarden Euro durch den Ausfall von Arbeitskraft, durch Therapien, Behandlungen, Privatinsolvenz, Beschaffungskriminalität etc., die das gewerbliche Automatenspiel laut einer Bewertung des wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Universität Hamburg verursacht.

    Deshalb braucht die Kommunalpolitik Rückendeckung bei der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben durch starke und klare Haltungen der Landes- und Bundespolitik zur Glücksspielproblematik. Das Recht der Bevölkerung auf Schutz der Gesundheit darf nicht den Partikularinteressen eines auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Wirtschaftszweiges geopfert werden.

    Literatur beim Verfasser

    Dieser Artikel ist auch in der Frankfurter Rundschau vom 6./7. August 2016 erschienen.

    Kontakt:

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten
    Hessische Landesstelle für Suchtfragen e. V. (HLS)
    Zimmerweg 10
    60325 Frankfurt a. M.
    Tel. 069/71 37 67 77
    wsr@hls-online.org
    www.hls-online.org

    Angaben zum Autor:

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten ist Erziehungswissenschaftler und Suchttherapeut. Seit 1998 ist er Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e. V. (HLS).

  • Flüchtlinge und (Opioid-)Abhängigkeit

    Flüchtlinge und (Opioid-)Abhängigkeit

    Unter den Flüchtlingen, die in den zurückliegenden Jahren Deutschland erreicht haben, findet sich eine nennenswerte Gruppe von Menschen mit riskantem, schädlichem oder abhängigem Konsummuster von psychoaktiven Substanzen. Dies betrifft nach unserer Beobachtung sämtliche gebräuchliche legale wie illegale Substanzen. Für die Suchthilfe ergeben sich hierdurch neue Herausforderungen. Zusätzlich bestehen etliche Hürden, die eine angemessene Behandlung dieser Patienten erschweren. In besonderem Maße gilt dies für Flüchtlinge mit einer Opioidabhängigkeit.

    Hintergrund

    Flüchtlinge aus Vorder- und Mittelasien, die seit 2014 nach Deutschland kommen, stammen vielfach aus Herkunftsländern, in denen der Opioidgebrauch endemisch (= örtlich begrenzt gehäuft auftretend, Anm. d. Red.), kulturell akzeptiert oder toleriert ist. Wir sehen Flüchtlinge aus Afghanistan, die bereits im Säuglings- oder Kleinkindalter mit Opium in Berührung kamen, da es gegen Durchfall und Husten in weiten Teilen des Landes sonst keine wirksamen Medikamente gibt. In Iran wird traditionell bei Schmerzen oder als Einschlafhilfe Opium konsumiert oder aus hedonistischen Gründen. Afghanistan und Iran zählen weltweit zu den Ländern mit dem höchsten Pro-Kopf-Konsum von Opium und Heroin. Die spärlichen Quellen aus Irak und Berichte irakischer Patienten hierzulande weisen auf eine steigende Anzahl von Opioidkonsumenten (Opium/Theriak) hin. Syrien weist wie andere arabische und nordafrikanische Länder eine zunehmende Prävalenz für das synthetische Opioid und Schmerzmittel Tramadol auf. Auch Stimulanziengebrauch wird in diesen Regionen beobachtet.

    (Bürger-)Krieg, Vertreibung, Flucht und (Opioid-)Abhängigkeit

    Seit 1979 herrschen in Afghanistan Krieg, Vertreibung und Flucht, Iraner fliehen seit den 1960er Jahren nach Europa, und auch Flüchtlinge aus Irak und Syrien bringen seit einigen Jahren nicht selten eine manifeste Opioidabhängigkeit mit. Hintergrund sind häufig Traumata infolge der kriegerischen und/oder tyrannischen Verhältnisse in ihren Heimatländern, unzureichend behandelte Schmerzen nach (Kriegs- )Verletzungen und/oder eine posttraumatische Belastungsstörung. Gewalterlebnisse, Entwurzelung und Migration sind generell Risikofaktoren für die Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung, so dass wir auch Patienten aus den aktuellen und anderen Herkunftsländern kennen, die erst hierzulande eine Abhängigkeitserkrankung entwickelt haben.

    Behandlungsmöglichkeiten in den Herkunftsländern und auf der Flucht

    Afghanistan bietet lediglich in der Hauptstadt Kabul eine substitutionsgestützte Behandlung an. In Iran existiert ein entwickeltes Drogenhilfesystem mit Prävention, Entzugs- und Behandlungsmöglichkeiten, es werden mehr als 100.000 Patienten substituiert, u. a. in Gefängnissen. In Irak (mit irakisch Kurdistan) gibt es keine Behandlungsmöglichkeiten außer ‚kalten‘ Entzügen. Das syrische Gesundheitswesen ist nahezu völlig zerstört. Auf den Fluchtrouten nach Europa ist in Iran die Behandlung mit Methadon und Buprenorphin erlaubt, in Libanon und in der Türkei lediglich die Substitution mit Buprenorphin (für Flüchtlinge nicht zugänglich); in Griechenland ist die Zahl der Substitutionsplätze schon für einheimische Abhängige sehr begrenzt, das gilt auch für die nach Norden liegenden Balkanländer. Erst in Wien gibt es niedrigschwellige Zugänge zur Substitutionsbehandlung. Andere Hilfen wie niedrigschwellige Kontakt- und Informationsangebote, frühintervenierende und schadensmindernde Maßnahmen u. a. fehlen auf den Fluchtrouten fast vollständig.

    Die aktuelle Lage

    Aus den metropolitanen Regionen München, Frankfurt, Köln, Hamburg und Berlin melden niedrigschwellige Kontaktstellen, Drogenberatungsstellen, klinische Entzugsabteilungen und Substitutionspraxen/-ambulanzen spätestens seit der Jahreswende 2015/16 und deutlich früher als erwartet eine merkliche Zunahme von Anfragen zur Beratung und Behandlung von Flüchtlingen mit Substanzstörungen unterschiedlicher Art und Ausprägung:

    • Heroinabhängigkeit von Menschen aus Afghanistan, Iran und Irak
    • Problematischer Gebrauch von Alkohol unter Flüchtlingen, die aus kulturellen und/oder religiösen Gründen den Umgang mit dieser Substanz nicht gelernt haben und mit dem leichten Zugang zum Alkohol nicht umgehen können
    • Problematischer Gebrauch von Schmerzmitteln und Stimulanzien bei Flüchtlingen aus arabischen Ländern
    • Überwiegend inhalativer Konsum von Opioiden und (Meth-)Amphetamin von jungen Geflüchteten aus Syrien, die teilweise erst in Europa mit dem Konsum begonnen haben
    • Konsum von Amphetaminen und anderen Stimulanzien unter Flüchtlingen, die diese Substanzen als aufputschende Kriegsdrogen in regulären oder irregulären militärischen Verbänden kennengelernt haben
    • Problematischer Gebrauch von Cannabis unter jugendlichen Einwanderern aus dem Maghreb
    • Spielsucht bei Einwanderern der ersten und zweiten Generation mit islamischem Hintergrund

    Exakte Zahlen liegen nicht vor. Aus Flüchtlingscamps entlang der Fluchtrouten sind Vorfälle bekannt, bei denen es unter dem Einfluss von Alkohol zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen einzelnen ethnischen Gruppen kommt. Die eingangs geschilderte Prävalenz der Opioidabhängigkeit in den Herkunftsländern lässt erwarten, dass diese Entwicklung in den kommenden Monaten und Jahren zunehmen wird. Entwurzelung und erschwerte Integration von jungen männlichen Einwanderern bzw. Flüchtlingen sind erfahrungsgemäß der Nährboden für die Entwicklung von kriminellen Strukturen. Aus Flüchtlingslagern und Konsumräumen wurden erste Anhaltspunkte für ethnisch geprägte Konsumentengruppen und Händlerstrukturen berichtet.

    Hürden zur Behandlung

    • Bei Geflüchteten, insbesondere denjenigen, die erst während oder nach der Flucht eine Substanzstörung bzw. eine Sucht entwickelt haben, ist zu berücksichtigen, dass viele kein Verständnis von ihrer Erkrankung haben und eine Entzugssymptomatik nicht kennen oder nicht als solche deuten. Die meisten geflüchteten Süchtigen haben keine Vorstellung von den sozialen und medizinischen Hilfemöglichkeiten jenseits von staatlicher Repression. Generell wird Sucht eher nicht als Krankheit, sondern als moralische Verfehlung oder als unglücklicher Schicksalsschlag angesehen.
    • Für viele Flüchtlinge (und Migranten der vorherigen Jahre) stehen die hierzulande etablierten Behandlungsmöglichkeiten bestenfalls eingeschränkt zur Verfügung:
    • Der „Notfallschein“ (24-Stunden-Kostenübernahmeschein) berechtigt allenfalls zur Entzugsbehandlung bei Abhängigkeit von Opioiden, Alkohol, Benzodiazepinen und anderen Substanzen. Dies führt überdies zu der paradoxen Situation, dass Patienten nach der Entlassung nicht ambulant abstinenzorientiert weiterbehandelt werden können.
    • Erst mit der Ausstellung einer Gesundheitskarte für Asylbewerber (in NRW, Bremen, Hamburg und seit kurzem auch in Berlin) ist eine ambulante abstinenzorientierte Therapie bzw. bei Opioidabhängigkeit eine Substitution möglich.
    • Abstinenzorientierte stationäre Langzeitbehandlungen stehen generell nicht zur Verfügung, tagesstrukturierende, alltagsorientierte und stabilisierende abstinenzbasierte Hilfen ebenfalls nicht.
    • Eine weitere Hürde besteht darin, dass für Anamnese, Untersuchungen und Folgegespräche keine Sprachmittler/Dolmetscher zur Verfügung stehen oder diese nicht von den Kostenträgern bezahlt werden. Benötigt werden nicht nur Sprachmittler mit notwendigen (sub)kultur- und fluchtsensiblen Kenntnissen für den Arztkontakt, sondern auch zur vorbereitenden und begleitenden Motivationsarbeit, damit eine Intervention nicht schon vor oder mit dem Beginn scheitert.
    • Es fehlt eine Plattform, auf der bisherige Veröffentlichungen zum Thema, Seminarberichte, Ankündigungen von Veranstaltungen und Fortbildungen, muttersprachliche Materialien u. ä. zur Verfügung stehen.
    • Ebenfalls ungeklärt und unvorbereitet ist die psycho-soziale Begleitung hinsichtlich Finanzierung, Kulturkompetenz und sprachlicher Verständigung. Zu klären ist, wie „erforderliche psychiatrische, psychotherapeutische oder psycho-soziale Behandlungs- und Betreuungsmaßnahmen“ erbracht werden können, wie die BtMVV (= Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung, Anm. d. Red.) formuliert. Die KVen (= Krankenversicherungen, Anm. d. Red.) sehen das regional durchaus unterschiedlich.
    • Es stehen keine Informationsmaterialien in den Sprachen der hauptsächlich betroffenen Konsumentengruppen zur Erkrankung selbst, zu den unterschiedlichen Behandlungsmöglichkeiten, zur Schadensminderung/safer use, zu Begleiterkrankungen u. a. zur Verfügung. Bei einem nennenswerten Anteil der Geflüchteten handelt es sich um Analphabeten, so dass auch Bilder und gesprochene Informationen (Audiodateien) zur Verfügung gestellt werden müssen.
    • Beschaffungskriminalität im Zusammenhang mit der Opioidabhängigkeit und praktisch der Konsum selbst können ein Abschiebegrund sein. Dies hindert Konsumenten am Zugang zur Beratung und Therapie.
    • Viele Flüchtlinge sind in ländlichen Regionen untergebracht. Es ist damit zu rechnen, dass substanzabhängige Flüchtlinge auf der Suche nach suchtmedizinischer Hilfe vom Land in die Städte kommen werden und sich dabei ihre rechtliche, soziale und gesundheitliche Lage zusätzlich destabilisiert.
    • Es steht zu befürchten, dass Opioidkonsumenten von Tabletten oder inhalativem Heroinkonsum auf das Spritzen von Heroin umsteigen mit den bekannten Risiken für Infektionskrankheiten.
    • Wir beobachten, dass nicht nur einzelne Geflüchtete in die Beratung und Behandlung kommen, sondern diese zu mehreren erscheinen. Teilweise leben sie in einem Zimmer in der Unterkunft zusammen, hausen in einer Notunterkunft oder haben sich zu sozialen Zweckbündnissen zusammengeschlossen. Hier ist zu überlegen, wie mit solchen sozialen Netzwerken und deren hoher Bindungskraft (im Guten wie im Schlechten) umzugehen ist.
    • Den sozialarbeiterischen und medizinischen Teams in den Aufnahmestellen ist die Symptomatik einer Opioidabhängigkeit und anderer Abhängigkeitserkrankungen in der Regel nicht bekannt. Deshalb kann dort auch keine gezielte Beratung und Vermittlung stattfinden.

    Schlussfolgerungen

    Abhängigkeitserkrankungen sind unter Flüchtlingen und Einwanderern kein seltenes, vor allem aber ein jeweils komplexes Phänomen. Drogenpolitik und Suchthilfe haben darauf bisher unzureichend reagiert. Zu entwickeln ist ein Konzept, das alle Formen der Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen einschließt. Die Entwicklung der Opioidabhängigkeit in der Gruppe der jüngst nach Deutschland geflüchteten Menschen kann sich zu einem besonderen Problem ausweiten – aus dem Blickwinkel von Public Health wie aus Sicht der Inneren Sicherheit. Die Drogenpolitik in Bund und Ländern, Polizeibehörden, Fachverbände, Drogenhilfeträger sowie die Kostenträger sollten sich deshalb gemeinsam mit diesem Thema beschäftigen und ein aktuelles Lagebild erstellen. Die Hürden zur Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen, vordringlich bei Opioidabhängigkeit, müssen aus den vorgenannten Gründen beseitigt werden. Schnelles, abgestimmtes und kompetentes Handeln kann viel Leid für die Betroffenen und ihre Familien abwenden und Schaden für die Gesellschaft verhindern.

    Dieser Text entstand nach dem Fachaustausch zum Thema „Flüchtlinge in Deutschland – eine Herausforderung auch für die Sucht- und Drogenpolitik?“ am 25. Mai 2016, zu dem die Drogenbeauftragte der Bundesregierung eingeladen hatte.

    Kontakt:

    Hans-Günter Meyer-Thompson
    meyerthompson@gmail.com

    Angaben zu den Autoren:

    Dieter Ameskamp: Sozialpädagoge bei Asklepios Hamburg Nord Ochsenzoll, Klinik für Abhängigkeitserkrankungen, Ambulanz Altona
    Dr. med. Thomas Kuhlmann: Chefarzt und Ärztlicher Leiter, Psychosomatische Klinik Bergisch Gladbach
    Astrid Leicht: Diplom-Pädagogin, Geschäftsführung Fixpunkt Berlin
    Hans-Günter Meyer-Thompson: Arzt bei Asklepios Hamburg Nord Ochsenzoll, Klinik für Abhängigkeitserkrankungen, Ambulanz Altona
    Dr. med. Sibylle Quellhorst: FÄ für Allgemeinmedizin, Koordination der medizinischen Versorgung Flüchtlinge, Gesundheitsamt Hamburg-Altona
    Prof. Dr. Dr. Dr. Felix Tretter: Bayerische Akademie für Suchtfragen in Forschung und Praxis BAS e. V., 2. Vorsitzender
    Dr. Theo Wessel: Gesamtverband für Suchthilfe e. V. (GVS) Fachverband der Diakonie Deutschland, Geschäftsführer

  • Zeit der Berichte

    Zeit der Berichte

    Prolog

    Jost Leune
    Jost Leune

    Das Jahr 2016 ist für die Suchthilfe bislang kein gutes. Es setzt sich fort, was wir schon in den Vorjahren beobachten mussten: Die Prävention hangelt sich von Projekt zu Projekt, die ambulante Suchthilfe verhungert wegen ihrer immer kleineren Budgets, in der medizinischen Rehabilitation fallen die Fallzahlen, die Teilhabe für langzeitarbeitslose Suchtkranke ist kompliziert, ineffektiv und bürokratisch, und die Sorgen mit der Nachsorge bleiben. Das Frühjahr 2016 ist die Zeit der Berichte. Die Jahresberichte der Suchthilfeträger beschreiben diese wachsenden Schwierigkeiten eindrucksvoll und beschreiben dennoch eindrucksvolle Leistungen. Auch die Institutionen berichten.

    Jahrbuch Sucht 2016: 278 Seiten geballte Information

    Den Reigen eröffnete am 3. Mai die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen mit dem Jahrbuch Sucht 2016. Im Rahmen einer Pressekonferenz wurde das seit über einem halben Jahrhundert bewährte Nachschlagewerk präsentiert. Es liefert 25 Seiten „Daten, Zahlen und Fakten“ und ausführliche Beiträge zu Suchtstoffen, Suchtformen und ihren Auswirkungen, zum Beispiel im Straßenverkehr. 278 Seiten geballte Information, und dennoch bleibt ein schales Gefühl zurück: Im Jahr 2016 fehlt das Kapitel über die „Versorgung Suchtkranker“. Das ist irritierend, da doch die DHS als Zusammenschluss der Suchtkranke versorgenden Träger Herausgeberin des Jahrbuchs ist und die bemerkenswerte Analyse „Suchthilfe und Versorgungssituation in Deutschland“ erst im vergangenen Jahr online gestellt wurde.

    Europäischer Drogenbericht 2016: Grafik satt und voller Fakten

    Am 31. Mai hatte die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) ihren Auftritt. Sie stellte den Europäischen Drogenbericht vor. Er ist, nach Aussage von Dimitris Avramopoulos, Europäischer Kommissar für Migration, Inneres und Bürgerschaft, für europäische Entscheidungsträger ein hilfreiches Instrument für die Gestaltung von politischen Strategien und Maßnahmen zur Drogenbekämpfung. Nach einer vorangestellten Zusammenfassung beschreibt der Bericht in drei Kapiteln Drogenangebot und Markt, Prävalenz und Trends des Drogenkonsums sowie drogenbedingte Schädigungen und diesbezügliche Maßnahmen. Zehn Seiten mit Tabellen über Länderdaten runden das Angebot ab. Eine überwältigende Vielfalt von bunten Karten, Grafiken und Schmuckelementen lassen den Text fast schon in den Hintergrund treten, obwohl man ihn nicht unterschätzen sollte: Da steckt richtig viel Wissen drin! Wer sich die Zeit nicht nehmen will, den Bericht durchzuarbeiten, kann auch die Presseinformation zum Drogenbericht lesen.

    3. Alternativer Drogen- und Suchtbericht 2016: Das Forum der Forderungen

    Wieder eine Pressekonferenz, diesmal am 6. Juni: Der 3. Alternative Drogen- und Suchtbericht 2016 wird vorgestellt. Kernforderung: Eine andere Drogenpolitik und ein anderer Umgang mit Drogen. Das ist bei den Herausgebern akzept e. V. Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik, Deutsche AIDS-Hilfe e. V. und JES Bundesverband e. V. keine besondere Überraschung. Die Forderungen werden untermauert auf 280 Seiten Text in vier Kapiteln: Es geht um alternative Drogenpolitik, um Risikokonstruktionen in Drogenforschung und -politik, um Verbraucher*innenschutz und Prävention und um die weitere Entwicklung der Drogenhilfe. In 37 Beiträgen entwerfen 55 Autoren*innen ihre Visionen einer anderen Drogenpolitik in Deutschland, die auch schon mal verwirren können – Seite 29: Kritik an Repräsentativbefragungen, Seite 78: Interpretation von Repräsentativbefragungen. Mindestens die Hälfte der Autoren*innen stammt aus dem akademischen Bereich, andere sind Journalisten*innen, und eine deutliche Minderheit stammt aus der Praxis der akzeptierenden Drogenarbeit, also der Suchthilfe. Das ist kein Zufall, denn die Herausgeber haben vor der Veröffentlichung einen Aufruf zur Einreichung von Beiträgen gemacht. Da kann es leicht passieren, dass Mitteilungsbedürfnis über Praxisbezug dominiert. Anregungen, politisch anders zu handeln, bietet der Bericht in Hülle und Fülle und auch einige sehr bemerkenswerte Beiträge, wie zum Beispiel den über „Hochglanz und Elend der Tabakkontrolle in Deutschland“ (zählt man alle Maßnahmen zur Verhaltens- und Verhältnisprävention zusammen, landet Deutschland auf dem vorletzten Platz bei der Tabakkontrolle in Europa), über „Synthetische Cannabinoide“ (ein praxisorientierter Erfahrungsbericht!) oder über „11 Jahre SGB II/Hartz IV – Auswirkungen auf die Beschäftigungssituation suchtmittelabhängiger Menschen“ (der trotz guter statistischer Daten leider kaum Hinweise gibt, wie das Problem „Teilhabe an Arbeit“ für Suchtkranke zu lösen sei).

    Drogen- und Suchtbericht 2016 der Drogenbeauftragten: Vor allem bunt

    Die Drogenbeauftragte folgte am 9. Juni. Unter dem Motto „Mehr Achtsamkeit für unsere Gesundheit schaffen!“ wandte sie sich an die Presse, um ihren Drogen- und Suchtbericht 2016 zu präsentieren. Und es sind sogar zwei Berichte geworden. Der eine heißt „Drogen- und Suchtbericht“ und der andere ganz prosaisch „Anhang“. Im ersten finden sich fünf Kapitel zu den Themen „Suchtstoffe und Suchtformen“, „Schwerpunktthemen der Drogenbeauftragten“, „Suchtstoffübergreifende Prävention, Beratung und Behandlung“, „Gesetzliche Regelungen und Rahmenbedingungen“ und „Internationales“. Der Anhang zeigt, nach Mortlers Anmerkungen im Vorwort, „wie vielfältig die Drogen- und Suchtpolitik insgesamt ist“, indem er „eine Auswahl aktueller Projekte aus den Bundesländern, aus Vereinen und Verbänden“ enthält. Im Vorwort bemerkt die Drogenbeauftragte ferner, sie sei stolz darauf, den „Bericht in moderner, komprimierter und kurzweiliger Form präsentieren zu können“. Modern? Ja. Komprimiert? Und wie. Aber kurzweilig? Sucht- und Drogenprobleme sind nicht kurzweilig. Sie sind langwierig, dramatisch und existenzbedrohend.

    Dieser Bericht ist eine bunte Aneinanderreihung von Fakten und Projektberichten und bietet eine unübersehbare Vielfalt. „Managing Diversity“ ist das Gebot der Stunde, aber hier wird die Vielfalt nicht organisiert, sondern willkürlich aneinandergereiht. Es ist und bleibt nicht nachvollziehbar, nach welchen Kriterien die eingereichten Beiträge zur Veröffentlichung ausgewählt wurden. Während die Verfasser*innen 22 Seiten mit dem Kapitel „Prävention“ füllen, umfasst das Kapitel zu Beratung und Behandlung zwei (!) Seiten Text. Darin fehlen Alkoholabhängige fast komplett, in Details werden stets die Konsumenten*innen illegaler Drogen, und davon vor allem Cannabiskonsumenten*innen, genannt.

    Dem Versorgungssystem, das nach dem Jahresbericht der Deutschen Suchthilfestatistik für das Jahr 2014 341.963 ambulante Betreuungen und 49.297 stationäre Behandlungen in 837 ambulanten und 206 stationären Einrichtungen durchgeführt hat, gebührt mehr Platz. Zur Erinnerung: Insgesamt gibt es in Deutschland über 1.400 Suchtberatungsstellen, 13.000 stationäre Suchttherapie-Plätze und fast 25.000 Plätze in Wohnheimen der Sozialhilfe. Das sind zumindest halbwegs regelhaft finanzierte Angebote für Suchtkranke. Der Drogen- und Suchtbericht bezieht sich zum überwiegenden Teil auf kurzfristig finanzierte Präventionsprojekte, die nach der Modellphase häufig wieder eingestellt werden (müssen). Von einem regelhaften, bedarfsorientiert finanzierten Angebot der Suchtprävention und Gesundheitsförderung ist Deutschland weit entfernt. Auch wenn Gesundheitspolitik Ländersache ist – die Herstellung gleicher Lebensbedingungen ist Sache der Bundesregierung. Das steht sogar im Grundgesetz.

    Es geht doch besser

    Es gibt auch einen Bericht, der alle unsere Fragen beantwortet und sogar noch die, von denen wir gar nicht wussten, dass wir sie haben: Im November erscheint jährlich der Reitox-Bericht der deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD). Da ist nun aber wirklich alles drin, was es an Fakten, Hintergrundinformationen, Zusammenhängen und Fragen rund um das Thema „illegale Drogen“ gibt. Na also, geht doch!

    Epilog

    „Das Jahr 2016 ist kein gutes für die Suchthilfe“, schrieb ich eingangs. Während das im Alternativen Drogen- und Suchtbericht zumindest anklingt und aus dem Reitox-Bericht heraus interpretiert werden kann, erfährt man bei den anderen berichterstattenden Institutionen nichts davon. Sucht- und Drogenprobleme zu beschreiben, heißt nicht, bei den Phänomenen zu verweilen und staatliche Ausgaben zu legitimieren. Sucht- und Drogenprobleme treffen den einzelnen Menschen in seiner Existenz, in seinem Lebensumfeld und in seinen Perspektiven. Das (immer noch) sehr gut ausgebaute Verbundsystem der Suchthilfe hilft, Abhängigkeitserkrankungen zu überwinden, gibt Menschen Hoffnung und Familien Rückhalt. Zehn Millionen von Suchterkrankungen betroffene und bedrohte Menschen und weitere zehn Millionen mitbetroffene Angehörige machen die Abhängigkeit zur Volkskrankheit. Es ist nicht nachzuvollziehen, dass die Behandlung von Suchterkrankungen unter Rechtfertigungsdruck steht und in der Realität nur nach Maßgabe der zur Verfügung stehenden Mittel erfolgen kann. Das soll an dieser Stelle auch berichtet werden.

    Kontakt:

    Jost Leune
    Fachverband Drogen- und Suchthilfe e. V (fdr)
    Gierkezeile 39
    10585 Berlin
    leune@fdr-online.info

    Angaben zum Autor:

    Jost Leune ist Geschäftsführer des Fachverbands Drogen- und Suchthilfe e. V. (fdr) und Mitglied im Fachbeirat von KONTUREN online.

  • Always on?!

    Always on?!

    Dr. Klaus Wölfling
    Dr. Klaus Wölfling
    Dr. Kai W. Müller
    Dr. Kai W. Müller
    Prof. Manfred Beutel
    Prof. Dr. Manfred E. Beutel
    Jun.-Prof. Dr. Leonard Reinecke. Foto: Richard Lemke

     

     

     

     

    Die zunehmende Verbreitung des Internets und insbesondere die hohe Nutzungsrate bei Jugendlichen (JIM-Studie, 2015) hat in den letzten Jahren zu einem intensiven gesellschaftlichen sowie wissenschaftlichen Diskurs geführt. Im Zentrum steht die Frage nach den Folgen der Digitalisierung. Da sich die Nutzung ‚neuer‘ Medien in annähernd allen Gesellschaftsschichten mit einer beispiellosen Geschwindigkeit vollzieht, fehlen weitestgehend Vergleichsmöglichkeiten in Bezug auf die positiven wie auch negativen Auswirkungen auf gesellschaftlicher und individueller Ebene. Aktuelle Statistiken weisen aus, dass das Internet unter Kindern und Jugendlichen einen besonders hohen Stellenwert einnimmt und internetbasierte Aktivitäten wie etwa Chats und weitere Kommunikationsplattformen, aber auch Online-Computerspiele und Unterhaltungsportale einen integralen Bestandteil im Leben und Aufwachsen dieser Generation darstellen (JIM-Studie, 2015). Diese Generation wird auch als „Digital Natives“ (deutsch: Digitale Eingeborene) bezeichnet.

    Mehr noch als in erwachsenen Bevölkerungsschichten ist hier ein Spannungsfeld zu beobachten, in welchem einerseits Befürwortung der Internetnutzung, andererseits Bedenken hinsichtlich möglicher nachteiliger Effekte auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen aufeinandertreffen. Während theoretisch zu erwarten ist, dass beide Positionen in gewissem Maße zutreffen, muss aus empirischer Sicht festgehalten werden, dass derzeit lediglich eine dünne und damit insgesamt wenig belastbare Datengrundlage existiert, welche die mittel- und langfristigen Folgen der Digitalisierung unseres Lebens abbilden könnte. So bleiben wichtige Fragen vorerst ungeklärt, wie etwa die Auswirkung der Digitalisierung auf die Entwicklung der sozioemotionalen Kompetenz oder die Fähigkeit, internetbasierte Fertigkeiten auf andere Lebensbereiche übertragen zu können. Eine besondere Rolle nimmt die Frage ein, welche Auswirkungen eine intensive bis exzessive Mediennutzung auf die psychische Gesundheit hat.

    „Nur eine Phase?“ – und weitere offene Fragen

    Ein viel diskutierter und eindeutiger Nachteil, den die Digitalisierung gebracht hat, ist das Auftreten eines neuen Störungsbildes. Die im Jahr 2013 erfolgte Aufnahme der „Internet Gaming Disorder“ in das Klassifikationssystem für psychische Störungen (DSM-5) als Forschungsdiagnose zeugt davon, dass mit der Verbreitung des Internets auch vorher unbekannte gesundheitsrelevante Auswirkungen der Mediennutzung festzustellen sind (APA, 2013). Aktuelle querschnittliche Erhebungen konnten zeigen, dass ein nicht zu vernachlässigender Anteil der deutschen Allgemeinbevölkerung und gerade auch der Jugendlichen computerspiel- oder internetsüchtiges Verhalten aufweist und hierüber teils dramatische Einschränkungen der psychischen Gesundheit hinnehmen muss. Jedoch stellt sich die Frage nach der zeitlichen Stabilität suchtartiger Internetnutzung: Handelt es sich bei dem Verhalten eher um ein fokussiertes Interesse und damit nur um eine ‚Phase‘? Oder ist das Medienverhalten tatsächlich eine Sucht und bedarf externer, professionaler Hilfe? Außerdem stellt sich die Frage nach den Entstehungsbedingungen einer exzessiven Nutzung: Welche Risikofaktoren begünstigen einen suchtartigen Medienkonsum und welche Faktoren wirken – vielleicht trotz einer intensiven Nutzung – schützend?

    Während seit etwa zehn Jahren eine Zunahme von Querschnittstudien – teilweise auch in Form von repräsentativen Erhebungen – zu verzeichnen ist und somit die oben stehenden Fragen zum Teil schon in den Fokus wissenschaftlichen Interesses gerückt sind, stellen Längsschnitterhebungen noch immer eine Seltenheit dar. Dies ist ungünstig, da Querschnitterhebungen zwar wichtige Erkenntnisse zum Thema erlauben, konkrete Aussagen über die kausalen Zusammenhänge bestimmter Merkmale jedoch nur über längsschnittliche Forschungsmethoden getroffen werden können.

    Viele Jugendliche durchlaufen Phasen mit gesteigertem Interesse an bestimmten Themen. Hierbei handelt es sich um ein aus entwicklungspsychologischer Sicht ganz normales Phänomen, welches für die Autonomieentwicklung in dieser Phase sogar notwendig ist. Diese Phasen können spontan enden oder von neuen Phasen abgelöst werden. Auch von risikoreichem Verhalten wie etwa dem Rauschmittelkonsum ist bekannt, dass sich Konsummuster aus dem Jugendalter keineswegs zwangsläufig im Erwachsenenalter fortsetzen müssen, sondern ebenfalls einer spontanen Remission unterliegen können (Moffitt, 1993). Analog könnte es sich mit dem problematischen bzw. suchtartigen Mediengebrauch verhalten, d. h. es könnte sich hierbei lediglich um eine temporäre Erscheinung in der Entwicklung handeln.

    Viele Studien zur Internetsucht beschränken sich auf eine einmalige Erhebung des Phänomens, also auf eine Abbildung der Situation im Hier und Jetzt. Um den Verlauf bzw. die zeitliche Stabilität abzubilden, sind solche Studiendesigns demnach ungeeignet. Lediglich Längsschnitterhebungen, die ein und dasselbe Phänomen bei denselben Personen zu mehreren unterschiedlichen Zeitpunkten erfassen, können Aufschluss über wichtige Zusammenhänge und tiefere Einblicke in die Thematik geben. Solche Studien werden aufgrund des damit verbundenen enormen Aufwands jedoch zum einen selten durchgeführt, und zum anderen sind sie häufig methodisch nicht einwandfrei. So stellt sich etwa immer wieder das Problem, dass die untersuchte Kohorte nicht über den zeitlichen Verlauf gehalten werden kann, was bisweilen in Stichprobenreduktionen auf zum Teil deutlich unter 50 Prozent resultiert. Aus diesen Gründen ist die Forschungsliteratur zur zeitlichen Stabilität suchtartiger Internet- und Computerspielnutzung, aber auch zu anderen Langzeiteffekten der Mediennutzung durch Jugendliche deutlich unterrepräsentiert. Der bisherige Stand der Forschung soll nachstehend kurz zusammengefasst werden.

    Befunde bisheriger Längsschnittstudien

    Forscher untersuchten im Jahr 2014 rund 3.000 Schüler in Taiwan im Alter zwischen 15 und 17 Jahren über einen Zeitraum von zwölf Monaten bezüglich der Stabilität internetsüchtigen Verhaltens (Chang, Chiu, Lee, Chen & Miao, 2014). Es wurde festgestellt, dass rund 66 Prozent der anfänglich als internetsüchtig diagnostizierten Jugendlichen auch noch bei der (abschließenden) zweiten Messung die diagnostischen Kriterien für eine Internetsucht erfüllten. Positiv hervorzuheben ist die methodische Stärke der Studie: So wurde auf einen gut etablierten Fragebogen zurückgegriffen (CIAS, Chen Internet Addiction Scale; Chen, Weng & Su, 2003) und eine hohe Haltequote der Studienteilnehmer erzielt: 77 Prozent der Schüler nahmen zu beiden Messzeitpunkten teil. Eine weitere Untersuchung aus dem asiatischen Raum fand über einen Zeitraum von drei Jahren statt (Yu & Shek, 2013). Von den 3.300 jugendlichen Befragten nahmen noch 80 Prozent zum letzten Zeitpunkt an der Befragung teil. Der Anteil der Jugendlichen mit Internetsucht erwies sich hier als annähernd stabil: Während zum ersten Zeitpunkt 26 Prozent die Kriterien einer Internetsucht erfüllten, belief sich der Anteil zum Zeitpunkt der letzten Befragung noch auf 23 Prozent.

    Speziell zur Computerspielsucht führten Gentile und Kollegen (2011) eine Studie an 3.000 Jugendlichen aus Asien durch. Ihre Ergebnisse deuten ebenfalls auf eine hohe Stabilität des Problemverhaltens hin. 84 Prozent der zu Beginn als suchtartige Spieler eingeschätzten Jugendlichen zeigten auch noch nach zwei Jahren das gleiche Problemverhalten. Methodisch zu bemängeln ist jedoch die Verwendung eines bislang nicht anerkannten Fragebogens zur Klassifikation der Computerspielsucht.

    Interessanterweise kommen Längsschnittstudien mit europäischen Teilnehmern zu abweichenden Ergebnissen und legen eher den Schluss einer mittleren bis schwachen zeitlichen Stabilität des suchtartigen Verhaltens nahe. Lemmens, Valkenburg und Peter (2011) berichten für eine kleine Stichprobe von 851 Jugendlichen über einen Zeitraum von sechs Monaten geringe Stabilitäten der Diagnose Computerspielsucht. Sie zeigten jedoch gleichzeitig auf, dass eine suchtartige Computerspielnutzung eine zumindest exzessive (also zeitlich ausufernde) Computerspielnutzung sechs Monate später voraussagte. Das Problemverhalten remittierte also nicht vollständig.

    Eine erste Untersuchung basierend auf einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe in Deutschland nahmen Scharkow, Festl und Quandt (2014) an 4.500 regelmäßigen Computerspielern vor. Hier zeigte ein Prozent der Befragten über den gesamten Zeitraum von zwei Jahren ein problematisches Computerspielverhalten, wohingegen es bei drei Prozent zu einer Veränderung hin zu einem unauffälligen Computerspielverhalten kam. Obgleich dieser Studie eine wichtige Pionierrolle für den deutschen Sprachraum zukommt, lassen sich doch methodische Unzulänglichkeiten finden. Diese betreffen insbesondere die geringe Haltequote der Stichprobe (lediglich 902 der initial 4.500 Teilnehmer konnten zwei Jahre später nachbefragt werden).

    In den oben berichteten Untersuchungsergebnissen wird eine erhebliche Heterogenität deutlich. Daraus lässt sich ein Bedarf an methodisch hochwertigen Studien mit mehreren Messzeitpunkten, ausreichender und kohortenspezifischer Teilnehmerzahl zu allen Messzeitpunkten und zuverlässigen Instrumenten zur Messung der Internetsucht ableiten.

    Schutz- und Risikofaktoren

    Insbesondere erscheint es relevant, in solchen langfristig angelegten Untersuchungen Faktoren ausfindig zu machen, die zu einer Stabilität der Problematik beitragen können oder diese gar bedingen. Erkenntnisse über schützende Faktoren, die zu einer Verbesserung der suchtartigen Mediennutzung beitragen, sind vor allem für die Ableitung präventiver Strategien, aber auch für Interventionsprogramme wichtig. Gerade in dieser Hinsicht mangelt es derzeit noch an aussagekräftigen Forschungsbefunden. Ob sich eine verstärkte Mediennutzung nachteilig auf bestimmte Gruppen von Adoleszenten, die beispielsweise eine spezifische Vulnerabilität mitbringen, auswirkt und welche Einflüsse hierzu beitragen, muss von daher eine wesentliche Aufgabenstellung der modernen Forschung sein. Einen theoretischen Ausgangspunkt für die Formulierung zielgerichteter Hypothesen bietet die inzwischen reichhaltige Literatur aus Querschnittserhebungen.

    Wenngleich die Anzahl jener Studien, die sich gezielt mit der Frage nach Schutz- und Risikofaktoren befassen, noch überschaubar ist, deuten einzelne Befunde doch darauf hin, dass das Auftreten einer Internetsucht unter bestimmten Voraussetzungen wahrscheinlicher ist. Ähnlich wie bei anderen psychischen Erkrankungen und Abhängigkeitsphänomenen legt die Forschung einen Zusammenhang zwischen bestimmten Persönlichkeitsdimensionen und Internetsucht nahe. Demnach ist in erhöhtem Neurotizismus, niedriger Gewissenhaftigkeit oder verminderter Extraversion zumindest ein Korrelat internetsüchtigen Verhaltens zu sehen und möglicherweise sogar ein kausaler Faktor, der die Krankheitsentstehung direkt beeinflusst (vgl. z. B. Müller et al., 2014; Kuss et al., 2014; Braun et al., 2015; für eine Übersicht vgl. Müller, 2013). Hiervon ausgehend kann angenommen werden, dass möglicherweise das Gefühl von einer bedrohlichen Welt voller potenzieller Stressoren zu einer stärkeren Hinwendung zum Internet führt. In dieser als sicher und berechenbar erlebten Online-Welt kann der Jugendliche Belastungen entfliehen und erlebt eine erhöhte Selbstwirksamkeit (Müller, 2013). Im Umkehrschluss ist gleichzeitig anzunehmen, dass es bestimmte Umstände gibt, die eine Remission des exzessiven oder gar suchtartigen Nutzungsverhaltens begünstigen – und eben dieser Punkt ist es, über den es zum aktuellen Zeitpunkt noch so gut wie keine Erkenntnisse gibt. Wissen über diese Thematik würde entscheidende Vorteile mit sich bringen. Im Sinne der positiven Psychologie wäre es etwa möglich, ressourcenfördernd bzw. -aktivierend zu arbeiten und bestehende Präventionskonzepte um entsprechende Module zu ergänzen.

    Einen Versuch, Schutz- und Risikofaktoren bei der Entwicklung von unauffälligem, problematischem und suchtartigem Internetverhalten zu eruieren, nahm die Forschergruppe um Dreier im Jahr 2012 vor. In ihrer international angelegten qualitativen Studie wurden Tiefeninterviews mit Jugendlichen durchgeführt, welche ein intensives bis exzessives Internetnutzungsverhalten aufwiesen. Die Forscher stellten in dieser spezifischen Stichprobe adaptive sowie maladaptive Strategien im Umgang mit dem Internet fest: Zu den identifizierten adaptiven Strategien zählten Kompetenzen wie etwa die Priorisierung von Offline-Aktivitäten als gezielter Ausgleich zum Online-Verhalten sowie angewandtes Verhaltensmonitoring, um die Onlinenutzungszeiten nicht entgleiten zu lassen. Demgegenüber ließen sich maladaptive Strategien identifizieren wie das gezielte Umgehen elterlicher Kontrolle und die Bagatellisierung des exzessiven Verhaltens.

    Verschiedene Nutzertypen

    Anhand der Befragung von Dreier et. al (2012) konnten vier unterschiedliche Nutzertypen ausgemacht werden: „Stuck online“, „Juggling it all“, „Coming full cycle“ und „Killing boredom“. Jugendliche des Typs Stuck online zeigten einen exzessiven Internetkonsum, vernachlässigten wichtige Alltagsaktivitäten (Schule, Freunde, Pflichten) und schafften es nicht aus eigener Kraft, den Internetkonsum zu reduzieren. Die exzessive Nutzung zeigte bei diesen Jugendlichen bereits negative Konsequenzen wie beispielsweise Schlafstörungen. Als Risikofaktoren für diesen Typ wurden defizitäre soziale Fertigkeiten genannt, die teilweise auf erlebte Enttäuschungen in sozialen Interaktionen, aber auch auf Mobbingerlebnisse zurückgeführt werden können. Der Typ Juggling it all zeigt eine Balance zwischen Online- und Offline-Aktivitäten. In beiden ‚Welten‘ zeigen sich Jugendliche dieses Typs sehr präsent, was – negativ betrachtet – zu einem vollen Zeitplan und Stress führen kann. Als protektiven Faktor wiesen diese Jugendliche ein hohes Maß an sozialer Kompetenz auf, die sich darin äußerte, dass die Jugendlichen einen qualitativen Unterschied zwischen Offline- und Online-Kommunikation machen. Gleichzeitig nehmen die Online-Aktivitäten Bezug zur Offline-Welt (z. B. Jugendlicher mit vielen Freunden, der viel Aktivität auf sozialen Netzwerken aufweist). Jugendliche des Typs Coming full cycle zeigten ein exzessives Nutzungsverhalten, konnten jedoch durch Selbstregulierungsprozesse eine progressive und adaptive Veränderung in ihrem Verhalten erzielen. Bei diesen Jugendlichen handelte es sich lediglich um eine ‚Phase‘ exzessiver Nutzung, die sich ohne externe Hilfe wieder legte. Der Typ Killing boredom empfindet die Offline-Welt als langweilig, und ihm fehlt es an alternativen Aktivitäten, die ihn interessieren. Die Internetnutzung ist ein Zeitfüller und eine automatisierte Reaktion auf Langeweile. Dieser Typ zeigt wenig Eigeninitiative in der aktiven Exploration von Verhaltensalternativen und hat begrenzte soziale Fähigkeiten.

    Zusammenfassend scheint die Befundlage zu Risiko- und protektiven Faktoren hinsichtlich der Entwicklung einer Internetsucht überschaubar. Insbesondere an ganzheitlichen und langfristigen Betrachtungen fehlt es bislang. Die Durchführung weiterer methodisch einwandfreier Längsschnittstudien ist in diesem recht neuen Themengebiet bedeutsam, um Präventionskonzepte und Strategien der Frühintervention an die Bedürfnisse der Jugendlichen anpassen zu können.

    Die intensive Nutzung internetbasierter Anwendungen durch Jugendliche zeigt, dass in vielerlei Hinsicht von einem Wandel im Freizeit- und Kommunikationsverhalten auszugehen ist, der auf keinen Fall automatisch mit einem Krankheitswert gleichzusetzen ist. Im Gegenteil existieren empirische Befunde, die der Nutzung moderner Medien mancherlei positive Effekte bescheinigen (z. B. Greitemeyer, 2011). Bei allen nachteiligen Konsequenzen, die eine manifeste Internetsucht nach sich zieht, sollte also nicht außer Acht gelassen werden, dass internetsüchtiges Verhalten mit einer Prävalenz zwischen zwei und vier Prozent in Europa deutlich seltener ist als die problematische Internetnutzung.

    Die Studie „Always on – Mediennutzungsverhalten im Verlauf“

    Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe aus Vertreter/innen der Fachdisziplinen Psychologie, Kommunikationswissenschaft, Medizin und Medienpädagogik hat sich zum Ziel gesetzt, die oben genannten offenen Punkte näher zu beleuchten. In der vom Forschungsschwerpunkt Medienkonvergenz der Johannes Gutenberg-Universität finanzierten Studie „Always on – Mediennutzungsverhalten im Verlauf“ wird eine repräsentative Stichprobe von 2.500 Jugendlichen im Alter zwischen zwölf und 15 Jahren aus Rheinland-Pfalz schriftlich befragt. Das innovative Moment der Erhebung stellt die Begleitung der Jugendlichen über zwei Jahre hinweg dar. Es wird angestrebt, die Teilnehmer zu insgesamt drei Messzeitpunkten (2015, 2016 und 2017) zu denselben Themen zu befragen und somit Aussagen über individuelle Verläufe in der Mediennutzung treffen zu können. Ebenso soll es möglich werden, Rückschlüsse auf die Kausalität der gefundenen Zusammenhänge zu ziehen. Bei der inhaltlichen Konzeption der Befragung wurde Wert darauf gelegt, dass die Fragestellungen nicht explorativ, sondern theoriegeleitet sind und eine entwicklungspsychologische Perspektive eingenommen wird. Zentrale Inhalte des Projekts betreffen:

    • Art und Umfang des Mediennutzungsverhaltens
    • Subjektive und objektive Beeinflussbarkeit durch Medieninhalte
    • Häufigkeit und Effekte von „Digital Stress“
    • Veränderung von Peer-Kontakten durch die Nutzung sozialer Netzwerke
    • Effekte auf die Persönlichkeitsentwicklung durch unterschiedlich intensive Mediennutzung
    • Prävalenz, Inzidenz (= Häufigkeit der Neuerkrankungen), Stabilität und Remission von Internetsucht
    • Belastung durch psychosoziale Symptome in unterschiedlichen Nutzergruppen

    In der Erhebung kommen ausschließlich gut etablierte Erhebungsinstrumente zum Einsatz, welche vor dem Hintergrund eines ganzheitlichen Ansatzes zusammengestellt wurden. Hierüber sollen die Effekte der Mediennutzung möglichst breit erfasst werden, sodass sich Raum für die Identifikation sowohl von positiven als auch negativen Effekten bietet. Die Studie ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf insgesamt 24 Monate angelegt, jedoch wird angestrebt, die rekrutierte Kohorte über den genannten Zeitraum hinaus beizubehalten und im Idealfall auch den Übergang von der Adoleszenz in das junge Erwachsenenalter abbilden zu können.

    Kontakt:

    Dr. Kai W. Müller
    Grüsser-Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht
    Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
    Unversitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
    Untere Zahlbacher Straße 8
    55131 Mainz
    muellka@uni-mainz.de / kai.mueller@unimedizin-mainz.de

    Angaben zu den Autoren:

    Die Dipl.-Psychologen Dr. Klaus Wölfling, Dr. Kai W. Müller und Prof. Dr. Manfred E. Beutel forschen und arbeiten an der Grüsser-Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht, Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Dr. Leonard Reinecke ist Juniorprofessor am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

    Literatur:
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    • Dreier, M., Tzavela, E., Wölfling, K., Mavromati, F., F., Duven, E., Karakitsou, Ch., Macarie, G., Veldhuis, L., Wójcik , S., Halapi, E., Sigursteinsdottir, H., Oliaga, A., Tsitsika, A. (2012). The development of adaptive and maladaptive patterns of Internet use among European adolescents at risk for internet addictive behaviours: A Grounded theory inquiry. National and Kapodistrian University of Athens (N.K.U.A.), Athens: EU NET ADB. Vefügbar unter: www.eunetadb.eu [20.11.2015].
    • Duven, E., Giralt, S., Müller, K.W., Wölfling, K., Dreier, M. & Beutel, M.E. (2011). Problematisches Glücksspielverhalten bei Kindern und Jugendlichen in Rheinland-Pfalz. Abschlussbericht an das Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie des Landes Rheinland-Pfalz.
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  • Medikamentöse Rückfallprophylaxe der Alkoholabhängigkeit

    Medikamentöse Rückfallprophylaxe der Alkoholabhängigkeit

    Dr. Matthias Brecklinghaus
    Dr. Matthias Brecklinghaus

    Die letzten beiden Jahrzehnte waren geprägt von einem Boom der Hirnforschung und der Neurowissenschaften. In einer fast schon euphorischen Aufbruchsstimmung wurde die Hoffnung genährt, bald die komplexen Hirnfunktionen besser verstehen zu können. Berechtigt zu dieser Hoffnung sah man sich u. a. durch moderne bildgebende Verfahren wie der Magnetresonanztomographie. Mit dieser Technik können nicht nur die Strukturen des Gehirns, sondern auch – in Verbindung mit bestimmten Blutmarkern – seine Funktionen detailliert dargestellt und erforscht werden. Man glaubte, durch ein vertieftes und umfassendes Verständnis der Hirnfunktionen schließlich auch krankhafte Zustände des Gehirns besser behandeln zu können. Insbesondere in der Neurologie und Psychiatrie erwartete man zahlreiche neue (medikamentöse) Behandlungsmöglichkeiten, z. B. bei Demenz, Depression, Psychosen sowie bei Suchterkrankungen.

    Grenzen der Neurowissenschaften

    Zwischenzeitlich ist eine gewisse Ernüchterung eingetreten. Die Wissenschaft hat zwar eine enorme Menge an neuem Detailwissen hervorgebracht. Jedoch taten sich mit jedem Wissenszuwachs auch wieder zahlreiche neue Fragen auf. Und so bleibt die Erkenntnis, dass es eher schwieriger als einfacher wird, die Komplexität der Hirnfunktionen umfassend zu begreifen, je tiefer man in die Materie eindringt.

    Für die Sucht beispielsweise werden oft und gerne die Modelle vom ‚Belohnungssystem‘ und vom ‚Suchtgedächtnis‘ bemüht, um bestimmte Phänomene der Abhängigkeitserkrankung verständlich zu machen. Und in der Tat haben diese Modelle durchaus einen didaktischen Wert. Da sie jedoch nur eine starke Vereinfachung der komplexen Wirklichkeit darstellen, bleibt es eine Illusion, zu glauben, man könne mit ihnen eine Suchterkrankung umfassend erklären. Beispiel: Man kann mit dem ‚Belohnungssystem‘ und ‚Suchtgedächtnis‘ zwar plausibel machen, wie ein Suchtmittelverlangen getriggert wird. Jedoch erklären diese Modelle nicht, wieso jemand bei gleichem Suchtmittelverlangen in einer Situation widerstehen kann, in einer anderen jedoch nicht.

    Bei der Sucht handelt es sich um eine Erkrankung, die in einem vielschichtigen Bedingungsgefüge von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren entsteht. Angesichts dieser Tatsache erscheint es grundsätzlich unrealistisch, dass Suchterkrankungen allein medikamentös erfolgreich behandelt bzw. überwunden werden können. Denn wie soll ein Medikament, das sich biologischer Wirkmechanismen bedient, die psychosozialen Faktoren beeinflussen können? Es liegt auf der Hand, dass ein Medikament dazu nicht in der Lage ist. Dennoch hält sich hartnäckig die Hoffnung, man könne vielleicht in Zukunft die Suchterkrankung mit einem Medikament heilen.

    Medikamente zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit

    Derzeit sind fünf Medikamente auf dem Markt, die zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit – genauer gesagt zur Rückfallvorbeugung und/oder zur Trinkmengenreduktion – zur Verfügung stehen:

    • Disulfiram (Handelsname z. B. Antabus®)
    • Acamprosat (Handelsname z. B. Campral®)
    • Naltrexon (Handelsname z. B. Adepend®)
    • Baclofen (Handelsname z. B. Lioresal®)
    • Nalmefen (Handelsname z. B. Selincro®)

    Im Folgenden sollen die genannten Medikamente im Detail dargestellt und bewertet werden.

    Disulfiram

    Die Substanz wurde bereits Anfang des 19. Jahrhunderts in der Gummiherstellung benutzt. Es ist zu lesen, dass bei den Arbeitern der Gummiherstellung eine gewisse ‚Alkoholunverträglichkeit‘ festgestellt und so die Wirkung des Disulfiram entdeckt worden sei. Fakt ist, dass Disulfiram durch enzymatische Hemmung den Abbau von Acetaldehyd – ein Abbauprodukt des (Ethyl)Alkohols – blockiert. So kommt es bei Alkoholkonsum und gleichzeitiger Medikation mit Disulfiram zu einer inneren Vergiftung mit Acetaldehyd, was sich in Symptomen wie Übelkeit, Kopfschmerzen, Schwitzen, Herzrhythmusstörungen und Kollapsneigung äußert. Diese Symptome sind äußerst unangenehm. Betroffene, die das Medikament erhalten, werden über die Wirkung bei gleichzeitigem Alkoholkonsum aufgeklärt. Behandler und Betroffene erhoffen sich über den abschreckenden Effekt der unangenehmen Wirkung (bei gleichzeitigem Alkoholkonsum) ein Vermeiden des Alkoholkonsums.

    1949 wurde der Wirkstoff erstmals in der Schweiz als Medikament eingesetzt. Breite Anwendung fand er vor allem in den USA, in Frankreich, Großbritannien und in Osteuropa, dort vor allem auch in Form eines unter die Haut eingesetzten Medikamentendepots mit Langzeitwirkung. In Deutschland blieb der Einsatz auch unter Experten umstritten und hat sich bis heute nicht etabliert. Lediglich in einzelnen Zentren wurde mit dem Medikament gearbeitet, zum Teil auch in Verbindung mit wissenschaftlicher Forschung. Ein Teil der Zurückhaltung mag darin begründet sein, dass es in den 50er und 60er Jahren vereinzelt Todesfälle unter hochdosierter Disulfiram-Medikation gab. Ein weiterer Grund für den zögerlichen Einsatz sind wohl auch grundsätzliche Bedenken, inwiefern das Prinzip der Abschreckung mit dem Ziel eines eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Umgangs mit der Suchterkrankung vereinbar ist.

    Sollte man sich trotz dieser grundsätzlichen Bedenken für eine Behandlung mit diesem Medikament entscheiden, ist – allein schon aufgrund der potenziellen medizinischen Gefahren – auf jeden Fall ein engmaschiger Kontakt des Patienten zum behandelnden Arzt erforderlich. Kritiker dieser Medikation argumentieren auch damit, dass ein Teil des nachgewiesenen abstinenzstabilisierenden Effektes wohl eher auf den engen Arzt-Patienten-Kontakt als auf die eigentliche Wirkung des Medikamentes zurückzuführen sei. Befürworter dieser Medikation argumentieren, dass nicht für alle Betroffenen das Ideal eines eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Umgangs mit der Suchterkrankung zu erreichen sei und dass für diese Gruppe von Betroffenen das Medikament – bei sorgfältiger ärztlicher Führung – eine durchaus hilfreiche Option darstellen könne.

    Wie auch immer man sich als Behandler hier positionieren will: Die Herstellerfirma hat zwischenzeitlich die Produktion für den deutschen Markt eingestellt. Die Konsequenz dieser Entscheidung ist, dass 2011 die Zulassung für Disulfiram in Deutschland nicht mehr verlängert wurde. Zwar ist das Medikament nach wie vor über internationale Apotheken erhältlich, jedoch stellen die beschriebenen Umstände naturgemäß eine deutliche Hürde für die Verordnung dar.

    2015 wurde erstmals eine S3-Leitlinie – eine S3-Leitlinie ist die qualitativ hochwertigste Form einer Leitlinie – mit dem Titel „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ veröffentlicht. Sie entstand in einem aufwendigen, methodisch festgelegten und von einer neutralen Person moderierten Verfahren unter Beteiligung von Fachgesellschaften, Experten sowie von Selbsthilfe- und Angehörigenverbänden. Die in der Leitlinie enthaltenen Empfehlungen stellen somit keine Einzelmeinung dar, sondern sind wissenschaftlich fundiert und im Konsens der Beteiligten formuliert und können somit als derzeit gültiger Orientierungsrahmen für eine ‚kunstgerechte‘ Behandlung gelten. Dabei wird auch eine Empfehlung zur Medikation mit Disulfiram abgegeben. Sie lautet:

    „Nach Berücksichtigung von und Aufklärung über mögliche Risiken kann bei Alkoholabhängigkeit in der Postakutbehandlung außerhalb der stationären Entwöhnung eine pharmakotherapeutische Behandlung mit Disulfiram im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans angeboten werden, wenn andere zugelassene Therapieformen nicht zum Erfolg geführt haben.“

    In der Terminologie der Leitlinien ist die „kann“-Formulierung eine offene Empfehlung. Genau genommen handelt es sich nicht um eine Empfehlung, sondern um die Feststellung einer Option unter definierten Voraussetzungen. Somit bleibt die Empfehlung zum Einsatz von Disulfiram insgesamt recht zurückhaltend und eben begrenzt auf Situationen, in denen andere Behandlungsformen ausgereizt sind.

    Acamprosat

    Acamprosat wurde in Frankreich entwickelt und 1989 zugelassen. In Deutschland kam es 1995 mit der gezielten Indikation „Rückfallprophylaxe nach Alkoholentgiftung“ auf den Markt. Der genaue Wirkmechanismus der Substanz im Gehirn ist noch nicht vollständig verstanden, zumal sie Einfluss auf mehrere Rezeptorsysteme hat. Bei Markteinführung des Medikamentes wurde von der Herstellerfirma behauptet, das Medikament verhindere oder reduziere das Suchtmittelverlangen. Dies ließ sich in den hierzu durchgeführten Studien jedoch nicht belegen.

    Studienergebnisse zur Häufigkeit von Rückfällen unter Medikamenteneinnahme waren widersprüchlich, d. h. manche Studien zeigten eine Minderung der Rückfallhäufigkeit, andere nicht. Die widersprüchliche Datenlage wird heute so erklärt, dass Acamprosat offenbar doch einen nachweisbaren Effekt auf die Rückfallhäufigkeit hat, aber dass von diesem Effekt nicht alle Behandelten profitieren. Zwischenzeitlich bemüht sich die Forschung um Klärung der Frage, welche Kriterien Einfluss darauf haben, ob das Medikament in der gewünschten Weise wirkt oder nicht. Darauf stützt sich die Hoffnung, das Medikament in Zukunft passgenauer einsetzen zu können. Die Erwartungen dürfen jedoch nicht sehr hoch geschraubt werden, da selbst die Studien, die die gewünschte Wirkung nachgewiesen haben, keinen besonders großen Effekt zeigen konnten. Eine Kennzahl, die dies zum Ausdruck bringt, ist die NNT (number needed to treet), die mit 9 angegeben wird. Das heißt, dass durchschnittlich neun Patienten mit Acamprosat behandelt werden müssen, bis einer der Behandelten vom gewünschten Effekt profitiert.

    Trotz dieser sehr ernüchternden Zahlen gibt die S3-Leitlinie immerhin eine (einfache) Empfehlung ab, die Möglichkeiten des Medikamentes zu nutzen; allerdings unter klar formulierten Voraussetzungen und Einschränkungen:

    „Nach Berücksichtigung von und Aufklärung über mögliche Risiken sollte bei Alkoholabhängigkeit in der Postakutbehandlung außerhalb der stationären Entwöhnung eine pharmakotherapeutische Behandlung mit Acamprosat oder Naltrexon im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplanes angeboten werden.“

    Naltrexon

    Naltrexon wird schon seit den 90er Jahren unterstützend in der Entwöhnung Opiatabhängiger eingesetzt. Seit 2010 ist es in Deutschland auch zur Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans zugelassen. Chemisch gesehen ist die Substanz dem Opium ähnlich und kann daher auch die im Gehirn befindlichen Opiatrezeptoren besetzen. Dies tut die Substanz allerdings, ohne die weiteren Wirkungen des Opiums auszulösen. Medizinisch gesehen wird die Substanz daher als Opiatrezeptor-Antagonist (Antagonist = Gegenspieler) bezeichnet. Die gewünschte Wirkung als Medikament kann man sich in etwa so vorstellen: Naltrexon besetzt die Opiatrezeptoren, dadurch können die körpereigenen Opioide, die für den angenehmen, rauschartigen Effekt des aktivierten ‚Belohnungssystems‘ verantwortlich sind, nicht mehr zur Geltung kommen. Daher spürt der Alkoholkonsument auch nicht mehr die sonst so positiv und angenehm erlebte Alkoholwirkung. Der ausbleibende ‚Belohnungseffekt‘ soll dafür sorgen, dass der Betroffene nicht mehr so ein starkes Verlangen nach Alkohol verspürt und im Idealfall daher keinen Alkohol mehr trinkt.

    Soweit die Theorie. Die Praxis zeigt allerdings – wie so oft – ein komplizierteres und uneinheitlicheres Bild. Ähnlich wie bei Acamprosat nämlich sind die Studienergebnisse kontrovers. Effekte im Hinblick auf eine aufrechterhaltene Abstinenz wurden kaum gefunden, wohl aber Effekte bezogen auf eine Vorbeugung übermäßigen Trinkens bzw. eine Trinkmengenreduktion. Aber selbst diese Effekte sind nicht sehr stark ausgeprägt. Es müssen neun Patienten mit Naltrexon behandelt werden, um bei einem Patienten einen gewünschten Effekt festzustellen (NNT = 9). Und ebenso wie bei Acamprosat bemüht sich die Forschung derzeit, Kriterien herauszufinden, mit denen man ein ‚Ansprechen‘ auf das Medikament besser vorhersagen kann. Bei so viel Ähnlichkeit bezüglich der wissenschaftlichen Evidenz erstaunt es nicht, dass die S3-Leitlinie für beide Medikamente in einem Atemzug dieselbe Empfehlung gibt (s. o.).

    Baclofen

    Die Geschichte der Entdeckung von Baclofen als Medikament zur Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit ist eine außergewöhnliche. Als Medikament wurde es erstmals 1962 als Mittel gegen Krampanfälle eingesetzt. Dabei war das Medikament jedoch nicht sehr erfolgreich. Später entdeckte man seine Wirksamkeit gegen eine Erhöhung des Muskeltonus, z. B. bei einer Spastik. Mit dieser Indikation wurde es jahrzehntelang in der Behandlung bestimmter neurologischer Erkrankungen angewendet.

    2009 machte ein französischer Arzt, Oliver Ameisen, in einem Selbstversuch die Erfahrung, dass ihm das Medikament bei der Überwindung seiner Alkoholabhängigkeit half. Nach erfolgreichem Eigenversuch setzte er das Medikament schließlich auch bei seinen Patienten zur Behandlung von Alkoholproblemen ein und war dabei – nach seiner Darstellung – ebenfalls erfolgreich. Er schrieb darüber ein Buch („Das Ende meiner Sucht“, Verlag Kunstmann), das viel Aufmerksamkeit erntete. In der Folge wurde das Medikament in Frankreich (und inzwischen auch außerhalb Frankreichs) vermehrt nachgefragt und eingesetzt. Überzeugende wissenschaftliche Belege der Wirkung bei Alkoholabhängigkeit stehen jedoch noch aus. Drei bisher durchgeführte Studien zeigen widersprüchliche Ergebnisse: Während zwei von ihnen eine geringere Rückfallhäufigkeit (im Vergleich zu Placebo) zeigen konnten, ließ eine dritte Studie dieses Ergebnis vermissen. Insgesamt fehlen noch aussagekräftige Studien mit ausreichend vielen Teilnehmern.

    Da Baclofen nicht offiziell zur Behandlung bei Alkoholabhängigkeit zugelassen ist, entstehen für den behandelnden Arzt, der das Medikament bei Alkoholabhängigkeit einsetzen will (so genannter Off-Label-Use), mögliche Haftungsprobleme. Schon aus diesem Grund ist – ungeachtet der noch ausstehenden wissenschaftlichen Belege der Wirksamkeit – von ärztlicher Seite her Zurückhaltung geboten. In der S3-Leitlinie wird Baclofen gar nicht erst erwähnt.

    Nalmefen

    Nalmefen ist chemisch gesehen dem Naltrexon sehr ähnlich und wirkt auch als Opiatrezeptor-Antagonist. Dementsprechend ist der Wirkmechanismus identisch: fehlender ‚Genuss- bzw. Belohnungseffekt‘ bei Alkoholkonsum durch besetzte Opiatrezeptoren. Im Vergleich zu Naltrexon hat Nalmefen allerdings ein günstigeres Nebenwirkungsprofil und wirkt sich insbesondere nicht schädigend auf die Leber aus. Das Medikament wurde bereits in den 70er Jahren entwickelt, jedoch erst 2014 in Deutschland für die Behandlung der Alkoholabhängigkeit zugelassen.

    Neu ist, dass bei diesem Medikament erstmals als Ziel die Trinkmengenreduktion angegeben wird. Dies schlägt sich auch in der Art der Einnahme nieder. Nalmefen soll nicht regelmäßig eingenommen werden, sondern nur in Situationen, in denen der Betroffene ein verstärktes Trinken befürchtet bzw. vorhersieht. Das Medikament soll dann bei Bedarf ein bis zwei Stunden vor dem erwarteten Trinken eingenommen werden.

    Die wissenschaftliche Evidenz ist bislang noch recht dürftig: Es liegen drei Studien mit insgesamt 2.000 Teilnehmern vor. Untersucht wurden die Anzahl der Trinktage sowie die durchschnittlich konsumierte Alkoholmenge pro Tag. Die Ergebnisse der Studien sind nicht einheitlich. Wenn statistisch signifikante Ergebnisse (im Sinne einer Trinkmengenreduktion) vorlagen, dann waren die Effekte im Vergleich zur Placebo-Gruppe insgesamt nur gering ausgeprägt (z. B. pro Monat 1,6 Trinktage weniger bzw. pro Tag 6,5 Gramm Alkohol weniger als die Kontrollgruppe). Dementsprechend zurückhaltend ist die Empfehlung der S3-Leitlinie:

    „Wenn das Ziel die Trinkmengenreduktion ist, kann nach Berücksichtigung von und Aufklärung über mögliche Risiken bei Alkoholabhängigkeit in der Postakutbehandlung außerhalb der stationären Entwöhnung eine pharmakotherapeutische Behandlung mit Nalmefen im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplanes angeboten werden.“

    Wie die „kann“-Formulierung zu verstehen ist, wurde oben bereits erläutert. Bei den Empfehlungen der S3-Leitlinie fällt auf, dass alle medikamentösen Behandlungsoptionen nur „außerhalb der stationären Entwöhnung“ empfohlen werden. Diese Formulierung ist so zu verstehen, dass der Entwöhnungsbehandlung – nach vorliegender wissenschaftlicher Evidenz und Expertenkonsens – der Vorrang vor einer möglichen medikamentösen Behandlung gegeben wird.

    Lebenszyklus neuer Medikamente

    Medikamente, die neu auf den Markt kommen (egal, in welchem medizinischen Fachgebiet), unterliegen generell einem gesetzmäßig ablaufendem Zyklus. Die Markteinführung stellt die erste Phase dar. In dieser Phase betreibt die Pharmaindustrie einen großen Werbeaufwand. Systematisch werden bei Behandlern und Behandelten Hoffnungen und Erwartungen geweckt, und in der Folge wird das Medikament häufig verordnet. In einer zweiten Phase kommen Zweifel an der (behaupteten) Wirksamkeit auf, es werden eventuell noch nicht bekannte Nebenwirkungen festgestellt und der (zusätzliche) Nutzen des neuen Medikamentes wird zunehmend in Frage gestellt. In dieser Phase streiten die Experten über die wissenschaftliche Evidenz, da es hierzu in aller Regel widersprüchliche Daten gibt. Es werden schließlich aufwendige und methodisch anspruchsvolle Studien durchgeführt, um die Widersprüche zu klären. Dieser Prozess benötigt oft etliche Jahre. In der dritten Phase ist die wissenschaftliche Evidenz weitgehend geklärt und die Mehrzahl der Experten einigt sich auf eine gemeinsame Bewertung. Diese Bewertung fällt dann in aller Regel deutlich ungünstiger aus als die anfangs propagierten Hoffnungen und Erwartungen. Eine Ernüchterung tritt ein, und die Bedeutung des Medikamentes relativiert sich. Manche Medikamente werden in dieser Phase wieder vom Markt genommen oder in ihrer Indikation eingegrenzt, und etliche Medikamente werden aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr so häufig verordnet, da der zusätzliche Nutzen in keinem Verhältnis zu dem (bei neuen Medikamenten regelhaft) hohen Preis steht. Bis es soweit kommt, vergehen meist fünf bis zehn Jahre. In dieser Zeit hat die Pharmafirma gut an dem Medikament verdient, so dass die dann rückläufigen Verordnungen in aller Regel gut verkraftet werden bzw. schon einkalkuliert sind.

    Hier sollen beispielhaft die monatlichen Behandlungskosten der fünf besprochenen Medikamente in der Reihenfolge ihrer Markteinführung genannt werden:

    • Disulfiram (Markteinführung 1949): 15 Euro/Monat
    • Baclofen (Markteinführung 1962): 13 Euro/Monat
    • Acamprosat (Markteinführung 1989): 71 Euro/Monat
    • Naltrexon (Markteinführung 2010): 125 Euro/Monat
    • Nalmefen (Markteinführung 2014): 80 Euro/Monat

    Vor dem Hintergrund des beschriebenen Lebenszyklus neuer Medikamente ist es nicht verkehrt, neu auf den Markt gebrachten Medikamenten generell mit einer gewissen Skepsis zu begegnen und im Zweifel die Phase 3 abzuwarten, bevor man sich als Behandler für oder gegen den Einsatz des Medikamentes entscheidet.

    Rolle der Pharmaindustrie

    Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Medikamente kommt nicht ohne die Betrachtung der Rolle der Pharmaindustrie aus. Die Unternehmen präsentieren sich zwar (durch Werbung und ihr Auftreten) als Organisationen im Dienste der Gesundheit, aber die Triebfeder ihres Handelns ist nicht primär der gesundheitliche Nutzen, sondern vor allem der ökonomische Erfolg, was für Wirtschaftsunternehmen auch ganz selbstverständlich ist. Die Wirksamkeit eines Medikamentes muss vom Hersteller gegenüber den nationalen Gesundheitsbehörden nachgewiesen werden. Wirksamkeitsnachweise durch klinische Studien sind aufwändig und teuer, sie lohnen sich nur, wenn mit einem Medikament ein entsprechender Gewinn erzielt werden kann. Dabei spielen vor allem betriebswirtschaftliche Überlegungen des Herstellers eine Rolle und nicht eine volkswirtschaftliche bzw. gesundheitsökonomische Kosten-Nutzen-Betrachtung.

    Rolle der Forschung

    Schnelle Ergebnisse

    Nicht nur die Pharmaindustrie gehört auf den Prüfstand, sondern auch die Forschung. Wie andere gesellschaftliche Bereiche auch, ist sie von einem harten Konkurrenzkampf geprägt. Die Expertise eines Wissenschaftlers wird gemessen an der Zahl seiner Veröffentlichungen. Wer nicht fleißig Ergebnisse produziert, ist sehr schnell ‚out‘ und gehört nicht mehr zur Elite. Dieses Prinzip führt – das liegt auf der Hand – zu Masse statt Klasse. Qualitativ hochwertige und methodisch anspruchsvolle Forschung braucht jedoch viele Studienteilnehmer und Mitarbeiter und damit viel Zeit und Geld sowie ein hohes Maß an Koordinationsarbeit und Durchhaltevermögen.

    ‚Positive‘ Ergebnisse

    Ein weiteres Phänomen ist psychologischer Natur. Die menschliche Wahrnehmung ist so gestrickt, dass ‚positive‘ Studienergebnisse (z. B.: „Die Studie konnte nachweisen, dass Medikament A besser wirkt als Medikament B“) aufmerksamer registriert werden und interessanter wirken als ‚negative‘ Ergebnisse (z. B.: „Die Studie konnte nicht nachweisen, dass Medikament A besser wirkt als Medikament B“). Dies führt dazu, dass ‚positive‘ Studienergebnisse auch viel lieber veröffentlicht werden als ‚negative‘. Letztere landen daher häufig in der Schublade. Damit kommt es bei Literaturrecherchen zu einer systematischen Verzerrung zugunsten ‚positiver‘ Studienergebnisse. Dieses Phänomen ist schon länger bekannt. Man versucht dem entgegenzuwirken, indem die Forscher aufgefordert werden, alle begonnenen und laufenden Studien zu listen und auch alle Ergebnisse zu veröffentlichen. Damit diese Bemühungen Früchte tragen, müsste diese Aufforderung allerdings zur Pflicht und international umgesetzt und kontrolliert werden. Offen bleibt, wie das realisiert werden kann.

    Interessegeleitete Auftraggeber

    Schon der Volksmund weiß: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass dies bei von der Pharmaindustrie bezahlter Forschung anders ist. Die Möglichkeiten, die Ergebnisse einer Studie so darzustellen, dass sie dem gewünschten Ergebnis entsprechen, sind zahlreich und für den Nicht-Eingeweihten kaum zu entdecken. Aus diesem Grund wird in Deutschland zunehmend gefordert, dass die Auftraggeber einer Studie von den Autoren benannt werden müssen, ebenso wie ggf. vorhandene Interessenskonflikte der Autoren. Auch hier wäre es dringend anzuraten, diesen Anspruch zu einem international gültigen (und kontrollierten) Standard zu machen. Wünschenswert – aber utopisch – wäre es, die Forschung ausschließlich durch weitgehend neutrale Auftraggeber (z. B. Hochschule, Staat) zu finanzieren.

    Komplexität des Forschungsgegenstandes

    Ein grundlegendes Dilemma der Therapieforschung besteht darin, dass psychotherapeutische Fragestellungen generell schwierig zu untersuchen sind. Das liegt in der Natur der Psychotherapie, deren Wirkung ja nicht nur allein von der Methode, sondern auch von der Persönlichkeit des Therapeuten und der daraus resultierenden Therapeuten-Patienten-Beziehung abhängt. Gegenstand der Untersuchung ist somit ein sehr komplexes System von sich gegenseitig beeinflussenden Variablen. Dadurch ist es fast unmöglich, trennscharf eine einzige Variable aus dem System herauszulösen und gezielt zu untersuchen. Bei der Medikamentenforschung hingegen wird ein deutlich weniger komplexes System untersucht. Zudem können bestimmte Variablen, die das System verkomplizieren (z. B. bestimmte psychologische Effekte einer medikamentösen Behandlung) durch Placebo-Kontrollgruppen und Verblindung teilweise herausgefiltert werden. Es handelt sich also um eine vergleichsweise einfache Fragestellung mit einem (vermeintlich) klaren Ergebnis. Das ist der Grund, weshalb es auch in der Suchttherapieforschung ein Ungleichgewicht zugunsten medikamentenbezogener Fragestellungen gibt. Die innerhalb der Forschung generierte Dynamik wirkt sich schließlich auch auf die Wahrnehmung der (Fach)Öffentlichkeit aus. Indem gehäuft neue Erkenntnisse aus der Medikamentenforschung bekannt gemacht werden, entsteht der Eindruck, dass Suchttherapie immer mehr Medikamententherapie sei.

    Psychologische Effekte in der Medikamentenforschung

    Es wird allgemein anerkannt, dass jede Medikation auch psychologische Wirkungen mit sich bringt, so z. B. den Placebo-Effekt. Dieser hat dazu geführt, dass Placebo-Kontrollgruppen und Verblindung (zur Trennung der psychologischen von den biologischen Wirkungen) zum Standard wissenschaftlicher Medikamentenforschung geworden sind. Ein anderer, vermutlich genauso Einfluss nehmender psychologischer Effekt einer Medikation hingegen wird in der Forschung grundsätzlich außer Acht gelassen: die Auswirkung der Medikation auf die Selbstwirksamkeitserwartung des Behandelten. Selbstwirksamkeitserwartung ist die Überzeugung, die Erkrankung mit den eigenen Möglichkeiten bewältigen und überwinden zu können. Gerade bei Sucht- und psychischen Erkrankungen trägt eine positive Selbstwirksamkeitserwartung in starkem Maße zum Erfolg einer Behandlung bei. Zum Zeitpunkt, an dem Sucht- und psychisch Erkrankte in Behandlung kommen, ist ihre Selbstwirksamkeitserwartung in aller Regel stark beschädigt. Schließlich haben die meisten von ihnen zahlreiche vergebliche Selbstheilungsversuche hinter sich. Daher gehört es regelhaft zu den therapeutischen Zielsetzungen, die beschädigte Selbstwirksamkeitserwartung wieder aufzubauen. Eine Medikamentenbehandlung kann dies allerdings kaum leisten. Denn im Grunde signalisiert sie dem Hilfesuchenden genau das Gegenteil von Selbstwirksamkeit, nämlich dass er angewiesen ist auf eine chemische Substanz, weil die eigenen Fähigkeiten nicht ausreichen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Unter diesem Aspekt ist es fraglich, ob ein Medikament hilfreich ist oder den Betroffenen nicht vielmehr festschreibt auf seine Rolle als Hilfe- und Behandlungsbedürftiger mit der Folge einer Aufrechterhaltung der beschädigten Selbstwirksamkeitserwartung. Aber das wird von der Medikamentenforschung nicht untersucht.

    Fazit

    Es versteht sich von selbst, dass die Erforschung und Weiterentwicklung medikamentöser Behandlungsoptionen in der Suchttherapie grundsätzlich sinnvoll und gewünscht sind. Aus dem Gesagten ergeben sich hierfür als Fazit aber folgende Ansprüche:

    • Die Erwartungen an medikamentöse Behandlungsstrategien sollten realistisch bleiben. Es ist auch in Zukunft nicht damit zu rechnen, dass eine Suchterkrankung medikamentös geheilt werden kann.
    • Die Suchttherapieforschung sollte sich nicht einseitig auf medikamentöse Fragestellungen fokussieren, sondern mit mindestens ebenso großer Anstrengung nicht-medikamentöse (z. B. psychotherapeutische) Fragestellungen untersuchen.
    • Die Forschung sollte auch psychologische Nebenwirkungen von medikamentösen Maßnahmen untersuchen und in die Gesamtbeurteilung von Medikamenteneffekten einbeziehen.
    • Die Forschung sollte vermehrt der Frage nachgehen, welche Patienten von einer bestimmten Medikation profitieren und welche nicht.
    • Bei nur geringen Effekten einer Medikation sollte von neutraler Seite festgelegt werden, wie stark ein nachgewiesener Effekt mindestens sein muss, damit eine Behandlung zu Lasten der Solidargemeinschaft der Versicherten berechtigt ist.
    • Vor einer Einführung grundsätzlich neuer Behandlungsziele und -strategien sollte ein Expertendiskurs über deren Sinnhaftigkeit erfolgen – und nicht umgekehrt!

    Literatur beim Verfasser

    Der Text wurde als Vortrag verfasst, den der Autor im September 2015 bei der Jubiläumsveranstaltung der Suchtberatung der Diakonie in Lübbecke gehalten hat.

    Kontakt:

    Dr. Matthias Brecklinghaus
    m.brecklinghaus@ak-neuss.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Matthias Brecklinghaus, Facharzt für Neurologie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Fachkunde „Suchtmedizinische Grundversorgung“, war von 1999 bis 2016 ärztlicher Leiter der Fachklinik Curt-von-Knobelsdorff-Haus und seit 2009 auch Klinikleiter. Seit April 2016 arbeitet er im „Memory-Zentrum“ der St. Augustinus-Kliniken Neuss.

  • Schematherapie in der Suchtbehandlung?

    Schematherapie in der Suchtbehandlung?

    Dr. Eckhard Roediger
    Dr. Eckhard Roediger

    Das deutsche Suchtbehandlungssystem ist das mutmaßlich weltweit am besten ausgebaute, und die Abstinenzquoten gelten als durchaus befriedigend. Was kann eine Psychotherapiemethode wie die Schematherapie da noch zu einer Verbesserung beitragen? Die Frage ist durchaus berechtigt, denn es gibt mehrere Untersuchungen von Samuel Ball aus den USA, in denen eine von ihm entwickelte Kombination aus suchtspezifischen Behandlungselementen und einem Schematherapieansatz (Ball 1998) zu keinen besseren, und in der letzten Studie (Ball et al. 2011) bei einer allerdings recht schwierigen Klientel sogar zu schlechteren Ergebnissen führte als eine suchtspezifische Behandlung allein. Vielleicht sind diese Ergebnisse ein Grund, warum bisher kaum jemand in der deutschen ‚Suchtbehandlungsszene‘ diesen Ansatz aufgegriffen hat.

    Die bisherigen Forschungsergebnisse sind zwiespältig

    Kurz zusammengefasst haben die Studien von Ball auf das deutsche Suchtbehandlungssystem übertragen aber nur eine begrenzte Aussagekraft, denn es wurde vergleichsweise kurz (sechs bis 14 Sitzungen über max. ein halbes Jahr), mit einer recht belasteten Klientel (z. B. teilweise wohnsitzlose Drogenabhängige oder zwangseingewiesene Patienten mit einem Anteil von ca. 50 Prozent paranoider oder antisozialer Persönlichkeitsstörung) und vor allem mit einem älteren Schemaansatz gearbeitet. Dagegen wurde in den erfolgreichen Studien der Forschergruppe um Arnoud Arntz in den Niederlanden der neuere Modusansatz angewendet. Damit konnten nämlich sowohl bei Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (Giessen-Bloo et al. 2006) als auch mit verschiedenen anderen Persönlichkeitsstörungen (Bamelis et al. 2014) sehr gute Ergebnisse erzielt werden. Allerdings bei einer zweijährigen Behandlung, wenn auch in der letztgenannten Studie mit nur 50 Sitzungen (40 wöchentliche Sitzungen im ersten und monatliche Sitzungen im zweiten Jahr). In den Niederlanden wurde gerade eine Studie mit ca. 150 forensischen Patienten (die fast alle schwere Persönlichkeitsstörungen hatten) abgeschlossen, und die ersten Ergebnisse sind auch hier positiv (Bernstein et al. 2012), allerdings wurde über mehrere Jahre behandelt. Die endgültigen Ergebnisse werden für diesen Sommer erwartet. Bei ausreichend langer Behandlung sind also auch diese schwierigen Patienten zu erreichen.

    Diese Mischung aus unterschiedlich ermutigenden Ergebnissen gilt es genauer zu betrachten, um das Potenzial der Schematherapie für die Suchtbehandlung differenziert einzuschätzen. Dazu sollen nun die wichtigsten Elemente einer Schematherapie kurz umrissen werden.

    Die Bedeutung der Basisemotionen

    Das Modell der Schematherapie orientiert sich stark an dem Modell der Bindungsforschung (Bowlby 1976). Demzufolge haben Kinder Grundbedürfnisse, die im Kern das Bedürfnis nach wohlwollenden Bindungen einerseits und den Aufbau von Selbstbehauptungsfähigkeit und Kontrolle andererseits umfassen. Bei Frustrationen dieser Bedürfnisse in den frühen Beziehungserfahrungen werden als Signal sog. Basisemotionen (Ekman 1993) aktiviert. Das sind zunächst einmal Angst, Trauer, Ekel und Wut. Sie zeigen an, dass dem Kind emotional etwas fehlt. Vielen Lesern werden diese Basisemotionen aus dem Film „Alles steht Kopf“ vertraut sein, bei dessen Entstehung Paul Ekman beratend mitwirkte. Etwas vereinfacht kann man sagen, dass Frustration des Bindungsbedürfnisses primär Angst oder Trauer auslöst und die Bedrohung der Selbstbehauptung Ekel (was sich im Seelischen eher als ‚Genervt-Sein‘ zeigt) bzw. Wut. Eine Bindungsfrustration kann aber sekundär auch Ärger auslösen, was häufig bei Narzissten zu beobachten ist. Hinter der sekundären Wut steckt dann eine primäre Trauer oder Angst, die aber nicht wahrgenommen wird (Greenberg et al. 2003). Dann gibt es noch die Basisemotionen „Überraschung“, die aber emotional neutral ist, und „Freude“, die auftritt, wenn alle Bedürfnisse ausreichend befriedigt sind. In dem oben genannten Film kann man jedoch sehen, dass die Freude gegenüber den anderen Basisemotionen eine eher aktive bzw. organisierende Rolle einnimmt.

    Das Schematherapiemodell

    Starke bzw. häufige Frustrationen der Grundbedürfnisse in der Kindheit und Jugend führen dem Schematherapiemodell zufolge dazu, dass in der neuronalen Matrix des Gehirns  sog. Schemata angelegt werden. Werden diese im Erwachsenenalter in ähnlicher Weise aktiviert (z. B. durch Beschämung, Zurücksetzung und Verlassen-Werden), kommen die Patienten in einen komplexen Aktivierungszustand (einen  sog. Modus), der dem damaligen Erleben entspricht. Sie fühlen dann einerseits emotional wieder wie als Kind (sog. Kindmodus), andererseits werden auch Bewertungen und Lernerfahrungen von damals aktiviert, die als innere Instanz eine heute angemessene Bewertung verzerren (sog. innere Bewerter, oft auch innere Elternmodi genannt – siehe Abbildung 1). Die aktuelle Situation versuchen die Patienten dann durch die Strategien zu bewältigen, die sie in diesen Situationen in der Kindheit erlernt haben (sog. Bewältigungsmodi). Sie betrachten die Welt in Schemaaktivierungssituationen sozusagen aus Kinderaugen und setzen automatisch die alten Lösungen ein. Die innere Beweglichkeit ist deutlich eingeschränkt, und die Patienten haben keinen Zugriff auf die Möglichkeiten bzw. Ressourcen, die sie inzwischen als Erwachsene entwickelt bzw. erworben haben. Dadurch wirkt das Bewältigungs- oder Problemlöseverhalten maladaptiv oder sogar ‚kindisch‘. Sie sitzen mit einem ‚Tunnelblick‘ bzw. ‚Scheuklappen‘ in einer Lebensfalle fest (Young et al. 2005).

    Ziel der Therapie ist, die Schemata und die typischen Auslösesituationen (oft zwischenmenschliche Konfliktsituationen) kennenzulernen, die aktuellen Modusaktivierungen auf die mutmaßlichen biographischen Entstehungssituationen zu beziehen, sich emotional zu distanzieren und eine wohlwollende, neue Perspektive des sog. gesunden Erwachsenenmodus einzunehmen. Aus dieser Haltung heraus soll anstatt der automatischen, maladaptiven Bewältigung eine funktionale Lösung gefunden und umgesetzt werden. Die Therapeuten übernehmen dabei eine Rolle, die der von Eltern oder einem Trainer ähnelt.

    Abb. 1: Modusmodell
    Abb. 1: Modusmodell

    Suchtverhalten im Schematherapiemodell

    In der Regel wird die Einnahme psychotroper Substanzen oder das Ausführen selbstberuhigender bzw. selbststimulierender Aktivitäten als „Modus des distanzierten Selbstberuhigers“ eingeordnet. Das trifft in der Regel auch zu, denn das Verhalten dient dazu, eine unangenehme innere Spannung, die aus einer Grundbedürfnisfrustration entsteht, aktiv oder passiv abzubauen. In einer Schematherapie wird man aber immer gemeinsam die Auslösesituation im Einzelfall analysieren, um die Funktion des Suchtverhaltens vor dem Hintergrund der emotionalen Aktivierungen (Kindmodi) und der aktivierten Bewertungen (Elternmodi) individuell zu verstehen. Dabei sind folgende Grundtypen beispielhaft beobachtbar (siehe Abbildung 1):

    1. Ein Arzt nimmt Aufputschmittel, um einen Nachtdienst durchzustehen und seine Aufgaben zu schaffen. Dann erhält das Suchtmittel einen Aufopferungs– bzw. Unterordnungsmodus aufrecht.
    2. Eine Prostituierte nimmt Heroin, um passiv ihr Elend nicht mehr zu spüren. Das wäre ein sog. distanzierter Selbstschutzmodus.
    3. Ein arbeitsloser junger Mann spielt mehrere Stunden am Tag Online-Spiele, um sich aktiv abzulenken. Dann hätte das Spielen die Funktion eines distanzierten Selbstberuhigers. Auch z. B. Entspannungstrinken, exzessives Einkaufen, Cannabiskonsum oder Selbstverletzungen können in dieser Weise eingesetzt werden.
    4. Menschen setzen Psychostimulanzien ein, um ihr Selbstwertgefühl, ihre Erlebensintensität oder ihre sexuelle Leistungsfähigkeit zu steigern. Das wäre ein Selbststimulierer.
    5. Manche Menschen gehen aus Frustration in einen anklagend-vorwurfsvollen Selbsterhöhungsmodus und rechtfertigen damit ihr Suchtverhalten. Sie fühlen sich als Opfer, und die anderen sind schuld. Dann unterstützen die Suchtmittel einen überkompensierenden Selbsterhöhungsmodus.

    Das übergeordnete Therapieziel

    Die wesentliche Erweiterung des therapeutischen Blickwinkels besteht darin, von den vordergründigen Bewältigungsmodi zu den hintergründigen emotionalen Kindmodi und aktivierten Bewertern (innere Elternmodi) zu kommen. Man kann von einem Schritt von der ‚vorderen‘, symptomatischen Ebene zu einer persönlichkeitsbedingten, motivationalen Ebene sprechen. Diese Einteilung in zwei Ebenen erweitert das klassische Modusmodell von Young. Die störungsspezifischen Interventionen setzen an der Symptom- bzw. unmittelbaren Verhaltensebene an, die schematherapiespezifischen Interventionen haben das Ziel, die Bewerter zu identifizieren und zu ‚entmachten‘ und das emotionale Erleben des Kindmodus mit Selbstmitgefühl zu betrachten und die Grundbedürfnisse so gut wie möglich zu befriedigen. Das ist die Aufgabe des gesunden Erwachsenenmodus, der im Laufe der Therapie mehr und mehr aufgebaut wird. Dieser Modus entspricht der ‚Regiefunktion‘, die die Freude in dem oben genannten Film in den Augen des Autors fälschlicherweise einnimmt. Die Basisemotion Freude ist nämlich das Ergebnis, wenn der Erwachsenenmodus seine Aufgabe gut erfüllt.

    Der Erwachsenenmodus wird in den erlebnisaktivierenden Übungen (s. u.) durch inneren Perspektivwechsel darin unterstützt, die Schemaaktivierungssituation wie von außen mit den Augen einer wohlwollenden anderen Person anzuschauen. Durch die emotionale Distanz sinkt das Erregungsniveau, der mentale Blickwinkel weitet sich, und die Patienten können wieder auf vorhandene Ressourcen zurückgreifen. Aus diesem Abstand heraus ist eine ausbalancierte Grundbedürfnisbefriedigung leichter möglich. Wo das nicht möglich ist, bauen Therapeut und Patient schrittweise diese Ressourcen auf. Abhängig von dem Ausmaß, in dem das notwendig ist, dauern die Therapien dann entsprechend länger.

    Die innere Balance in der Suchtbehandlung

    Der Konsum von Suchtmitteln als Bewältigungsmodus dient generell dazu, die sich im Hintergrund andeutenden Basisemotionen ‚aufzulösen‘. Dadurch wird aber deren Signalcharakter zugedeckt und eine nachhaltige Befriedigung verhindert. Schaut man auf die oben genannten fünf Grundtypen von Suchtverhalten vor dem Hintergrund der aktivierten Kind- und Elternmodi, zeigen diese jeweils eine andere Form des Ungleichgewichts bei der Grundbedürfnisbefriedigung:

    Typ 1 tut für Bindung und Anerkennung (fast) alles und vernachlässigt darüber sein Selbstbehauptungsbedürfnis, was langfristig zu Ärgergefühlen führt, in denen sich diese Frustration zeigt. Er müsste sein ‚Selbstbehauptungs-Bein‘ stärken, um in eine innere Balance zu finden.

    Typ 4 und 5 als Gegenpol leben ihr Selbstbehauptungsbedürfnis übertrieben aus und ignorieren, dass sie auch Bindung brauchen, was sich später in Einsamkeitsgefühlen oder auch Panik zeigen kann. Sie müssten in Kontakt mit ihrer verletzbaren Seite kommen, um motiviert zu sein, sich einzuordnen und zu kooperieren, damit sie nicht nur durch Vorwürfe oder Kontrolltendenzen, sondern auch in vertrauensvollen Beziehungen Sicherheit (und Annahme bzw. Liebe) finden.

    Typ 2 und 3 nehmen eine Mittelstellung ein und zeigen ein mehr passives (Typ 2) bzw. aktives (Typ 3) Vermeidungsverhalten. Sie gehen weder enge Bindungen ein noch zeigen sie erfolgreiches  Selbstbehauptungsverhalten. Sie ziehen sich gewissermaßen zu stark in sich selbst zurück. Dadurch bleiben beide Grundbedürfnisse weitgehend unbefriedigt, was die Suchtdynamik verstärkt. Diese Situation trifft für die meisten Menschen mit Abhängigkeiten zu. Sie müssten in einer Therapie sowohl modellhaft Vertrauen in Bindungen zu anderen Menschen aufbauen als auch in den Therapiebeziehungen Selbstbehauptung üben. Zudem sind für sie funktionale Wege zur inneren Distanzierung und Selbstberuhigung hilfreich, um das Suchtverhalten zu ersetzen.

    Die schematherapeutische Beziehung

    Wie aus den oben genannten Studien hervorgeht, ist die Schematherapie keine Kurzzeittherapie, denn das ‚erste Bein‘, auf dem sie steht, ist eine recht intensive therapeutische Beziehung, die von dem Begründer, Jeffrey Young (Young et al. 2005), „begrenzte Nachbeelterung“ (engl.: limited reparenting) genannt wurde. Der Name deutet an, was die Schematherapie-Beziehung erreichen will, nämlich eine Beziehungsdichte, die für eine begrenzte Zeit und im therapeutisch möglichen Rahmen die Intensität einer Eltern-Kind-Beziehung besitzt, um in der Kindheit ‚eingebrannte‘ negative Beziehungserfahrungen (die Schemata) zu ‚heilen‘. Um diese Beziehungsintensität in der Stunde zu erreichen, aber die Patienten dennoch ausreichend stabil aus der Therapiestunde entlassen zu können, setzt sie sog. erlebnisaktivierende Techniken ein, die überwiegend dem Psychodrama und der Gestalttherapie entlehnt sind. Diese stellen das ‚zweite Bein‘ einer Schematherapie dar.

    Die erlebnisaktivierenden Techniken

    Dabei handelt es sich zum einen um die sog. Imaginationstechniken, zum anderen um sog. Modusdialoge auf mehreren Stühlen. Beide Techniken folgen einem relativ klar vorgezeichneten Ablauf, der natürlich an die einzelnen Patienten und den jeweiligen Verlauf der Übung angepasst wird, der aber den Therapeuten eine klare Orientierung gibt, ‚wohin die Reise geht‘. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu weniger direktiven Ansätzen, die mehr mit einem ‚geleiteten Entdecken‘ arbeiten. Unter http://www.schematherapie-roediger.de/blatt/index_blatt.htm können Abläufe für die wichtigsten Therapiesituationen im Detail angeschaut werden. Zur Anwendung dieser Techniken bei einem alkoholabhängigen Patienten siehe Roediger (2016a). Die Therapeuten nehmen bei den erlebnisaktivierenden Techniken mitunter anfangs eine sehr aktive Rolle ein und haben dadurch eine gute Kontrolle über den Verlauf der Stunde. Sie können entsprechend der Fähigkeiten der Patienten zunächst die Auflösung einer von den Patienten eingebrachten schwierigen Situation modellhaft vormachen, und die Patienten übernehmen schrittweise eine aktivere Rolle. Eben ganz ähnlich, wie es in alltäglichen Lernsituationen auch geschieht. Damit ist die Schematherapie deutlich ‚pädagogischer‘ als die meisten anderen Therapien.

    Die Fallkonzeption

    Die erlebnisaktivierenden Techniken und die Therapiebeziehung werden immer bezogen auf eine zu Beginn der Therapie von Therapeut und Patient gemeinsam erarbeitete Fallkonzeption eingesetzt. Zum besseren Verständnis der eigenen Situation bezogen auf das Schematherapiemodell gibt es mehrere Bücher für Patienten (Jacob et al. 2011; Roediger 2014, 2015). Die Fallkonzeption stellt das ‚dritte Bein‘ einer Schematherapie dar. Dadurch haben Patienten und Therapeuten jederzeit im aktuellen Prozess in der Stunde einen gemeinsamen Bezugspunkt, der Orientierung und einen Überblick gibt. Das ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn wenn die emotionale Aktivierung zu stark zu werden droht oder um die aktuellen Schemaaktivierungen in die Fallkonzeption einzuordnen, können Therapeut und Patient ganz konkret aufstehen und nebeneinander stehend in die Rolle eines ‚Beraterteams‘ wechseln. Folgende Fragen klären dann die Situation: „In welchem Bewältigungsmodus sind Sie jetzt?“, „Was sagen die Stimmen der inneren Bewerter dazu?“, „Welche Gefühle löst das in Ihrem Inneren aus (Kindmodus)?“, „Wie würde ein gesunder Erwachsener in dieser Situation reagieren?“. Das reguliert die Emotionen herunter und stabilisiert die therapeutische Arbeitsbeziehung. Näheres dazu bei Roediger (2016b).

    Auf diesen drei Beinen stehend, verbindet die Schematherapie die Beziehungsintensität und das biographische Verständnis einer psychodynamischen Therapie mit der Transparenz und zielgerichteten Lösungsorientierung von Verhaltenstherapien. Sie liefert einen übergeordneten Rahmen dafür, die Persönlichkeitsmuster der Patienten biographisch zu verstehen und das Suchtverhalten als maladaptiven Bewältigungsversuch einzuordnen, und sie gibt den Patienten einen Kompass für eine ausbalancierte und nachhaltige Grundbedürfnisbefriedigung.

    Anwendung des Schemamodells in der Suchtbehandlung: Schematherapie und „SchemaBeratung“

    Die oben umrissene Schematherapie ist als Langzeittherapie konzipiert und evaluiert, könnte aber an unser Suchtbehandlungssystem in verschiedener Weise angepasst werden:

    1. Die hohe Therapieintensität in einer stationären Suchtbehandlung erlaubt den Einsatz einer speziellen Gruppenschematherapie (Farrell & Shaw 2013), die in einer geschlossenen Gruppe über zwölf Wochen eine familienartige ‚Zweitsozialisation‘ mit tiefgehenden korrigierenden Beziehungserfahrungen ermöglicht. Bei Patientinnen mit Borderline-Störungen führte dies zu sehr starken Therapieeffekten (Farrell et al. 2009). Kombiniert mit Einzelgesprächen ist so ein intensiver Einstieg in eine schematherapeutisch-fundierte Suchtbehandlung auch für Patienten mit komorbiden Persönlichkeitsstörungen möglich. Ein solches Modell befindet sich in der Fachklinik Wilhelmsheim in der Implementierung. Die schematherapeutische Behandlung sollte idealerweise ambulant fortgesetzt werden.
    2. In Kliniken, die eine solche Gruppe (noch) nicht anbieten können, kann im Rahmen der Einzelgespräche das Schematherapiemodell als Erklärungsmodell für die Suchtentstehung und -behandlung dienen, und in einzelnen erlebnisaktivierenden Übungen kann eine Motivation zur ambulanten Weiterbehandlung aufgebaut werden. In vielen Gegenden Deutschlands sind schematherapeutisch qualifizierte niedergelassene Therapeuten verfügbar, um die Therapie in der notwendigen Länge und Intensität weiterzuführen.
    3. Für Patienten ohne komorbide Persönlichkeitsstörung erscheint die beschriebene Beziehungsdichte nicht unbedingt notwendig. Sie könnten im Sinne des oben genannten Balancemodells dennoch von der Schematherapie und den erlebnisaktivierenden Techniken in einem eher ressourcenorientierten Behandlungssetting, z. B. in der ambulanten Rehabilitation, profitieren. Ein entsprechender Ansatz kann als „SchemaBeratung“ auch von Therapeuten ohne ärztliche oder psychologische Approbation erlernt werden (Handrock et al. 2016; Infos unter http://www.eroediger.de/coach/index_coach.htm). Damit wäre eine Kombination aus stationärer Behandlungseinleitung und ambulanter Fortführung im Rahmen einer Rehabilitationsbehandlung möglich.
    4. Menschen, die mit Suchtproblemen erstmalig in Beratungsstellen kommen, bietet die SchemaBeratung einen allgemeinpsychologisch verständlichen Zugang, ihr Suchtproblem zu verstehen und sich vor diesem Hintergrund auf eine Beratung einzulassen. Das Schemamodell ist vollständig mit dem Ansatz der Motivierenden Gesprächsführung (Miller & Rollnick 2009) kompatibel und kann diesen um eine biographische Dimension erweitern.

    Zusammenfassung

    Trotz der wenig ermutigenden Ergebnisse aus den Studien von Samuel Ball erscheint ein differenzierter Einsatz schemabasierter Ansätze in Therapie und Beratung sinnvoll, um die positiven Erfahrungen aus den von Arnoud Arntz geleiteten Studien auch für Patienten im Suchtbehandlungssystem in verschiedenen Settings nutzbar zu machen. Im Gegensatz zu den Studien von Ball sollte dabei auf eine ausreichend lange Gesamtbehandlungszeit und den systematischen Einsatz erlebnisaktivierender Techniken im Rahmen einer modusbasierten Fallkonzeption geachtet werden. Auch der Einsatz des Modells und der Techniken im Rahmen einer ressourcenorientierten Beratungsarbeit erscheint möglich. Entsprechende Ansätze sollten evaluiert werden, um den Ergebnissen Balls hoffentlich bessere Ergebnisse entgegensetzen zu können.

    Kontakt:

    Dr. Eckhard Roediger
    Institut für Schematherapie-Frankfurt
    Alt Niederursel 53
    60439 Frankfurt
    kontakt@eroediger.de
    http://www.eroediger.de/

    Angaben zum Autor:

    Dr. Eckhard Roediger ist in freier Praxis als Ärztlicher Psychotherapeut tätig. Er ist Leiter des Instituts für Schematherapie-Frankfurt (IST-F) und Präsident der internationalen Schematherapiegesellschaft (ISST).

    Literatur:
    • Ball SA (1998). Manualized treatment for substance abusers with personality disorders: Dual focus schema therapy. Addict Behav. 23: 883–891.
    • Ball SA, Maccarelli LM, LaPaglia DM, Ostrowski MJ (2011). Randomized Trial of Dual-Focused versus Single-Focused Individual Therapy for Personality Disorders and Substance Dependence. J Nerv Ment Dis. 2011 May; 199(5): 319–328.
    • Bamelis L, Evers S, Spinhoven P, Arntz A (2014). Results of a multicenter randomized controlled trial of the clinical effectiveness of schema therapy for personality disorders. American Journal of Psychiatry 171: 305–322.
    • Bernstein DP, Nijman H, Karos K, Keulen-de Vos M, de Vogel V, Luker T (2012). Schema therapy for forensic patients with personality disorders: design and preliminary findings of multicenter randomized clinical trial in the Netherlands. International Journal of Forensic Mental Health 11: 312–324.
    • Bowlby J (1976). Trennung. Psychische Schäden als Folgen der Trennung von Mutter und Kind. München: Kindler.
    • Ekman P (1993). Facial expression and emotion. Am Psychol 48: 384–92.
    • Farrell JM, Shaw IA (2009). A schema-focused approach to group psychotherapy for outpatients with borderline personality disorder: a randomized controlled trial. J Behav Ther Exp Psychiatry 40: 317–28.
    • Farrell J, Shaw I (2013). Schematherapie in Gruppen. Therapiemanual für die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Weinheim: Beltz.
    • Giessen-Bloo J, van Dyck R, Spinhoven P, van Tilburg W, Dirksen C, van Asselt T, Kremers I, Nadort M, Arntz A (2006). Outpatient psychotherapy for borderline personality disorder: a randomized trial for schema-focused-therapy versus transference focused psychotherapy. Arch Gen Psychiatry 63: 649–58.
    • Greenberg LS, Rice LN, Elliot R (2003). Emotionale Veränderung fördern. Grundlagen einer prozess- und erlebensorientierten Therapie. Paderborn: Junfermann.
    • Handrock A, Zahn C, Baumann M (2016). Schemaberatung, Schemacoaching, Schemakurzzeittherapie. Weinheim: Beltz.
    • Jacob G, van Genderen H, Seebauer L (2011). Andere Wege gehen. Lebensmuster verstehen und verändern – ein schematherapeutisches Selbsthilfebuch. Weinheim: Beltz.
    • Miller WR, Rollnick S (2009). Motivierende Gesprächsführung (3. Aufl.). Freiburg: Lambertus.
    • Roediger E (2014a). Wer A sagt … muss noch lange nicht B sagen. Lebensfallen und lästige Gewohnheiten hinter sich lassen. München: Kösel.
    • Roediger E (2015a). Raus aus den Lebensfallen. Das Schematherapie-Patientenbuch. Paderborn: Junfermann.
    • Roediger E (2016a). Was kann die Schematherapie zur Suchtbehandlung beitragen? Persönlichkeitsstörungen: Theorie und Therapie 20 (1) (im Druck).
    • Roediger E (2016b). Ressourcenaktivierung durch Perspektivwechsel. Stehen Sie doch einfach einmal auf! Ein Plädoyer für mehr Bewegung(en) in der Verhaltenstherapie. Verhaltenstherapie 26 (2)  (im Druck).
    • Young JE, Klosko JS, Weishaar ME (2005). Schematherapie – ein praxisorientiertes Handbuch. Paderborn: Junfermann.
  • Belegungsumfrage des buss

    Belegungsumfrage des buss

    DruckDie aktuelle Belegungsumfrage des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss) wurde zum Stichtag 30. September 2015 durchgeführt. Mit 127 Rückmeldungen konnte ein Rücklauf von rund 84 Prozent erreicht werden. 54 Prozent der Rückmeldungen stammen aus Alkohol-Einrichtungen und 43 Prozent aus Drogen-Einrichtungen. Drei Prozent der Rückmeldungen konnten keiner Indikation zugeordnet werden.

    Belegung 2015

    Die kumulierte Belegung in Alkohol-Einrichtungen hat sich gegenüber der letzten Befragung im Juli 2014 verschlechtert: Der Anteil an Einrichtungen mit einer Belegung von über 90 Prozent ist leicht rückläufig (zwei Prozent geringer), die Anzahl an Alkohol-Einrichtungen mit einer Belegung zwischen 70 und 90 Prozent ist im Vergleichszeitraum um sechs Prozent gesunken, stattdessen gibt es deutlich mehr Einrichtungen mit einer Belegung von unter 70 Prozent. Von den Drogen-Einrichtungen hat rund ein Drittel eine unveränderte Auslastung von 70 bis 90 Prozent. Der Anteil an Drogen-Einrichtungen mit einer Belegung von über 90 Prozent ist um vier Prozent gesunken, der Anteil an Einrichtungen mit einer Auslastung von unter 70 Prozent ist im gleichen Maße angestiegen (vgl. Tabelle 1).

    Tabelle 1: Belegung 2015 in Alkohol- und Drogeneinrichtungen und in der Gesamtstichprobe
    Tabelle 1: Belegung 2015 in Alkohol- und Drogeneinrichtungen und in der Gesamtstichprobe

    Insgesamt ergibt die Analyse der Gesamtstichprobe eine Verschlechterung der Belegung von 2014 auf 2015. Der Anteil an Einrichtungen, die eine Belegung von unter 70 Prozent aufweisen, hat gegenüber dem Vorjahr um sieben Prozent zugenommen. Hingegen ist bei Einrichtungen mit einer Belegung von über 90 Prozent und Einrichtungen mit einer Belegung zwischen 70 und 90 Prozent ein Rückgang von drei bzw. vier Prozent zu verzeichnen. Die absolute Zahl der Einrichtungen mit einer sehr schlechten Belegung (< 70 Prozent) schwankt im Jahresvergleich: 2015 = 14 / 2014 = 5 / 2013 = 9 / 2012 = 16.

    Belegungsentwicklung im Jahresvergleich

    Betrachtet man die Belegung im Jahresvergleich, so ist der Anteil der Kliniken mit einer ‚guten‘ Belegung von über 90 Prozent seit dem Jahr 2008 insgesamt um zwölf Prozent (von rund 70 Prozent auf 58 Prozent) zurückgegangen. Der Anteil der Kliniken mit über 95 Prozent Auslastung liegt nur bei 39 Prozent und ist in den letzten sechs Jahren ebenfalls um 13 Prozent gesunken. Diese Auslastung wird i.d.R. für die Kalkulation der Vergütungssätze zugrunde gelegt. In Abbildung 1 ist der Verlauf der Belegungsanteile über 90 Prozent bzw. über 95 Prozent dargestellt, und zu den einzelnen Jahren wird auch die Zahl der Rückläufer bei der verbandsinternen Belegungsumfrage angegeben.

    Abbildung 1: Belegung > 90% und > 95 % im Jahresverlauf 2005 bis 2015
    Abbildung 1: Belegung > 90% und > 95 % im Jahresverlauf 2005 bis 2015

    Die Frage zur Belegungsentwicklung im Vergleich zum Vorjahr wurde von rund einem Drittel aller Einrichtungen als positiv beantwortet. Fast die Hälfte aller Einrichtungen berichtet von einer schlechteren Auslastung, und rund 20 Prozent der Einrichtungen berichten von gleichbleibender Auslastung gegenüber dem Vorjahr. Hier ist zu beachten, dass diese individuellen Aussagen zur Veränderung der Belegung von den o.g. Zahlen zur Auslastung im Jahresvergleich abweichen können, weil auch negative Veränderungen innerhalb einer Kategorie (bspw. > 90 Prozent) eine Verschlechterung der Belegung bedeuten. Im Hinblick auf die Ursachen für eine schlechtere Belegung waren Mehrfachnennungen möglich, Tabelle 2 zeigt die entsprechenden Anteile.

     Tabelle 2: Ursachen für eine schlechtere Belegung
    Tabelle 2: Ursachen für eine schlechtere Belegung

    Ähnlich wie im Vorjahr sehen über die Hälfte der Alkohol-Einrichtungen die Gründe für eine schlechtere Belegung darin, dass weniger Anträge gestellt wurden. Diese Beschreibung deckt sich mit Berichten vieler Träger der Deutschen Rentenversicherung über teilweise erhebliche Rückgänge bei den Anträgen für die Sucht-Rehabilitation. In Drogen-Einrichtungen stehen vor allem andere Ursachen im Vordergrund. Allerdings gilt es zu beachten, dass ein direkter Vergleich mit den Vorjahreswerten nicht unmittelbar möglich ist. Seit 2014 wurde in der Belegungsumfrage die Therapieverkürzung nicht mehr abgefragt, weil es keine entsprechenden Maßnahmen der Leistungsträger gab. Somit verschiebt sich das Verhältnis der Antworten. In Abbildung 2 sind die Anteile der kategorisierten Ursachen für eine schlechtere Belegung im Mehrjahresvergleich für die Gesamtstichprobe dargestellt.

    Abbildung 2: Ursachen für eine schlechtere Belegung im Mehrjahresvergleich für die Gesamtstichprobe
    Abbildung 2: Ursachen für eine schlechtere Belegung im Mehrjahresvergleich für die Gesamtstichprobe

    Neben den zwei Hauptursachen (weniger Bewilligungen, weniger Anträge) konnten in der Umfrage weitere Ursachen angegeben werden. Der mit Abstand am häufigsten genannte Aspekt war die abnehmende Verbindlichkeit seitens der Patienten (Nichtantritt, Abbruch) mit 23 Nennungen, fast doppelt so viele wie im letzten Jahr.

    Jahresergebnis 2014

    Eine wichtige Erkenntnis ergibt sich auch aus der Frage nach dem finanziellen Ergebnis. Da die Angaben zur kumulierten Belegung und zur Veränderung der Belegung sehr individuell interpretiert werden können (für manche Einrichtungen sind 90 Prozent schon eine wirtschaftlich gute Belegung, für manche reichen erst 98 Prozent zur Kostendeckung), wurde nach dem realisierten Betriebsergebnis für das Jahr 2014 gefragt (vgl. Abbildung 3).

    Abbildung 3: Jahresergebnis 2014
    Abbildung 3: Jahresergebnis 2014

    Mehr als die Hälfte aller Einrichtungen kann also nach den Ergebnissen der Belegungsumfrage nicht kostendeckend arbeiten. Als Ursache der Unterfinanzierung geben rund 47 Prozent der Gesamtstichprobe eine schlechte Belegung an. 39 Prozent der Einrichtungen sehen die Ursache in den zu geringen Vergütungsätzen. Weitere 14 Prozent gaben andere Ursachen an. Wie im vorhergehenden Jahr werden hier insbesondere gestiegene Personal- und Investitionskosten zur Erfüllung der Strukturanforderungen angegeben (acht Nennungen). In Abbildung 4 ist die Finanzierungssituation der Einrichtungen im Zeitverlauf seit 2011 dargestellt.

    Abbildung 4: Finanzierungssituation im Jahresvergleich
    Abbildung 4: Finanzierungssituation im Jahresvergleich

    Zusammenfassung

    Die wirtschaftliche Situation der Mitgliedseinrichtungen im Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe hat sich seit 2014 weiter verschlechtert. Neben den finanziellen Belastungen durch die Umsetzung der strukturellen und personellen Anforderungen der Leistungsträger sowie den überwiegend nicht kostendeckenden Vergütungssätzen ist als weiteres Problem der in vielen Regionen Deutschlands zu verzeichnende Rückgang von Anträgen für die Suchtrehabilitation hinzugekommen. Viele Kliniken können nur noch am Markt bestehen, weil sie Quersubventionierungen des Trägers erhalten. Andere müssen dauerhaft eine Belegung über 100 Prozent realisieren, um eine Kostendeckung zu erreichen, oder Kürzungen bei den Personalausgaben im Rahmen der Tarifbindung (Streichung von Jahressonderzahlungen) vornehmen.

    Einzelne Träger mussten inzwischen feststellen, dass unter den aktuellen Bedingungen die meisten Suchtreha-Einrichtungen nicht mehr wirtschaftlich geführt werden können. Weitergehende Analysen der Belegungszahlen zeigen, dass auch voll ausgelastete Einrichtungen kein positives Betriebsergebnis erzielen können. Insbesondere in Bayern und Nordrhein-Westfalen wurden daher schon erste Einrichtungen geschlossen, für weitere Kliniken sind ähnliche Entscheidungen zu befürchten. Dabei kann nicht von einer ‚Marktbereinigung‘ aufgrund mangelnder Nachfrage die Rede sein, denn zum einen waren diese Einrichtungen teilweise gut belegt und zum anderen sind stationäre Einrichtungen wichtige Pfeiler im Suchthilfesystem. Mit ihrer Schließung werden in den betroffenen Regionen auch andere Angebote wegbrechen. Die Aufmerksamkeit für Suchtprobleme und die Erreichbarkeit von Suchtkranken, die generell problematisch ist, werden dadurch weiter abnehmen. Die Leistungsträger der medizinischen Rehabilitation sind daher aufgefordert, ihre Strukturverantwortung wahrzunehmen und die vorhandenen finanziellen Spielräume dazu zu nutzen, den Einrichtungen einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb zu ermöglichen. Erfreulicherweise haben einige Träger der Deutschen Rentenversicherung den Ernst der Lage erkannt und einen entsprechenden Dialog mit den Einrichtungen bzw. den Verbänden begonnen.

    Kontakt:

    Iris Otto
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss)
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    Tel. 0561/77 93 51
    iris.otto@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Angaben zu den Autoren:

    Iris Otto ist Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. in Kassel und zuständig für Projekte und Auswertungen.
    Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.