Kategorie: Fachbeiträge

  • Der Science Circle

    Der Science Circle

    Dr. Jens Hinrichs
    Dr. Jens Hinrichs
    Dr. Anne-Kathrin Exner
    Dr. Anne-Kathrin Exner
    Prof. Dr. Anke Menzel-Begemann. Foto: Wilfried Gerharz
    Prof. Dr. Anke Menzel-Begemann. Foto: Wilfried Gerharz

    Der Science Circle wurde 2012 unter dem damaligen Namen „Zukunftsworkshop“ durch Prof. Dr. Anke Menzel-Begemann und Dr. Anne-Kathrin Exner ins Leben gerufen, um die Vernetzung und den Austausch zwischen Forschenden aus verschiedenen Disziplinen und Praktikern verschiedener Professionen aus der Rehabilitation zu fördern. Mittlerweile hat sich die Gründungsidee bestätigt: Die Qualität der Rehabilitationsforschung wird mithilfe des Science Circles durch gezielte Projektentwicklungen und die Nutzung gemeinsamer Ressourcen und Potenziale verbessert (Menzel-Begemann & Exner 2013). Seit 2014 ist die Innovationswerkstatt offiziell eine Arbeitsgruppe des Nordrhein-Westfälischen Forschungsverbundes Rehabilitationswissenschaften.

    Was führte zu der Idee?

    sc_logoDas Feld der Rehabilitationswissenschaften ist im Vergleich zu anderen Wissenschaftsdisziplinen überschaubar. Viele forschende Kollegen (im Sinne einer besseren Lesbarkeit des Textes wird durchgängig die männliche Form verwendet, wobei jeweils beide Geschlechter impliziert sind) kennen und schätzen sich mitunter schon über Jahre, jedoch findet Forschung häufig relativ unverbunden im Rahmen von Projekten und an unterschiedlichen Standorten statt. Zu welchen Themen geforscht wird oder welche Kompetenzen und Forschungsschwerpunkte die Kollegen mitbringen, bleibt vage, und ein Austausch findet meist nur auf Fachtagungen statt. Besonders unter den Kollegen, die auch regional im Einzugsbereich der Deutschen Rentenversicherungen (DRV) Westfalen, Rheinland und Knappschaft-Bahn-See zusammenarbeiten, wurde dieser Umstand oft als unbefriedigend erlebt.

    Neben der Vernetzung der Forschenden untereinander war von Beginn an auch wichtig, dass Praktiker aus der medizinischen und beruflichen Rehabilitation und Vertreter der Rentenversicherung von einer gemeinsamen ‚Ideenwerkstatt‘ angesprochen werden. Der Grund hierfür ist einfach: Über die Jahre haben sich zum Teil gute Kontakte zu Praktikern entwickelt, die Interesse haben, Themen mit den Forschenden zusammen anzustoßen. Und gerade die Impulse derjenigen, die direkt mit Rehabilitanden im Versorgungssystem arbeiten, sind besonders wichtig, da sie neue Forschungsbedarfe anhand eigener Erfahrungen aufzeigen. Zusammen mit Forschenden und Vertretern der Leistungsträger können diese Beobachtungen im Science Circle diskutiert und konkretisiert und gemeinsam in Projekte umgesetzt werden.

    Welchen Nutzen hat der Science Circle für die Beteiligten?

    Vernetzung

    Das persönliche Kennenlernen der Teilnehmer, die aus verschiedenen Berufsgruppen kommen und in unterschiedlichen Funktionen an gemeinsamen Forschungsideen arbeiten, ist sicherlich einer der wichtigsten Zugewinne im Rahmen des Science Circles. Die dabei entstehenden neuen Kontakte schaffen Vernetzung zwischen Universitäten, Fachhochschulen, Instituten, Rehabilitationseinrichtungen (Leistungserbringern) und Leistungsträgern. Diese Vernetzung bildet die Grundlage einer guten und vertrauensvollen Zusammenarbeit innerhalb der Projekte, die auch außerhalb des Science Circles geschätzt und genutzt wird.

    Gestaltungsmöglichkeiten

    Die Zusammenarbeit zwischen Forschenden und Praktikern bietet einen Gestaltungsraum für bedarfs- und bedürfnisgerechte Forschung, d. h., es können Themen aufgezeigt werden, die unmittelbar an der Versorgungsrealität der Kliniken, ihren Mitarbeitern und nicht zuletzt den Patienten liegen. Es eröffnen sich so Möglichkeiten, Forschungsbedarfe aus Sicht der Leistungserbringer zu formulieren, und diese bilden eine ideale Ergänzung zu den Trendvorgaben der DRV und den Themenschwerpunkten beteiligter Forschungseinrichtungen. Jeder Teilnehmer, ob aus Forschung oder Praxis, kann die Federführung innerhalb einer Projektentwicklung übernehmen. Außerdem gilt, dass unkonventionelle, vielleicht auch noch unklare Ideen in die Gruppe eingebracht und aus verschiedenen Perspektiven diskutiert werden können. Diese Gedankenfreiheit innerhalb eines relativ engen Rahmens, den die vorgegebenen Rehabilitationsstrukturen mit sich bringen, macht den besonderen Reiz des Science Circles aus.

    Transfer

    Die Beteiligung an Forschung beinhaltet – besonders aus Sicht der Praktiker – einen zusätzlichen Aufwand an Zeit und Personal. Jedoch können erfolgreich durchgeführte Projekte und die resultierenden Ergebnisse einen wertvollen Beitrag für die Praxis leisten. Mitarbeiter aus teilnehmenden Kliniken erhalten je nach Art des Projektes Einblicke in neue Verfahren und Methoden in der Rehabilitation und Rehabilitationsforschung. Die Erfahrungen und Erkenntnisgewinne können nützlich bei der Gestaltung und Verbesserung eigener Klinikprozesse (z.  B. im Sinne von Qualitätssicherung) sein oder auch Antworten auf Grundsatzfragen in der Rehabilitation geben (z. B. bei Fragen der Zugangs- und Therapiesteuerung).

    Beispiel eines gelungenen Transfers ist der Fragebogen „Diagnostik von Arbeitsmotivation“ (DIAMO; Fiedler et al. 2005). Er wurde in einer gemeinsamen Studie der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Münster, der Deutscher Orden Ordenswerke, Suchthilfe, Weyarn und der Klinik am Park, Medizinisches Zentrum für Gesundheit Bad Lippspringe auf die Anwendbarkeit in der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankten untersucht. Die Studienfrage wurde von den Praktikern aufgeworfen, die nach Alternativen in der Eingangsdiagnostik der medizinisch-beruflich orientierten Rehabilitation (MBOR) von Suchterkrankten suchten. Die Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften e. V. NRW folgte der Forschungsfrage und förderte das Projekt nach positiver Begutachtung (GfR 2014). Bereits während der Durchführung des Projekts konnten die Mitarbeiter der teilnehmenden Kliniken und Einrichtungen praktische Erfahrungen mit dem Instrument sammeln und diese bewerten. Durch die Aufnahme des DIAMO-Fragebogens in die BORA-Empfehlungen fand ein erfolgreicher Transfer in die Praxis der Suchtrehabilitation statt. Die geplante Publikation der Forschungsergebnisse wird den wissenschaftlichen Transfer abschließen.

    Abbildung 1: Bereiche, die durch den DIAMO-Fragebogen abgefragt werden
    Abbildung 1: Bereiche, die durch den DIAMO-Fragebogen abgefragt werden

    Wie sind die Treffen organisiert?

    Die Treffen des Science Circles finden dreimal im Jahr an unterschiedlichen Standorten in Nordrhein-Westfalen statt. Sie starten in der Regel donnerstagvormittags und enden samstagmittags. Diese Zeit wird intensiv dafür genutzt, in moderierten Gruppen und im Plenum an rehabilitationsbezogenen Themen und Projekten zu arbeiten. Es werden hierzu regelmäßig Experten als Gastredner eingeladen, die zu ausgewählten Themen Impulsreferate halten und mit den Teilnehmern diskutieren.

    Wer wirkt am Science Circle mit?

    Der Science Circle ist ein offenes Angebot, an dem alle Interessierten, die mit Reha befasst sind, nach rechtzeitiger Anmeldung mitwirken können. Die Veranstaltungen des Science Circles haben bereits zu einer guten Resonanz geführt, die Teilnehmer setzen sich mittlerweile aus Rehabilitationsforschern der Universitäten Bielefeld, Hannover und Chemnitz, des Universitätsklinikums Münster, der Fachhochschulen Münster und Bielefeld, der Deutschen Sporthochschule Köln und des Instituts für Rehabilitationsforschung Norderney sowie aus Mitarbeitern verschiedener medizinischer und beruflicher Rehabilitationseinrichtungen und den Forschungsreferenten der Deutschen Rentenversicherungen Westfalen und Rheinland zusammen.

    Arbeitsgruppen und Projekte aus dem Science Circle

    Eine Arbeitsgruppe bearbeitet übergeordnete Themenfelder, die in der Rehabilitation bedeutsam sind, aber nicht direkt in ein Projekt münden sollen. Folgende Arbeitsgruppen haben sich bisher gebildet:

    • der „Inner Circle“ als ein Gremium, das die regelmäßig Teilnehmenden umfasst und die fortlaufende Diskussion und Bearbeitung von speziellen Themen ermöglicht, z. B. die Gestaltung eines gelungenen wechselseitigen Transfers zwischen Forschung und Praxis in der Rehabilitation,
    • die Arbeitsgruppe „Relevante Effekte und Signifikanzen in der Rehabilitationsforschung“, die sich mit der Frage befasst, wann Forschungsergebnisse eine für die Praxis klinische Relevanz haben (Leitung: Dr. Odile Sauzet),
    • die Arbeitsgruppe „Transferförderung – Veranstaltung“, die sich mit der Gestaltung und Organisation eines Veranstaltungsformates zur Förderung von Transfer befasst, in dem ein aktiver Austausch zwischen Forschenden, Trägern und Praktikern stattfinden kann (Leitung: Jochen Heuer, Philipp Pressmann).

    Soll die Bearbeitung von Themen über eine geordnete Antragstellung in ein drittmittelgefördertes Projekt münden, werden Projektarbeitsgruppen gebildet, an denen sich jeder Interessierte beteiligen kann. Folgende geförderte Projekte sind aus dem Science Circle hervorgegangenen:

    • Verfügbarkeit und Verwendung von Arbeitsplatzbeschreibungen in der Rehabilitation (OpAA) (Projektleitung: Jochen Heuer; Förderer: Verein zur Förderung der Rehabilitationsforschung e. V. Norderney)
    • Bedeutung von Umweltfaktoren in der medizinischen Rehabilitation zur Förderung von Teilhabe (UfaR) (Projektleitung: Prof. Dr. Anke Menzel-Begemann, Prof. Dr. Thorsten Meyer; Förderer: Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften NRW e. V.)
    • Resilienzförderung im Reha-Prozess: Entwicklung einer verhaltens- und verhältnisorientierten Intervention (InResPro) (Projektleitung: Dr. Jens Hinrichs, Prof. Dr. Thomas Altenhöner; Förderer: Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften NRW e. V.)

    Folgende Vorhaben sind in Vorbereitung auf eine Antragstellung zur Drittmittelförderung:

    • Verhaltens- und verhältnisorientierte Nachsorge (Projektleitung: Dr. Andrea Schaller)
    • Qualitative Analyse von Faktoren des Erfolgs einer medizinisch-beruflich orientierten Rehabilitation (QAFE-MBOR) (Projektleitung: Prof. Dr. Anke Menzel-Begemann, Prof. Dr. Thorsten Meyer)
    • Spezifizierung von MBOR-Bedarfen (Projektleitung: Dipl.-Psych. Johanna Frieler)
    • Wissenschaftsnetzwerk „Internationale Rehabilitationsforschung“ (Projektleitung: Jun.-Prof. Dr. Patrick Brzoska)

    Wie können Interessierte am Science Circle mitwirken?

    Für die Mitwirkung am Science Circle wird Freude am Austausch und an der Zusammenarbeit mit anderen Forschungsinteressierten zur (Weiter-)Entwicklung von Themen und Projekten vorausgesetzt. Eine personelle Einbindung in Forschungsprojekte, die bei der Rentenversicherung zur Förderung vorgelegt werden, ist nicht zwingend, aber möglich. Wer Interesse zur Mitwirkung im Science Circle hat, kann Kontakt zu den Autoren dieses Beitrags aufnehmen. Ebenso besteht die Möglichkeit, den Newsletter zu abonnieren, der über die Aktivitäten des Science Circles und Veranstaltungstermine informiert.

    Weitere Informationen über den Science Circle finden Sie unter: http://www.sciencecircle.de/

    Kontakt und Angaben zu den Autor/-innen:

    Dr. rer. medic. Jens Hinrichs, Dipl.-Psych.
    Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie
    Universitätsklinikum Münster
    Domagkstr. 22
    48149 Münster
    jens.hinrichs@ukmuenster.de
    http://psychosomatik.klinikum.uni-muenster.de
    http://zazo-i.de

    Dr. Jens Hinrichs (*1972) schloss 2005 das Studium der Psychologie mit dem Schwerpunkt Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Osnabrück ab. Seit 2007 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum Münster. Er promovierte zum Thema berufsspezifischer Belastungen von Polizeibeamten in NRW. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Ressourcen- und Motivationsdiagnostik und in der Entwicklung von Interventionen zur Förderung von beruflicher Motivation und Resilienz.

    Dr. Anne-Kathrin Exner, M.Sc. PH
    Fakultät für Gesundheitswissenschaften
    AG3: Epidemiologie und International Public Health
    Universität Bielefeld
    Postfach 100131
    33501 Bielefeld
    aexner@uni-bielefeld.de
    http://www.uni-bielefeld.de/gesundhw/ag3/projekte/05a_reha.html

    Dr. Anne-Kathrin Exner (*1982) schloss 2005 den Bachelorstudiengang Ökotrophologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen und 2008 das Masterstudium Public Health an der Universität Bielefeld ab. Seit 2009 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Methodenberatung des NRW-Forschungsverbunds Rehabilitationswissenschaften an der Universität Bielefeld. Sie promovierte zum Thema Ernährungs- und Sportverhalten bei Frauen mit Brustkrebs nach Abschluss einer medizinischen Rehabilitation. Interessen in den Rehabilitationswissenschaften sind der Forschungs-Praxis-Transfer und regionale Vernetzung.

    Prof. Dr. rer. nat. Anke Menzel-Begemann, Dipl.-Psych.
    Fachhochschule Münster
    Fachbereich Pflege und Gesundheit
    Lehr- und Forschungsgebiet Rehabilitationswissenschaften
    Leonardo-Campus 8
    48149 Münster
    menzel-begemann@fh-muenster.de

    Anke Menzel-Begemann (*1972) studierte Psychologie an der Universität Bielefeld mit dem Schwerpunkt Neuropsychologie, arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der psychologischen (2002–2006) und gesundheitswissenschaftlichen (2010–2014) Fakultät sowie in der neurologischen Abteilung einer Rehabilitationsklinik. In ihrer Promotion entwickelte sie Diagnoseverfahren für Planungs- und Organisationsstörungen nach Hirnschädigungen. Seit 2015 ist sie Professorin für Rehabilitationswissenschaften an der Fachhochschule Münster. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Förderung von Teilhabe und Selbstmanagement, was u. a. in Konzepte zur medizinisch-beruflichen Orientierung und zur Vorbereitung auf die häusliche Pflege mündete.

    Literatur:
    • GfR e.V. NRW (2014) Förderprojekt: Diagnostik von Arbeitsmotivation: Eine indikationsspezifische Validierung des DIAMO-Fragebogens im Bereich der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankten (FKZ: 13005)
    • Fiedler R.G., Ranft A., Schubmann C., Heuft G., Greitemann B. (2005) Diagnostik von Arbeitsmotivation in der Rehabilitation – Vorstellung und Befunde zur faktoriellen Struktur neuer Konzepte. Psychother Psych Med, 55: 476-482. (Online-Demo: http://diamo.zazo-i.de/)
    • Menzel-Begemann A., Exner A.-K. (2013) Rehabilitationsforschung in Nordrhein-Westfalen – Ergebnisse aus dem Zukunftsworkshop des NRW-Forschungsverbundes Rehabilitations-wissenschaften am 28.06.2012 in Bielefeld und 19.10.2012 in Münster (Westfalen). Rehabilitation, 52: 424-427
  • Verbandsauswertung des buss

    Verbandsauswertung des buss

    DruckDer Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. in Kassel (buss) hat seine jährliche Auswertung von Basis- und Katamnesedaten aus den Mitgliedseinrichtungen vorgelegt. Die Basisdaten werden jedes Jahr als Gesamtauswertung und getrennt für die Einrichtungsarten stationäre Reha Alkohol, stationäre Reha Drogen, Adaption und Tageskliniken in kommentierten Tabellenbänden dargestellt. Die Katamnesedaten werden getrennt für Alkohol- und Drogeneinrichtungen ausgewertet. Im Folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse der Basisdaten 2014 und der Katamnesedaten 2013 zusammengefasst. Die vollständigen Tabellenbände stehen allen Interessierten auf der Website des buss unter www.suchthilfe.de > Informationen > Statistik zur Verfügung.

    Basisdaten 2014

    Die Auswertung der Basisdaten des Entlassungsjahrgangs 2014 umfasst insgesamt 18.623 Fälle aus 105 Einrichtungen. Das durchschnittliche Alter liegt in Einrichtungen, die Alkohol- und Medikamentenabhängige stationär behandeln, und in Tageskliniken mit 44,6 bzw. 44,5 Jahren am höchsten. Nach wie vor bilden Drogenabhängige die jüngste Gruppe mit durchschnittlich 29 Jahren. Das durchschnittliche Alter der Rehabilitanden in Adaptionseinrichtungen liegt bei 37,7 Jahren.

    Der Anteil der Frauen liegt in Suchthilfeeinrichtungen bei rund einem Viertel. So sind in Adaptionseinrichtungen und Drogenfachkliniken weniger als 18 Prozent der Behandelten Frauen. In Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige liegt der Frauenanteil bei 27,4 Prozent, in Tageskliniken sind mit 29,1 Prozent die meisten Frauen vertreten. Tabelle 1 fasst wesentliche Items aus den Basisdaten 2014 zusammen.

    Tabelle 1: Basisdaten 2014
    Tabelle 1: Basisdaten 2014

    Berufliche und soziale Integration

    Große Unterschiede bestehen je nach Einrichtungsart in Bezug auf die berufliche und soziale Integration der Rehabilitanden. Rehabilitanden in Tageskliniken sind am besten integriert, sie weisen mit 33,4 Prozent die geringste Arbeitslosenquote auf, und circa ein Drittel der Gruppe ist alleinstehend. In Einrichtungen, die Alkohol- und Medikamentenabhängige stationär behandeln, beträgt der Anteil an Alleinstehenden 46,2 Prozent, die Arbeitslosenquote liegt bei 41,5 Prozent. In Drogenfachkliniken beträgt der Anteil an Alleinstehenden 62,1 Prozent, die Arbeitslosenquote 55,7 Prozent. Rehabilitanden in Adaptionseinrichtungen weisen die problematischsten Daten auf: 71,2 Prozent sind alleinstehend und 79,2 Prozent sind arbeitslos.

    Behandlungsdauer

    Die planmäßige Behandlungsdauer ergibt sich aus den jeweiligen Bewilligungen und Standardtherapiedauern der Leistungsträger sowie den individuellen Therapieverläufen. Die Behandlungsdauer bei planmäßiger Beendigung liegt in Alkoholfachkliniken bei durchschnittlich 91,6 Tagen (= 13 Wochen). In Adaptionseinrichtungen werden im Schnitt 95,1 Tage (13 bis 14 Wochen) erreicht. Die planmäßige Behandlung dauert in Drogenfachkliniken am längsten mit 137,8 Tagen (= 20 Wochen). Die Behandlungsdauer in Tageskliniken ist mit 85,3 Tagen (= 12 Wochen) am kürzesten. Zudem ist zu beachten, dass in der ganztägig-ambulanten Rehabilitation üblicherweise an Sonn- und Feiertagen keine Therapieleistungen erbracht werden. Die angegebene Dauer bezieht sich auf Kalendertage (Zeitraum zwischen Aufnahme und Entlassung) und nicht auf Behandlungstage.

    Haltequote

    Die Haltequote für den Entlassungsjahrgang 2014 liegt in Einrichtungen, die Alkohol- und Medikamentenabhängige stationär behandeln, sowie in Tageskliniken bei über 84 Prozent. Die Haltequote in Adaptionseinrichtungen beträgt 75,7 Prozent. In Drogenfachkliniken beendet etwas mehr als die Hälfte der Rehabilitanden die Behandlung planmäßig. In Tabelle 2 und Abbildung 1 sind die Vergleichsdaten der letzten Jahre dargestellt.

    Tabelle 2: Haltequote 2010 bis 2014
    Tabelle 2: Haltequote 2010 bis 2014
    Abbildung 1: Haltequote 2010 bis 2014
    Abbildung 1: Haltequote 2010 bis 2014

    Katamnesedaten 2013

    Die Katamnesedaten für den Indikationsbereich Drogen stammen aus elf Rehakliniken, es wurden nur Einrichtungen mit mindestens zehn Prozent Rückläuferquote berücksichtigt. Von insgesamt 1.251 entlassenen Rehabilitanden haben 224 Rehabilitanden geantwortet. Die mittlere Rückläuferquote liegt bei 17,9 Prozent.

    Von insgesamt 10.461 planmäßig entlassenen Rehabilitanden aus 47 Alkoholeinrichtungen (mindestens 25 Prozent Rückläuferquote) konnten die Daten von 4.059 Antwortern für die Katamnese berücksichtigt werden. Die mittlere Rückläuferquote beträgt 40,4 Prozent. Die Rückläuferquote ist in beiden Indikationsbereichen über die letzten fünf Jahre relativ konstant (s. Abbildung 2).

    Abbildung 2: Katamnesedaten - Rückläuferquote 2009 bis 2013
    Abbildung 2: Katamnesedaten – Rückläuferquote 2009 bis 2013

    Vergleich der Katamnese-Antworter mit den Basisdaten 2013

    In Tabelle 3 werden für den Entlassungsjahrgang 2013 die Daten der Katamnese-Antworter mit den Basisdaten verglichen. Für das Jahr 2013 wurden die Basisdaten von 12.630 entlassenen Rehabilitanden aus Einrichtungen für Alkohol- und Medikamentenabhängige ausgewertet, davon haben 4.059 bei der Katamnese geantwortet. An der Katamnese in Drogeneinrichtungen nahmen 224 ehemalige Rehabilitanden teil, die Gesamtstichprobe, für die Basisdaten für 2013 vorliegen, umfasst 2.828 Fälle.

    Tabelle 3: Vergleich Katamnese-Antworter und Basisdaten 2013
    Tabelle 3: Vergleich Katamnese-Antworter und Basisdaten 2013

    Das durchschnittliche Alter bei Betreuungsbeginn betrug in Alkohol- und Medikamenteneinrichtungen 44,5 Jahre, die Antworter sind mit durchschnittlich 47,9 Jahren etwas älter. In Drogeneinrichtungen ist das Durchschnittsalter mit knapp 30 Jahren zu Behandlungsbeginn und bei den Antwortern nahezu identisch.

    Antworter, die in Kliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige behandelt wurden, waren durchschnittlich 88,9 Tage in stationärer Behandlung. In der Gesamtstichprobe liegt die Behandlungsdauer mit 90,1 Tagen etwas höher. Die durchschnittliche Behandlungsdauer in Drogeneinrichtungen liegt bei Antwortern bei 138,6 Tagen und in der Gesamtstichprobe bei 136,1 Tagen.

    Von allen Rehabilitanden in Alkohol- und Medikamenteneinrichtungen wurden 84,0 Prozent planmäßig entlassen. Bei den Antwortern lag der Anteil an planmäßig Entlassenen bei 93,7 Prozent und damit deutlich höher. In Drogeneinrichtungen liegt die Haltequote bei den Katamnese-Antwortern mit 79,5 Prozent ebenfalls deutlich über der Haltequote in der Gesamtstichprobe (55,7 Prozent).

    Unter den ehemaligen Rehabilitanden aus Alkohol- und Medikamenteneinrichtungen antworten eher diejenigen, die einer Arbeit nachgehen und in einer Beziehung leben: Der Anteil Alleinstehender in der Gesamtstichprobe beträgt 50,2 Prozent, bei den Antwortern 46,7 Prozent. Von den Antwortern sind 36,2 Prozent arbeitslos, in der Gesamtstichprobe liegt der Anteil bei 43,0 Prozent. Die Gesamtstichprobe aus Drogeneinrichtungen weist einen Anteil von 58 Prozent Alleinstehenden und 58,2 Prozent Arbeitslosen aus. Interessanterweise ist der Anteil der Alleinstehenden unter den Antwortern höher (65,6 Prozent). Der Anteil der Arbeitslosen ist bei den Katamnese-Antwortern aus Drogeneinrichtungen ebenso wie bei den Antwortern aus Alkohol- und Medikamenteneinrichtungen niedriger (48,7 Prozent).

    Katamnestische Erfolgsquoten

    Die katamnestische Erfolgsquote errechnet sich aus den Patienten/-innen, die in der Katamnese ‚abstinent‘ und ‚abstinent nach Rückfall‘ angeben. Die Berechnungsform DGSS 1 umfasst alle planmäßig entlassenen Antworter (positive Sichtweise = Überschätzung der tatsächlichen Quote), die Berechnungsform DGSS 4 umfasst alle – auch die nicht planmäßig – entlassenen Rehabilitanden und wertet die Nicht-Antworter als ‚definiert rückfällig‘ (negative Sichtweise = Unterschätzung der tatsächlichen Quote). Tabelle 4 und Abbildung 3 zeigen einen Überblick über DGSS 1 und DGSS 4 im Jahresverlauf von 2009 bis 2013.

    Tabelle 4: DGSS 1 und DGSS 4 im Jahresverlauf von 2009 bis 2013
    Tabelle 4: DGSS 1 und DGSS 4 im Jahresverlauf von 2009 bis 2013
    Abbildung 3: DGSS 1 und DGSS 4 im Jahresverlauf von 2009 bis 2013
    Abbildung 3: DGSS 1 und DGSS 4 im Jahresverlauf von 2009 bis 2013

    Im Indikationsbereich Alkohol sind beide katamnestischen Erfolgsquoten über die letzten fünf Jahre relativ stabil: DGSS 1 = etwas über 80 Prozent, DGSS 4 = rund 40 Prozent. Die Quote DGSS 4 wird wegen der besseren Vergleichbarkeit zu anderen Studien mit einem Mindestrücklauf von 45 Prozent berechnet, d. h., es werden nur Einrichtungen bei der Auswertung berücksichtigt, bei denen die Rückläuferquote mindestens 45 Prozent beträgt.

    Die Werte im Indikationsbereich Drogen schwanken im selben Zeitraum: DGSS 1 = zwischen 66 Prozent und 53 Prozent, DGSS 4 = zwischen neun Prozent und 18 Prozent. Dieser Effekt kann im Wesentlichen durch die Veränderungen der Stichprobe und die unterschiedliche Zahl der teilnehmenden Einrichtungen erklärt werden (2012 = 15 Kliniken / 1.591 Fälle / 274 Antworter). Außerdem wird die Quote DGSS 4 ab 2013 wegen der besseren Vergleichbarkeit zu anderen Studien mit einem Mindestrücklauf von 25 Prozent berechnet, was den deutlichen Anstieg erklärt.

    Kontakt:

    Iris Otto
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V.
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    Tel. 0561/77 93 51
    iris.otto@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Angaben zu den Autoren:

    Iris Otto ist Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. in Kassel und zuständig für Projekte und Auswertungen.
    Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.

  • Die Mitarbeitenden mitnehmen

    Die Mitarbeitenden mitnehmen

    Hildegard Winkler
    Hildegard Winkler

    Viele Krankenhäuser haben sich in den letzten Jahren nach KTQ (Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen, www.ktq.de) zertifizieren lassen, so auch alle Kliniken in Trägerschaft des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), ausgenommen die Einrichtungen der Suchtrehabilitation, die nach dem DIN-ISO-basierten deQus-Modell zertifiziert sind. Nun hat das LWL-Klinikum Gütersloh für den Krankenhausbereich – als Pilot im LWL – zur DIN EN ISO 9001:2008 gewechselt. Das LWL-Klinikum umfasst die Kliniken für Allgemeine Psychiatrie, Gerontopsychiatrie, Psychosomatische Medizin, Suchtmedizin sowie die Kliniken für Innere Medizin und Neurologie. Insgesamt handelt es sich um 449 Betten/Tagesklinik-Plätze, drei Ambulanzen und ca. 500 Stellen.

    Ziel der Zertifizierung nach DIN ISO war es, Qualitätsmanagement (QM) als effektives Managementinstrument auszubauen, die Mitarbeitenden einzubeziehen und dabei ressourcensparend vorzugehen.

    Warum DIN ISO?

    Ein QM-System zu implementieren, macht Arbeit, unabhängig davon, an welchen Vorgaben eine Einrichtung sich orientiert. Aufbau- und Ablauforganisation müssen geklärt sein, regelmäßige Überprüfungen und Verbesserungen im Sinne des PDCA-Zyklus nach Deming (Plan – Do – Check – Act) sind nachzuweisen. Im LWL-Klinikum Gütersloh haben wir die DIN ISO gewählt, weil sich deren Anforderungen konkret auf diejenigen Prozesse richten, die tatsächlich in der Einrichtung ablaufen. Kernaufgabe ist es, in einem QM-Handbuch die wesentlichen Arbeitsabläufe und die sicherheitsrelevanten Prozesse darzustellen. Geregelt werden die Prozesse mit dem Ziel, ein reibungsloses Ineinandergreifen und Funktionieren zu gewährleisten, möglichen Risiken vorzubeugen und Schnittstellen zu optimieren.

    Wir haben bei der Beschreibung der Prozesse die Sichtweisen der mit den Abläufen vertrauten Mitarbeitenden einbezogen, um die Regelungen wirklich an der Arbeitsrealität auszurichten. Ein solches Vorgehen erleichtert es zugleich, die Mitarbeitenden für das QM zu gewinnen, denn i. d. R. empfinden es Mitarbeitende als Wertschätzung, wenn sie gefragt werden, was ihre Arbeit ausmacht. In jährlichen internen Audits wird dann geprüft, ob die realen Arbeitsabläufe den Regelungen des Handbuchs entsprechen und ob die Regelungen geeignet sind, die Qualitätsziele der Einrichtung zu erfüllen. Gleichzeitig dienen die Audits dem Austausch zwischen der/dem Qualitätsmanagementbeauftragten (QMB) und den Mitarbeitenden, Hinweise auf Verbesserungsbedarf gelangen dem Qualitätsmanagement zur Kenntnis, Maßnahmen werden mit den Mitarbeitenden vereinbart. Unmittelbare Praxisrelevanz erhält das QM-Handbuch aber erst dann so richtig, wenn Mitarbeitende sich damit aktiv auseinandersetzen und z. B. selbst darauf hinweisen, dass ein Arbeitsablauf zu Unsicherheiten, Konflikten oder Doppelarbeiten führt und deshalb geregelt werden sollte. Dann stehen wirklich diejenigen Prozesse im Fokus, bei denen Handlungsbedarf besteht, und die Kernfragen der QM-Arbeit sind „Was brauchen wir?“, „Was nützt unserer Einrichtung?“.

    Zentral werden diese Fragen jährlich im Management-Review der obersten Führungsebene gestellt. Im Rahmen dieses strategischen Management-Instruments wird das gesamte QM-System überprüft und bewertet. Die Ergebnisse der Audits fließen ebenso mit ein wie die des Beschwerde-, Fehler- und Risikomanagements, und auf der Grundlage der Bewertung werden Qualitätsziele festgelegt und zukünftige Entwicklungsschwerpunkte definiert.

    Zertifizierung als ‚Sahnehäubchen‘?

    Die Mitarbeitenden in die Erarbeitung von Prozessbeschreibungen einbeziehen, sich in internen Audits regelmäßig über die Vorgaben austauschen, gemeinsam Verbesserungen erarbeiten – das sind wichtige Bausteine eines lebendigen Qualitätsmanagements. Die Zertifizierung selbst sollte dann einen weiteren Motivationsschub geben und keinesfalls als übermäßige Belastung erlebt werden.

    Bei einer DIN-ISO-Zertifizierung werden alle Bereiche einer Einrichtung einbezogen. Uns besuchten zwei Auditoren vier Tage lang. Im Anschluss an ein dreistündiges Audit des Direktoriums und der Personalleitung auditierten sie nahezu alle Stationen sowie die Tageskliniken und Ambulanzen aller Klinken. Insgesamt waren 109 Mitarbeitende beteiligt. Sie alle haben eine direkte Rückmeldung über ihre Arbeit bekommen, da die Auditoren zum Abschluss eines jeden Audits die Stärken und die Verbesserungshinweise detailliert benannten.

    Im Mittelpunkt des Zertifizierungsaudits stand die Patientin/der Patient im Krankenhaus, d. h. die beiden Auditoren haben versucht, den ‚Weg des Patienten‘ in seiner individuellen Behandlung nachzuvollziehen. Darüber hinaus stand das Sicherheits- und Risikomanagement im besonderen Fokus. Die Bewertungsperspektive der Auditoren war einerseits auf das Risikomanagement der Prozesse ausgerichtet, mit dem Ziel, uns Hinweise auf mögliche ‚blinde Flecken‘ zu geben und auf Gefahren hinzuweisen: ein nicht abschließbarer Medikamentenschrank, Risiken bei der Medikamentenvergabe, fehlende CE-Zeichen auf den älteren Geräten der Physiotherapie – durchaus wertvolle Hinweise, die unsere eigenen Ziele unterstützen, Risiken zu verringern und Qualität weiterzuentwickeln. Gleichzeitig fokussierten die Auditoren immer wieder die Ergebnisqualität und gaben Denkanstöße, wie die Qualität der Behandlung besser gemessen werden könnte. Dies ist bekanntermaßen gerade auch im Hinblick auf das neue Vergütungssystem PEPP ein sehr wichtiger Aspekt. Immer wieder ging die Reflexion dahin, wie Ergebnisse noch stärker in das Qualitätsmanagement einfließen können.

    Im Audit der Leitung stand das Management von Qualität im Mittelpunkt der Betrachtung. Das Direktorium erhielt Hinweise darauf, wie Qualitätsmanagement noch konsistenter als Führungsinstrument zur strategischen Planung genutzt werden kann.

    Wie erlebten die Mitarbeitenden das Audit?

    Nach Abschluss des Zertifizierungsprozesses haben wir die beteiligten Mitarbeitenden gebeten, das Audit anhand eines Fragebogens zu bewerten. 65 Bögen wurden zurückgegeben, die Rücklaufquote beträgt 60 Prozent. An der Befragung beteiligten sich alle Berufsgruppen, Antworten aus Pflege, Medizin und Therapie sind in nahezu gleicher Anzahl vertreten.

    Etwa drei Viertel der Antwortenden bewerteten den Auditprozess als „sehr gut“ oder „gut“ und hatten den Eindruck, dass die Auditoren das Arbeitsfeld gut verstanden haben.

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    Weitere Fragen an die Mitarbeitenden waren:

    Was hat Ihnen in dem Audit besonders gut gefallen?

    Mitglieder der obersten Führungsebenen bewerteten positiv, dass nahezu alle Organisationseinheiten begangen wurden, dass das Audit einerseits keinen Prüfungscharakter hatte, andererseits aber Schwachstellen aufdeckte, und dass ein besonderer Fokus auf messbare Ergebnisqualität gelegt wurde.

    Die Mitarbeitenden hoben die wertschätzende Haltung der Auditoren und ein authentisches Interesse für das jeweilige Arbeitsfeld durchweg als positiv hervor. Sie berichteten, dass ein direkter Praxisbezug hergestellt wurde, die Fragen am ‚Weg des Patienten‘ orientiert waren, Arbeitsabläufe kritisch hinterfragt wurden und verbesserungsbedürftige Prozesse zielgerichtet aufgedeckt wurden. Es sei ein offener und kommunikativer Austausch mit den Auditoren entstanden. Die Auditoren hätten positive Rückmeldungen gegeben, die Verbesserungsvorschläge seien konstruktiv und gut annehmbar gewesen.

    Was hat Ihnen nicht gefallen?

    Einzelne kritische Stimmen waren auch zu vernehmen: Der Auditor habe das Leistungsspektrum der Abteilung nicht genau gekannt. Der Ablauf des Audits sei etwas unübersichtlich gewesen. Drei ärztlich-therapeutischen Mitarbeitenden genügten die Psychiatriekenntnisse des Auditors nicht. Einem Antwortenden hat es nicht gefallen, dass sein Bereich keine Verbesserungsvorschläge erhalten hat.

    Probleme mit dem Zeitmanagement wurden öfter genannt: Einigen war die Zeit zu knapp, anderen hat das Audit zu lange gedauert, in einem Fall wurde der geplante Zeitrahmen erheblich überzogen, in anderen Fällen begann das Audit mit Verspätung und es entstanden Wartezeiten für die Mitarbeitenden.

    Haben Sie Verbesserungshinweise bekommen?

    Mehr als drei Viertel der Antwortenden waren mit den Verbesserungshinweisen zufrieden. Ein Viertel bewertete die Verbesserungshinweise als „wenig nützlich“. Als Beispiele wurden angeführt: eine hohe Anspruchshaltung in Bezug auf die Visitenführung, Kritik an Fluchtwegen, obwohl diese feuerbehördlich abgenommen worden sind, die Fokussierung auf den Medikamentenschrank.

    audit3.jpg

    Welche Anregungen haben Sie bekommen?

    Die Mitglieder der obersten Führungsebenen hoben die stärkere Nutzung des Qualitätsmanagements als Führungsinstrument, die weitergehende Adaptierung von Expertenstandards und Hinweise zum Risikomanagement als wertvolle Anstöße hervor. In den Bewertungen der Teammitglieder lassen sich folgende Schwerpunkte erkennen:

    • Schnittstellenmanagement: Verbesserung der Zusammenarbeit mit anderen Bereichen und Berufsgruppen, Abstimmung von Abläufen, Überprüfung von Kommunikationsstrukturen
    • Dokumentation: rechtssichere Dokumentation in den Ambulanzen, stärkere Strukturierung der Dokumentation im Krankenhausinformationssystem (KIS)
    • Risikomanagement: Hygiene und Desinfektion, Medikamentenvergabe, Aufklärungspflicht, Sicherheit auf der Station
    • Nachweis von Ergebnisqualität: Evaluierung der Arbeit, Erarbeitung von Soll- und Ist- Kriterien, Erarbeitung von Leistungskennziffern

    Was halten Sie von den jährlichen Überwachungsaudits?

    In den beiden Jahren bis zur Rezertifizierung kommen die Auditoren ebenfalls ins Haus, um Überwachungsaudits durchzuführen. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass begonnene Entwicklungen kontinuierlich weitergeführt und die vereinbarten Maßnahmen verbindlich umgesetzt werden. Qualitätsmanagement kann so nachhaltig alle Organisationsbereiche einer Einrichtung durchdringen und die Entwicklung eines Qualitätsbewusstseins bei den Mitarbeitenden fördern.

    Mehr als drei Viertel der Antwortenden finden es „sehr gut“ und „gut“, wenn die Auditoren jährlich ins Haus kommen. Wer die Verbesserungshinweise als nützlich bewertet, hofft, dass die jährliche Auditierung die Kontinuität der Qualitätsentwicklung unterstützt.

    audit4.jpg

    Es wurde der Wunsch geäußert, Qualitätsmanagement möge tatsächlich gelebt werden und ein authentischer Prozess mit einer fruchtbaren, berufsgruppenübergreifenden Diskussion möge entstehen.

    Wir empfehlen: DIN ISO!

    Unsere KTQ-Zertifizierung vor drei Jahren war erfolgreich – wir erreichten eine hohe Punktzahl und bekamen viel Lob von den Visitoren (so heißen die Auditoren bei der KTQ). Aber zusätzlich zum ganz normalen Aufbau eines QM-Systems hatten wir rund 250 Arbeitstage für das Verfassen von Berichten aufgewandt und etwa 800 Dokumente (sechs übervolle Aktenordner) kopiert und zur Einsichtnahme für die Visitoren zusammengestellt (und nach der Zertifizierung wieder entsorgt). Unsere Mitarbeitenden hatten wir mit Probevisitationen nervös gemacht, sodass sie versuchten, Prozessbeschreibungen und Berichte auswendig zu lernen. Visitiert wurden letztlich aber nur drei (!) Stationen (von 19). Nach der Zertifizierung war dann die Luft raus, und mit QM wollte keiner mehr etwas zu tun haben.

    Unsere Befragungsergebnisse zeigen nun deutlich, dass die Mitarbeitenden an der Weiterentwicklung von Qualität in ihrem Arbeitsfeld interessiert sind und die Instrumente des Qualitätsmanagements akzeptieren, wenn sie den Nutzen für ihre Arbeit erkennen. Geregelte Abläufe und nachvollziehbare Risikostandards geben Mitarbeitenden Sicherheit. Die Begehung nahezu aller Organisationseinheiten bei der Zertifizierung, die direkten und wertschätzenden Rückmeldungen und Anregungen der Auditoren und im Ergebnis eine überschaubare Anzahl relevanter Verbesserungshinweise motivieren zur Bearbeitung und lassen Qualitätsmanagement in der gesamten Einrichtung erlebbar und lebendig werden.

    Die Bernhard-Salzmann-Klinik (Suchtrehabilitation) ist seit 2003 nach dem deQus-Verfahren zertifiziert, daher waren wir von den Stärken einer DIN-ISO-Zertifizierung überzeugt. Überrascht und erfreut hat uns jedoch die positive Einschätzung der Mitarbeitenden auch im Krankenhausbereich.

    Kontakt:

    Hildegard Winkler
    LWL-Klinikum Gütersloh
    Buxelstraße 50
    33334 Gütersloh
    Hildegard.Winkler@lwl.org

    Angaben zur Autorin:

    Hildegard Winkler ist Qualitätsmanagerin im LWL-Klinikum Gütersloh und in der Bernhard-Salzmann-Klinik.

  • Mensch und Milligramm

    Mensch und Milligramm

    Flyer Drogentagung 150518.pubSubstitution ist in Deutschland die mit Abstand häufigste Behandlungsform bei Opiatabhängigkeit: Etwa 77.000 Personen mit der Hauptdiagnose Opiatabhängigkeit werden derzeit substituiert. Demgegenüber befinden sich ca. 5.000 Personen in einer Reha-Maßnahme, und nur weniger als fünf Prozent wechseln aus der Substitution in eine abstinenzorientierte Therapie. Ein Übergang zwischen den Behandlungsformen ist also selten, und die ‚Unverbundenheit‘ der beiden ‚Systeme‘ erschwert eine optimale, passgenaue Behandlung.

    Deshalb haben sich die fünf Suchtverbände zum Ziel gesetzt, die Brückenbildung zwischen Substitution und Entwöhnungsbehandlung zu fördern und Opiatabhängigen den Zugang zur Entwöhnungsbehandlung zu erleichtern. Dazu veranstalteten sie am 18. Mai 2015 in Berlin den Workshop „Wie geht es weiter … mit der Behandlung Opiatabhängiger?“, in dessen Rahmen die Ausgangslage analysiert und darüber diskutiert wurde, wie eine integrierte und systemübergreifende Behandlungsplanung erreicht werden kann. Eingeladen waren Experten/-innen und Fachleute aus Forschung und Praxis und Vertreter/-innen der Leistungsträger, die einladenden Verbände waren der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss), die Caritas Suchthilfe e. V. (CaSu), der Gesamtverband für Suchthilfe e. V. (GVS), der Fachverband Drogen- und Suchthilfe e. V. (fdr) und der Fachverband Sucht e. V. (FVS).

    LogoLeiste

    In der folgenden Darstellung werden die Beiträge und Aussagen der Referenten/-innen und Teilnehmer/-innen wiedergegeben. Diese repräsentieren die teilweise gegensätzlichen Positionen unterschiedlicher Expertengruppen und Institutionen und entsprechen nicht immer der Sichtweise der Veranstalter. Es war den Suchtverbänden aber ein wichtiges Anliegen, mit der Veranstaltung ein offenes Forum zu schaffen, bei dem jede relevante Meinung zur Behandlung Opiatabhängiger dargestellt und diskutiert werden konnte.

    Einführung und Grußwort: Auf dem Weg zur optimalen Behandlungsform

    Dr. Theo Wessel, Geschäftsführer des GVS, begrüßte die Teilnehmer und betonte das Ziel, jedem Abhängigen die optimale Behandlungsform anbieten zu können. Bei dem Workshop gehe es darum, einen offenen Dialog über Substitution und Entwöhnungsbehandlung zu führen und sich insbesondere über die substitutionsgestützte Entwöhnungsbehandlung zu verständigen. Es folgte ein Grußwort von Dr. Ingo Ilja Michels, Leiter der Geschäftsstelle der Bundesdrogenbeauftragten. Michels berichtete über die Vorzüge und Verdienste der Substitutionsbehandlung: Sie sichert Leben, verhindert die Übertragung von Krankheiten, die Betroffenen agieren nicht mehr in der Illegalität, eine soziale Integration ist möglich, und die Abhängigen, für die Abstinenz kein Ziel ist, können durch die Substitution dennoch erreicht werden. Michels sprach sich für eine enge Zusammenarbeit zwischen Substitutionsärzten und Reha-Einrichtungen aus. Die Abstinenzorientierung in der Substitution solle unterstützt werden, gleichzeitig sollten mehr Reha-Einrichtungen substituierte Patienten aufnehmen. Zum Abschluss stellte er die geplante Änderung der Betäubungsmittelgesetz-Verordnung dar, die vorsieht, den substituierenden Ärzten mehr Handlungs- und Therapiefreiheit zu geben und den Druck von Seiten des Strafrechts zu mindern.

    Epidemiologie: Weniger neue Klienten und eine alternde Kohorte

    Microsoft PowerPoint - Pfeiffer-GerschelAuf die Grußworte folgte der erste Themenblock mit einführenden Übersichtsreferaten. Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Geschäftsführer der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD), präsentierte aktuelle Zahlen zum Thema „Epidemiologie der Opiat- und Drogenabhängigkeit in Deutschland“. Die Prävalenz riskanten Opioidkonsums ist schwer zu schätzen. Laut DBDD-Jahresbericht 2014 führen Berechnungen auf der Basis von Zahlen aus Behandlung, Polizeikontakten und Drogentoten zu einer Schätzung der Zahl riskanter Konsumenten von Heroin in Deutschland auf 57.000 bis 182.000. Dies entspricht einer Rate von 1,05 bis 3,4 Personen pro 1.000 Einwohner im Alter von 15 bis 64 Jahren. Legt man der Schätzung nur Behandlungsdaten zugrunde, ist die Prävalenz seit 2005 ansteigend, nach Polizeikontakten und Todesfällen geschätzt ist die Prävalenz sinkend. Die europäischen Daten zeigen Anzeichen eines rückläufigen Heroingebrauchs: weniger neue Klienten, eine alternde Kohorte und ein Rückgang des iv-Konsums.

    Laut der Deutschen Suchthilfestatistik 2014 weisen 15 Prozent der Zugänge in den Beratungsstellen und den Fach-/Institutsambulanzen die Hauptdiagnose Opioidkonsum auf. Damit liegt eine Stabilisierung bzw. ein leichter Rückgang vor. Stark angestiegen sind dagegen Neuzugänge wegen Stimulanziengebrauchs. In der Rehabilitation (stationär und teilstationär) und der Adaption trifft auf sieben Prozent der Patienten die Hauptdiagnose Opioidabhängigkeit zu, was ebenfalls einer Stabilisierung entspricht. Rund ein Drittel der Klienten mit der Hauptdiagnose Opioide im ambulanten Bereich weist zusätzlich die Einzeldiagnose Cannabinoide auf, rund ein Viertel Alkohol und rund ein Fünftel Kokain (DSHS 2013).

    Das Durchschnittsalter der Opioidkonsumenten hat sich in den letzten Jahren deutlich nach hinten verschoben. Ein Großteil ist älter als 40 Jahre, das Durchschnittsalter bei den Todesfällen liegt bei 38 Jahren. Weniger junge Menschen unter 25 kommen nach. Aufgrund ihrer soziodemografischen Voraussetzungen sind Opioidkonsumenten sehr schwer in die Arbeitswelt zu integrieren. Über 60 Prozent (im ambulanten Bereich) sind arbeitslos (DSHS 2013). Die Straftaten im Zusammenhang mit Heroin (Besitz und Handel) sind zurückgegangen (BMI 2014). Heroin wird zunehmend ersetzt durch Stimulanzien, ‚neue‘ Drogen, andere Opiate und v. a. Medikamente (Fentanyl, Lyrica). Hepatitis C ist nach wie vor eine große Gefahr für i.v.-Dogenkonsumenten, ca. 80 Prozent sind infiziert.

    Microsoft PowerPoint - Präsentation1Anschließend präsentierte Pfeiffer-Gerschel Daten zur Substitution. Diese ist zunehmend verfügbar, gut 50 Prozent der problematischen Opiatkonsumenten werden EU-weit erreicht. Das sind ca. 700.000 Personen (Europäischer Drogenbericht 2015). Fast 70 Prozent werden mit Methadon substituiert. Seit 2010 bewegt sich die Zahl der Substituierten in Deutschland zwischen 75.000 und 77.000 Personen, dabei bestehen zwischen den einzelnen Bundesländern sehr große Unterschiede. Die meisten Substituierten verzeichnet Bremen mit 264 Patienten pro 100.000 Einwohner. Baden-Württemberg liegt mit 96 Patienten pro 100.000 Einwohner im Mittelfeld. Versuche, das Substitutionsmittel abzusetzen, werden in den meisten Fällen nicht unternommen.

    Microsoft PowerPoint - Präsentation1Die psychische Morbidität ist unter Substitution weiterhin stark ausgeprägt. Zu den häufigsten komorbiden Störungen gehören Depression, Angststörungen, Schlafstörungen, Persönlichkeitsstörungen sowie Stress- und psychotische Störungen. Über Substitutionsbehandlung in Haft sind so gut wie keine Daten bekannt.

    Microsoft PowerPoint - Präsentation1Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Prävalenz der Opioidhängigkeit seit den 80er Jahren nicht verändert hat. Die Inzidenz geht zurück, aber die Prävalenz bleibt aufgrund besserer Überlebenschancen durch Harm-Reduction-Maßnahmen und Substitution konstant. Als offene Fragen stellte Pfeiffer-Gerschel abschließend in den Raum: Wie kann die Qualität der Drogentherapie optimiert werden, z. B. durch definierte Behandlungspfade? Wie verbessert man den Übergang zwischen Substitution und Entwöhnung? Und wie kann die Versorgungssituation reguliert werden, wenn die substituierenden Ärzte in Rente gehen?

    Versorgungssystem: Wie gut sind die aktuellen Angebote für Opioidabhängige?

    02_Leune_rIm zweiten Übersichtsreferat behandelte Jost Leune, Geschäftsführer des Fachverbands Drogen- und Suchthilfe e. V., das Thema „Das Versorgungssystem für Opioidabhängige: Wer behandelt wen mit welcher Zielsetzung?“. Er bezog sich dabei auf die Strukturanalyse „Suchthilfe und Versorgungssituation in Deutschland“, die die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) im Februar 2014 veröffentlicht und auf ihrer Homepage bereitgestellt hat. Als Grundlage seines Vortrags diente ihm das Kapitel „4.4. Matrix 2 – Versorgungsrealität“. Diese Matrix kombiniert sämtliche Interventionen in der Suchthilfe (von Prävention über Rehabilitation bis Selbsthilfe) mit exemplarischen Zielgruppen und bewertet, wie gut im jeweiligen Bereich für die jeweilige Zielgruppe die Versorgungsrealität ist.

    Die einzelnen Daten und Fakten, die der jeweiligen Bewertung zugrunde liegen, können hier nicht für jede Intervention wiedergegeben werden. Dazu sei auf die PDF-Version der Strukturanalyse verwiesen. Diese steht auf der Homepage der DHS zur Verfügung (www.dhs.de > DHS Stellungsnahmen).

    Für die Zielgruppe „Erwachsene mit Drogenabhängigkeit“ ergibt sich aus der Strukturanalyse, dass eine gute Funktion und eine gute Integration in das Hilfesystem für folgende Angebote gegeben sind: Stationäre psychiatrische Behandlung, Niedrigschwellige Hilfen und Sucht- und Drogenberatung (inkl. Schuldnerberatung). Ebenfalls erfolgreich sind Entgiftung und Qualifizierter Entzug, Stationäre medizinische Rehabilitation, Adaption und (Reha-)Nachsorge, aber auch Ambulant betreutes Wohnen, Stationäres sozialtherapeutisches Wohnen, Übergangswohnen und (soweit vorhanden) Tagesstrukturierende Maßnahmen – obwohl es insbesondere in der medizinischen Rehabilitation für Substituierte noch einige Probleme gibt. Außen vor in der Bewertung bleibt der Bereich der Justiz, weil die Suchthilfe keinen Einfluss darauf hat.

    Eine eingeschränkte Funktion im Hilfesystem und Schnittstellenprobleme zeigen – vor allem bei substituierten Opioidabhängigen – die Bereiche Stationäre somatische Akutbehandlung (im Allgemeinkrankenhaus), Sozialpsychiatrische Betreuung, Ambulante psychiatrische Behandlung (in psychiatrischen Institutsambulanzen) sowie – aufgrund mangelnder finanzieller Förderung – Psychosoziale Begleitung Substituierter.

    Hilfen zur Erziehung, Angebote für die Teilhabe an Arbeit sowie Ambulante Substitution, Ambulante medizinische Rehabilitation und Ganztägig ambulante Rehabilitation können aufgrund der problematischen Situation in der psychosozialen Betreuung nicht im notwendigen Umfang angeboten werden. Bezogen auf die Suchtberatung im Betrieb sind kaum Aussagen möglich. Selbsthilfe ist zwar bei JES (Junkies, Ex-User, Substituierte) organisiert, aber gemessen an der hohen Zahl Substituierter nur in geringem Umfang.

    Es bestehen Defizite durch fehlende Versorgung in den Bereichen Ambulante psychotherapeutische Behandlung, Berufliche Rehabilitation, Beschäftigung für behinderte Menschen (in Werkstatt) sowie Hilfen für Pflegebedürftige. Ambulante somatische Akutbehandlung inkl. Frühintervention, Qualifizierung sowie Arbeitsförderung bzw. Maßnahmen von Arbeitsagentur/Jobcenter sind zwar möglich, aber so abgegrenzt vom Hilfesystem, dass fast kein Übergang dorthin möglich ist.

    Leune schließt seinen Vortrag mit dem Hinweis, dass das Versorgungssystem für Opioidabhängige noch besser werden würde, wenn das gegliederte System der sozialen Sicherung durchlässiger wäre, wenn Einrichtungsgrenzen überwunden werden und eine gemeinsame (Fach-)Sprache gefunden werden könnte und das System auskömmlich finanziert wäre.

    Zielgruppen: Substitution ist nicht gleich Substitution

    03_Heinz_rIm Vortrag von Werner Heinz, Leiter der AG Substitution der Caritas Suchthilfe (CaSu), ging es um die Frage „Mit welchen Zielgruppen und Methoden ist Suchtbehandlung bei Opiatabhängigen möglich?“. Als Ausgangslage stellte er fest, dass Substitution in der heutigen Behandlung von Opiatabhängigkeit der Normalfall sei und dass die Behandlung nur auf der Grundlage der Substitutionstherapie weiterentwickelt werden könne. Zwei Hürden müssten überwunden werden, die er in seiner Präsentation so formuliert: „Substitution verhindert medizinische Rehabilitation – Medizinische Rehabilitation sperrt Substituierte aus“. Wenn hier ein Brückenschlag gelingt, dann können die Defizite der aktuellen Substitutionspraxis aufgefangen und mehr Drogenabhängige zur Chance (nicht dem Zwang) der Abstinenzorientierung hingeführt werden. Als Defizit der Substitution nannte Heinz, dass keine Suchttherapie stattfinde. Die psychosoziale Betreuung, die außerdem nur wenig Substituierte erreiche, sei Suchtsozialarbeit und motivationale Suchtberatung, mit der jedoch das hohe Ausmaß an psychischen Störungen und psychosozialen Entwicklungsdefiziten nicht bewältigt werden könne – eine Feststellung, die die Ergebnisse der PREMOS-Studie bestätigen.

    Wie können die ‚Systeme‘ Substitution und Reha also sinnvoll zusammengebracht werden? Heinz näherte sich dieser Frage systematisch, indem er die Substituierten zunächst in verschiedene Zielgruppen einteilte und dann jeder Gruppe passende Maßnahmen aus dem Hilfesystem zuordnete. Er unterschied folgende Zielgruppen:

    1. Opiatabhängige mit Abstinenzorientierung: Diese Personen haben positive Reha-Erfahrungen gemacht und verfügen über gute soziale Ressourcen. Sie haben bereits Abstinenzfähigkeit erlebt und wollen diese wieder herstellen.
    2. Substitution als Ausstiegsmedikation: Diese Personen sind motiviert und abstinenzorientiert mit vorausgehender Abstinenzerfahrung, haben aber zu wenig Zuversicht und Selbstvertrauen, dauerhaft abstinent bleiben zu können, und lehnen deshalb eine (erneute) Reha ab. Sie verfügen über gute soziale Ressourcen und oft über einen Arbeitsplatz, beides soll durch die Substitution gesichert werden.
    3. Maintenance-Substitution bei fortschreitender sozialer Integration: Diese Personen erleben sich als ‚clean‘. Durch Take-home-Verschreibungen verfügen Sie über die Autonomie, ihr Leben relativ frei zu gestalten. Gute soziale Ressourcen und oftmals ein Arbeits- oder Ausbildungsplatz sind vorhanden. Diese Zielgruppe hat keinen Anlass abzudosieren. Das Therapieziel heißt hier Arbeit und Teilhabe.
    4. Auf Dauer gestellte Ambivalenz: Diese Personen ändern häufig das Substitutionsmittel und die Dosierung, sie leiden häufig unter psychischen Beeinträchtigungen und Belastungen, es fehlen psychische Bewältigungskompetenzen. Als Betreuungsziele sind hier zu nennen: Beikonsumfreiheit und psychosoziale Stabilisierung unter Substitution, Therapiemotivation und -Vermittlung.
    5. Stagnierende Langzeitsubstitution bei verfestigter sozialer Randständigkeit: Diese Personen leben im ‚Substitutionsmilieu‘ als sozialem Umfeld. Sie haben ein reduziertes Aktivitätsniveau, sind langzeitarbeitslos mit geringer Tagesstruktur, überwiegend mit Methadon substituiert und haben einen sedierenden Cannabis- oder Alkoholkonsum.
    6. Ersatzdrogenvergabe bei chronifizierter Polytoxikomanie: Diese schwerstabhängigen Klienten weisen eine desolate Lebenssituation mit hoher Szenebindung auf. Sie konsumieren eine Reihe von Drogen und Alkohol. Das Substitutionsmittel dient als ‚Grundversorgung‘ und wird häufig in hoher Dosierung eingenommen mit spürbarer Sedierung. Dies ist die Zielgruppe für eine Diamorphinvergabe.

    Was kann die Behandlungslandschaft nun für die genannten Zielgruppen tun? Für die Zielgruppen 1, 2 und 3 kommt eine substitutionsgestützte ambulante Rehabilitation in Frage, denn Psychotherapie unter Substitution ist möglich. Auch eine ambulante Reha ohne Substitution kann geeignet sein. Für die Zielgruppen 4 und 5 sind eine dauerhaft gestützte ambulante Rehabilitation, eine Intervalltherapie oder eine Tagesreha geeignet oder auch eine stationäre Rehabilitation. Für die Zielgruppe 6 kommen Angebote wie stationäre Krisenintervention, Übergangseinrichtungen, substitutionsgestützte stationäre Rehabilitation oder soziotherapeutische Einrichtungen in Frage.

    Eine weitere Zielgruppe sind Substituierte mit schweren psychiatrischen Komorbiditäten. Für diese Gruppe sind besondere Behandlungsangebote nötig. Als positives Beispiel führte Heinz das Asklepios-Krankenhaus Göttingen an, das eine eigene Abteilung für Substituierte mit Traumata oder Borderline-Störung hat und sehr erfolgreich eine ambulant-stationäre Intervalltherapie durchführt.

    Heinz appellierte an die Leistungsträger, an das Rehabilitationssystem und die Drogenpolitik, dass sie sich im Hinblick auf Finanzierungswillen und Behandlungskonzepte mehr öffnen für die Integration von Substitution und Rehabilitation und das Therapieziel Arbeit statt Abstinenz. Er regte die Durchführung von Bundesmodellprojekten an, um die Behandlung der Opiatabhängigkeit zu verbessern.

    Suchtberatung und PSB: Case Management und Kooperationsarbeit

    04_Zehr_rIm Anschluss an die Übersichtsreferate folgten mehrere Vorträge, die sich mit den Behandlungsmodulen und ihren Entwicklungsmöglichkeiten beschäftigten. Zu Beginn dieses neuen Themenblocks stellte Uwe Zehr vom Verein für Jugendhilfe e. V. in Sindelfingen „Die Rolle der Suchtberatung und der psychosozialen Betreuung“ vor. Als Erstes steckte er die Rahmenbedingungen ab: Suchtberatung wird von den Kommunen finanziert. Daraus ergibt sich, dass die Kommunen auch überwiegend die Aufgaben der psychosozialen Betreuung (PSB), die durch die Suchtberatungen wahrgenommen werden, definieren. Laut BtMVV § 5, Abs. 2, Nr. 2 muss jeder substituierte Patient eine PSB erhalten, oder anders herum: Jeder substituierende Arzt hat einen rechtlichen Anspruch auf PSB für seine Klienten, den die Kommune in dieser Region erfüllen muss. Selten wird PBS im Rahmen individueller Eingliederungshilfe geleistet, selten ist sie ein verbindlicher Teil des medizinischen Versorgungssystems.

    Suchtberatungen führen PSB im Auftrag der Kommunen durch. Sie bringen beste Voraussetzungen mit, um als ‚proaktive‘ Case Manager zu agieren: Sie bieten ein multiprofessionelles Team, eine niedrigschwellige Kontaktaufnahme, eine zeitnahe Krisenintervention und Netzwerkkenntnis. Die Leistungen des Suchthilfesystems haben sich in den letzten Jahren weiter differenziert. Diese Leistungen werden von den substituierenden Ärzten gar nicht vollständig abgerufen. Hierbei könnten die Suchtberatungen als Case Manager ihr Knowhow erfolgreich einbringen.

    Zehr analysierte im Einzelnen die Kooperationsbeziehungen, die bei der Durchführung der PSB entstehen. Die Beziehungen zu den substituierenden Ärzten können sehr unterschiedlich sein, je nach Schwerpunktsetzung der medizinischen Behandlung. Zehr rief die Suchtberatungen dazu auf, auf die Ärzte zuzugehen. Sie hätten eine bessere Ausgangsposition, um eine gute Zusammenarbeit anzustoßen. Ein weiterer wichtiger Kooperationspartner ist das Jugendamt. Hier fehlen einheitliche Standards. Bei substituierten Eltern sollten Jugendamt und Suchtberatung eng zusammenarbeiten, dies kann sehr positive Auswirkungen haben: Der ‚Faktor Elternschaft‘ kann sogar zum Übergang in eine Reha motivieren. Manche Jugendhilfemaßnahmen müssten erst gar nicht durchgeführt werden (was auch Kosteneinsparungen bedeutet). Kooperationen mit dem psychiatrischen Versorgungssystem wären angesichts der stark vertretenen komorbiden Störungen bei Substituierten wichtig, sind aber in der Praxis schwierig. Substituierte (und Suchtpatienten generell) sind häufig unzuverlässig, es stellt sich das Problem der Verträglichkeit von Substitutionsmittel und Psychopharmaka, und manche Therapeuten halten eine Psychotherapie unter Substitution nicht für durchführbar. Eine Kooperation zwischen Suchtberatung und dem sozialpsychiatrischen Dienst wird zu wenig genutzt. Eine Vermittlung von Substituierten in die Suchtreha findet nur selten statt, obwohl viele Substituierte die Reha bereits kennen und die Substitution irgendwann auch beenden möchten. An einer Reha unter Erhaltungsdosis hätten Substituierte einer Umfrage in Schleswig-Holstein zufolge jedoch ein deutlich höheres Interesse, v. a. im ambulanten Setting. Als weitere Kooperationspartner kämen die Jobcenter in Frage, da über 50 Prozent der Substituierten in PSB ALG II beziehen. Aber von Seiten der Jobcenter gibt es keine besonderen Maßnahmen oder Kooperationen mit der Suchtberatung.

    Als Entwicklungschancen fasste Zehr zum Abschluss folgende Aspekte zusammen: Der ‚Motivationsfaktor Elternschaft‘ sollte genutzt werden, für die Kooperation zwischen Jugend- und Suchthilfe müssen und können einheitliche Standards geschaffen werden. Die Suchtberatung sollte den Ärzten proaktiv ihr Case Management anbieten und sich um einen ‚Quasi-Versorgungsauftrag‘ durch die Kommune bemühen. Die Zusammenarbeit mit der psychiatrischen Versorgung sollte verbessert und Modelle der Suchtreha unter Erhaltungsdosis sollten genutzt und ausgeweitet werden.

    Suchtmedizin: Zielhierarchie und Substitutionsrecht

    05_Meyer-ThompsonHans-Günter Meyer-Thompson, bis August 2015 Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS), stellte in seinem Vortrag die „Substitutionsbehandlung aus Sicht der Suchtmedizin“ dar und setzte sich kritisch mit dem von FVS und fdr gemeinsam veröffentlichten „Positionspapier zur stärkeren Vernetzung von Substitution und Entwöhnungsbehandlung“ (SuchtAktuell 2-2014) auseinander. Er hob die Vorteile der Substitution hervor: Sie sichert Überleben, stillt den Opiathunger und ermöglicht es den Klienten, stabile Lebensverhältnisse aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Sie hat die Ausbreitung von AIDS und die Zahl der Drogentoten reduziert. Meyer-Thompson stellte dar, inwiefern die rechtlichen und strukturellen Rahmenbedingungen zur Substitution die Patienten/-innen diskriminieren – zwangsweise PSB, keine Abgabe des Substitutionsmittels in der Apotheke, tägliche Termine in der Arztpraxis, dadurch keine Urlaubsmöglichkeit, Unterdosierung in Reha-Einrichtungen – und die Ärzte von vornherein „mit einem Bein im Gefängnis“ stehen lassen.

    Deshalb fordert die DGS zum einen eine neue Zielhierarchie in der Behandlung. Abstinenzorientierung soll gleichrangig mit Zielen sein, die durch Substitution erreicht werden, wie Hilfe zum Überleben, Behandlung von Begleiterkrankungen, Reduktion des Gebrauchs psychotroper Substanzen sowie Verringerung der Risiken einer Opiat-/Opioidabhängigkeit während Schwangerschaft und Geburt. Außerdem wird eine bessere Versorgung bestimmter Patientengruppen gefordert. Dazu gehören opioidabhängige Strafgefangene, substituierte Eltern, Einwanderer und Flüchtlinge sowie Patienten mit Beikonsum. Für Substituierte mit schweren psychischen Störungen soll der Zugang zur ambulanten Psychotherapie verbessert werden. Zum anderen fordert die DGS eine Änderung des Substitutionsrechts. Die unmittelbare ärztliche Tätigkeit gehört in Richt- und Leitlinien geregelt, Behandlungsfehler sind demzufolge durch das Berufsrecht und nicht durch das Strafrecht zu sanktionieren.

    Abschließend plädierte Meyer-Thompson dafür, dass ambulante Substitutionsbehandlung und stationäre Therapie aufeinander zugehen sollten, um die jeweiligen Stärken, Schwächen und Erfahrungen zu analysieren. Auf dieser Grundlage sollten gemeinsam die Kriterien für die im Einzelfall beste Behandlung weiterentwickelt werden.

    Entzug: Motivationsförderung und Anschlussperspektiven

    06_Kuhlmann_rÜber „Opioidabhängige im Entzug“ referierte Dr. Thomas Kuhlmann von der Psychosomatischen Klinik Bergisch Gladbach. Er stellte zunächst die wesentlichen Inhalte des qualifizierten Entzugs dar. Dazu gehören Motivationsförderung, Teilhabeorientierung und das Erarbeiten einer Anschlussperspektive. Anschließend berichtete Kuhlmann detailliert über verschiedene Aspekte des medikamentengestützten Entzugs. Dieser ist bei Entzugserscheinungen die Methode der ersten Wahl. Hierbei werden die eingesetzten Medikamente entweder homolog abdosiert, als ‚Krücke‘ für den Entzug, oder bis zur Erhaltungsdosis aufdosiert, wenn eine Substitutionsbehandlung durchgeführt werden soll. Neben der Reduzierung der Entzugserscheinungen können die verabreichten Opiatanaloga eine Reihe weiterer Wirkungen hervorrufen: Sie wirken sedierend oder nicht sedierend, können zu Verstopfung, Schweißneigung und Atemdepression führen und die Libido dämpfen. Um Letzteres auszugleichen, konsumieren Substituierte häufig Kokain. Die Ausprägung der Nebenwirkungen fallen individuell sehr unterschiedlich aus.

    Eine besonders wichtige Rolle beim Entzug spielt die Motivationsförderung. Dabei soll der Behandler dem Patienten Perspektiven aufzeigen können, da die Patienten sich meist selbst gar keine Perspektiven vorstellen können. Diese Perspektiven sollen nach der Entzugsbehandlung nahtlos weiterverfolgt werden können. Gleichzeitig soll als Ziel der Behandlung ein „Menu of options“ in Frage kommen, von der diamorphingestützten Behandlung bis hin zur medizinischen Reha. Um eine kurzfristige und mittelfristige Anschlussperspektive herzustellen, müssen z. B. folgende Punkte geklärt werden: Bestehen Probleme mit der Justiz oder dem Ausländeramt? Wie ist die Wohn- und Arbeitssituation? Wie geht es in der Behandlung weiter?

    Als Fazit fasste Kuhlmann zusammen, dass eine sozialpsychiatrische Haltung entscheidend für eine gute (Entzugs-)Behandlung Opiatabhängiger ist. Dafür stellt die Spaltung des Hilfesystems in niederschwellig, überlebenssichernd und ausstiegsorientiert ein großes Problem dar. Diese Spaltung muss überwunden werden, um Überleben und Teilhabe zu sichern. Substitution darf kein Ausschlusskriterium für medizinische Reha sein, und auch Ausbildungs-, Arbeits- und Wohnangebote (z. B. Clean-WGs) müssen weiterentwickelt werden.

    Entwöhnung: Abstinenzquoten und Prädiktoren für den Behandlungserfolg

    07_Fischer_rMartina Fischer von der AHG Klinik Daun-Altburg stellte in ihrem Vortrag anhand von Katamnesedaten den Erfolg der stationären Entwöhnungsbehandlung bei Opioid- und Drogenabhängigkeit dar. Sie berichtete über den Entlassjahrgang 2012 in sieben Drogenkliniken des FVS (mit einem Rücklauf von mindesten 25 Prozent). Die Gesamtstichprobe umfasste insgesamt 1.275 Patienten. Diese zeichneten sich durch eine hohe Haltequote aus (planmäßige Behandlungsdauer 59 Prozent). Der Anteil der opioidabhängigen Patienten sinkt gegenüber den Vorjahren, er machte nur noch 16,8 Prozent aus. Am stärksten vertreten (30,8 Prozent) waren Patienten mit multiplem Substanzgebrauch.

    Fischer berichtete über die katamnestischen Erfolgsquoten, die den Anteil abstinent lebender ehemaliger Patienten erfassen. Die katamnestischen Erfolgsquoten werden üblicherweise mit den Berechnungsformen der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DGSS) ermittelt. Für die oben genannte Stichprobe betrug die katamnestische Erfolgsquote nach DGSS 3 66,0 Prozent. Hierbei wird die Anzahl abstinent Lebender auf die in der Katamneseuntersuchung erreichten Patienten (Antworter) bezogen. Nach DGSS 4 betrug die katamnestische Erfolgsquote 21,2 Prozent. Hierbei wird die Anzahl abstinent Lebender auf alle entlassenen Patienten bezogen. Die Quote der Antworter (Ausschöpfungsquote) lag in dieser Untersuchung bei 32,1 Prozent. Von den planmäßig entlassenen Patienten wurden 43,2 Prozent innerhalb der ersten vier Wochen nach der Entlassung rückfällig.

    Bezogen auf den Entlassjahrgang 2011 wurde untersucht, welche Prädiktoren auf das Behandlungsergebnis und die katamnestische Erfolgsquote schließen lassen. Im Hinblick auf die Entlassform wirken sich Auflagen vom Gericht und sonstige Auflagen, F 12- und F 14-Diagnosen (Störungen durch Cannabinoide bzw. Störungen durch Kokain, vgl. Diagnoseschlüssel ICD-10) und eine längere Therapiezeit positiv aus. Frauen schließen häufiger regulär ab als Männer. Männer antworten seltener als Frauen bei der Katamnesebefragung, weitere ungünstige Faktoren hierfür sind keine Ausbildung, Auflagen vom Gericht, Arbeitslosigkeit und eine F 11-Diagnose (Störungen durch Opioide, vgl. Diagnoseschlüssel ICD-10). Eine reguläre Entlassung und eine längere Therapie begünstigen Abstinenz, wohingegen gerichtliche Auflagen häufig in Zusammenhang mit einer schlechteren Abstinenzquote vorkommen.

    Als besonders nützliche Intervention in der stationären Reha hob Fischer die Entwicklung der Ausstiegsmotivation hervor, d. h. Ausstieg aus der schlechten Gesamtsituation. Voraussetzungen dafür sind Drogenfreiheit sowie eine realistische und subjektiv wertvolle Zukunftsperspektive. Den Patienten/-innen soll bewusst werden, dass es eine Ausstiegsmöglichkeit gibt, dazu brauchen sie auch die Kenntnis des Hilfesystems.

    Die stationäre Reha weist eine Reihe an Wirkfaktoren auf. Dazu gehören insbesondere das Herauslösen des Patienten/der Patientin aus dem gewohnten Umfeld, die individuelle Anpassung von Behandlungsangeboten aus Medizin, Psychotherapie, Ergo-/Arbeitstherapie und sozialer Arbeit sowie die Möglichkeit, innerhalb einer Gemeinschaft neue Beziehungserfahrungen zu machen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die stationäre Reha mit stabilen Abstinenzquoten sehr erfolgreich ist.

    Reha mit Substitution: Patienten mit höherer Problembelastung

    08_Claussen_rDen Abschluss in der Reihe der Vorträge machte Ulrich Claussen von der Therapeutischen Einrichtung „Auf der Lenzwiese“ mit seinem Beitrag „Substitutionsgestützte Rehabilitation als zusätzliche Angebotsform“. Die Einrichtung „Auf der Lenzwiese“ nimmt seit 2012 substituierte Patienten/-innen auf. Ziele der Behandlung sind die Abstinenz und die Abdosierung des Substitutionsmittels. Letztere wird über die Jahre gesehen bisher von einem Viertel die Patienten/-innen erreicht. Vor Beginn der Reha soll der Beikonsum eingestellt und die Eingangsdosis von 60 Milligramm Methadon erreicht sein. Der Zugang über eine Übergangseinrichtung sichert diese Voraussetzungen.

    Die Rehabilitationsbehandlung selbst ist in drei Phasen eingeteilt. Nachdem in Phase I, der Klärungsphase, Diagnostik und Motivationsarbeit durchgeführt und Ziele vereinbart wurden, soll in Phase II, der Veränderungsphase, abdosiert und Symptome behandelt werden. Phase III dient der Stabilisierung der Abstinenz, hier soll eine Orientierung nach außen erfolgen, ebenso Rückfallprävention und die Planung der Nachsorge. Zu den Herausforderungen, die im Verlauf der Behandlung gemeistert werden müssen, gehört es, Krisen beim Ausdosieren und Rückfälle nach dem Ausdosieren zu vermeiden bzw. Krisen schnell zu erkennen und zu bewältigen. Die Patienten/-innen erhalten jeweils einen individuellen Behandlungsplan zur Ausdosierung, es finden unterstützende und motivierende Gespräche in der Gruppe und psychotherapeutische Einzelsitzungen statt.

    Die substituierten Patienten/-innen sind gegenüber nicht substituierten Drogenpatienten durch eine erhöhte Problembelastung gekennzeichnet: Sie haben seltener einen Ausbildungsabschluss, beziehen häufiger Transferleistungen, weisen vermehrt körperliche und psychische Erkrankungen auf, hatten häufiger Vorbehandlungen, waren aber seltener vorher in Reha. In der Einrichtung „Auf der Lenzwiese“ waren unter den Substituierten bisher vergleichsweise viele Frauen: Von den 57 Personen, die ihre Behandlung abgeschlossenen haben, waren 30 Prozent Frauen. Der Frauenanteil unter den nicht substituierten Opiatpatienten beträgt durchschnittlich zehn Prozent. Weiterhin zeigten die substituierten Patienten/-innen schlechtere Leistungen in Konzentration, Sorgfalt und Tempo beim Erledigen von Aufgaben.

    Rund 25 Prozent der Klientel haben die Ausdosierung erreicht, 30 Prozent haben die Ausdosierung begonnen, und 47 Prozent haben nicht ausdosiert. Dies kann daran liegen, dass sich komorbide Störungen wie Psychosen dadurch verschlimmern würden oder die Patienten körperlich dazu nicht in der Lage sind und das Rückfallrisiko zu sehr steigen würde. Ein wesentlicher Bestandteil der Behandlung ist die Nachsorge im Netzwerk des Trägers Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. Allen Patienten/-innen wird eine Weitervermittlung angeboten, bei irregulären Beendigungen der Behandlung hält der Träger verschiedene Auffangangebote bereit.

    Zur Weiterentwicklung und Verbesserung der substitutionsgestützten Reha wünscht sich Claussen eine breitere Datenbasis und Untersuchungen zu Prädiktoren eines erfolgreichen Reha-Verlaufs. Substitutionsgestützte Reha soll getrennt beforscht werden.

    Kommentare: Was wollen DRV, GKV, Bundesärztekammer und Suchtverbände?

    Im dritten Block der Veranstaltung waren Vertreter/-innen von DRV und GKV, der Bundesärztekammer und der Suchtverbände dazu aufgerufen, aus ihrer Sicht Kommentare zum Entwicklungsbedarf bei der Behandlung Opiatabhängiger abzugeben. Marie-Luise Delsa von der Deutschen Rentenversicherung Bund äußerte sich aufgrund des Inputs aus den vorangegangenen Vorträgen spontan. Ihrer Ansicht nach sollten die Patienten/-innen vor Beginn der Substitution besser über alle Möglichkeiten, die das Suchthilfesystem bietet, informiert werden, die Zahl der Personen in Substitution sei zu hoch. Wichtig seien nahtlose Übergänge in die Reha für Drogenpatienten und schnelle Bewilligungen der Anträge.

    10_Tolzin_rDr. Christoph Jonas Tolzin äußerte sich aus Sicht der Gesetzlichen Krankenversicherung. Er verwies auf die für die GKV verbindlichen rechtlichen Grundlagen der Behandlung Opiatabhängiger. Dazu zählen das Betäubungsmittelgesetzt, die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV), die Richtlinien zur substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger und das SGB V. Aus den Richtlinien zur substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger zitierte er wesentliche Bestimmungen und die letzten Änderungen der Richtlinie Methadon aus dem Jahr 2013. Hier wurden die räumlichen und personellen Anforderungen an diamorphinsubstituierende Einrichtungen den realistischen Möglichkeiten angepasst. Eine Evaluation der Substitution mit Diamorphin sei abzuwarten.

    11_von_Ascheraden_rDr. Christoph von Ascheraden stellte dar, wie sich aus Sicht der Bundesärztekammer die BtMVV zur substitutionsgestützten Behandlung weiterentwickeln solle. Demnach solle die Zielhierarchisierung geändert und das absolute Diktum der Abstinenzorientierung entfernt werden. Substituierenden Ärzten dürften keine strafrechtlichen Sanktionen drohen. Etwaige Behandlungsfehler sollten ausschließlich berufsrechtlich geahndet werden. Beikonsum solle als „Beigebrauch“ oder „komorbider Substanzgebrauch“ bezeichnet und nicht ‚bestraft‘, sondern therapiert werden. Den Ärzten solle mehr Therapiefreiheit gegeben werden und eine Verschreibung des Substitutionsmittels auch für mehr als sieben Tage möglich sein. Eine enge Kontrolle und Sichtbezug zu Beginn der Behandlung seien absolut angemessen, aber bei stabilen Verhältnissen solle den Ärzten mehr Flexibilität möglich sein. von Ascheraden forderte, sich sehr um eine größere gesellschaftliche Akzeptanz der Substitution zu bemühen, damit sich mehr junge Ärzte für diesen Bereich entscheiden.

    12_Weissinger_rDas Abschlussstatement aus Sicht der Suchtverbände hielt Dr. Volker Weissinger, Geschäftsführer des Fachverbands Sucht e. V. Er fasste zusammen, dass ein sehr vielfältiges und spezialisiertes Behandlungsangebot zur Verfügung steht, in dem jedoch die Übergänge zwischen den Behandlungsformen besser organisiert werden müssten. Insbesondere müsse die Brückenbildung zwischen Substitution und Reha ausgebaut werden, 200 bis 300 Übergänge pro Jahr aus der Substitution bei insgesamt 4.000 bis 5.000 Drogenpatienten in einer Reha-Maßnahme sei zu wenig. Grundlage der Behandlung ist ein ganzheitliches Bild des Patienten/der Patientin, für den/die je nach individuellem Bedarf ein passendes Behandlungsangebot gefunden werden muss. Um das sektorierte Behandlungssystem in Bewegung zu bringen, schlug Weissinger drei Maßnahmen vor:

    1. die Fortführung der Substitution in regelmäßigen Abständen kritisch zu hinterfragen. In Abstimmung mit der psychosozialen Betreuung sollen geeignete Patienten/-innen für die Reha motiviert werden.
    2. die nahtlose Überleitung in den Entzug bzw. in die Entwöhnungsbehandlung durch ein Überleitungs- bzw. Fallmanagement zu unterstützen. Ebenso soll bei Abbruch der Entwöhnungsbehandlung ein Fallmanagement unterstützend eingreifen und zeitnah die erforderlichen Hilfen einleiten.
    3. die Kriterien und Ziele der substitutionsgestützten Reha, wie sie in Anlage 4 der Vereinbarung Abhängigkeitserkrankungen beschrieben sind, zu überprüfen, damit diese Behandlungsform vermehrt genutzt wird und sie ihre Funktion der Brückenbildung ausüben kann.

    Diskussion: Patienten und Kommunen einbinden

    An die Vorträge und Statements schloss sich eine sehr angeregt Diskussion an. Gefordert wurde, dass auch die Betroffenen und die Selbsthilfe am Diskurs beteiligt werden sollten. Auch im Rahmen der Behandlung selbst sollten die Patienten/-innen bei der Frage der Abdosierung ein Mitsprache- und Entscheidungsrecht erhalten. In einem Teilnehmerstatement wurde angeregt, dass man von der Fokussierung auf Milligramm-Mengen des verabreichten Substitutionsmittels abrücken und die Gesamtsituation des Patienten betrachten müsse. Für ein zufriedenes Leben sind v. a. Tagesstruktur und Arbeit äußerst wichtig. Diese müssten für Substituierte geschaffen werden und könnten ggf. eine gute Grundlage für eine Abdosierung bieten.

    Neben einer Beteiligung der Betroffenen wurde auch die Einbindung von Kommunen und Ländern in den Diskurs gefordert – denn die bezahlen ‚Fallmanagement‘ und psychosoziale Betreuung, also diejenigen Interventionen, denen eine wesentliche Rolle bei der Vermittlung von Substituierten in die Reha zukommt. Kritisch wurde angemerkt, ob niedergelassene Psychotherapeuten tatsächlich eine Ressource für die ambulante Betreuung Substituierter darstellen, da sie meist keine Zusatzqualifikation Sucht aufweisen und Suchtkranke für sie oftmals ‚unattraktive‘ Patienten sind. Auch die Frage nach der Zuständigkeit wurde aufgeworfen. Da für Substituierte die Integration auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht immer möglich ist, sei für ihre Entwöhnung und den Entzug vom Substitutionsmittel die Krankenkasse zuständig.

    Die Hauptaufgabe zur Verbesserung der Behandlung Opiatabhängiger besteht darin, die Grenzen innerhalb des sektorierten Behandlungssystems zu überwinden. Dafür gehen die Mitarbeiter/-innen in den Einrichtungen bereits weit über ihren Auftrag hinaus. Weitere Brücken sollen gebaut werden! Gewünscht wurde ein offener Dialog mit allen Beteiligten: DRV, GKV, Ärztekammer, niedergelassene Ärzte, Suchtverbände und Betroffene. Ein Anfang wurde mit dieser Veranstaltung gemacht!

    Kontakt:

    Simone Schwarzer
    Redaktion KONTUREN online
    redaktion@konturen.de

  • Zusammenarbeit von beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe

    Zusammenarbeit von beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe

    Dr. Daniela Ruf
    Dr. Daniela Ruf

    Berufliche Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe stellen zwei jeweils eigenständige wichtige Hilfeansätze im Versorgungssystem dar. Beide haben dasselbe Ziel: Sie wollen die Ressourcen und Kompetenzen von Betroffenen und Angehörigen stärken, Suchtkranke motivieren, Wege in ein suchtmittelfreies Leben zu finden, ihre Gesundheit fördern und ihnen Teilhabe am Familienleben sowie an Beruf und Gesellschaft ermöglichen. Berufliche Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe sind beim Erreichen dieses Ziels keine Konkurrenz, denn sie können sich gegenseitig nicht ersetzen, sie machen unterschiedliche, sich ergänzende Angebote. Die berufliche Suchthilfe bietet in Form von professioneller Beratung, Behandlung, Rehabilitation und Nachsorge ein differenziertes Hilfesystem für Betroffene und Angehörige sowie zahlreiche Unterstützungsangebote für die Selbsthilfe. Die Selbsthilfe bietet Gemeinschaft, Austausch unter Gleichen und Unterstützung im Alltag – und zwar vor, während, nach oder unabhängig von einer professionellen Behandlung. Berufliche Suchthilfe ist zudem immer ein zeitlich begrenztes Angebot, während Selbsthilfe unbegrenzte Begleitung über das Ende der beruflichen Hilfe hinaus bietet, bei Bedarf sogar lebenslang. Selbsthilfe ermöglicht niedrigschwellig Hilfe, wann immer sie gerade benötigt wird.

    Im Bereich der Nachsorge besteht die größte Überschneidung zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe, aber auch hier stehen die Angebote nicht in Konkurrenz, sondern haben jeweils eine unterschiedliche Ausrichtung. Sie ergänzen sich in Bezug auf die Dauer (Eisenbach-Stangl, 2003), aber auch in Bezug auf den Inhalt. Verkürzte Behandlungszeiten und schwierige Problemlagen machen eine professionelle Nachsorge oft unverzichtbar, langfristige Stabilisierung und Bewältigung des Alltags erfordern die Fortführung der Nachsorge in der Selbsthilfe (Küfner, 1990).

    Wieso die Zusammenarbeit so wichtig ist

    Vorteile der Zusammenarbeit

    Allein die Tatsache, dass es zwei Hilfeansätze gibt, ist bereits ein Vorteil, da Menschen unterschiedliche Bedarfe haben und so die Möglichkeit erhalten, ihren jeweils eigenen Weg aus der Sucht zu finden. Manche Menschen mögen allein in der beruflichen Suchthilfe ein für sie wirksames Hilfeangebot finden, andere allein in der Selbsthilfe, für viele jedoch bietet die Verbindung beider Hilfeangebote die beste Unterstützung, v. a. im Hinblick auf eine langfristige Stabilisierung. Aber erst eine gute Zusammenarbeit in Form von durchlässig gestalteten Übergängen ermöglicht die optimale Nutzung der Kompetenzen beider Hilfeansätze. Darüber hinaus bietet eine gute Zusammenarbeit für berufliche Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe die Möglichkeit, Ressourcen zu bündeln, die Qualität des Hilfeangebots zu erhöhen und neue Herausforderungen – beispielsweise durch veränderte Rahmenbedingungen, vielfältigere Bedarfe oder neue Zielgruppen – gemeinsam besser zu bewältigen.

    Wirksamkeit

    Beide Hilfeansätze weisen eine hohe Wirksamkeit auf. In der beruflichen Suchthilfe erreichten im Jahr 2013 80 Prozent der ambulanten und 92 Prozent der stationären Patienten/-innen, die die Betreuung/Behandlung planmäßig beendeten, ein positives Behandlungsergebnis (Braun, Künzel & Brand, 2015). Gut ein Viertel der Besucher/-innen von Selbsthilfegruppen erreichten 2010 Abstinenz, ohne berufliche Suchthilfeangebote in Anspruch genommen zu haben, und etwa drei Viertel der rückfällig geworden Gruppenbesucher/-innen konnten durch die Gruppe stabilisiert werden (Selbsthilfe- und Abstinenzverbände, 2011).

    Insbesondere zur Rückfallprävention und (Re)Integration in ein intaktes soziales Umfeld leisten Selbsthilfegruppen einen wichtigen Beitrag in der Versorgung (Schwoon, 1996). Selbsthilfe wirkt sowohl rückfallvorbeugend als auch stabilisierend nach einem Rückfall (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, 2001). Der regelmäßige Besuch einer Selbsthilfegruppe nach einer stationären Therapie zeigte sich in Studien mit deutlich höheren Abstinenzraten verbunden (Schwoon, 1996; Küfner, 1988). Und auch bei Patienten/-innen, die nach einer stationären Entwöhnungsbehandlung rückfällig gewordenen waren, zeigte sich, dass sie in der Folge häufiger abstinent waren, wenn sie regelmäßig eine Selbsthilfegruppe besuchten (Küfner, 1990).

    Verankerung

    Der nachgewiesenen Wirksamkeit der beiden Hilfeansätze sowie ihres Zusammenwirkens wird an verschiedenen Stellen Rechnung getragen. Im gemeinsamen Rahmenkonzept der Deutschen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung zur ambulanten medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker ist die Kooperation als eine der Voraussetzungen benannt. Und auch in der neuen S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ werden Empfehlungen zum regelmäßigen Besuch von Selbsthilfegruppen getroffen sowie auf die Bedeutung der Zusammenarbeit von beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe explizit hingewiesen (v. a. Kapitel 4 Versorgungssituation).

    Der Mehrwert einer guten Zusammenarbeit von beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe ist also belegt und in verschiedenen Kontexten bereits verankert. Sie kann daher nicht optional sein oder nur von der Motivation einzelner Mitarbeiter/-innen abhängen, sondern muss verbindlich und nachhaltig geregelt und umgesetzt werden.

    Herausforderungen für die Zusammenarbeit

    Die Ausdifferenzierung des Angebotsspektrums in der Suchthilfe hat die Bedeutung von Kooperation innerhalb des Hilfesystems erhöht (Oliva & Walter-Hamann, 2013). In der Suchthilfe der Caritas gibt es eine lange Tradition der guten Zusammenarbeit zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe als einer der zentralen Schnittstellen im Hilfesystem. Dennoch ist diese Kooperation vor Ort sehr unterschiedlich ausgeprägt und nicht immer zufriedenstellend. Sie ist kein Selbstläufer – sie muss immer wieder neu gestärkt, geklärt und mit Impulsen belebt werden, gerade in Zeiten rascher Veränderungen. Abbildung 1 gibt einen Überblick über die zentralen Faktoren, welche die Zusammenarbeit von beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe beeinflussen.

    Abb. 1:Zentrale Faktoren, welche die Zusammenarbeit zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe beeinflussen
    Abb. 1: Zentrale Faktoren, welche die Zusammenarbeit zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe beeinflussen

    Die verschiedenen Faktoren sind jeweils mit Herausforderungen verbunden, die im Folgenden erläutert werden.

    Rahmenbedingungen

    • Eine vielfältiger gewordene Behandlung, welche sich aus verschiedenen Abschnitten zusammensetzt, macht die Gestaltung der Übergänge von der Behandlung in die Selbsthilfe und die Verzahnung zwischen den jeweiligen Angeboten anspruchsvoller.
    • Neue Zielgruppen und Konsummuster, Zugänge zu diesen Zielgruppen und vielfältigere Vorstellungen von Selbsthilfe stellen die Zusammenarbeit vor neue Aufgaben.
    •  Veränderte Finanzierungsstrukturen und Vorgaben von Leistungsträgern erfordern eine Anpassung der Arbeit an die dadurch gegebenen Rahmenbedingungen.

    System der beruflichen Suchthilfe und der Sucht-Selbsthilfe

    • Unterschiedliche Kompetenzbereiche, Regeln und Handlungszwänge sowie Alltagskulturen müssen aufeinander abgestimmt werden. Das Aufeinandertreffen des reglementierten beruflichen Settings und des selbstbestimmten ehrenamtlichen Settings erfordert gute Abstimmungs- und Organisationsprozesse.
    • Die jeweiligen Arbeitsweisen und Angebote unterscheiden sich und verändern sich über die Zeit. Sie müssen wechselseitig transparent und gut bekannt gemacht werden.
    • Vor dem Hintergrund des Aufeinandertreffens von Alltags- und Fachsprache muss eine Basis zur Verständigung geschaffen und eine gute gegenseitige Rückmeldekultur entwickelt werden.

    Persönliche Beziehungen

    • Es muss ein Rollenwechsel von der ursprünglichen Begegnung als Therapeut/-in und Klient/-in hin zu Partnern/-innen gelingen. Ebenso muss sich das Hierarchiegefälle zwischen Experten/-innen und Laien auflösen. Die evtl. bestehende Wahrnehmung von Konkurrenz sollte der selbstbewussten Wahrnehmung der eigenen Kompetenzen und Angebote weichen. Ein möglicherweise erlebter Widerspruch zwischen Unterstützungswunsch/-bedarf und Autonomie/Selbstbestimmung der Selbsthilfe muss geklärt werden.
    • Die gegenseitige Begegnung muss von Respekt, Wertschätzung, Offenheit und Vertrauen geprägt sein.
    • Eigene Haltungen und Einstellungen müssen überprüft und ggf. korrigiert werden. Interessen und gegenseitige Erwartungen müssen transparent und Vorurteile bewusst gemacht werden.

    Art der Ausgestaltung der Zusammenarbeit

    • Die Zusammenarbeit muss institutionalisiert und in Konzepten und Vereinbarungen vor Ort verankert und verbindlich geregelt werden, sie darf nicht nur vom Engagement einzelner Personen abhängen, um bei einem Wechsel nicht gefährdet zu sein.
    • Für die Zusammenarbeit muss es fest eingeplante Zeit- und Personalressourcen auf beiden Seiten geben, sie darf nicht einfach nur „nebenher“ laufen.
    • Die Umsetzung von bekannten Handlungserfordernissen muss gefördert und unterstützt werden, oft fehlen Handlungsanleitungen und konkrete Strategien.

    Sich die beschriebenen Einflussfaktoren und Herausforderungen bewusst zu machen, kann helfen zu verstehen, wieso sich die Zusammenarbeit nicht immer einfach gestaltet. Gleichzeitig bieten die genannten Herausforderungen aber auch Chancen und konkrete Ansatzpunkte zur Verbesserung der Zusammenarbeit.

    Gelingende Zusammenarbeit: Gemeinsamer Prozess des Deutschen Caritasverbands und des Kreuzbund-Bundesverbands

    Die Bedeutung der Schnittstelle zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe ernstnehmend, haben sich der Deutsche Caritasverband (DCV) und der Kreuzbund-Bundesverband vor einigen Jahren dazu entschieden, einen gemeinsamen, langfristig angelegten Prozess zur Zusammenarbeit durchzuführen. Dadurch wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass die oben genannten Herausforderungen die Verbesserung der Zusammenarbeit zu einer anspruchsvollen Aufgabe machen, die durch punktuelles Engagement, einzelne Veranstaltungen oder die alleinige Entwicklung einer Positionierung oder Handreichung nicht hinreichend erfüllt werden kann. Um die Basis für eine tragfähige, zukunftsorientierte Zusammenarbeit von beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe zu schaffen, braucht es Begegnung, kontinuierliche Auseinandersetzung sowie Zeit, um Haltungen zu überprüfen und Veränderungen einzuleiten und wirksam werden zu lassen.

    Im Folgenden werden die zentralen Grundsätze und Erfolge des bisherigen Prozesses zur Zusammenarbeit von beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe in der Caritas dargestellt sowie ein Ausblick auf seine Weiterführung gegeben (vgl. Abb. 2).

    Abb. 2: Maßnahmen zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe in der Caritas
    Abb. 2: Maßnahmen zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe in der Caritas

    Gemeinsam angelegter Prozess

    Um möglichst vielfältige Sichtweisen und Erfahrungen zusammenzuführen und fundierte, von allen Akteuren getragene Ergebnisse zu erreichen, waren jeweils Vertreter/-innen der beruflichen Suchthilfe und der Sucht-Selbsthilfe von Orts-, Diözesan- und Bundesebene an dem Prozess beteiligt. Es gab sowohl gemeinsame Arbeitsphasen in Form von Workshops als auch getrennte, allerdings immer in Verbindung mit kontinuierlichem Austausch. Damit wurden bereits im Verlauf des Prozesses wesentliche Grundzüge einer guten Zusammenarbeit konsequent umgesetzt.

    Zur Darstellung der Ergebnisse des Prozesses wurde 2011 eine Dokumentation veröffentlicht. Auf der Basis dieser Ergebnisse wurde in den letzten Jahren in gemeinsamen Veranstaltungen und Konferenzen weiter an der Thematik gearbeitet. Es bestand Einigkeit darüber, dass ähnliche Prozesse nun auch auf Diözesan- und Ortsebene angestoßen werden müssen und dass es dafür weiterer Impulse und konkreter Arbeitshilfen zur Unterstützung bedürfe.

    Arbeitshilfe des DCV für die berufliche Suchthilfe und die Sucht-Selbsthilfe

    Die Entwicklung einer Arbeitshilfe war kein zu Beginn des Prozesses formuliertes Ziel, sondern die Antwort des DCV auf den aus der Praxis geäußerten Unterstützungsbedarf. Sie ist damit Ergebnis des bisherigen Prozesses und Grundlage für die Fortsetzung des Prozesses zugleich. Die Arbeitshilfe besteht aus zwei Modulen: Modul I „Grundlagen und Empfehlungen für eine gute Zusammenarbeit“ und Modul II „Good practice Beispiele für eine gute Zusammenarbeit“. Um die Einführung in die Arbeitshilfe und die Arbeit mit den beiden Modulen zu unterstützen, wurde ein weiteres Modul entwickelt, Modul III „Foliensatz zu Modul I und II“. Im Folgenden werden die zentralen Ziele, welche die Module verfolgen, dargestellt.

    1. Grundlagen für eine gute Zusammenarbeit vermitteln: Selbstverständnis – Wechselseitiges Verständnis – Kooperationsverständnis
    Cover Modul 1Das Erkennen der eigenen wichtigen Bedeutung im Hilfesystem, des sich ergänzenden Charakters der jeweiligen Angebote sowie der Unverzichtbarkeit einer guten Zusammenarbeit zur optimalen Gestaltung der Hilfen für Betroffene und Angehörige sind wichtige Grundlagen für eine gute Zusammenarbeit. Darüber hinaus ist eine gute Wissensbasis über die wechselseitigen Arbeitsweisen und Angebote zentral. Kapitel I bis III von Modul I der Arbeitshilfe bieten eine ausführliche und praxisnahe Aufbereitung dieser Inhalte. Kapitel IV und V nehmen Bezug auf die Herausforderungen in der Zusammenarbeit und zeigen Wege zur gemeinsamen Bewältigung auf. In Kapitel IV werden dazu konkrete Handlungsempfehlungen in Form von fünf Grundsätzen vorgestellt. Diese lauten: Bereitschaft und Begeisterung, Gemeinsame Ziele und Anliegen, Begegnung und gemeinsames Tun, Gute Kommunikation und Rollenklarheit, Verankerung und Verbindlichkeit. In Kapitel V werden Hinweise gegeben, wie mit der Arbeitshilfe konkret gearbeitet werden kann. Dieses Kapitel schlägt eine Brücke zwischen dem reinen Wissen, welche Maßnahmen erforderlich wären, und der tatsächlichen Umsetzung, denn häufig fehlt es vor Ort an Strategien, um vom Wissen zum Tun zu gelangen.

    2. Vielfalt der Zusammenarbeit und Möglichkeiten, wie man voneinander lernen kann, aufzeigen
    Cover Modul 2Modul II stellt in Form von good practice Beispielen zur Zusammenarbeit Anregungen und konkrete Umsetzungshilfen zur Verfügung. Die Kooperationsbeispiele stehen jeweils für sich und können je nach Interesse anhand des Inhaltsverzeichnisses gefunden und genutzt werden. Modul II soll aufzeigen, wie vielfältig die Formen der Zusammenarbeit zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe sein können, es soll Mut machen, Vorhaben gemeinsam anzugehen und auszuprobieren.

    3. Gemeinsame Basis für die gemeinsame Arbeit anbieten
    In der Arbeitsgruppe, die die Entwicklung der Module begleitete, waren Vertreter/-innen aus der beruflichen Suchthilfe und der Sucht-Selbsthilfe von Bundes-, Diözesan- und Ortsebene vertreten, um die Perspektiven und Bedarfe aller Akteure bestmöglich zu berücksichtigen. Die Arbeitshilfe richtet sich gleichermaßen an die berufliche Suchthilfe und die Sucht-Selbsthilfe. Zusammenarbeit kann nur durch Ansprache und Einbezug beider Partner gelingen – mit denselben Materialien und Grundlagen.

    4. Praktikable und praxisnahe Materialien zur Verfügung stellen

    Einfach erfassbare und ansprechend gestaltete Inhalte statt langer Fließtexte sollen zur Arbeit an einer guten Zusammenarbeit motivieren. Da die Voraussetzungen vor Ort unterschiedlich sind und die gemeinsame Konkretisierung der Inhalte der Arbeitshilfe einen wichtigen Schritt in der Zusammenarbeit vor Ort darstellt, sind die Inhalte nur so weit wie nötig festlegend. Die Rückmeldungen in Bezug auf die Nutzbarkeit in der Praxis sind sowohl im Bereich der Sucht-Selbsthilfe als auch im Bereich der beruflichen Suchthilfe sehr positiv.

    5. Lösungen für „Knackpunkte“ verfügbar machen
    In Modul I wird unter der Überschrift „Vielfalt der Selbsthilfe“ u. a. auch das nicht immer spannungsfreie Thema des Nebeneinanders von verbandlich organisierter und nicht-verbandlich organisierter Selbsthilfe aufgegriffen, das sich auch in Modul II in einzelnen good practice Beispielen wiederfindet. Modul II soll darüber hinaus mit seinen Beispielen bewusst Themen fokussieren, die nicht ganz einfach sind, und konkrete Ansätze aufzeigen, wie durch Kooperationen bisher eher schwer zugängliche Zielgruppen erreicht werden können.

    Die Inhalte der Module sind nicht auf die Nutzung innerhalb der Caritas beschränkt. Die Module können auch von anderen Verbänden und in anderen Kontexten genutzt werden und hilfreich sein.

    Nachhaltigkeit in der guten Zusammenarbeit

    Auf Bundesebene wurde zwischen DCV und Kreuzbund-Bundesverband durch den bisherigen Prozess bereits Nachhaltigkeit in der Zusammenarbeit erreicht. Gegenseitige Akzeptanz und Wertschätzung sind selbstverständlich geworden, und es konnte auch in Bezug auf schwierige Themen ein offener und konstruktiver Austausch erreicht werden. Der gegenseitige Einbezug und der Informationsfluss konnten intensiviert werden – es wurde beispielsweise die gegenseitige Teilnahme an zentralen Konferenzen und Projekten verbindlich implementiert.

    Auch auf Diözesanebene hat sich an vielen Orten eine verbindliche gegenseitige Teilnahme an wichtigen Gremien etabliert, in zwei Diözesen gibt es sogar schriftliche Rahmenvereinbarungen zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe.

    Um auch auf Ortsebene eine nachhaltige Verbesserung der Zusammenarbeit zu fördern, werden folgende Maßnahmen durchgeführt:

    • breite Streuung der Arbeitshilfe im Bereich der beruflichen Suchthilfe und der Sucht-Selbsthilfe – auf allen Ebenen und über verschiedene Verbände der beruflichen Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe
    • Unterstützung von Multiplikatoren/-innen durch Modul III, einem zur Einführung in die Arbeitshilfe entwickelten Foliensatz
    • Unterstützung von gemeinsamen Fachveranstaltungen zum Thema Kooperation auf Diözesan-/Ortsebene
    • Entwicklung eines QM-Moduls zur Zusammenarbeit, welches anschlussfähig ist an QM-Rahmenhandbücher

    Um nachhaltig eine gute und zukunftsorientierte Zusammenarbeit zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe sicherzustellen, braucht es ein langfristiges und kontinuierliches Engagement auf allen Ebenen: Zur Verbesserung der Zusammenarbeit vor Ort sind Multiplikatoren/-innen in der beruflichen Suchthilfe sowie in der Sucht-Selbsthilfe unverzichtbar, die Bundesebenen der beruflichen Suchthilfe sowie der Sucht-Selbsthilfe bleiben weiterhin in der Verantwortung mit folgenden Aufgaben:

    • Unterstützung von Multiplikatoren/-innen und gemeinsamen Veranstaltungen vor Ort
    • Einbindung der Zusammenarbeit in Schulungskonzepte und QM-Systeme
    • gleichberechtigte Berücksichtigung der Schnittstelle zwischen beruflicher Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe neben anderen Themen in Fachdebatten und bei Fachveranstaltungen
    • gezielte Öffentlichkeitsarbeit zur Vermittlung der Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit der Zusammenarbeit

    Eine gute Zusammenarbeit kann nur vor Ort gestaltet und gelebt werden. Der Perspektivprozess auf Bundesebene sowie die vom DCV entwickelte Arbeitshilfe und die durchgeführten Maßnahmen können und sollen die Begegnung, die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der Thematik und die tatsächliche Umsetzung vor Ort nicht ersetzen, aber sie können gute Anregungen und konkrete Umsetzungshilfen bieten.

    Kontakt:

    Dr. Daniela Ruf
    Deutscher Caritasverband e. V.
    Referat Gesundheit, Rehabilitation, Sucht
    Karlstr. 40
    79104 Freiburg
    Daniela.Ruf@caritas.de
    www.caritas.de
    http://www.facebook.com/caritas.deutschland

    Angaben zur Autorin:

    Dr. Daniela Ruf (*1978 in Karlsruhe) schloss 2004 ihr Psychologiestudium an der Universität Freiburg ab. Von 2005 bis 2010 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg, Sektion Klinische Epidemiologie und Versorgungsforschung, beschäftigt – mit den Arbeitsschwerpunkten Sucht, Migration, Demenz, Online-Systeme. Seit 2011 ist sie als Suchtreferentin beim Deutschen Caritasverband, Referat Gesundheit, Rehabilitation, Sucht, tätig – aktuell mit den Schwerpunkten Selbsthilfe, Migration, Online-Beratung/Neue Medien, Internetabhängigkeit.

    Literatur:
    • Braun, B., Künzel, J. & Brand H. (2015). Jahresstatistik 2013 der professionellen Suchtkrankenhilfe. In Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (Hrsg.), Jahrbuch Sucht 2015. Lengerich: Pabst, S. 214-240
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (2001). Informationen zur Suchtkrankenhilfe. Selbsthilfe Sucht. Möglichkeiten – Grenzen – Perspektiven [Online]. Verfügbar unter:
      http://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/Arbeitsfeld_Selbsthilfe/selbsthilfe_sucht_2001.pdf [25. Juni 2015]
    • Eisenbach-Stangl, I. (2003). Suchtkrankenhilfe – Selbsthilfe – Psychotherapie: Komplizierte Verhältnisse. Wiener Zeitschrift für Suchtforschung, 26 (2), S. 5-11
    • Küfner, H., Feuerlein, W. & Huber, M. (1988). Die stationäre Behandlung von Alkoholabhängigen: Ergebnisse der 4-Jahreskatamnesen, mögliche Konsequenzen für Indikationsstellung und Behandlung. Suchtgefahren, 34 (3), S. 157-272
    • Küfner, H. (1990). Die Zeit danach – Alkoholkranke in der Nachsorgephase. In D. Schwoon & M. Krausz (Hrsg.), Suchtkranke. Die ungeliebten Kinder der Psychiatrie. Stuttgart: Ferdinand Enke, S. 189-202
    • Oliva, H. & Walter-Hamann, R. (2013). Suchthilfe in Netzwerken. Praxishandbuch zu Strategie und Kooperation. Freiburg: Lambertus
    • Selbsthilfe- und Abstinenzverbände (2011). Erhebung der fünf Selbsthilfe- und Abstinenzverbände. Statistik 2010 [Online]. Verfügbar unter:
      http://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/Arbeitsfeld_Selbsthilfe/Statistik_der__5_SH-Verbände.pdf [25. Juni 2015]
    • Schwoon, D. (1996). Nutzung professioneller Nachsorge und Selbsthilfegruppen durch Alkoholiker nach stationärer Kurzzeittherapie. In K. Mann & G. Buchkremer (Hrsg.), Sucht. Grundlagen, Diagnostik, Therapie. Stuttgart: Fischer, S. 281-287
  • EMCDDA veröffentlicht den 20. Europäischen Drogenbericht

    EMCDDA veröffentlicht den 20. Europäischen Drogenbericht

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    Beim Launch des Europäischen Drogenberichts 2015 am 4. Juni in Lissabon (v.l.n.r.): João Goulão, Vorsitzender des Verwaltungsrates der EMCDDA, Dimitris Avramopoulos, Europäischer Kommissar für Migration, Inneres und Bürgerschaft, Wolfgang Götz, EMCDDA-Direktor. Foto©EMCDDA

    Veränderte Dynamiken auf dem Heroinmarkt, aktuelle Auswirkungen des Cannabiskonsums und neue Merkmale und Dimensionen der Szene für Stimulanzien und „neue Drogen“ gehören zu den Themen, die von der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) in ihrem gerade in Lissabon veröffentlichten „Europäischen Drogenbericht 2015. Trends und Entwicklungen“ behandelt werden. In ihrem Jahresbericht lässt die EMCDDA 20 Jahre Beobachtungsarbeit Revue passieren und untersucht die globalen Einflüsse und lokalen Auswirkungen der in stetem Wandel begriffenen europäischen Drogenproblematik. Die Daten in diesem Bericht beziehen sich auf das Jahr 2013 bzw. das letzte verfügbare Jahr.

    Heroin verliert zwar an Bedeutung, doch Marktveränderungen erfordern genaue Beobachtung

    Der EMCDDA zufolge machen Probleme im Zusammenhang mit Heroin zwar immer noch einen großen Anteil an den drogenbedingten Gesundheits- und Sozialkosten in Europa aus, jedoch wiesen die jüngsten Entwicklungen in diesem Bereich in eine ‚positivere‘ Richtung. Insgesamt stagniere die Nachfrage nach dieser Droge. Mittlerweile würden weniger Menschen als früher erstmals eine spezialisierte Behandlung wegen Heroinproblemen beginnen: Im Jahr 2013 waren dies 23.000 gegenüber 59.000 im Jahr 2007. Schätzungen zufolge unterzieht sich über die Hälfte (700.000) der 1,3 Millionen europäischen Opioidkonsumenten (d. h. Langzeit- bzw. abhängige Konsumenten) derzeit einer opioidgestützten Substitutionstherapie. Bei den Daten in Bezug auf gemeldete Sicherstellungen, die einen Einblick in die Entwicklung des Heroinangebots ermöglichen, sind ebenfalls Rückgänge zu verzeichnen. Die im Jahr 2013 in der EU sichergestellte Heroinmenge (5,6 Tonnen) war eine der niedrigsten gemeldeten Mengen seit zehn Jahren und entspricht in etwa der Hälfte der im Jahr 2002 sichergestellten Menge (10 Tonnen). Die Zahl der Heroinsicherstellungen fiel ebenfalls von 45.000 im Jahr 2002 auf 32.000 im Jahr 2013. Vor diesem insgesamt positiven Hintergrund erläutert die EMCDDA eine Reihe von Marktveränderungen, die eine genaue Beobachtung erfordern.

    Jüngsten Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge hat die Opiumproduktion in Afghanistan in den Jahren 2013 und 2014 deutlich zugenommen. So liefert das Land den Großteil des in Europa konsumierten Heroins. Diese Entwicklung könnte zu einer höheren Verfügbarkeit von Heroin auf dem europäischen Markt führen. Ferner werden Anzeichen für Neuerungen im Heroinmarkt hervorgehoben, einschließlich der erstmals seit den 1970er Jahren erfolgten Entdeckung von Labors zur Heroinaufbereitung in Europa. In den Jahren 2013 und 2014 wurden in Spanien zwei Labors zur Umwandlung von Morphin in Heroin entdeckt.

    Des Weiteren werden Veränderungen beim Heroinnachschub nach Europa beobachtet. Während die traditionelle „Balkanroute“ nach wie vor eine wichtige Rolle spielt, gibt es Anzeichen, dass die „südliche Route“ an Bedeutung gewinnt. Diese beginnt in Iran und Pakistan und erreicht Europa direkt oder indirekt über die Länder der Arabischen Halbinsel und Ost-, Süd- und Westafrikas. Eine gerade veröffentlichte Studie über den Opioidhandel von Asien nach Europa deutet auf eine Diversifizierung der gehandelten Produkte (z. B. Morphinbase und Opium neben Heroin) und der genutzten Transportmittel und Routen hin (siehe Perspectives on Drugs/POD).

    Neben Heroin stellten die Strafverfolgungsbehörden 2013 in europäischen Ländern eine Reihe weiterer Opioide sicher: Opium, Rohopiumzubereitungen (z. B. „Kompott“), Arzneimittel (Morphin, Methadon, Buprenorphin, Fentanyl und Tramadol) sowie neuartige synthetische Opioide.

    Ältere Opioidkonsumenten benötigen maßgeschneiderte Therapieangebote

    Opioidabhängigkeit ist häufig ein chronischer Zustand, weshalb die Bereitstellung geeigneter Behandlungs- und Pflegeangebote für Langzeitkonsumenten von Opium inzwischen eine immer größere Herausforderung für Behandlungs- und Sozialdienste darstellt. Im Bericht wird gezeigt, wie sich das Durchschnittsalter der Personen, die sich wegen Opioidproblemen in Behandlung begeben, entwickelt. So stieg das Durchschnittsalter zwischen 2006 und 2013 um fünf Jahre. Ein bedeutender Teil der Opioidkonsumenten in Europa mit einer langen Vorgeschichte des Mehrfachkonsums befindet sich mittlerweile im vierten oder fünften Lebensjahrzehnt. Ein seit langem bestehender schlechter körperlicher und psychischer Gesundheitszustand, ungünstige Lebensbedingungen, Infektionen und der missbräuchliche Mehrfachkonsum (u. a. auch von Alkohol und Tabak) machen diese Konsumentengruppe anfällig für eine Reihe von chronischen Gesundheitsproblemen (z. B. kardiovaskuläre und pulmonale Erkrankungen und Hepatitis).

    Benötigt werden laut Bericht klinische Leitlinien, die den demografischen Wandel unter Europas problematischen Opioidkonsumenten berücksichtigen. Solche Leitlinien würden eine wirksame klinische Praxis begünstigen und folgende Themen umfassen: Mitnahme-Dosen von Arzneimitteln für die Substitutionstherapie (z. B. Methadon und Buprenorphin), Schmerztherapien und die Behandlung von Infektionen. Wenige Länder melden die Verfügbarkeit zielgerichteter Programme für ältere Drogenkonsumenten. Diese Personengruppe wird in der Regel in bestehende Drogentherapieangebote integriert. Die Niederlande sind eines der Länder, in denen Altenpflegeheime eingerichtet wurden, die an die Bedürfnisse älterer Drogenkonsumenten angepasst sind.

    Verbesserte Therapien bei Hepatitis C und stagnierende Zahlen bei HIV-Neudiagnosen

    Aufgrund der Übertragung durch die gemeinsame Nutzung von Nadeln, Spritzen und anderem Spritzbesteck ist Hepatitis C die am häufigsten vorkommende Infektionskrankheit unter drogeninjizierenden Personen in Europa. Nationale Stichproben im Zeitraum 2012/2013 bei dieser Personengruppe ergaben eine Hepatitis C-Virus-Infektionsrate zwischen 14 und 84 Prozent. Eine Hepatitis C-Infektion verläuft anfänglich häufig ohne Symptome und kann jahrzehntelang unentdeckt bleiben. Viele Infizierte entwickeln später eine chronische Hepatitis, wodurch sich ihr Risiko für die Entwicklung von Lebererkrankungen (z. B. Leberzirrhose und Leberkrebs) erhöht.

    Eine wachsende Anzahl von Ländern haben spezifische Hepatitis C-Strategien verabschiedet oder arbeiten zurzeit daran. Diese Strategien sollen insbesondere den Zugang zu Hepatitis C-Tests sicherstellen. Obwohl aktuell antivirale Arzneimittel erhältlich sind, die den Fortschritt der Erkrankung verhindern oder eine vollständige Genesung ermöglichen, beschränken fehlende Diagnostik und hohe Arzneimittelkosten die Reichweite dieser neuen Behandlungsangebote.

    2011 und 2012 sind die Zahlen neuer HIV-Diagnosen, die dem injizierenden Konsum zugeordnet waren, angestiegen, hauptsächlich bedingt durch HIV-Krankheitsausbrüche in Griechenland und Rumänien. Die neuesten Zahlen zeigen, dass der Anstieg inzwischen gestoppt und die Gesamtzahl der Fälle in der EU auf ein Niveau wie vor den Ausbrüchen gesunken ist. Vorläufige Zahlen für 2013 weisen 1.458 neu gemeldete HIV-Infektionen gegenüber 1.974 im Jahr 2012 aus. Damit kehrt sich der seit 2010 bestehende Aufwärtstrend um. Trotz der in diesem Bereich erzielten Fortschritte hält die EMCDDA es für notwendig, wachsam zu bleiben und ein angemessenes Behandlungsangebot bereitzustellen.

    Bekämpfung von Überdosierungen – eine gesundheitspolitische Herausforderung

    Die Verringerung der Zahl tödlicher Überdosierungen und anderer drogenbedingter Todesfälle (z. B. als Folge von drogenbedingten Erkrankungen, Unfällen und Suizid) ist und bleibt eine zentrale Aufgabe der aktuellen Gesundheitspolitik. Schätzungen zufolge soll es im Jahr 2013 zu mindestens 6.100 Todesfällen aufgrund von Überdosierung, meist im Zusammenhang mit Heroin und anderen Opioiden, gekommen sein.

    In einer den aktuellen Bericht begleitenden neuen Analyse wird der Missbrauch von Benzodiazepinen unter Hochrisiko-Opioidkonsumenten, die diese Arzneimittel zur Selbstmedikation oder zur Verstärkung der Wirkung von Opioiden nehmen, näher beleuchtet (siehe POD). Die Analyse zeigt, wie der kombinierte Konsum von Opioiden, Benzodiazepinen und anderen zentralnervös wirksamen Beruhigungsmitteln (z. B. auch Alkohol) zu einer erhöhten Lebensgefahr durch Überdosierung beiträgt. Verschreibungen und Leitlinien für die klinische Praxis könnten für die Bewältigung dieses komplexen Problems eine entscheidende Rolle spielen.

    Maßnahmen zur Vorbeugung von Überdosierungen umfassen zielgerichtete Strategien, Aufklärung über Risiken des Drogenkonsums sowie mögliche Hilfen bei Überdosierungen, einschließlich der Verteilung von Naloxon in Mitnahme-Dosen. Einige Länder haben eine seit langem bewährte Praxis der Bereitstellung von Drogenkonsumräumen. In sechs europäischen Berichtsländern der EMCDDA werden derartige Dienste derzeit in insgesamt rund 70 Einrichtungen angeboten (Dänemark, Deutschland, Spanien, Luxemburg, Niederlande und Norwegen), während in Frankreich vor kurzem ein Modellversuch von Drogenkonsumräumen genehmigt wurde. Eine Überprüfung der in diesen Einrichtungen erbrachten Dienstleistungen ergänzt die diesjährige Analyse (siehe POD) und zeigt, wie mittels Drogenkonsumräumen eine ‚lokale Antwort‘ auf ‚lokale Probleme‘ gegeben wird. Unter anderem können Drogenkonsumräume eine Rolle bei der Reduzierung drogenbedingter Schäden (einschließlich Todesfälle durch Überdosierung) spielen und hilfreich sein, um schwer erreichbare Drogenkonsumenten an Gesundheitsdienste heranzuführen.

    Wachsende Bedeutung von Cannabis innerhalb der Drogenbehandlungssysteme in Europa

    Cannabis ist nach wie vor die am häufigsten konsumierte illegale Droge in Europa: 19,3 Millionen Erwachsene im Alter zwischen 15 und 64 Jahren geben an, die Droge in den vergangenen zwölf Monaten konsumiert zu haben. 14,6 Millionen davon sind junge Erwachsene im Alter zwischen 15 und 34 Jahren. Schätzungen zufolge konsumiert ein Prozent aller Erwachsenen die Droge täglich oder nahezu täglich.

    Aus Erhebungen unter der Allgemeinbevölkerung von drei Ländern (Deutschland, Spanien und das Vereinigte Königreich) geht eine rückläufige oder stagnierende Prävalenz des Cannabiskonsums in den letzten zehn Jahren hervor. Steigerungen wurden dagegen in Bulgarien, Frankreich und vier nordischen Ländern (Dänemark, Finnland, Schweden und Norwegen) beobachtet. Insgesamt zeigen die Ergebnisse der aktuellen Erhebungen uneinheitliche Trends im Cannabiskonsum der letzten zwölf Monate bei jungen Erwachsenen.

    Die hohe Prävalenz der Droge spiegelt sich in der Anzahl an Personen wider, die eine spezialisierte Drogentherapie beginnen. So gibt die größte Gruppe von Erstpatienten inzwischen Cannabis als ihr Hauptdrogenproblem an. Die Gesamtzahl der Patienten in Europa, die sich erstmals wegen Cannabisproblemen in Behandlung begaben, stieg von 45.000 im Jahr 2006 auf 61.000 im Jahr 2013. Während sich viele der eine Behandlung beginnenden Cannabispatienten selbst einweisen (34 Prozent), geht aus der Analyse hervor, dass etwa ein Viertel derjenigen, die eine Behandlung wegen Cannabis als Primärdroge begannen (23.000), fremdmotivierte Überweisungen aus dem Strafjustizsystem waren. Wissenschaftliche Erkenntnisse sprechen für psychosoziale Interventionen bei der Behandlung von Drogenproblemen. Bei der Behandlung von Problemen im Zusammenhang mit Cannabis wird von diesen auch umfassend Gebrauch gemacht. Diese Ansätze werden in einer den Bericht begleitenden Analyse (siehe POD) und in einer aktuellen Insights-Ausgabe der EMCDDA erforscht.

    Akute Notfälle im Zusammenhang mit Cannabiskonsum können – wenngleich selten – nach dem Konsum der Substanz, insbesondere in hohen Dosen, auftreten (siehe unten den Abschnitt zum Reinheitsgrad). In einer in Notfalleinrichtungen durchgeführten aktuellen Studie wurde in elf von 13 untersuchten europäischen Ländern im Zeitraum zwischen 2008 und 2012 ein Anstieg der Zahl der Notfälle im Zusammenhang mit Cannabiskonsum festgestellt.

    Im aktuellen Bericht wird die zentrale Rolle von Cannabis in Statistiken über Drogenkriminalität hervorgehoben, denen zufolge 80 Prozent der Sicherstellungen auf die Droge und 60 Prozent aller gemeldeten Drogendelikte in Europa auf den Konsum oder Besitz von Cannabis für den eigenen Gebrauch entfallen.

    Die Zahl der Sicherstellungen von Cannabiskraut in Europa überstieg im Jahr 2009 die von Cannabisharz, und diese Kluft hat sich noch weiter vergrößert. Im Jahr 2013 entfielen von den 671.000 in der EU gemeldeten Cannabis-Sicherstellungen 431.000 auf Cannabiskraut (Marihuana) und 240.000 auf Cannabisharz (Haschisch). Dieser Trend liegt vermutlich zum großen Teil in der Tatsache begründet, dass immer mehr in Europa gezüchtetes Cannabiskraut verfügbar ist, was sich an der wachsenden Zahl der Beschlagnahmungen von Cannabispflanzen zeigt. Dennoch ist die in der EU sichergestellte Menge an Cannabisharz immer noch deutlich höher als die Menge an sichergestelltem Cannabiskraut (460 Tonnen gegenüber 130 Tonnen).

    Mehr als 130 verschiedene synthetische Cannabinoide, die als legaler Ersatz für Cannabis verkauft werden und dem Cannabismarkt eine neue Dimension hinzufügen, wurden bislang über das EU-Frühwarnsystem entdeckt. Der Konsum dieser Substanzen kann gesundheitsschädliche Auswirkungen haben (z. B. Nierenschäden, kardiovaskuläre und pulmonale Erkrankungen und Krämpfe). Jüngste Todesfälle und akute Vergiftungen in Europa und der Welt im Zusammenhang mit diesen Substanzen haben die EMCDDA dazu bewegt, Warnmeldungen in Bezug auf die Gefährdung der öffentlichen Gesundheit herauszugeben.

    Wettbewerb im umkämpften Stimulanzienmarkt

    Europa steht einem hart umkämpften Stimulanzienmarkt gegenüber, auf dem sich das Angebot von Kokain, Amphetaminen, Ecstasy und einer wachsenden Anzahl an synthetischen Drogen an ähnliche Konsumentengruppen richtet. Kokain ist nach wie vor das am häufigsten konsumierte illegale Stimulans in Europa, doch konzentriert sich die Mehrheit der Konsumenten auf eine kleine Zahl von westlichen EU-Ländern. Schätzungsweise 3,4 Millionen Erwachsene der Altersgruppe zwischen 15 und 64 Jahren haben in den zurückliegenden zwölf Monaten Kokain konsumiert. Davon waren 2,3 Millionen junge Erwachsene zwischen 15 und 34 Jahren. Nur wenige Länder meldeten für die letzten zwölf Monate eine Kokainprävalenz unter jungen Erwachsenen von mehr als drei Prozent. Bei den neuesten Daten ist ein Rückgang des Kokainkonsums feststellbar. Von den Ländern, die seit 2012 Erhebungen durchführen, meldeten acht niedrigere Schätzungen und drei höhere Schätzungen im Vergleich zur vorangegangenen Erhebung.

    Der Konsum von Amphetaminen, darunter Amphetamine und Metamphetamine, liegt insgesamt auf niedrigerem Niveau als der Kokainkonsum in Europa. So gaben etwa 1,6 Millionen Erwachsene an, in den letzten zwölf Monaten eine dieser Drogen konsumiert zu haben. 1,3 Millionen davon waren junge Erwachsene im Alter zwischen 15 und 34 Jahren. Der aktuelle Bericht beleuchtet ferner neue Muster des Metamphetaminkonsums. So wurde in der Tschechischen Republik ein deutlicher Anstieg des hochriskanten Metamphetaminkonsums (vor allem injizierender Konsum) beobachtet, wobei die Zahl der Konsumenten Schätzungen zufolge von rund 21.000 im Jahr 2007 auf über 34.000 im Jahr 2013 gestiegen ist. Des Weiteren wird aus einer Reihe von europäischen Ländern der injizierende Konsum von Metamphetamin in Kombination mit anderen Stimulanzien (z. B. synthetische Cathinone) unter kleinen Gruppen von Männern, die Geschlechtsverkehr mit anderen Männern praktizieren, gemeldet. Diese als „Slamming“ bezeichneten Praktiken geben aufgrund der Kombination von hochriskantem Drogenkonsum und riskantem Sexualverhalten Anlass zur Besorgnis.

    Schätzungsweise 2,1 Millionen Erwachsene der Altersgruppe zwischen 15 und 64 Jahren haben in den zurückliegenden zwölf Monaten Ecstasy konsumiert. Davon waren 1,8 Millionen junge Erwachsene zwischen 15 und 34 Jahren. Nach einem Zeitraum, in dem als Ecstasy verkaufte Tabletten unter Konsumenten im Ruf standen, von schlechter Qualität bzw. Produktfälschungen zu sein, ist hochreines MDMA in Pulver- und Tablettenform inzwischen weiter verbreitet (siehe unten den Abschnitt zum Reinheitsgrad).

    Synthetische Cathinone wie Mephedron, Pentedron und MDPV sind in einigen europäischen Ländern inzwischen zu einer festen Größe auf dem Markt für illegale Stimulanzien geworden und werden häufig abwechselnd mit Amphetamin und Ecstasy konsumiert. Der injizierende Konsum synthetischer Cathinone ist – obgleich in Europa kein besonders weit verbreitetes Phänomen – in einigen Ländern ein lokales Problem bei Gruppen von Hochrisiko-Drogenkonsumenten. Steigender Behandlungsbedarf im Zusammenhang mit dem Konsum dieser Substanzen wird aus Ungarn, Rumänien und dem Vereinigten Königreich gemeldet.

    Zunahme des Wirkstoffgehalts und des Reinheitsgrads gibt Anlass zur Besorgnis

    Ein zentraler Befund des diesjährigen Berichts ist der deutliche Anstieg des Wirkstoffgehalts und des Reinheitsgrads der europaweit am häufigsten konsumierten illegalen Drogen, was Bedenken hinsichtlich der Gesundheit der Konsumenten hervorruft, die bewusst oder unbewusst möglicherweise stärkere Produkte konsumieren. Die Gesamtentwicklung im Zeitraum 2006 bis 2013 zeigt, dass in den Ländern, die regelmäßig Meldungen übermitteln, ein Anstieg des Wirkstoffgehalts von Cannabis (THC-Gehalt), des Reinheitsgrads von Kokain und des MDMA-Gehalts in Ecstasy-Tabletten zu verzeichnen ist. Der Reinheitsgrad von Heroin ist 2013 ebenfalls gestiegen. Technische Innovation und Wettbewerb sind zwei Faktoren, die aller Wahrscheinlichkeit nach für diesen Trend verantwortlich sind.

    Hervorgehoben werden Bedenken angesichts von Ecstasy-Tabletten mit hohem MDMA-Gehalt, die oft in individuellen Formen und mit markanten Logos angeboten werden. Im Laufe des vergangenen Jahres haben die EMCDDA und Europol Warnmitteilungen zu Gesundheitsrisiken im Zusammenhang mit dem Konsum derartiger Produkte herausgegeben. Weitere Warnmitteilungen, die nach einer Reihe von Todesfällen herausgegeben wurden, betrafen Tabletten, die als Ecstasy verkauft wurden, aber andere schädliche Substanzen wie PMMA enthielten.

    Zwei „neue Drogen“ pro Woche entdeckt

    Pro Woche wurden in den letzten zwölf Monaten in der EU zwei neue psychoaktive Substanzen (NPS oder „neue Drogen“, häufig als „Legal Highs“ verkauft) entdeckt. Insgesamt wurden dem EU-Frühwarnsystem im Jahr 2014 101 neue Substanzen gemeldet (gegenüber 81 Substanzen im Jahr 2013). Damit setzte sich der Aufwärtstrend bei Substanzen, die innerhalb eines einzelnen Jahres gemeldet wurden, fort. Die Gesamtzahl von Substanzen, die von der Beobachtungsstelle überwacht werden, steigt so auf über 450, wobei mehr als die Hälfte allein in den zurückliegenden drei Jahren identifiziert wurde.

    Im Jahr 2014 wurde die Liste der gemeldeten Substanzen einmal mehr von zwei Gruppen dominiert: von synthetischen Cathinonen (31 Substanzen) und synthetischen Cannabinoiden (30 Substanzen), die jeweils häufig als legaler Ersatz für Stimulanzien bzw. Cannabis angeboten werden. Diese beiden Gruppen sind die größten der über das EU-Frühwarnsystem beobachteten Gruppen und machen zusammen fast zwei Drittel der im Jahr 2014 gemeldeten neuen Drogen aus. Neue Daten zu Sicherstellungen zeigen, dass im Jahr 2013 in der EU etwa 35.000 Sicherstellungen von NPS gemeldet wurden. Diese Zahl ist in Ermangelung von routinemäßigen Meldungen in diesem Bereich als Mindestschätzung anzusehen. Die am häufigsten sichergestellten Drogen waren synthetische Cannabinoide und synthetische Cathinone.

    Neue Studien und Erhebungen gewähren zunehmend Einblicke in den Konsum von NPS, wobei neun Länder die NPS-Prävalenz mittlerweile in ihre nationalen Drogenerhebungen aufgenommen haben. Die meisten EU-Länder weisen eine niedrige Prävalenz des Konsums dieser Substanzen auf. Allerdings kann aufgrund der hochtoxischen Eigenschaften einiger NPS auch ein begrenzter Konsum dieser Substanzen problematisch sein. Die gesundheits- und sozialpolitischen Maßnahmen zur Bewältigung der durch neue Drogen entstehenden Herausforderungen gewinnen an Dynamik und umfassen das gesamte Spektrum an Maßnahmen zur Bekämpfung der stärker etablierten Drogen (z. B. Aufklärungsarbeit, internetbasierte Interventionen und Nadel- und Spritzenaustauschprogramme).

    Das Internet und Apps: Entwicklung eines virtuellen Drogenmarkts

    Das Internet spielt beim Nachschub und der Vermarktung von Drogen in Europa eine immer wichtigere Rolle. So werden sowohl NPS als auch etablierte Drogen online zum Kauf angeboten. Die Nutzung des über die einschlägigen Suchmaschinen zugänglichen „Surface Web“ zum Verkauf von NPS hat in den letzten zehn Jahren größere Aufmerksamkeit erfahren. So identifizierte die EMCDDA rund 650 Websites, auf der „Legal Highs“ für die europäische Kundschaft angeboten werden. Eine problematische Entwicklung auf dem Online-Markt ist der Verkauf illegaler Drogen auf „Kryptomärkten“ oder auf Online-Marktplätzen im „Deep Web“, die über Verschlüsselungssoftware zugänglich sind. Auf derartigen Plattformen können Waren und Dienstleistungen anonym zwischen den Parteien ausgetauscht werden. Dabei werden häufig „Kryptowährungen“ (z. B. Bitcoin) eingesetzt, um verborgene Transaktionen zu erleichtern. So genannte „graue Märkte“ sind ebenfalls zunehmend zu finden. Hierbei handelt es sich um Websites, die sowohl im „Surface Web“ als auch im „Deep Web“ betrieben werden. Im Bericht wird erläutert, wie soziale Medien und Apps bei derartigen Drogengeschäften eingesetzt werden – entweder direkt zum Kaufen und Verkaufen von Drogen oder indirekt zu Zwecken des Marketings, der Meinungsbildung oder des Erfahrungsaustausches.

    „Insgesamt stellt das Wachstum der Online- und virtuellen Drogenmärkte Strafverfolgung und Drogenkontrollpolitik vor große Herausforderungen“, lautet eine zentrale Aussage des Berichts. Bestehende Regulierungsmodelle müssten angepasst werden, um in einem globalen und virtuellen Kontext zu funktionieren.

    João Goulão, Vorsitzender des Verwaltungsrates der EMCDDA, zieht folgendes Fazit: „Diese 20. Analyse der europäischen Drogenproblematik macht deutlich, wie viel sich seit der Veröffentlichung des ersten Berichts der EMCDDA im Jahr 1996 geändert und wie sehr die Beobachtungsstelle ihre Kenntnisse in diesem Bereich vertieft hat. Die Drogenproblematik ist inzwischen weitaus komplexer, da viele der in diesem Bericht genannten Substanzen vor zwei Jahrzehnten praktisch unbekannt waren. Die Grenzen zwischen alten und neuen Drogen verschwimmen ebenfalls immer mehr, da neuartige Substanzen zunehmend kontrollierte Drogen nachahmen. Dieser jährliche Einblick in die Drogenproblematik in Europa bildet eine wertvolle Grundlage für fundierte Diskussionen über die aktuelle Drogenpolitik. Außerdem vermittelt er wichtige Erkenntnisse im Hinblick auf politische Strategien, die in der Zukunft benötigt werden.“

    Das vollständige Informationspaket „Europäischer Drogenbericht 2015“ ist erhältlich unter www.emcdda.europa.eu/edr2015.

    Pressestelle der EMCDDA, 04.06.2015

  • Suchthilfe und Versorgungssituation in Deutschland

    Suchthilfe und Versorgungssituation in Deutschland

    Dr. Andreas Koch
    Dr. Andreas Koch

    Das Verständnis von Suchthilfe muss im Kontext vergangener und aktueller Entwicklungen wie z. B. der Einführung des Neunten Sozialgesetzbuches, der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) und der 2006 von den Vereinten Nationen verabschiedeten UN‐Behindertenrechtskonvention (UN‐BRK) immer wieder neu definiert werden. Die Auffassungen davon, was hilfreich, wirksam, logisch und effizient ist, prallen auf die harten Bedingungen der Machbarkeit und Finanzierbarkeit in einem sozial‐ und leistungsrechtlich stark gegliederten Versorgungssystem. Statt einer volkswirtschaftlich orientierten Optimierung des Gesamtsystems befürchten viele Experten für die Zukunft eine zunehmend betriebswirtschaftlich orientierte, ineffiziente Optimierung von Teilsystemen mit beliebig anmutender Ressourcenverschiebung auf Kosten jeweils anderer Segmente. Finanziell begründete Restriktionen in komplementären Versorgungsfeldern führen möglicherweise dazu, dass Patienten mit ‚schlechten‘ Prognosen zunehmend weniger erreicht werden.

    Aktuelle Entwicklungen machen eine Bestandsaufnahme erforderlich!

    Um die wesentlichen Meilensteine der Entwicklung des deutschen Suchthilfesystems identifizieren und daraus Handlungsempfehlungen für die Zukunft ableiten zu können, wurde von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) 2012 ein Ausschuss eingesetzt, der mit Experten aus unterschiedlichen Leistungsbereichen und Verbänden besetzt war. Dieser Ausschuss hat sich intensiv mit den sozial- und leistungsrechtlichen Grundlagen der verschiedenen Bereiche des Suchthilfesystems auseinandergesetzt, eine umfassende Analyse der Funktionsfähigkeit des Systems erarbeitet und Perspektiven für die zukünftige Entwicklung aufgezeigt. Dem Ausschuss gehörten an: Gabriele Bartsch (Stv. Geschäftsführerin DHS), Renate Walter-Hamann (Deutscher Caritasverband), Hans Böhl (Jugendberatung und Jugendhilfe Frankfurt/Caritas Suchthilfe), Eberhard Ewers (Der Paritätische Gesamtverband), Dr. Heribert Fleischmann (Bezirkskrankenhaus Wöllershof/Vorsitzender DHS), Dr. Andreas Koch (Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe), Jost Leune (Fachverband Drogen- und Suchthilfe), Dr. Theo Wessel (Gesamtverband für Suchtkrankenhilfe/Stv. Vorsitzender DHS).

    Die von dem Expertenausschuss erstellte Strukturanalyse mit dem Titel „Suchthilfe und Versorgungssituation in Deutschland“ wurde von der DHS im Februar 2014 veröffentlicht und stand bislang nur als pdf-Dokument zur Verfügung. Nun wird sie auch ‚internetgerecht‘ dargestellt. Sie ist auf der Internetseite der DHS unter DHS Stellungnahmen > Versorgungsstrukturen freigeschaltet. Alle Interessierten sind herzlich dazu eingeladen, sich mit den Ergebnissen der Analyse kritisch auseinanderzusetzen und in eine Diskussion mit der DHS einzutreten. Im Folgenden werden die wesentlichen Inhalte und Ergebnisse kurz zusammengefasst.

    Warum ist das deutsche Suchthilfesystem so, wie es ist?

    Um zu verstehen, wie das deutsche Suchthilfesystem funktioniert und warum es sich so entwickelt hat, ist es notwendig, einen Blick auf die Entwicklung der letzten 50 Jahre zu werfen. Beginnend mit dem Urteil des Bundessozialgerichtes (BSG) von 1968 zur grundsätzlichen Anerkennung von ‚Trunksucht‘ als Krankheit und den folgenden Urteilen zur leistungsrechtlichen Zuständigkeit von Kranken‐ und Rentenversicherung werden die unterschiedlichen Entwicklungslinien aufgezeigt. Mit Hilfe eines Zeitstrahls, in dem die wesentlichen Meilensteine (BSG‐Urteile, Modellprojekte, Rahmenkonzepte etc.) verzeichnet sind, lässt sich nicht nur die chronologische Entwicklung des Suchthilfesystems in Deutschland nachzeichnen, sondern es werden auch die Kausalzusammenhänge deutlich, die zu der teilweise sehr komplexen Struktur des Suchthilfesystems bis heute geführt haben. Die historische Entwicklung hat einerseits zu einem sehr breiten und differenzierten Angebot von Hilfen und Interventionen geführt, andererseits aber auch zu einem teilweise unübersichtlichen Geflecht von Rechtsgrundlagen, Zuständigkeiten und Finanzierungsformen.

    Was funktioniert im Suchthilfesystem und was nicht?

    Bei der Analyse und Bewertung der Funktionsfähigkeit des Suchthilfesystems gilt es, eine Vielzahl von Aspekten zu berücksichtigen: die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die unterschiedlichen Zielgruppen, die vielfältigen Finanzierungsgrundlagen, die Anforderungen der Leistungsträger, die verschiedenartigen Leistungserbringer mit ihren sehr unterschiedlichen und teilweise stark voneinander abgegrenzten Angeboten. Im Suchthilfesystem und zwischen den darüber hinaus involvierten Systemen gibt es eine Vielzahl von Schnittstellen, deren Funktionieren erheblich über Erfolg oder Misserfolg personenzentrierter Suchthilfe entscheidet. Zur Analyse und Bewertung der Funktionsfähigkeit des Suchthilfesystems wurden in einem ersten Schritt die relevanten Interventionen im Hilfesystem identifiziert und in einer Matrix die leistungsrechtlichen Grundlagen (SGB’s, weitere Gesetze, freiwillige Leistungen) dargestellt. Weiterhin wurden zur Darstellung der Funktionsfähigkeit des Hilfesystems an konkreten Beispielen exemplarische Zielgruppen (typische/häufige Personengruppen oder Menschen mit besonderem Hilfebedarf) beschrieben. In einem zweiten Schritt wurde in verschiedenen Expertendiskussionen analysiert, wie bedarfsgerecht diese Zielgruppen beraten bzw. behandelt werden und wie gut die unterschiedlichen Interventionen ineinandergreifen. Auf dieser Grundlage wurden in einer weiteren Matrix die Ergebnisse der Analyse der aktuellen Versorgungsrealität dargestellt. Die einzelnen Bewertungen sind mit Begründungen hinterlegt.

    Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es für jeden (auch sehr spezifischen) Hilfebedarf von betroffenen Menschen passende Angebote im deutschen Suchthilfesystem gibt. Problematisch ist allerdings, dass die Zuständigkeiten und Finanzierungsmöglichkeiten extrem kompliziert geregelt sind und ein nahtloses Ineinandergreifen sinnvoll kombinierter Interventionen daher nicht immer möglich ist.

    Wie soll sich das Hilfesystem zukünftig entwickeln?

    Aus den Analyseschritten (historische Entwicklung und kritische Bestandsaufnahme zur aktuellen Situation) wurden Handlungsempfehlungen abgeleitet. Damit das Suchtversorgungssystem auch in Zukunft in seiner Wirksamkeit und Leistungsfähigkeit erhalten werden kann, sind Weiterentwicklungen auf der Ebene der Rahmenbedingungen und der Institutionen notwendig. Im Hinblick auf die Rahmenbedingungen (strategische Ebene) sollten beispielsweise die konsequente Umsetzung des SGB IX und seine zielgerichtete Weiterentwicklung zu einem wirksamen Leistungsgesetz ebenso im Fokus der zukünftigen Entwicklung stehen wie die Aufrechterhaltung der Koordinationsfunktion der Bundesländer. Im Hinblick auf die Institutionen (operative Ebene) sollte die Etablierung von verbindlichen Kooperationsstrukturen (Suchthilfenetzwerke, Case Management) im Mittelpunkt der Entwicklung stehen. Und schließlich müssen Dokumentation, Statistik und Forschung stärker als bisher die Wirksamkeit einzelner Interventionen und des gesamten Systems in den Blick nehmen. Staat und Gesellschaft werden die Leistungsfähigkeit des Suchthilfesystems in Deutschland zukünftig kritischer bewerten und dabei verstärkt die Frage nach dem ‚Social Return on Investment‘ stellen. Daher sind Maßnahmen zur verbesserten Koordination der einzelnen Segmente und zur transparenteren Darstellung der Wirksamkeit der Leistungen erforderlich.

    Kontakt:

    Dr. Andreas Koch
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V.
    Wilhelmshöher Allee 273
    34131 Kassel
    andreas.koch@suchthilfe.de
    www.suchthilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V., Kassel, Vorstandsmitglied der DHS und Mitherausgeber von KONTUREN online.

  • TaKeTiNa-Rhythmustherapie

    TaKeTiNa-Rhythmustherapie

    Frank Rihm
    Frank Rihm

    Suchtpatienten und Patienten in psychosomatischen Kliniken zeichnen sich häufig dadurch aus, dass sie in ihrem Leben zu selten die Erfahrung von Sicherheit und Vertrauen gemacht haben. Sie haben in der Regel nicht das Gefühl, dass sie im Leben und in der Gesellschaft einen Platz haben, dass der Boden unter den Füßen trägt und sie das eigene Leben in die Hand nehmen und gestalten können. Jahrelange therapeutische Erfahrung hat gezeigt, dass für Menschen, die das Grundgefühl des Nicht-Dazu-Gehörens in sich tragen, die so genannte TaKeTiNa-Rhythmustherapie sehr hilfreich sein kann und zur Genesung beiträgt.

    Die Grundidee: Sich vom Rhythmus tragen lassen

    TaKeTiNa ist der Name einer Methode, die es Menschen ermöglicht, Rhythmus mit dem Körper ganzheitlich zu erleben. Der Lehrer bedient sich dabei einer ausgefeilten Rhythmussprache bestehend aus Rhythmussilben. Er spricht dem Kursteilnehmer vor, was dieser auf dem Instrument spielen soll. Die Silben „ta“, „ke“, „ti“ und „na“ haben sich dazu als besonders geeignet erwiesen.

    Der TaKeTiNa-Prozess vermittelt Rhythmus so, wie ihn der Mensch von Natur aus am besten erfassen und lernen kann. Er führt den Teilnehmer direkt zur körperlichen Erfahrung rhythmischer Urbewegungen und damit zu jenen Grundbausteinen, aus denen sich die Rhythmik jeder Musik zusammensetzt. Der Körper selbst wird zum Musikinstrument, die Begegnung mit Rhythmus ist daher entsprechend direkt und intensiv. Mit Stimme, Klatschen und Schrittbewegungen werden gleichzeitig drei unterschiedliche Rhythmusebenen aufgebaut. Das damit verbundene „Aus dem Rhythmus fallen“ und wieder „In den Rhythmus zurückfinden“ ist das Prinzip, mit dem die Teilnehmer lernen, sich immer tiefer vom Rhythmus tragen zu lassen. Intention und Hingabe, Machen und Geschehen-Lassen, Aktiv- und Passivsein verbinden sich spielerisch miteinander, sodass die Teilnehmer immer mehr den Zustand im „Hier und Jetzt“ erleben können. Die Heiligenfeld Kliniken in Bad Kissingen setzen TaKeTiNa als Rhythmustherapie seit 25 Jahren erfolgreich ein. „Die Erfahrung, von den Grundstrukturen des Rhythmus in der Gruppe getragen zu sein, sich zu verlieren, sich wiederzufinden und sich sicherer in sich selbst zu verankern, sind fundamentale und enorm bereichernde Komponenten im Rahmen einer psychosomatischen stationären Behandlung“, erklärt Dr. Joachim Galuska, leitender ärztlicher Direktor, Geschäftsführer und Mitbegründer der Heiligenfeld Kliniken.

    TaKeTiNa in der Psychotherapie

    Viele Patienten fühlen sich in Folge von Traumatisierung oder Bindungsstörungen immer wieder oder ständig bedroht. Wenn sie die Augen schließen, fühlen sie sich, als würden sie in eine dunkle, unendliche Tiefe fallen, ohne jeglichen Halt und ohne die Chance einer Stabilisierung. Häufig leiden diese Patienten unter Depersonalisation oder Derealisation und nehmen sich selbst, ihre Umwelt und andere Menschen als unwirklich wahr. Für diese Patienten kann der TaKeTiNa-Prozess sehr hilfreich sein, indem er zu einer verbesserten Körperwahrnehmung führt und zwanghaft kreisende Gedanken unterbricht. Viele Patienten fühlen sich durch die körperliche Erfahrung des Rhythmus seit langer Zeit zum ersten Mal wieder sicher und geborgen, und die sonst so belastende Trennung zwischen ihnen und ihrer Umwelt weicht für Momente dem Gefühl der Verbundenheit. TaKeTiNa arbeitet mit der elementarsten Kraft des Lebens – mit Rhythmus. Dieser ist in TaKeTiNa Spiegel und zugleich die Kraft, mit der behindernde Verhaltensweisen aufgelöst und Qualitäten entwickelt werden können, die die Essenz menschlichen Lebens ausmachen: Intuition und Kreativität, innere Stille und mentale Stärke, Angstlosigkeit und das Vertrauen, in komplexen Situationen die Übersicht zu behalten.

    Frank Rihm mit TaKeTiNa-Schülern
    Frank Rihm mit TaKeTiNa-Schülern

    TaKeTiNa wurde von dem Wiener Musiker, Komponist, Autor und weltweit agierenden Seminarleiter Reinhard Flatischler begründet und gilt als einer der effektivsten Lernprozesse unserer Zeit. In den Heiligenfeld Kliniken wurde TaKeTiNa so modifiziert, dass auch Patienten mit Persönlichkeitsstörungen oder mit neurotischen Problemen das Verfahren sehr erfolgreich nutzen können. TaKeTiNa wird ganz besonders dazu genutzt, Menschen, die schwerwiegende und durch verbale Interventionen nur bedingt erreichbare Probleme haben, in eine positive Entwicklung zu bringen. Die Patienten verstehen das Verfahren intuitiv sehr schnell und nehmen das Angebot deshalb auch sehr gerne wahr. Sie erfahren, dass TaKeTiNa ein effektiver Weg sein kann, ihnen tiefe Entwicklungs- und Veränderungsprozesse zu ermöglichen. Ein Weg, der sie einerseits mit Episoden aus ihrer Vergangenheit in Berührung bringt, der sie andererseits aber auch in die Gegenwart und zu einer besseren Selbsteinschätzung führt. Sie können die im Rhythmus innewohnende Kraft und das Zusammenspiel in der Gruppe nutzen, um vermisste Qualitäten und Fähigkeiten nachreifen zu lassen. Gleichzeitig konfrontiert sie die Arbeit mit dem Rhythmus mit den ihr Leben behindernden Mustern und Verhaltensweisen. Mit TaKeTiNa erfahren die Patienten, wie sie inmitten von persönlichen Krisen wieder Lebensfreude, Humor, Hoffnung und Lust am Leben verspüren.

    Wissenschaftliche Evaluation

    Ein Team von Ärzten und Wissenschaftlern untersucht und bestätigt diese positiven klinischen Resultate seit mehr als zehn Jahren. Herzratenvariabilitätsmessungen belegen beispielsweise, dass TaKeTiNa vorhersehbar und wiederholbar ideale Bedingungen für die Regeneration des Nervensystems herstellt und daher die Grundlage dafür schafft, die Gesundheit auf psychischer Ebene zu fördern. Im Forschungsrahmen gemachte EEG-Messungen zeigen, dass die regelmäßige Anwendung von TaKeTiNa das Gehirn effektiver arbeiten lässt. Laut Dr. Gerhard Müller-Schwefe, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie, wirke TaKeTiNa heilend, gerade bei chronisch kranken Menschen. Im Göppinger Projekt mit Hochschmerzpatienten sei TaKeTiNa für die Patienten eine essentielle Hilfe gewesen, die ihnen ermöglichte, ihre Medikation zu reduzieren und den Umgang mit Schmerz zu verbessern. Derzeit läuft in den Heiligenfeld Kliniken eine Untersuchung zur Therapie mit komplex-traumatisierten Patienten. Die ersten Ergebnisse dieser gerade angelaufenen Untersuchung sind vielversprechend und zeigen schon jetzt, dass diese Patienten ihre Heilungserfolge während der stationären Therapie besonders auch auf die in der Rhythmustherapie gemachten Erfahrungen zurückführen.

    Ausbildung zum TaKeTiNa-Rhythmustherapeuten

    Heiligenfeld Kliniken TaKeTiNa wird mittlerweile als begleitende Maßnahme in unterschiedlichen Therapiebereichen in Kliniken und Praxen erfolgreich eingesetzt. Die Arbeit, die in den Heiligenfeld Kliniken mit der TaKeTiNa-Rhythmustherapie seit mehr als zwei Jahrzehnten geleistet wird, zählt zu den langjährigsten Projekten. Die psychotherapeutischen Resultate sind so überzeugend, dass über die Akademie Heiligenfeld nun erstmals eine eigenständige Ausbildung zum TaKeTiNa-Rhythmustherapeuten angeboten wird. Diese soll die Teilnehmer dazu befähigen, Rhythmus im therapeutischen Kontext kompetent und effektiv einzusetzen. Geleitet wird diese Ausbildung von Frank Rihm (leitender Kreativtherapeut der Fachklinik Heiligenfeld), Reinhard Flatischler (Begründer von TaKeTiNa) und Bettina Berger (HAKOMI-Lehrtherapeutin und Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie). Die Dozenten verfügen über große praktische Erfahrung in der Integration von Rhythmus in die Psychotherapie und werden den Teilnehmern zeigen, wie effektiv dieser Weg sein kann. Voraussetzung zur Teilnahme ist die Ausübung eines Grundberufes, der dazu berechtigt und befähigt, mit Menschen heilend bzw. therapeutisch zu arbeiten.

    Ein Einführungsworkshop mit Reinhard Flatischler und Frank Rihm findet vom 24. bis 26. April 2015 in Bad Kissingen statt. Weitere Informationen und eine Anmeldemöglichkeit finden Sie im Internet unter www.akademie-heiligenfeld.de.

    Kontakt und Informationen:

    Akademie Heiligenfeld
    Altenbergweg 6
    97688 Bad Kissingen
    Tel. 0971/84-4600
    www.akademie-heiligenfeld.de
    info@akademie-heiligenfeld.de

    Angaben zum Autor:

    Frank Rihm ist leitender Kreativtherapeut in der Fachklinik Heiligenfeld. Der Dipl.-Musiktherapeut, TaKeTiNa-Rhythmuspädagoge (Advanced Level) und Gestalttherapeut hat darüber hinaus Weiterbildungen in Somatic Experiencing (Traumatherapie nach Peter Levine) und verschiedenen Verfahren der Humanistischen Psychotherapie absolviert.

  • Verbesserung des Entscheidungsverhaltens bei Substanzmittelabhängigkeit

    Verbesserung des Entscheidungsverhaltens bei Substanzmittelabhängigkeit

    Rainer Baudis
    Rainer Baudis

    Neuropsychologische Beeinträchtigungen von Suchtkranken wurden in einer Reihe von Untersuchungen aufgezeigt. Ihre „Dosisabhängigkeit“ (je mehr Suchtmittel konsumiert wird, desto größer sind die Schäden) wurde von Bolla et al. (1999; 2002) nachgewiesen. Die Beeinträchtigungen betreffen Arbeitsgedächtnis, kognitive Flexibilität, Aufmerksamkeit/Vigilanz, Konzentration, die exekutiven Funktionen und Entscheidungsverhalten/Decision Making. Dabei erwies sich das Entscheidungsverhalten zur Prognose erfolgreicher Teilhabe und Alltagsbewältigung als besonders relevant (Bechara 2002; Passetti et al. 2007). Becharas Studie untersucht die Fähigkeit zur Alltagsbewältigung, um mittelfristig die Lebensqualität von Abhängigen zu verbessern.

    Damasio und Bechara (2002) wiesen nach, dass abhängige Probanden im Vergleich zu gesunden in ihrer Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt sind. Schon 1994 hatten sie ein Testverfahren entwickelt, das Probanden die Aufgabe stellt, herauszufinden, welche von vier Stapeln eines Kartenspiels ertragreich und welche verlustbringend sind, um möglichst viele Punkte zu sammeln. Dabei kann man sich nur langsam herantasten und muss sich von Ahnungen leiten lassen. Solche zielführenden vagen Empfindungen nennt Damasio „somatische Marker“. Stehen diese nicht zur Verfügung aufgrund einer Hirnläsion oder weil sie impulsiv übertönt werden, ist ein erfolgreiches Entscheidungsverhalten nicht möglich. Bechara (2005) entwickelte diese Theorie weiter und beschrieb Abhängigkeit in der Dynamik eines „reflexiven“ und eines „impulsiven“ Systems. Danach werden Suchtkranke durch eine Übererregung des impulsiven Systems (Hypersensibilität für Belohnung) oder durch eine geschwächte „Top-Down-Steuerung“ (exekutive Funktionen) verleitet, mittelfristige Ziele zugunsten der Erfüllung kurzfristiger Ziele zu vernachlässigen und Misserfolge (bezogen auf die mittelfristigen Ziele) nicht zu beachten.

    1. Entstehung des Trainingsmanuals HALT!

    Abb. 1: Logo des HALT!- Programmes

    Das „Trainingsmanual HALT!“ ist im Rahmen eines Forschungsprojekts (2009 bis 2013) entstanden, das der Verein für Jugendhilfe Böblingen e. V. mit seinen Rehabilitationseinrichtungen in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer Institut (IAO) Stuttgart im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg durchgeführt hat. Ziel war es, die Alltagsbewältigung und Selbststeuerung von Suchtkranken zu verbessern. Zunächst wurden 249 empirische Studien zur neuropsychologischen Beeinträchtigung ausgewertet unter besonderer Berücksichtigung des Entscheidungsverhaltens. Die Auswertung führte zu einem Modell, welches das Entscheidungsverhalten, exekutive Funktionen, emotionale Selbstkontrolle und Impulsivität miteinander verknüpft: das Faktorenmodell der Entscheidungsfähigkeit (vgl. Abb. 2). Impulsivität wird als ein grundlegendes Phänomen bei Abhängigkeit angesehen: (a) als Folge beeinträchtiger Top-Down-Steuerung sowohl der kalten wie der heißen Kognition (Zelaszo et al. 2007) oder (b) als Aktivierung bzw. Hypersensibilisierung des impulsiven Systems.

    Abb. 2: Faktorenmodell der Entscheidungsfähigkeit: Kalte und heiße Kognition bilden als Top-Down-Kontrollsysteme ein Gegengewicht zur Impulsivität. Von der „Kräfteverteilung“ zwischen Kontrolle und Impulsivität hängen die Entscheidungsfähigkeit und die Fähigkeit zur Aufmerksamkeitssteuerung ab.

    Um eine rehabilitative Anwendung zur Verbesserung des Entscheidungsverhaltens, der emotionalen Selbststeuerung und der Alltagsbewältigung zu entwickeln, wurden als nächster Schritt 414 empirische Studien ausgewertet, die Verbesserungen der neuropsychologischen Beeinträchtigung bzw. Impulsivität behandeln. Klingberg (2010) wies beispielsweise die Trainierbarkeit des Arbeitsgedächtnisses und Verbesserungen bei ADHS nach. Eine beträchtliche Zahl an Studien belegt die Möglichkeit, exekutive Funktionen zu verbessern, z. B. durch bestimmte Aufgaben. Die adressierten Gehirnareale reagieren mit neuroplastischen Veränderungen („gelenkter Reorganisation“, Robertson & Murre 1999). Das Programm HALT! folgt diesem Paradigma und beschreibt Module, die geeignet sind:

    • die Überansprechbarkeit des impulsiven Systems herunterzufahren,
    • die Steuerung von Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis zu trainieren,
    • die Entwicklung eines Störungsbewusstseins zu fördern und
    • emotionale Selbststeuerung fokussiert anzusprechen (Baudis 2014 a).

    Die Literaturrecherche ergab, dass es zur Verbesserung des Entscheidungsverhaltens bisher keine ausgearbeiteten Tools wie etwa zum „Problemlösen“ gibt. Deshalb wurde das Trainingsmanual HALT! entwickelt, zu dem ein Handbuch („Abhängigkeit und Entscheiden“) und ein psychoedukatives Modul („Die Kunst des Entscheidens“) erschienen ist. Die Grundidee besteht darin, den Rehabilitanden ein einfaches Modell von Entscheidungsverhalten einzuprägen, um dysfunktionale Entscheidungsprozesse mit guten Entscheidungsprozessen zu überschreiben und alltagsbezogen zu trainieren. „HALT!“ repräsentiert den Entscheidungsprozess aus den Schritten Halt an!, Aktualisiere!, Lenke!, Tu! (s. Abb. 3; Baudis 2014b).

    2. Ziele und Aufbau des Trainingsmanuals HALT!

    Abb. 3: Signalkarte HALT!
    Abb. 3: Signalkarte HALT!

    Das neuropsychologisch basierte Trainingsmanual HALT! ist als ein ganzheitlicher Therapieansatz konzipiert, der die Entscheidungsfähigkeit und die sie begleitenden kognitiven und affektiven Fähigkeiten ansprechen soll. Zielsetzung ist eine allgemeine Verbesserung von Alltagsbewältigung und Teilhabe. Das Programm HALT! stützt sich auf Methoden, die sich in Studien als wirksam erwiesen haben, und entwickelt eigene Ansätze zu Impulsivität und Entscheidungsverhalten. Es ist modular aufgebaut und schließt zur Verbesserung der Therapiefähigkeit und der kognitiven Erholung folgende Elemente ein:

    • neuropsychologisches Basistraining (fünfwöchiges Ausdauertraining wie Joggen/Walken oder fünfwöchige Suchtakupunktur),
    • Training zur Verbesserung von Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis (Achtsamkeitstraining oder PC-gestütztes Training) und
    • Vertiefung des Störungsbewusstseins.

    Zur Verbesserung von Impulsivität und Entscheidungsverhalten beinhaltet HALT! fokussierte Gruppenpsychotherapie, die Hand in Hand geht mit dem psychoedukativen Modul „Die Kunst des Entscheidens“. Dieses ist zur Umsetzung in angeleiteten Gruppen konzipiert, kann aber auch als eigenständig zu erarbeitendes Curriculum dienen.

    „Die Kunst des Entscheidens“ orientiert sich an neuropsychologischen Erkenntnissen zum Verlauf der Abstinenz und bearbeitet systematisch die Impulsivität. Die einzelnen Schritte sind:

    • Hypersensibilität herunterfahren,
    • impulsives Entscheidungsverhalten erforschen und hinterfragen (Urteilsheuristik) und
    • den Entscheidungsprozess mit dem unmittelbar zugänglichen Modell HALT! (s. Abb. 3) reorganisieren.

    Von der ersten Einheit an wird anti-impulsive Kognition gefördert, d. h.:

    • Förderung einer längerfristigen Orientierung und eines zielorientierten Verhaltens,
    • Finden eines Zugangs zu unmittelbarer zielkonfliktfreier Befriedigung und
    • Auseinandersetzung mit impulsivem Verhalten und dem Treffen von Entscheidungen (z. B. mit Hilfe der Signalkarte HALT!, s. Abb. 3).

    Gezielte Aufgaben und Anforderungen stärken die exekutiven Funktionen und die emotionale Selbststeuerung wie das Bewältigen von starken Gefühlen, Impulsen und Hochrisikosituationen sowie die Entwicklung eines mittelfristigen persönlichen Selbstmonitorings. „Die Kunst des Entscheidens“ eröffnet neue Sichtweisen auf gängige Suchtthemen wie „Rückfallrisiko als Präferenzkonflikt“, woraus sich wiederum neue praktische Ansätze ergeben (z. B. das „Bündeln“ von Entscheidungen u. a.). Methodisch bereichernd ist der Einsatz neuer Verfahren wie z. B. die Aktivierung des prospektiven Gedächtnisses („implementation intention therapy“ oder „future thinking“).

    Durchgängig wird der innere Prozess des Entscheidens (re-)organisiert, von der Phase der Ambivalenz bis hin zu handlungsleitenden Emotionen. Ziel ist, dass sich ein innerer Dialog entwickelt, an dem alle „Entscheider“ beteiligt sind („Inneres Team“) – auch das „suchtbezogene Ich“ mit seiner spontanen Entscheidungsmacht. Denn nicht in seiner Beteiligung liegt das Risiko, sondern in der mangelnden Beteiligung aller anderen Entscheidungsagenten.

    Abb. 4: App mit dem „persönlichen Erinnerer“
    Abb. 4: App mit dem „persönlichen Erinnerer“

    Ein besonderer Ansatz des HALT!-Programms liegt darin, Erfahrungen der Teilnehmer so aufzuarbeiten, dass persönliche „Erinnerer“ erschlossen werden, die an eigene Lebenserfahrungen anknüpfen und damit in besonderer Weise der Steuerungs- und Entscheidungsfähigkeit dienen. Sie sorgen dafür, dass die wichtigen „Entscheider“ identifiziert und emotional besetzt im Entscheidungsprozess rasch zugänglich sind. Damit die persönlichen Erinnerer im Alltag jederzeit zur Verfügung stehen, können sie in eine Internetapplikation (www.Programm-halt.de, s. Abb. 4) eingefügt und für Smartphones bereitgestellt werden.

    Das Manual „Die Kunst des Entscheidens“ besteht aus zwanzig Einheiten. Jede Einheit stellt ihr Thema informativ auf dem Stand des aktuellen Wissens vor und gibt dann Anleitung dazu, das Thema persönlich zu erkunden. Zu jeder Einheit werden in einem Begleitband Arbeitsblätter bereitgestellt. Jede Einheit mündet in ein „Training im Alltag“.

    3. Wissenschaftliche Evaluation des HALT!-Programms

    Das HALT!-Programm wurde zwischen März 2011 und April 2012 parallel in fünf Reha-Einrichtungen für Suchtkranke durchgeführt und evaluiert. Die Stichprobe umfasste 101 abhängige Probanden im Alter zwischen 19 und 48 Jahren. Sie verteilten sich auf die Referenzdrogen Alkohol (12 Prozent), polytox mit Opiaten (44 Prozent) und THC-Mischkonsum (44 Prozent). Rehabilitanden mit komorbiden Störungen, die Psychopharmaka erhielten, wurden aus der Studie ausgeschlossen, ebenfalls Rehabilitanden mit Hinweis auf Demenz.

    3.1 Diagnostische Verfahren

    Zur Diagnostik des Entscheidungsverhaltens wurde die Stuttgarter Gambling Task (STGT), eine deutsche Version der Iowa gambling task (IGT) von Damasio und Bechara, programmiert und in eine Testbatterie aus bewährten Verfahren zum Testen exekutiver Funktionen integriert. Weiterhin wurde ein Messinstrument für Alltagsverhalten in Form von Ratingskalen zur Selbst- und Fremdeinschätzung entwickelt. Die diagnostischen Verfahren wurden in einer Vorstudie mit 30 abhängigen Probanden geprüft und selektiert. Eingesetzt wurden am Ende die Verfahren, die in der Tabelle (Abb. 5) aufgelistet sind.

    Abb. 5: Tabelle der eingesetzten diagnostischen Verfahren

    Die neuropsychologische Untersuchung und die Messung des Alltagsverhaltens (Selbst- und Fremdeinschätzung) fanden nach Abklingen aller Entzugssymptome in den ersten vier Wochen und zum Ende in der 16. Woche statt. Alle untersuchten Probanden nahmen am Programm HALT! mit dem Trainingsmanual „Die Kunst des Entscheidens“ teil. Das Forschungsprojekt wurde von der Ethikkommission der Ärztekammer Stuttgart bewilligt und von der DRV Baden-Württemberg und dem Spendenfond des Diakonischen Werkes Württemberg finanziert.

    3.2 Datenerhebung

    Die Tests wurden durch das Fraunhofer Institut durchgeführt. Parallel zur Stuttgarter Gambling Task wurden Hautleitwerte gemessen. Die technischen Geräte und die nötige Software stellte das Fraunhofer Institut in Zusammenarbeit mit der Universität Karlsruhe zur Verfügung. Für alle Tests lagen deutschsprachige Instruktionen vor. Die Untersuchungen wurden innerhalb von zwei Stunden mit einer Pause in festgelegter Reihenfolge durchgeführt. Die Fremdeinschätzung anhand der Ratingskalen nahm der Bezugstherapeut zeitgleich vor.

    Alle Rehabilitanden wurden bei der Aufnahme über das Programm HALT! und über die Studie informiert. Sie nahmen an einer 90-minütigen Einführung teil und erhielten dann für ihre Aktivitäten einen „Trainingsbogen“, der alle Trainingseinheiten übersichtlich dokumentierte und kleine Anreize vorsah. Zur Teilnahme an der Studie konnten die Rehabilitanden sich freiwillig melden. Für die vollständige Teilnahme an den Untersuchungen wurden 50 Euro angeboten.

    3.3 Ergebnisse der Stuttgarter Gambling Task (STGT) – Entscheidungsverhalten der abhängigen Probanden

    Nach der Stuttgarter Gambling Task (STGT) sind mehr als die Hälfte der Probanden aufgrund der hohen Spielgeldverluste oder der geringen Spielgeldgewinne als beeinträchtigt zu bezeichnen. Es zeigt sich ein Spielverlauf, der nahezu identisch ist mit dem, den Damasio und Bechara 2002 zur Iowa gambling task (IGT) veröffentlichten (s. Abb. 6): Die abhängigen Probanden fanden bis zum Schluss keine erfolgreiche Strategie bzw. ließen sich von ihr ablenken. Bei gesunden Vergleichsprobanden steigerte sich der Erfolg stetig bis hin zum letzten Block.

    Abb. 6: Profile der STGT-Performance von Substanzabhängigen (große rote Kreisflächen) über der IGT-Performance von Gesunden (Normal Control), Substanzabhängigen (SDI) und ventro-medial Lädierten (VM Lesions) bei Damasio und Bechara (2002)
    Abb. 6: Profile der STGT-Performance von Substanzabhängigen (große rote Kreisflächen) über der IGT-Performance von Gesunden (Normal Control), Substanzabhängigen (SDI) und ventro-medial Lädierten (VM Lesions) bei Damasio und Bechara (2002)

    Eine Erklärung dafür, dass abhängige Probanden unter ihren Möglichkeiten bleiben, ist mangelnde Kontrolle von Impulsivität, die dazu führt, dass zielführende Empfindungen übertönt werden. Tatsächlich zeigen sich signifikante Korrelationen der STGT mit der Go/NoGo-Task (gestörte Impulskontrolle) auf dem 1,1-Niveau.

    Analog zu den obigen Ergebnissen zeigt die STGT einen signifikanten Zusammenhang von 0,015* mit dem Category Test (flexibles Erkennen von Regeln/Shifting; hier: Wechsel zu den erfolgreichen Stapeln) und einen hochsignifikanten Zusammenhang mit dem Arbeitsgedächtnistest (Updating; hier: Präsent-Halten der Ahnungen, bis eine Regel gefunden wurde).

    Mit viel Aufwand wurden mit jedem STGT-Spielzug drei verschiedene Hautleitwerte gemessen, um die Impulsivität während des Entscheidungsprozesses zu erfassen. Auf eine Auswertung musste verzichtet werden, da die unterschiedlichen Messwerte technisch nicht hinreichend zu trennen waren.

    3.4 Profil neuropsychologischer Funktionsfähigkeit bei Abhängigkeit

    Von der STGT gibt es, da sie ja gerade erst programmiert wurde, noch keine empirischen Normwerte. In Anlehnung an Bechara (2002) wurde unterhalb eines Gesamtwertes von 50 von Beeinträchtigung ausgegangen. Für die anderen hier folgenden Angaben gilt: Prozentwerte und Prozentrang ordnen die Ergebnisse in Bezug auf die jeweilige Eichstichprobe.

    Bezüglich neuropsychologischer Beeinträchtigung und Impulsivität ergab sich für die abhängigen Probanden folgendes Profil:

    • Decision Making: Die Werte der STGT lagen im Durchschnitt unter der Norm und teilten die Studienteilnehmer in beeinträchtigtes (54 Prozent) und unauffälliges Entscheidungsverhalten.
    • Inhibition: Bei der Go/NoGo-Task lag der Durchschnitt der Studienteilnehmer mit 23 Prozent unter dem Durchschnitt der Grundgesamtheit (→ gestörte Impulskontrolle).
    • Updating: Beim Arbeitsgedächtnistest hatte der Mittelwert der Studienteilnehmer einen Prozentrang von 24 (→ Unaufmerksamkeit, mangelhaftes Kurzzeitgedächtnis).
    • Shifting: Im Category Test zeigte sich eine hohe Fehlerquote mit durchschnittlich 23,6 Total Errors (bei einer Streuung von 2 bis 69; → Neigung zu Perseveration).
    • Aufmerksamkeit und Konzentration: Bei dem d2 wurde einen Prozentrang von 31,7 ermittelt (→ mangelhafte Konzentration).
    • Vigilanz und Verarbeitungsgeschwindigkeit: Der Color Trail Test blieb im Durchschnittswert unauffällig mit Subgruppen von unauffälligen und beeinträchtigten Probanden. Es gibt aber hochsignifikante Zusammenhänge zwischen niedrigen CTT-Werten und Impulsivität (UPPS „Urgency“) und erhöhtem Risiko für Rückfall.
    • Impulsivität: Bezüglich der UPPS „Urgency“ (Impulssteuerung) und der Dimension „Verhaltensstörung und impulsives Verhalten“ der Ratingskalen zeigten sich signifikante Korrelationen mit der STGT sowie mit einem erhöhten Risiko für Rückfall bzw. vorzeitige Beendigung der Behandlung. Der durchschnittliche BIS-Wert lag mit 82 Punkten deutlich über dem Durchschnitt einer deutschen Kontrollgruppe (Preuss et al. 2007).
    • Reasoning: Der LPS Subtest 3 wurde eingesetzt, um die nonverbale Intelligenz als Einflussfaktor zu kontrollieren. Es ergab sich eine mittlere Intelligenz von 106 Punkten.

    3.5 Welche biographischen Daten beeinflussen Decision Making und neuropsychologische Funktionsfähigkeit?

    Als belastende Einflussfaktoren für die neuropsychologische Funktionsfähigkeit haben sich in der Studie herausgestellt:

    • ein früher Zeitpunkt des ersten Konsums von Tabak (Durchschnitt 13,27 Jahre), von Alkohol (Durchschnitt 13,88 Jahre) oder von THC (Durchschnitt 15,19 Jahre) sowie
    • lange Haftzeiten.

    Ein frühes Einstiegsalter ging einher mit signifikanter bis hochsignifikanter Beeinträchtigung von Arbeitsgedächtnis, Entscheidungsverhalten, Impulskontrolle, seriellem Denken und Vigilanz. Ein besseres Abschneiden in den Tests ging einher mit den Merkmalen „Monate der Abstinenz“, „Abschluss einer Ausbildung“ und „Beschäftigung in Monaten“. „Beschäftigung“ zeitigte positive Folgen für Decision Making, Verbesserung des Arbeitsgedächtnisses, der Konzentration und Impulsivität.

    3.6 Welcher Zusammenhang besteht zwischen Entscheidungsfähigkeit und Alltagsverhalten?

    Zur Beantwortung werden die Ratingskalen zum Alltagsverhalten herangezogen. Mit Entscheidungsfähigkeit (STGT) korreliert hochsignifikant (0,005**) die Skala „Planen, Strukturieren und Selbstmanagement“ in der Fremdeinschätzung durch die Bezugstherapeuten. Außerdem korreliert mit der STGT signifikant (0,016*) die Skala „Umgang mit anderen Menschen“, ebenfalls in der Fremdeinschätzung durch die Bezugstherapeuten. Beide Skalen beinhalten typische Aufgaben, die den exekutiven Funktionen zugeordnet werden.

    In der Selbsteinschätzung korrelieren die Skala „Freizeitverhalten“ und die Dimension „Verhaltensstörung und impulsives Verhalten“ hochsignifikant mit der STGT. Auch Category Test (CAT), TAP Arbeitsgedächtnis und TAP Go/NoGo-Task ergeben signifikante und hochsignifikante Zusammenhänge mit den Ratingskalen. Die Aussagekraft der STGT zur Entscheidungsfähigkeit wird durch ein interessantes Detail unterstrichen: Werden die Probanden nach ihren STGT-Werten in die Gruppen „beeinträchtigt“ und „nicht beeinträchtigt“ eingeteilt, so zeigt die Gruppe mit guten STGT-Werten bei ihrer Selbsteinschätzung eine hohe Übereinstimmung mit der Fremdeinschätzung der Bezugstherapeuten und sieht sich teilweise sogar kritischer. Die „Beeinträchtigten“ dagegen schätzen sich deutlich und durchweg positiver ein als die Fremdeinschätzer.

    3.7 Worin unterscheiden sich Rehabilitanden mit guten Chancen auf Teilhabe von solchen mit hohem Rückfallrisiko?

    Wenn wir unsere Daten daraufhin auswerteten, wie sich Rehabilitanden mit einem Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz bei Therapieabschluss von denjenigen unterscheiden, die während der Therapie rückfällig wurden und vorzeitig ausschieden, so erwiesen sich folgende Merkmale als prognostisch signifikant (*) und hochsignifikant (**):

    • Biographische Daten zur Sucht: Tagesdosis in den letzten 30 Tagen*, Abstinenzmonate*, Konsumjahre*, Einstiegsalter*, Anzahl von Entgiftungen*, Monate im Strafvollzug*, Anzahl der Therapien*
    • Biographische Daten zu Ausbildung und Arbeit: Schulabschluss/vollendete Ausbildung**, Monate in Beschäftigung*, Einkommen*
    • Neuropsychologische Tests: hochsignifikante Korrelationen von CAT**/CTT**/AG-Fehler** sowie STGT*/GNG*/AG-korrekte Antwort*
    • Items der Ratingskalen und der UPPS „Urgency“:
      1. Selbststeuerung vs. impulsives Verhalten/Überansprechbarkeit auf Drogenreize:
        Respekt vor Rückfallsituationen**, Suchtruck abschütteln* können, „Ich habe meine Gefühle so unter Kontrolle, dass sie mich nicht zu erneutem Konsum bewegen können“*; dem Verlangen widerstehen können** vs. schwer dem Drang widerstehen können**, „Manchmal tue ich impulsiv Dinge, die ich später bereue“*; ohne Überlegung handeln*, Verhaltensweisen nicht abstellen können*
      2. Depressive Emotionen vs. Fähigkeiten zur unmittelbaren Befriedigung ohne impulsive Zielkonflikte:
        „Weiß nicht, was ich als Nächstes tun soll*, „Mir ist oft langweilig*, „Mich reizen riskante Sportarten* vs. „Meine Zeit verbringe ich gern mit anderen*, „Ich gehe in Vereine, Gruppen*
      3. Wahrnehmen von negativen Konsequenzen und Kritik:
        „Negative Erlebnisse bekümmern mich lange“**, Wahrnehmen harter Konsequenzen*, Fehlzeiten*, Mängel erkennen*
      4. Längerfristige Orientierung:
        auf Gesundheit achten*, auf gute Ernährung achten*

    Die Items mit Vorhersagewert zeigen meist Zusammenhänge mit den Testergebnissen, z. B. korreliert das hochsignifikante Item „Nicht Widerstehen Können“ mit CAT-Error**, GNG-falsche-Reaktion**, GNG-Auslassungen*, AG-Error* und AG-Auslassungen*.

    Zusammengefasst gehen folgende Verhaltensaspekte verstärkt mit Rückfall einher:

    • Überhöhte Selbstkontrollerwartung bei geringen Selbstkontrollfähigkeiten
    • Erhöhte Anregung des impulsiven Systems (Tagesdosis in den letzten 30 Tagen etc.)
    • Mangelndes Widerstehen-Können bzw. Unterdrücken von Impulsen im Alltag (z. B. Rauchen)
    • Probleme, den Kontext eines Impulses oder Gefühls zu wechseln (Perseveration von Konsumphantasien)
    • Emotionale Dysregulation unmittelbarer Belohnung zum Nachteil von Langfristigkeit
    • Mangelhafte Konzentration, Aufmerksamkeitssteuerung und mangelnde Fähigkeit zu linearem Denken

    Aus den Studienergebnissen ergibt sich, dass folgende empirische Daten als Entscheidungsgrundlage für eine fundierte Risikoeinschätzung dienen können:

    • Biographische Daten zu Konsum und Teilhabe am Arbeitsleben
    • Neuropsychologische Tests zur Einschätzung der kognitiv-exekutiven und affektiv-exekutiven Fähigkeiten
    • Selbst- und ggf. Fremdeinschätzung anhand der Ratingskalen zum Alltagsverhalten und der UPPS „Urgency“
    • Ergänzend können Einstellungen erkundet werden, die zur Bewältigungskompetenz beitragen: Störungsbewusstsein und die Fähigkeit zur kritischen Selbsteinschätzung.

    3.8 Die Wirksamkeit des Programmes HALT!

    Die Ratingskalen zum Alltagsverhalten beschreiben acht Bereiche der Alltagsbewältigung und enthalten als neunte Skala („Steuerung des eigenen Verhaltens“) die Items der UPPS „Urgency“. Die Ratingskalen erwiesen sich als zuverlässiges und valides Messinstrument für Entscheidungsverhalten und Impulsivität im Alltag. Ein Vergleich der jeweils individuellen Messungen in der vierten und 16. Behandlungswoche zeigte, dass sich die Werte für Alltagsverhalten und Impulsivität in der Selbsteinschätzung der Probanden durchgehend verbessert haben. Die durchgehende Verbesserung des Alltagsverhaltens kann als Beleg für die Wirksamkeit der Therapie interpretiert werden.

    Abb. 7: Konsistente durchschnittliche Verbesserungen in neun Aspekten des Alltagsverhaltens der Probanden in ihrer Selbsteinschätzung (N=17 bis 19 Probanden, je nach Item); die Hervorhebungen markieren signifikante bzw. hoch signifikante Veränderungen.
    Abb. 7: Konsistente durchschnittliche Verbesserungen in neun Aspekten des Alltagsverhaltens der Probanden in ihrer Selbsteinschätzung (N=17 bis 19 Probanden, je nach Item); die Hervorhebungen markieren signifikante bzw. hoch signifikante Veränderungen.

    4. Diskussion

    Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen eine Beeinträchtigung neuropsychologischer Fähigkeiten bei abhängigen Rehabilitanden in einer großen individuellen Bandbreite. Diese Beeinträchtigungen spielen eine bedeutsame Rolle für das Rückfallrisiko, für die Chance, eine Therapie zu nutzen, und die Chance auf Teilhabe. Das Entscheidungsverhalten spielt bei den untersuchten abhängigen Rehabilitanden eine hervorgehobene, aber keine alleinige Rolle. Die STGT erwies sich als valides Instrument, die Fähigkeiten zu langfristig orientiertem Alltagsverhalten und die dazu erforderlichen selbstregulierenden und orientierend suchenden Fähigkeiten zu erkennen (Baudis & Wilke 2014).

    Die Untersuchung lenkt die Aufmerksamkeit auf ein vernachlässigtes Thema: auf Impulsivität als maßgeblichen Grund für neuropsychologische Beeinträchtigung. Bisher gibt es keine Therapieprogramme, die der Beeinträchtigung von Decision Making Rechnung tragen, und kaum Versuche, exekutive Funktionen und Impulsivität zu bearbeiten. Wegen ihrer Alltags- und Behandlungsrelevanz sollten aber Impulsivität und die Stärkung neuropsychologischer Fähigkeiten schon in den ersten Wochen einer Suchttherapie fokussiert werden.

    Das Programm HALT! und das Manual „Die Kunst des Entscheidens“ können daher nicht mit anderen Ansätzen verglichen werden. Das psychoedukative Manual „Die Kunst des Entscheidens“ greift die hier gefundenen Ergebnisse und Anregungen auf, um die Aufmerksamkeit von Therapeuten und Rehabilitanden auf die Bewältigung von Überansprechbarkeit und auf eine langfristige Orientierung zu lenken. Um das Training in den Alltag hineinzutragen, wurde eine Smartphone-App entwickelt. Einen direkten Nachweis, dass ein Training von Entscheidungsfähigkeit die Alltagsbewältigung verbessert, konnte die Untersuchung von ihrer Anlage her nicht leisten, wenn sie auch Veränderungen in die gewünschte Richtung aufzeigt.

    Unsere Untersuchungen legen nahe, die bisherige Leistungsplanung in der Rehabilitation zu überdenken. Eine empirisch fundierte Risikoeinschätzung ermöglicht die Wahl geeigneter individueller Rehastrategien: Diejenigen Suchtkranken, die neuropsychologisch erheblich beeinträchtigt sind, benötigen eine stabilisierende langfristige Rehastrategie, die den Bedarf an emotionaler und sozialer Stabilisierung mit langfristigen Maßnahmen zur sozialen und beruflichen Teilhabe und Suchtbewältigung angeht, begleitet durch einen persönlichen Reha-Coach. Dagegen können Rehabilitanden mit guten Teilhabechancen von einer konsequent lebensfeldbezogenen Rehastrategie profitieren, die die Alltagsfähigkeiten fördert und ambulant (Tagesreha und ambulante Reha) orientiert ist. Eine stützende sozialintegrative Rehastrategie in Form einer Kombination aus stationärer Reha, tagesklinischer oder ambulanter Reha und integrierten Maßnahmen zur beruflichen Teilhabe könnte ein mittlerer Weg sein.

    Medizinische Substitution sollte sich im Hinblick darauf evaluieren, ob sie die neuropsychologischen Fähigkeiten zur Alltagsbewältigung und Teilhabe gefährdet (Baudis 2014a) oder ob sie sich ihren Erhalt zum Ziel gesetzt hat. Dazu ist ein niedrig dosiertes Substitutionsregime als Behandlungsoption erforderlich.

    Hinweis: Im Juni 2015 bietet der Autor einen Intensivkurs zum Arbeiten mit dem HALT!-Programm und dem Therapiemanual „Die Kunst des Entscheidens“ an. Der Kurs richtet sich an therapeutische, pflegerische und ärztliche Mitarbeiter/-innen in der Suchthilfe. Die Teilnahme am Kurs wird durch ein Zertifikat bestätigt. Mehr Informationen dazu finden Sie hier.

    Wissenschaftliche Begleitung der Studie:
    Jürgen Wilke (Dipl.-Psychologe), Fraunhofer Institut IAO, Nobelstraße 12, 70569 Stuttgart

    Angaben zum Autor:

    Rainer Baudis, Jahrgang 1949, ist Dipl.-Psychologe/Psychotherapeut und war lange Jahre Gesamtleiter der Reha-Einrichtungen Four Steps. Aktuell ist er in eigener psychotherapeutischen Praxis tätig. Er ist Autor von Fachbüchern zur Behandlung von Abhängigkeit.

    Kontakt:

    Rainer Baudis
    Mittelfeldstraße 8
    73635 Rudersberg
    baudis@mac.com

    Literatur:
    • Baudis & Wilke: Entwicklung und Evaluation eines Verfahrens zur Verbesserung der mittelfristigen Verhaltenssteuerung bei Substanzmittelabhängigkeit – Abschlussbericht Teil I und II, 2014
    • Baudis: Abhängigkeit und Entscheiden – Handbuch, Verlag für Psychologie, Sozialarbeit und Sucht, 2014a
    • Baudis: Die Kunst des Entscheidens, Verlag für Psychologie, Sozialarbeit und Sucht, 2014b
    • Bechara, Damasio: Decision-making and addiction (part I): impaired activation of somatic states in substance dependent individuals when pondering decisions with negative future consequences, Neuropsychologia, 40, 2002, 1675-89
    • Bechara et al.: Decision-making and addiction (part II): myopia for the future or hypersensitivity to reward?, Neuropsychologia, 40, 2002:1690-1705
    • Bechara: Decision-making, impulsive control and loss of willpower to resist drugs: a neurocognitive perspective, Nature Neuroscience, 2005, 8, 11, 1458-1463
    • Bolla et al.: Dose-related neurobehavioral effects of chronic cocaine use, J of neuropsychiatry and clinical neurosciences, 1999, 11: 261-369
    • Bolla et al.: Dose-related neurocognitive effects of marijuana use, Neurology, 59, 9, 2002, 137-143
    • Klingberg: Training and plasticity of working memory, Trends in Congitive Science 14, 2010, 317-324
    • Passetti, Clark et al.: Neuropsychological predictors of clinical outcome in opiate addiction, Drug and Alcohol Dependence, 2007, Elsevier
    • Paulus et al.: Neural activation patterns of methamphetamine-dependent subjects during decision making predicts relapse, Arch Gen Psychiatry, 62, 2005, 761 ff
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  • Psychotherapie bei Internetsucht

    Psychotherapie bei Internetsucht

    Michael Dreier
    Michael Dreier
    Dr. Klaus Wölfling
    Prof. Manfred Beutel
    Kai W. Müller

     

     

     

     

    Seit 2013 findet sich die so genannte Internet Gaming Disorder (zu Deutsch: Internetspielsucht, auch: Computerspielsucht), eine häufige Variante internetsüchtigen Verhaltens, als vorläufige Diagnose im Anhang der fünften Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5; APA, 2013). Die American Psychiatric Association (APA) reagierte damit auf die stetig anwachsende Zahl wissenschaftlicher Literatur, welche Internetsucht im Allgemeinen und Computerspielsucht im Speziellen als ernstzunehmendes Gesundheitsproblem darstellt. Auf der Grundlage aktueller Prävalenzschätzungen ist davon auszugehen, dass in Deutschland zwischen ein und zwei Prozent der Allgemeinbevölkerung unter Internetsucht leiden, wobei die Prävalenzraten unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit bis zu vier Prozent nochmals höher zu beziffern sind (vgl. z. B. Müller et al., 2014a,b; Rumpf et al., 2013).

    Internetsucht und Psychotherapieforschung

    Das Problemverhalten selbst ist aktuell nosologisch noch nicht endgültig klassifiziert. Jedoch deuten insbesondere neurowissenschaftliche Befunde darauf hin, dass ähnlich wie beim Pathologischen Glücksspiel von deutlichen Parallelen zu Substanzabhängigkeiten ausgegangen werden kann (Thalemann, Wölfling & Grüsser, 2007; Ko et al., 2013) und viele Kliniker und Forscher deshalb das Störungsbild als substanzungebundene Abhängigkeitserkrankung bzw. Verhaltenssucht auffassen. Auch auf diagnostischer Ebene wird die Ähnlichkeit zu anderen Abhängigkeitserkrankungen unterstrichen. Dies zeigen die von der APA definierten diagnostischen Kriterien für Computerspielsucht: Craving, Kontrollverlust, Toleranzentwicklung, Fortführung des Konsums trotz negativer Konsequenzen, Interessensverlust, Täuschung von Angehörigen oder Therapeuten, die Gefährdung relevanter Lebensbereiche, Emotionsregulation und Erleben entzugsähnlicher Symptome bei Konsumverhinderung.

    Internationale Studien ebenso wie Erhebungen im deutschen Suchthilfesystem zeigen, dass Internet- und Computerspielsucht mit einer deutlich erhöhten psychosozialen Symptombelastung und komorbiden Erkrankungen einhergeht. Insbesondere depressive Verstimmungen, erhöhte Ängstlichkeit und Stressbelastung sowie ein schlechteres allgemeines psychosoziales Funktionsniveau treten in Verbindung mit Internetsucht auf (vgl. z. B. Wölfling et al., 2013; Yang et al., 2008).

    Aus der aktuell fehlenden Anerkennung der Internetsucht als Störungsbild ergibt sich, dass derzeit nur sehr wenige Erkenntnisse zur Wirksamkeit und Wirkungsweise (psycho-)therapeutischer Verfahren vorliegen. In einer Evaluation bisher vorliegender Psychotherapiestudien zur Internetsucht stellen King und Kollegen (King, Delfabbro & Griffiths, 2011) entsprechend fest, dass keine der von der Autorengruppe analysierten acht Interventionsstudien den umfassenden Qualitätsstandards klinischer Studien entspricht. Identifizierte Mängel betreffen hier z. B.:

    • Fehlende Definition von Ein- und Ausschlusskriterien für den Einschluss in die Studien
    • Keine ausreichende inhaltliche Beschreibung des Interventionsprogramms
    • Unzureichende Qualität der statistischen Analysen zur Bestimmung der Therapieeffekte
    • Unangemessener methodischer Zugang zur Hypothesentestung (z. B. Fehlen von Kontrollgruppen)

    Trotz des Mangels an standardisierten Behandlungsmanualen ergibt sich aus verschiedenen publizierten Arbeiten jedoch eine Schnittmenge verschiedener Verhaltensdomänen, die in der Therapie aufgegriffen werden. Dazu gehören Maßnahmen wie eine Problemanalyse des Internetnutzungsverhaltens, Abstinenzfokussierung, die Aneignung von Strategien der Kontrolle des Konsums sowie von Motivationstechniken, das Erarbeiten von Tagesstruktur bzw. Online-Zeitmanagement und die Verbesserung sozialer Beziehungen bzw. die Verbesserung der Partnerschaftlichkeit (vgl. King et al., 2011).

    Als positiv ist zu bewerten ist zudem, dass mittlerweile eine erste Meta-Analyse bisheriger Psychotherapiestudien zur Internetsucht veröffentlicht wurde (Winkler et al., 2013). Natürlich sind die Ergebnisse dieser ersten wichtigen Analyse immer vor dem Hintergrund der von King und Kollegen (2011) dokumentierten Schwächen bisheriger Studien zu bewerten, jedoch erlaubt sie eine erste Abschätzung der Wirksamkeit verschiedener Therapiemethoden. In die Studie von Winkler und Kollegen (2013) flossen insgesamt 16 klinische Studien zur Internetsucht aus verschiedenen Kulturkreisen, hauptsächlich jedoch Asien, ein, welche eine Patientenzahl von insgesamt 670 Personen beinhalteten. Die angewandten Interventionsformen bestanden in der überwiegenden Anzahl aus multimodalen Therapieprogrammen mit einem Schwerpunkt auf kognitiv-behavioralen Ansätzen. Zusätzlich wurden drei psychopharmakologische Studien berücksichtigt. Die Autoren verzeichneten unterschiedliche Effektstärken je nach Art der angewandten Intervention. Kognitiv-behaviorale Ansätze waren in Bezug auf die Reduktion der Onlinezeiten und der Symptome der Internetsucht anderen psychotherapeutischen Verfahren überlegen. Die Effektstärken für die kognitive Verhaltenstherapie variierten hier auf einem hohen Niveau zwischen d=0.84 und 2.13, was auf eine gute bis sehr gute Wirksamkeit hindeutet.

    Im Vergleich zwischen der Verhaltenstherapie und der Psychopharmakotherapie ergaben sich keine signifikanten Wirkunterschiede. Die medikamentöse Behandlung der Internetsucht (insbesondere basierend auf selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern und Methylphenidat) erwies sich mit Effektstärken zwischen d=0.28 und 2.23 ebenfalls als wirksam. Auch hinsichtlich der Wirkung auf assoziierte Problemlagen und psychosoziale Symptome (z. B. depressive Verstimmung) ging die kognitive Verhaltenstherapie mit den höchsten Effektstärken einher.

    Die Analyse der Drop-Out-Quoten ergab, dass fast 20 Prozent der Patienten die Behandlung vorzeitig beendeten. Zusätzlich wurde eine – jedoch auf Grund der geringen Datenmenge als vorläufig anzusehende – Analyse einzelner Wirkfaktoren vorgenommen. Hier erwies sich, dass von höheren Therapieeffekten bei weiblichen und älteren Patienten auszugehen ist. Ein therapeutisches Einzelsetting erwies sich der Gruppentherapie als moderat überlegen.

    Insgesamt deuten die Daten dieser ersten übergreifenden Analyse darauf hin, dass psychotherapeutische und psychopharmakologische Interventionen bei Internetsucht eine gute Wirksamkeit aufweisen, wobei nochmals der vorläufige Charakter der präsentierten Daten unterstrichen werden muss. Ungeklärt bleibt hingegen, inwieweit die erzielten Therapieeffekte über das unmittelbare Setting hinaus zeitliche Stabilität aufweisen. Daneben lassen sich auch noch keine Aussagen darüber treffen, inwieweit die gefundenen Effekte gleichermaßen auf unterschiedliche Formen internetsüchtigen Verhaltens (z. B. Computerspielsucht, Onlinesexsucht, suchtartige Nutzung von sozialen Netzwerken) generalisiert werden können.

    Studie zur Behandlungswirksamkeit im deutschen Sprachraum

    Pilotstudie der Ambulanz für Spielsucht

    Im Jahre 2014 wurde von Wölfling, Beutel, Dreier und Müller eine deutsche Studie zur Behandlungswirksamkeit unter Einschluss von 37 männlichen Patienten mit Internetsucht im ambulanten Setting veröffentlicht. Nach Beendigung des manualisierten und standardisierten Therapieprogramms der Arbeitsgruppe um Wölfling (2012) schlossen 26 Patienten die verhaltenstherapeutische Intervention mit positivem Ergebnis ab. 89 Prozent dieser Patienten, die die Therapie regulär beendet hatten, wiesen in der Abschlussmessung ein unauffälliges Internetnutzungsverhalten auf (d. h. die Symptome der Internetsucht waren nicht mehr vorhanden), was in den meisten Fällen eine Abstinenz von der zuvor suchtartig genutzten Internetanwendung beinhaltete. Zudem zeigte sich eine signifikante Verminderung der zuvor beobachteten zusätzlichen psychopathologischen Symptombelastung im SCL-90R. Es handelt sich hierbei um ein Inventar, welches psychische Symptome und Stressbelastungen abbilden kann. Insbesondere in den Bereichen Depressivität, Angstsymptome, Unsicherheit im Sozialkontakt und Zwanghaftigkeit waren hohe Effektstärken zu verzeichnen, d. h. die jeweiligen Symptome waren nach Beendigung der Therapie signifikant zurückgegangen. Insgesamt elf Patienten brachen die Therapie vorzeitig ab, was einer Drop-Out-Quote von 29 Prozent entspricht.

    Multicenter-Studie zur Behandlungswirksamkeit im deutschen Sprachraum

    Um für den deutschen Sprachraum eine erste Abschätzung der Wirksamkeit eines standardisierten verhaltenstherapeutischen Behandlungsmanuals zu dokumentieren und die im vorigen Abschnitt vorgestellten Daten aus der Pilotstudie in größerem Umfang zu erhärten, führt die Ambulanz für Spielsucht der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz derzeit im Zusammenschluss mit drei weiteren Zentren (Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim, Universitätsmedizin Tübingen, Anton Proksch Institut Wien) eine klinische Studie durch.

    Bei dem von der DFG und dem BMBF geförderten Projekt STICA (Short-term Treatment of Internet and Computer game Addiction) handelt es sich um die Weiterführung der oben genannten Pilotstudie im Rahmen einer multizentrischen randomisierten klinischen Kontrollstudie (RCT). Mit dieser Studie sollen Wirksamkeit und Wirkmechanismen der an der Ambulanz für Spielsucht entwickelten verhaltenstherapeutischen Behandlung für Computerspiel- und Internetsucht überprüft werden (Wölfling et al., 2012). Insgesamt sollen 192 Patienten mit Internet- und Computerspielsucht behandelt werden. Zielgruppe für das Behandlungskonzept sind Männer im Alter von 17 bis 55 Jahren. Das Studiendesign für STICA orientiert sich am Verhaltenssuchtansatz von Computerspiel- und Internetsucht in ihren unterschiedlichen Manifestationen. So ist Internetsucht als Sammelbezeichnung zu verstehen und beinhaltet eine Vielzahl verschiedener Aktivitäten im Internet, die von Betroffenen unkontrolliert bzw. exzessiv ausgeübt werden. Ihre Haupterscheinungsformen beziehen sich auf Computer- bzw. Online-Spiele (z. B. Browsergames, Online-Rollenspiele), die Nutzung von sozialen Netzwerken und Chats, das Surfen auf Erotikseiten, die Teilnahme an Online-Glücksspielen (z. B. Poker, Online-Casinos), das Ansehen und Sammeln von Videos bzw. Filmen (z. B. Streaming-Angebote), ausuferndes Einkaufen (z. B. Online-Auktionen) oder das ziellose Recherchieren und Sammeln von Informationen (z. B. Online-Informationsplattformen oder Lexika).

    In den beteiligten Studienzentren werden die Patienten zufällig entweder der Therapiegruppe oder der Wartekontrollgruppe zugeordnet. Mit dem Vergleich dieser beiden Gruppen soll die Wirksamkeit der speziellen verhaltenstherapeutischen Kurzzeitintervention geprüft werden. Die Behandlung besteht aus 15 Gruppensitzungen (wöchentlich je 100 Minuten), welche unten näher beschrieben werden, und acht Einzelsitzungen (alle 14 Tage 50 Minuten). Acht Patienten stellen die Ideale Gruppengröße dar. Letztendlich erhalten alle in die Studie eingeschlossenen Patienten die Behandlung – für die Wartegruppe beginnt die Therapie jedoch erst nach einer Wartezeit von vier Monaten.  Das genaue Vorgehen bei der Studiendurchführung kann Abbildung 1 entnommen werden (Jäger et al., 2012).

    Abb. 1: STICA Studiendesign
    Abb. 1: STICA Studiendesign

    Ein störungsspezifisches Therapieprogramm bei Internetsucht

    Struktur der Gruppensitzungen

    Bevor die einzelnen Phasen der Therapie skizziert werden, soll vorab  die Struktur der Sitzungen an sich beschrieben werden: Die Gruppensitzungen beinhalten eine Begrüßung und einen Rückblick auf die Ereignisse der letzten Sitzung. Anschließend berichten die Patienten in einer Abstinenzrunde den Verlauf der letzten Woche. Während der Patientenberichte soll der Therapeut/die Therapeutin positive Veränderungen verstärken, Rückfälle und negative Ereignisse werden direkt in der Gruppe besprochen. Zur nachhaltigen Zielerreichung ist eine Ressourcenaktivierung notwendig, welche der Therapeut/die Therapeutin nach den Bedürfnissen der Patienten entwickeln und anwenden muss. Die jeweiligen sitzungsspezifischen Gruppenthemen werden mit ca. 50 Minuten veranschlagt. Sie bestehen aus einer Einführung sowie der Erarbeitung des Themas anhand von Diskussionen, Arbeitsblättern und Übungen. Offene Fragen werden jeweils in der gemeinsamen Zusammenfassung geklärt. Der Therapeut/die Therapeutin entlässt die Gruppenmitglieder, nachdem er/sie einen Ausblick auf die nächste Sitzung gegeben hat.

    Aufbau des Therapiemanuals

    Die folgende Beschreibung basiert auf dem Therapiemanual von Wölfling und Kollegen (2012). Die verhaltenstherapeutische Kurzzeitintervention ist in drei Phasen unterteilt: 1) Psychoedukation und Motivation, 2) Intervention und 3) Transfer und Stabilisierungsphase.

    Die erste Phase (Psychoedukation und Motivation) umfasst die ersten drei Sitzungen und thematisiert eine individuelle störungsspezifische Psychoedukation, vermittelt ein individuelles bio-psychosoziales Erklärungsmodell für die Entstehung von Internetsucht, klärt bzw. fördert die Motivation für eine dauerhafte Verhaltensveränderung (u. a. Abstinenz von der suchtartig genutzten Internetaktivität) und definiert zusammen mit den Patienten weiterführende Therapieziele.

    Die zweite Phase (Intervention) erstreckt sich von Sitzung 4 bis 11 und erarbeitet basierend auf Wochenprotokollen eine Problem- und Verhaltensanalyse nach dem Prinzip des SORCK-Schemas (Stimulus, Organismus, Reaktion, C/Konsequenz, Kontingenz). Es werden funktionale Bewältigungsstrategien im Bereich alternativer Freizeit- bzw. Lebensgestaltung vermittelt, und es soll ein alternativer Umgang mit Emotionen und Stress erlernt werden. Essenzieller Teil dieser Therapiephase ist die Steigerung des Selbstwertes. Diese erfolgt im ständigen Abgleich zur individuellen Biographie anhand spezifischer Problemsituationen mit Selbstwertrelevanz. Darüber hinaus wird mit den Patienten eine angeleitete Exposition mit Reaktionsverhinderung durchgeführt (s. u. bei Sitzung 8).

    Die dritte Phase (Transfer und Stabilisierung) vermittelt in Sitzung 12 bis 15 Maßnahmen für die Rückfallprophylaxe, erstellt einen Notfallplan, reflektiert den Therapieerfolg und durch die Abstinenz eingetretene Veränderungen.

    Inhalte ausgewählter Sitzungen

    In Ergänzung zum bereits dargestellten Ablauf der einzelnen Phasen werden nun ausgewählte Sitzungen näher erläutert.

    Sitzung 1 beinhaltet das Kennenlernen, das Unterzeichnen eines Therapievertrages und das schriftliche Fixieren von Therapiezielen. Nachdem ein Überblick über das Therapieprogramm gegeben wurde, kommt es zur Vereinbarung eines Abstinenzversuches und zur Festlegung einzelner Therapieziele. Unterstützend werden Arbeitsblätter für Wochenprotokolle ausgehändigt, anhand derer die Patienten Situationen aufzeichnen sollen, in denen es in jüngster Vergangenheit zu Spielverlangen gekommen ist. Hier wird vermerkt, welche Emotionen, Kognitionen, körperliche Empfindungen und konsequenten Handlungen bzw. Konsequenzen sich daraus für den Patienten ergaben. Einige Sitzungen, wie beispielsweise die erste Sitzung, bergen „Stolpersteine“ und methodische Schwierigkeiten, auf die es zu achten gilt. So ist es besonders wichtig, dass es nicht zu einer Ausgrenzung Einzelner (beispielsweise Patienten mit bereits initiierter Abstinenz vs. noch stark in der Nutzung verhafteter Patienten) oder einem Ungleichgewicht zwischen den Redeanteilen der Gruppenteilnehmer kommt.

    Aufgabe des Therapeuten/der Therapeutin ist es, auf Einwände und Bedenken der Teilnehmer hinsichtlich eines Abstinenzversuches würdigend einzugehen und diese dennoch gleichzeitig kritisch zu hinterfragen (Prinzip des geschmeidigen Widerstandes). Die zunächst mündlich formulierten und erörterten Ziele sollten realistisch und im konkreten individuellen Fall umsetzbar sein. Es zeigt sich bei der Einführung der Wochenprotokolle, dass es Patienten stellenweise schwer fällt, die Differenzierung zwischen Situationen, Gedanken und Gefühlen vorzunehmen. Hier können Elemente aus Emotionsdiskriminations-Trainings von Nutzen sein.

    Sitzung 6 hat die Entwicklung eines individuellen SORCK-Schemas (Stimulus, Organismus, Reaktion, C/Konsequenz, Kontingenz) zum Thema. Während der Abstinenzrunde werden wieder positive Veränderungen zur Vorwoche aufgegriffen. Es schließt sich die Erarbeitung des individuellen Störungsmodells an. Dabei werden Zusammenhänge zwischen internalen und/oder externalen Risikosituationen, suchtspezifischen Grundannahmen und automatischen Gedanken, die das Verlangen auslösen können, anhand eines Arbeitsblattes zur Mikroanalyse inhaltlich vertieft (individuelles SORCK-Modell).

    In Sitzung 8 werden die Patienten ohne Vorankündigung von Bildreizen bezüglich ihres jeweiligen Störungsbildes empfangen, die sie selbst gewählt und vorab zur Verfügung gestellt haben. Dies kann beispielsweise ein Avatar sein oder eine typische Situation, die Nutzungsverlangen auslöst (z. B. der eigene hochgerüstete PC). Es handelt sich hierbei um eine Exposition mit Reaktionsverhinderung. Die Gruppensitzung startet wieder mit einer Abstinenzrunde, welche positive Veränderungen zur Vorwoche aufgreift und verstärken soll. Der Therapeut/die Therapeutin hat die Aufgabe, mit den Patienten die Emotionen und Kognitionen zu verbalisieren und zu analysieren, die durch den Expositionsstimulus hervorgerufen wurden. Gleichzeitig ist es unerlässlich, den Grad des ausgelösten Nutzungsverlangens zu quantifizieren (auf einer Skala von 0/kein Verlangen bis 100/maximales Verlangen) und dieses im Verlauf der Stunde zu einem merklichen Absinken zu bringen. Positive Gefühle, Kompetenzerwartung und Lernerfahrungen, die auf der Erfahrung basieren, dem Spieldruck nicht nachgegangen zu sein, sind als wichtige Ergebnisse dieser Sitzung anzustreben. Das Expositionsrational wird durch den Einsatz von Notfallkärtchen und konkreten individuellen Handlungsanweisungen in Verführungssituationen abgerundet. Die Gruppe betrachtet gemeinsam den Verlauf des Expositionstrainings aus einer Meta-Perspektive. Hierbei sollte die biographische Einordnung als vertiefende Verarbeitung der Exposition (z. B. Verfassen eines Abschiedsbriefes an den Avatar) mit einbezogen werden. Das Aufgreifen der Erfahrungen in der Exposition und deren therapeutische Nachbearbeitung sollten in anschließenden Einzelsitzungen auf individueller Ebene erfolgen. Typische Schwierigkeiten dieser Sitzung sind das Verständnis des Konfrontationsrationals und v. a. die Gefahr eines gesteigerten Verlangens, welches zu einer erhöhten Rückfallgefährdung beitragen kann.

    In Sitzung 10 und 11 wird ein Modell zur Entwicklung der eigenen Medienaffinität erarbeitet. Die Abstinenzrunde verstärkt wieder positive Veränderungen und greift potenzielle Rückfälle auf. Zielstellung für die Patienten ist es, Zusammenhänge zwischen Lebensereignissen, Lebenszufriedenheit und ihrer Mediennutzung zu erarbeiten und die identifizierten Entwicklungsverläufe in der Gruppe zu besprechen.

    Nach Beendigung der letzten Gruppensitzung folgt eine Zeit von sechs Wochen, in welcher in der Regel kein therapeutischer Kontakt erfolgt. Nach Ablauf dieser Frist werden alle Gruppenteilnehmer zu einer sog. Booster-Session eingeladen, in welcher besprochen wird, inwiefern die Integration der in der Therapie erlernten Techniken in die Lebensumwelt des Patienten gelungen ist und wo unter Umständen Nachbesserungsbedarf besteht.

    Kontakt:

    Michael Dreier
    Ambulanz für Spielsucht
    Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
    Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
    Untere Zahlbacher Straße 8
    55131 Mainz
    Michael.Dreier@uni-mainz.de
    www.unimedizin-mainz.de

    Angaben zu den Autoren:

    Die Dipl.-Psychologen Dr. Klaus Wölfling, Kai W. Müller und Prof. Dr. Manfred E. Beutel​​​ und der Dipl.-Soziologe Michael Dreier forschen und arbeiten an der Grüsser-Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht, Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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