Kategorie: Fachbeiträge

  • Apps zu Substanzkonsum, Glücksspiel und psychosozialer Gesundheit

    Apps zu Substanzkonsum, Glücksspiel und psychosozialer Gesundheit

    Das Smartphone haben die meisten Menschen ständig dabei – ein Umstand, der zur Förderung der Gesundheit genutzt werden kann. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl an Apps, die bei Problemen mit Substanzkonsum und exzessiven Verhaltensweisen sowie im Bereich psychosoziale Gesundheit Hilfe und Unterstützung anbieten. Zwei Apps zur Rauchstopp-Unterstützung wurden bereits in das Verzeichnis für digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA-Verzeichnis) des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) aufgenommen.

    KONTUREN online hat das Angebot an sucht- und Mental Health-bezogenen Apps in den Blick genommen und einige Anbieter gebeten, ihre Apps anhand eines standardisierten Fragebogens vorzustellen. Die vorliegende Übersicht stellt selbstverständlich nur einen kleinen Ausschnitt eines schnell wachsenden Angebotes dar, und nicht alle angeschriebenen Anbieter haben geantwortet. Mit den vielfältigen Steckbriefen möchten wir einen Impuls geben, sich dieses Feld an Hilfemöglichkeiten zu erschließen und neue, effektive Wege der Prävention und Behandlung zu erkunden.

    Über folgende Apps können Sie sich hier informieren:

    • SUBSTANZKONSUM: MINDZONE-App „sauberdrauf!“, Elma-App, CariTapp, coobi care
    • GLÜCKSSPIEL: PlayOff
    • PRÄVENTION / PSYCHISCHE GESUNDHEIT: blu:app, ready4life, „Cyber-Mobbing Leichte Hilfe“-App, belinu
    • RAUCHEN: NichtraucherHelden, Smoke Free – Rauchen aufhören

    SUBSTANZKONSUM

    MINDZONE-App „sauberdrauf!“

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Verfügbar bei Google Play für Android oder im App-Store für Betriebssystem iOS bzw. iPhone. Weitere Infos unter: https://mindzone.info/aktuelles/update-mindzone-app-sauberdrauf/

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Speziell: Themenbereich Freizeitdrogen bzw. Partydrogen und Suchtrisiken
    Allgemein: Prävention und Gesundheitsförderung im Partysetting

    3. An wen richtet sich die App?
    An drogenaffine, konsuminteressierte Partygängerinnen und Partygänger im Alter zwischen 14 und 30 Jahren sowie an informations- und ratsuchende Angehörige und Bezugspersonen von Betroffenen. Die Mindzone-App richtet sich zudem an Fachkräfte aus dem Sucht- und Jugendhilfebereich.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die App ist quasi eine mobile Version der Mindzone-Homepage: https://mindzone.info/. Diese kann direkt auf dem Smartphone installiert werden und ist dann mobil abrufbar ohne Browser-Zugriff.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Umfassende Informations-Plattform rund ums Thema Partydrogen (Substanzinfos A-Z), aktuelle Substanzwarnungen, Pillen-Finder, Drogennotfall-Infos, Online-Beratung über Kontaktformular, kostenfreie Bestellung von Info-Materialien

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Ja, der Pillen-Finder, er ist das am häufigsten genutzte Tool: umfangreiche Datenbank mit Suchfilter-Funktion gibt eine Übersicht zu besonders hochdosierten bzw. gesundheitsschädlichen Ecstasy-Pillen (z. B. unerwartete Wirkstoffe, gefährliche Streckmittel), siehe auch unter https://mindzone.info/aktuelle-infos/pillenwarnungen/

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Nein, es gibt keine Zugangsvoraussetzungen oder Beschränkungen.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Es handelt sich um eine Gratis-App.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die App wurde vom App-Entwickler vmapit.de aus Mannheim in Form eines Sponsorings komplett kostenlos für Mindzone entwickelt. Siehe auch weiterführende Infos zum Sponsoring-Angebot unter: https://www.vmapit.de/1000-apps-fuer-1000-vereine

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Ja, im Rahmen der Mindzone-Evaluation 2023 durch das IFT Institut für Therapieforschung, München, wurde u. a. auch die App evaluiert, siehe Auszug aus IFT-Evaluationsbericht, S. 42 f.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Die App selbst ist nicht in anderen Sprachen verfügbar. Aber auf der Mindzone-Homepage ist direkt auf Startseite (oben rechts) ein mehrsprachiger Google-Translator installiert: https://mindzone.info Die mobile Web-Version der Mindzone-Homepage inklusive Google-Translator ist auch problemlos über die App abrufbar.

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Im September 2016 wurde die Mindzone-App erstmals veröffentlicht und ist seitdem als Gratis-App erhältlich. Im Jahr 2023 (nachdem die Mindzone-Evaluationsergebnisse feststanden) wurde die Funktionalität der App verbessert, das System wurde upgedatet und die App anwenderfreundlicher gestaltet, z. B.: übersichtlichere Struktur, mittels automatisierter Push-Nachrichten erhalten Nutzerinnen und Nutzer aktuelle Substanzwarnungen, neue Live-Chat-Funktion (ist allerdings wegen fehlender Personalressourcen momentan nicht aktiv), direkte Verlinkungen zu Social-Media-Profilen von Mindzone auf Instagram, Facebook und X, neue Feedback-Funktion, Anfahrt bzw. Wegbeschreibung über Google-Maps, neues App-Weiterempfehlungs-Tool.

    Die Fragen beantwortete Sonia Nunes, Fachliche Projektleitung, Projekt MINDZONE, München.

    Elma-App

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Elma steht für Elternsein motiviert und abstinent. Die Elma-App kann im Google Play Store und im Apple App Store heruntergeladen werden. Zur Aktivierung benötigen die Nutzer:innen einen Code, dieser kann unter elma@zi-mannheim.de angefordert werden.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Die App richtet sich an suchterkrankte Mütter und Väter sowie werdende Eltern mit einer Abhängigkeitserkrankung und unterstützt diese bei der Erlangung und Aufrechterhaltung einer stabilen Abstinenz sowie bei der Stärkung der Erziehungskompetenzen.

    3. An wen richtet sich die App?
    Die App richtet sich an die Betroffenen. Der Angehörigenbereich kann gemeinsam mit den Kindern genutzt werden. Hier erhalten sie auf eine kindgerechte Art Informationen zur elterlichen Erkrankung.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Es werden die Themenbereiche Abhängigkeitserkrankung und Kindererziehung behandelt. Alle Themenbereiche sind gegliedert in einen „Werde Experte“-Teil und einen „Werde aktiv“-Teil. Im „Werde Experte“-Teil erhalten die Nutzer:innen Informationen zu den jeweiligen Themenbereichen, der „Werde aktiv“-Teil dient zur Reflexion über die eigene Situation mit vielen Mitmachmöglichkeiten. Die Inhalte sind multimedial und mehrsprachig aufbereitet.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Die Elma-App enthält
    – eine Tagebuchfunktion zum Monitoring von Abstinenz, Stimmung, Stimmung in der Familie und Schlaf sowie
    – einen Erfolge- und einen Zielebereich, in dem sich die Nutzer:innen eigene Ziele oder Erfolgsmeilensteine setzen können.
    Außerdem kann ein individueller Notfallplan für Suchtdruck- und Rückfallsituationen erstellt werden.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Alle Textbausteine sind auch als Audios in der App integriert. Die Elma-App ist mehrsprachig gestaltet.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Die Elma-App ist kostenfrei unbegrenzt lange nutzbar. Es muss für die Nutzung ein Aktivierungscode unter elma@zi-mannheim.de angefordert werden.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Die App ist kostenlos ohne Rezept nutzbar.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die App wurde am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit entwickelt, das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit ist Herausgeber der App. Webadresse unseres Projekts: https://www.elma-app.de/

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Die Elma-App-Einführung wird in einer Begleitstudie aktuell evaluiert, sowohl unter den Nutzer:innen als auch unter den Fachkräften.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Ja, in Englisch, Französisch, Polnisch, Russisch, Ukrainisch, Italienisch, Spanisch

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Alle Eingaben der Nutzer:innen werden nur lokal auf deren Endgerät gespeichert, es erfolgt keine Speicherung auf einem zentralen Server.

    Die Fragen beantwortete Prof. (apl.) Dr. Anne Koopmann, Oberärztin der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim

    CariTapp

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Die App ist grundsätzlich im Google Play Store und im Apple App Store verfügbar. Aktuell ist es so, dass wir die App von einem ursprünglich semiprivaten Account auf einen offiziellen Caritas-Account überführen wollen. Deshalb wird die App vorübergehend nicht im Apple App Store erhältlich sein.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich
    Die App kommt beim Thema Sucht zum Einsatz. Sie ist zur Begleitung einer Suchttherapie oder Suchtberatung entwickelt worden.

    3. An wen richtet sich die App?
    An Menschen mit Abhängigkeitserkrankung, die sich im besten Fall in einem Beratungs- oder Behandlungsprozess befinden, und an Berater:innen und Behandler:innen.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die CariTapp unterstützt und erleichtert den Therapieprozess und hilft dabei, motiviert zu bleiben, um sein Suchtverhalten nachhaltig zu verändern. Die Leistungen und Funktionen sind sehr umfangreich. Die Wichtigsten wären: Motivation, Selbstbeobachtung, Rückfallvermeidung, Arbeit an den Therapiezielen und viele mehr … Auf unserer Website gibt es ein Erklärvideo: https://www.caritas-suchtambulanz-junge-muenchen.de/de/caritapp Um es anschauen zu können, muss man die Marketing-Cookies akzeptieren.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Tracken von Stimmung, Verlangen und Konsum. Vereinbarungen und Therapieziele inkl. Zwischenzielen formulieren und ergänzen. Es steht eine Fotobox zur Verfügung, in der man sich wichtige Bilder abspeichern kann. Dazu kann man verschiedene Ordner anlegen, z. B. „Privat“ oder „Therapie“ etc. Außerdem bietet die App: ein Quiz, einen Notfallbutton, Frühwarnsignale, einen Zugang zur Onlineberatung.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Nein

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Nein

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Kostenlos

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die Caritas Fachambulanz für junge Suchtkranke der Erzdiözese München und Freising.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Ja, mit positivem Ergebnis. Das Ergebnis ist während eines Hackerangriffs verloren gegangen.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Nein

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Es war die allererste App zur Therapiebegleitung auf dem Markt. Die Fachambulanz für junge Suchtkranke hat die App on top zum Alltagsgeschäft realisiert.

    Die Fragen beantwortete Ralf Hermannstädter, Einrichtungsleitung, Caritas Fachambulanz für junge Suchtkranke, München. 

    coobi care

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Im Rahmen einer Testphase erhältlich ab Ende August 2024. App Store & Google Play Store (Für einen Zugangscode kontaktieren Sie bitte julian@coobi.health.)

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    coobi care bietet eine digitale Unterstützung für die Nachsorge von Abhängigkeitserkrankungen nach einer Entwöhnungstherapie. Die erste Version richtet sich an Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit. In den nächsten Monaten wird die App auch für Nutzer:innen mit anderen substanzgebundenen Abhängigkeitserkrankungen, problematischem Konsum und Verhaltenssüchten angepasst.

    3. An wen richtet sich die App?
    – Betroffene Personen ≥18 Jahre in der Nachsorge
    – Nachsorge-Gruppenleiter:innen können mit Zustimmung der Betroffenen coobi care-Daten erhalten (mehr unter „Dashboard für Therapeut:innen“)

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die App soll in Synergie mit Nachsorge-Gruppengesprächen einen wertvollen Beitrag zur langfristigen Aufrechterhaltung der Abstinenz und zur Rückfallprävention leisten.
    Die App unterstützt folgende Kernaufgaben der Nachsorge: kontinuierliche Unterstützung direkt nach der Rehabilitation, Aufrechterhaltung der Abstinenzmotivation, Förderung der Eigenaktivität, Erkennen von Krisensituationen und Bereitstellung geeigneter Konfliktlösungsstrategien bei drohenden oder aktiven Krisen, Förderung sozialer Kontakte, Einbeziehung von Bezugspersonen.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?

    • Chatfunktion für die Nachsorgegruppe: Chat mit Nachsorgegruppe zur Verbesserung der Compliance und sozialen Integration durch selbsthilfeähnliche Kommunikation zwischen den Nachsorgegesprächen.
    • Module: Nutzer:innen haben Zugang zu einer Reihe von kurzen Modulen, die verschiedene nachsorgebezogene Themen abdecken. Die Module beinhalten Übungen, Videos und Texte zu Themen wie z. B. Suizidalität, Umgang mit Rückfällen, Emotionen, Selbstsicherheitstraining.
    • Craving-Bereich: Im Falle eines akuten Cravings können Nutzer:innen schnelle Unterstützung durch Reflexion und Bewältigungsstrategien im Craving-Bereich finden.
    • Motivation: Zur Aufrechterhaltung der Motivation bietet die App Streaks zu Abstinenz, tägliche Übungen und Reflexion.
    • Zielsetzung: Nutzer:innen werden angehalten, sich erreichbare tägliche Ziele zu setzen, und können Langzeitziele erarbeiten und verfolgen.
    • Abend Check-Out: Abends können Nutzer:innen ihren Tag hinsichtlich der Aspekte Abstinenz, Craving, Trigger, Stimmung und Tagesziel reflektieren.
    • Trends: In diesem Bereich können Nutzer:innen ausgewertete Daten der abendlichen Check-Ins und Wearable-Messungen einsehen und analysieren. Dadurch gibt coobi care einen Überblick über Parameter wie Schlaf, Aktivität, Stimmung, Stress und Craving. Über dieses Biofeedback kann coobi care die Eigenaktivität der Nutzer:innen fördern und sie dabei unterstützen, Problembereiche und Trigger zu erkennen und Krisensituationen bewusst wahrzunehmen.
    • Werkzeugkasten: Nutzer:innen können im Werkzeugkasten freigeschaltete Übungen, Konfliktlösungsstrategien für unterschiedliche Problembereiche und favorisierte Inhalte schnell zugänglich finden.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?

    • Die App wird in einem Paket mit einem Garmin Wearable angeboten.
    • Dashboard für Therapeut:innen: Damit coobi care auch in den Nachsorgegesprächen einen Mehrwert leisten kann, werden wir die gesammelten Daten bei Zustimmung der Nutzer:innen in regelmäßigen Berichten für Therapeut:innen zugänglich machen. Durch Einblicke in Daten zu Schlaf, App-Nutzung, Aktivität, Stress, Craving und selbstberichteten Rückfällen können Therapeut:innen Anomalien und Problembereiche erkennen und in kritischen Situationen intervenieren.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?

    • ≥18 Jahre alt
    • Teilnahme an der Nachsorge (für Selbstzahler:innen ist dies keine Zugangsvoraussetzung)
    • Nachsorgedauer ist sechs Monate, mit Verlängerung zwölf Monate. coobi care wird für diesen Zeitraum begleitend angeboten. Nach Beendigung der Nachsorge kann coobi care von Selbstzahler:innen weiter genutzt werden.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Wir befinden uns derzeit in einer kostenlosen Testphase. Um Zugang zur App zu erhalten oder die App mit Ihrer Nachsorgegruppe zu testen, wenden Sie sich bitte an Julian@coobi.health. In Zukunft streben wir an, coobi care über ein digitales Nachsorgekonzept von der DRV erstatten zu lassen. Damit könnten alle nachsorgeberechtigten Rehabilitand:innen dieses Nachsorgekonzept wählen. Wir wollen in den nächsten Monaten auch ein Angebot für Selbstzahler:innen schaffen. Der Preis steht noch nicht fest.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Stigma Health GmbH – ein junges Start-up-Unternehmen mit Sitz in Berlin, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, mitfühlende und zugängliche Lösungen anzubieten, die die komplexen Herausforderungen, mit denen Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen konfrontiert sind, wirklich verstehen und berücksichtigen und eine unterstützende und integrative Gemeinschaft fördern. Das Team vereint Fachwissen aus den Bereichen Medizin, Psychologie, Informatik und Wirtschaft.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    coobi care befindet sich gerade in einer ersten Testphase. Nach Zustimmung der DRV wollen wir coobi care in einem Modellprojekt erproben. Wir konnten für das Modellprojekt bereits einige wichtige Kliniken gewinnen und sind nun auf der Suche nach weiteren Kollaborationspartnern. Falls Sie als Nachsorgeeinrichtung, Rehabilitationsklinik, Entzugsklinik oder Forschungsinstitut Interesse an einer Teilnahme am Modellprojekt oder einer anderen Zusammenarbeit haben, wenden Sie sich bitte an Julian@coobi.health.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Deutsch & Englisch

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Datenschutz: Das Datenschutzkonzept von coobi care basiert auf vollständiger Anonymität. Der Zugang zur App erfolgt über einen Code. Eine E-Mail-Adresse oder Telefonnummer wird nicht benötigt. coobi care sammelt keinerlei persönliche Daten. Die Identität der Nutzer ist coobi also nicht bekannt, und alle erhobenen Daten sind immer anonym. Um den Zugriff durch Dritte zu verhindern, wird der Nutzer vor dem Öffnen der Anwendung biometrisch authentifiziert. Die Übertragung aller Daten erfolgt über eine gesicherte Verbindung (SSL-Verbindung), so dass die Daten vor dem Zugriff Unbefugter geschützt sind. Der Gruppenchat wird vollständig mit einer Ende-zu-Ende-Verschlüsselung verschlüsselt.

     Die Fragen beantwortete Dr. Julian Kruse, Co-Founder & CMedO.


    GLÜCKSSPIEL

    PlayOff

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    PlayOff ist eine von der Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern (LSG) entwickelte App, die für alle iOS- und Android-Geräte im Google Play Store und Apple App Store kostenlos heruntergeladen werden kann.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    PlayOff ist eine Selbsthilfe-App vor allem für Betroffene eines problematischen Glücksspielverhaltens. Sie kann darüber hinaus von allen Nutzer:innen von Glücksspielen genutzt werden, die ihr Spielverhalten kontrollieren, reduzieren oder beenden möchten.

    3. An wen richtet sich die App?
    PlayOff richtet sich an Nutzer:innen von Glücksspielen aller Altersgruppen, die ihr Spielen entweder komplett beenden möchten oder versuchen möchten, kontrolliert und in einem persönlich festgelegten Ausmaß weiterzuspielen. Die App kann auch begleitend zu einer Beratung oder Therapie eingesetzt werden (die Tagebucheinträge und damit die Angaben zum Glücksspielverhalten können als PDF exportiert werden) und ist damit auch für Profis interessant.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    PlayOff basiert auf verhaltenstherapeutischen Methoden und bietet zahlreiche Features wie eine Tagebuchfunktion, einen Wochenplan und eine Auswertung des eigenen Spielverhaltens. Diese Features können bei der Kontrolle und Reflexion des Spielverhaltens wie auch bei der Bewältigung von Glücksspielproblemen helfen.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?

    • Erfassen des aktuellen Glücksspielverhaltens
    • Erfassen persönlicher Gründe fürs Glücksspielen
    • Individuelle Zielsetzung, das Spielen aufzugeben, zu reduzieren oder in einem festgelegten Rahmen fortzuführen
    • Auswahl von Lebensbereichen, auf die sich die Nutzer:innen als Alternative zum Glücksspielen verstärkt konzentrieren möchten
    • Wochenplan zum Gestalten der glücksspielfreien Zeit und zum Festlegen der Spielzeit bei kontrolliertem Konsum
    • Tagebuch zum Erfassen von Aktivitäten, darunter die für Glücksspiele aufgewendete Zeit, das verspielte Geld und die Situation, in der die Entscheidung zum Spielen getroffen wurde

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?

    • Aktivitätsvorschläge für eine abwechslungsreiche Freizeitgestaltung
    • In-App-Alerts zum aktuellen Spielverhalten und Erfolg bei der Zielerreichung
    • Risikoprofil zur Auswertung der Umstände, die häufig zu ungeplantem Glücksspielen führen
    • Wertvolle Hinweise, wie das ungeplante Spielen künftig verhindert werden kann
    • Wechselnde Tipps zur Änderung des eigenen Glücksspielverhaltens und für eine zufriedenstellende Gestaltung des Alltags
    • Weitere Informationen und Hilfemöglichkeiten bei Problemen durch übermäßiges Glücksspielen

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Es bestehen keine Zugangsvoraussetzungen, die App ist kostenfrei und ohne Anmeldung nutzbar. Die Nutzungsdauer ist nicht limitiert, Nutzer:innen können sich von PlayOff dauerhaft begleiten lassen.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    PlayOff ist kostenlos und rezeptfrei erhältlich.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    PlayOff wurde von der Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern (LSG) entwickelt. Die LSG ist die zentrale Schnittstelle für alle an der Prävention, Suchthilfe, Suchtforschung und Beratung bei Glücksspielsucht beteiligten Organisationen und Akteure. Beteiligt an der LSG sind die Bayerische Akademie für Sucht- und Gesundheitsfragen BAS Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt), das IFT Institut für Therapieforschung und der Betreiberverein der Freien Wohlfahrtspflege Landesarbeitsgemeinschaft Bayern für die Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern e. V. Die LSG wird vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit, Pflege und Prävention finanziert, ist nicht weisungsgebunden und arbeitet fachlich unabhängig.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    2017/2018 hat die Geschäftsstelle der Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern (LSG) die Nutzer:innen der Selbsthilfe-App PlayOff befragt und zusätzliche Daten aus einem (anonymen) Datentracking gemeinsam mit dem IFT Institut für Therapieforschung ausgewertet. Zusammengefasst zeigen die Ergebnisse, dass die App zwar nur von einem Teil der Personen, die sie sich herunterladen, langfristig und regelmäßig genutzt wird, dass sie von diesen jedoch als hilfreiches Instrument zur Bearbeitung des Spielverhaltens bewertet und gut angenommen wird. Vor allem die Tagebuchfunktion der App ist hier hervorzuheben. Auch die in die App eingetragenen Daten weisen darauf hin, dass die Nutzer:innen während der Verwendung von PlayOff ihren Geldeinsatz und ihre Spieldauer reduzieren. Zum vollständigen Evaluationsbericht geht es hier.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    PlayOff kann in der aktuellen Version auf Deutsch oder Türkisch verwendet werden.

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    2019 wurde PlayOff mit dem Sozialpreis der Bayerischen Landesstiftung ausgezeichnet.
    Die App wird Ende 2024 neu aufgesetzt und dabei einerseits vereinfacht und andererseits um weitere Funktionen ergänzt. So können künftig neben dem Spielen auch das Verlangen zu spielen und damit einhergehend Bewältigungsstrategien bei „Spieldruck“ erfasst und ausgewertet werden. Außerdem fließen erledigte therapeutische „Hausaufgaben“ und ein zuverlässiges Führen des Tagebuchs in einen neuen Erfolgsmesser ein. Das Kapitel Risikoprofil/Auswertung wird erweitert und neu strukturiert. Außerdem wird die App direkt mit einem Zugang zu der Online-Beratungsplattform der LSG PlayChange und mit einem persönlich gestaltbaren „Notfallpass“ bei Spieldruck ausgerüstet.

    Die Fragen beantwortete Lisa Mehrbrodt, Fachstellenbetreuung und Projektentwicklung, Landesstelle Glücksspielsucht in Bayern, München.


    PRÄVENTION / PSYCHISCHE GESUNDHEIT

    blu:app

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Die „blu:app“ ist auf allen gängigen Smartphones über den Google Play Store oder Apple App Store kostenlos erhältlich. Auch während der Nutzung entstehen keine Zusatzkosten. Die blu:app ist ein Produkt von blu:prevent. Als Teil des Blauen Kreuzes e.V. in Deutschland und durch Förderungen sowie Spendengelder können wir die Plattform kostenfrei zur Verfügung stellen.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    3. An wen richtet sich die App?
    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Die blu:app richtet sich an alle Personen, die sich informieren und eine Meinung zum Thema Konsum bilden möchten. Das Ziel der integrierten Plattform blu:base ist, ein an das Kommunikations- und Nutzerverhalten der Gen Z angepasstes Portal für Hilfsangebote primär der Suchtprävention zu etablieren. Dabei werden sowohl Informationen als auch der Erstkontakt mit dem Hilfesystem niedrigschwellig bereitgestellt.

    Die App bietet vollen Zugang zur Plattform blu:base, die viele Infos rund um die Themen Cannabis, Alkohol, Mental Health, Fitness, Sexualität, Mobbing etc. beinhaltet. Durch den intelligenten Chatbot gelangen Nutzer:innen schnell zu den für sie jeweils relevanten Beiträgen! Zudem findet man schnell und einfach digitale und lokale Hilfsangebote. Einfach die Postleitzahl eingeben und das passende Angebot in der Nähe finden. Außerdem bietet die blu:app Zugang zu den beiden digitalen Tools blu:interact und fred_online.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Um über die App blu:interact und fred_online zu nutzen, benötigt man einen Kenncode, der die Verbindung zwischen den Anwendungen herstellt. Dieser wird während der durch eine Fachkraft geführten Präventionseinheit über die Moderatorenansicht von blu:interact / fred_online angezeigt. Die Nutzung der blu:base hingegen funktioniert ohne Anmeldung.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die blu:app wird gemeinsam mit den Angeboten blu:base und blu:interact / fred_online stets weiterentwickelt und optimiert. Die Entwicklung und Verwaltung der blu:app liegt bei blu:prevent. Die technische Umsetzung/Programmierung erfolgt durch externe Partner.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Zur Wirksamkeit der App liegen noch keine Daten vor. Eine Prüfung der Wirksamkeit ist jedoch für das nächste Frühjahr angedacht.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Die App ist im Moment ausschließlich in deutscher Sprache verfügbar. Für die Zukunft ist eine Übersetzung der Seite in mehrere Sprachen jedoch nicht ausgeschlossen.

    Die Fragen beantwortete Benjamin Becker, Leitung blu:prevent.

    ready4life

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Bezugsquelle des ready4life-App: App Store (Apple); Google Play Store (Android) – ebenso wird ready4life seit dem 01.08.2024 auch zielgruppengerecht auf Instagram (ready4life.ch) begleitet.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Förderung der Lebenskompetenzen und Stärkung der Widerstandsfähigkeit gegenüber Suchtmitteln. Adressierte Themen (Wording in der App „Module“) sind: Stress, Sozialkompetenz, Bewegung, Tabak & Nikotin, Cannabis, Alkohol, Social Media & Gaming

    3. An wen richtet sich die App?
    An alle Jugendlichen zwischen 15 und 25 Jahren.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    ready4life ist ein Smartphone-App-basiertes Programm zur Prävention des Suchtmittelkonsums und zur Förderung von Lebenskompetenzen für Jugendliche in der Schweiz, Österreich und Liechtenstein. Auf Basis einer am Smartphone durchgeführten Befragung erstellt die App ein individualisiertes Kompetenzprofil, aus dem für die Teilnehmenden hervorgeht, in welchen Bereichen sie über ausreichend Ressourcen verfügen und in welchen ein Coaching- oder Beratungsbedarf besteht.
    Aus den sieben Modulen Stress, Sozialkompetenz, Tabak & Nikotin, Alkohol, Social Media & Gaming, Bewegung sowie Cannabis können die Teilnehmenden basierend auf ihrem Profil zwei Module auswählen und erhalten zu diesen ein Coaching durch ein automatisiertes Dialogsystem, einen sogenannten Chatbot. Nach Beendigung der ersten beiden Module können alle weiteren adressierten Module bearbeitet werden.  Der virtuelle Coach motiviert die Teilnehmenden zum Aufbau von Lebenskompetenzen und zu einem sensiblen Umgang mit Suchtmitteln, gibt regelmäßig Feedback und informiert in Dialogen, innerhalb von Contests mit anderen Teilnehmenden (Bilderupload und Voting) und interaktiven Challenges (Umsetzen eines Verhaltensziels).
    In einem separaten Chat innerhalb der App beantworten Expert:innen persönliche Fragen zum jeweiligen Modul (Ask the Expert). Um das Präventionsangebot noch attraktiver zu machen, werden am Ende vom Schuljahr tolle Preise verlost (je mehr Credits gesammelt werden, desto höher die Gewinnchance).

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    s.o. Im Folgenden werden noch die einzelnen Features aufgelistet, welche die App neben dem eigentlichen Coaching via Chatbot bietet:

    • Alkoholtagebuch führen: Getränke in einer gamifizierten Trinkbar auswählen und protokollieren, jede Woche gibt es Feedback von der App zum Trinkverhalten. Ziel: Trinkverhalten sichtbar machen und dadurch reflektieren
    • Bewegungstagebuch führen: Schrittzähler kann verbunden werden, Einträge können manuell gesetzt werden, es können Ziele aufgestellt werden etc. Ziel: Bewegung bewusst eintragen und reflektieren/ Bewegung ggf. erhöhen
    • Social Media-Tagebuch: Dauer, Plattform und Gefühl nach Mediennutzung kann eingetragen werden. Ziel: bewusst Medienkonsum eintragen und feststellen/ beobachten, wie man sich danach gefühlt hat
    • Ask the Expert: User können ihre individuellen Fragen an eine Fachperson stellen.
    • User-Lifehacks: User können Strategien von anderen als top oder flop bewerten (top: sie werden bei ihnen als Inspiration im Profil gesammelt, flop: Strategie verschwindet). User kann selbst auch Strategien hochladen. Beispiel-Frage: „Was motiviert dich, weniger zu kiffen oder sogar mit dem Kiffen aufzuhören? Lade ein Bild hoch.“
    • Cannabis Control: Es werden zu gewünschten Zeiten Tipps geschickt, wie man sich am besten auf einen Cannabisstopp vorbereitet.
    • Alkoholfrei werden
    • „Mein Feedback“: Hier sehen die User ihre Ampelfarbe zu den ausgewählten Modulen und wie sich ihre Ressourcen im Laufe des Coachings verbessern.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Hinter der App steht ein qualitativ hochwertiges Netzwerk, das sowohl bei der Weiterentwicklung als auch bei Ask the Expert involviert ist. Ebenso bietet ready4life viele Themen zum Bearbeiten an und bietet somit ganzheitliche Prävention innerhalb einer App. Ziel: Erhöhung des Interesses und der Relevanz von Gesundheitsthemen bei Jugendlichen durch Identifikation und Wahlfreiheit. Indem eine Vielzahl von Gesundheitsthemen abgedeckt wird, wird deutlich, dass Gesundheit durch viele Faktoren beeinflusst wird. Dies erweitert ihr Verständnis von Gesundheit und macht sie für verschiedene Themen sensibler und Zusammenhänge werden erkannt.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Die Nutzer:innen benötigen einen Zugangscode und müssen mind. 15 Jahre alt sein.
    Ein Modul (und somit ein Coaching) dauert 14 Tage – im Idealfall dauert die Begleitung durch die gesamte App also 14 Wochen. Weitere wichtige Funktionen (wie Ask the Expert) können das ganze Jahr über genutzt werden. Zum 1. August eines jeden Jahres erscheint eine neue weiterentwickelte Version von ready4life.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Für die Nutzer:innen ist der Zugang kostenlos. Unter (Bundes-)Ländern/ Kantonen gibt es (Lizenz)-Vereinbarungen.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    ready4life ist ein Projekt der Lungenliga, das 2016 durch das Schweizer Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung (ISGF) initiiert wurde. Die Inhalte der App wurden mit Fachpersonen der Lungenligen (LL) und folgenden Partner:innen entwickelt: Universitäre Psychiatrische Dienste Bern (UPD), Universität Zürich (UZH), Zürcher Fachstelle zur Prävention des Suchtmittelmissbrauchs (ZFPS), Suchtprävention Dietikon & Affoltern (SUPAD), Blaues Kreuz (BLK), Schweizer Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung (ISGF).

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert? Ergebnisse?
    Das ISGF hat ready4life 2021/2022 evaluiert und festgestellt, dass die App wirkt (signifikant bei den Modulen Stress, Alkohol und Social Media & Gaming).

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Deutsch, Französisch, Italienisch

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Seit dem 01.08.2024 erscheint ready4life in einem neuen Design. Ebenso wurden Erklärvideo, Website und Social-Media-Auftritt erneuert.

    Die Fragen beantwortete Pia Nobis, Nationale Projektleitung ready4life, Lungenliga beider Basel.

    Cyber-Mobbing Leichte Hilfe

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Die „Cyber-Mobbing Leichte Hilfe“-App ist über den Apple App Store und den Google Play Store zu beziehen.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Die App stellt primär ein Hilfsangebot bei Betroffenheit von Cybermobbing und digitaler sexualisierter Gewalt dar. Im Wesentlichen geht es um erste Schritte nach einem Angriff. Es werden Beratungsstellen aufgeführt, es gibt Videotipps zu ersten Schritten, Anleitungen zum Blockieren, Melden und Löschen von Angreifer:innen sowie Vorschläge zur Aufmunterung.
    Gleichzeitig soll die App potenziell Betroffene für diese speziellen Formen der Gewalt sensibilisieren und gibt einige Tipps, wie man sich im Internet schützen kann.

    3. An wen richtet sich die App?
    Die App richtet sich primär an erwachsene Menschen mit Beeinträchtigung, kann aber ebenso von älteren Personen oder Personen, die noch nicht so gut Deutsch sprechen, genutzt werden.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die App bietet in erster Linie Hinweise und Informationen zum Verhalten bei digitaler Gewalt in einfacher und zum Teil auch Gebärdensprache.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Nutzer:innen können sich Videotipps in einfacher Sprache und in Gebärdensprache zum Umgang mit digitaler Gewalt ansehen und erhalten Informationen zum Thema Cybermobbing und digitale sexualisierte Gewalt. Außerdem enthält die App Anleitungen zum Blockieren, Melden und Löschen von Angreifer:innen auf sechs unterschiedlichen Social-Media-Plattformen (WhatsApp, Instagram, Facebook, TikTok, YouTube und Discord). Nutzer:innen bekommen eine Übersicht von spezialisierten Beratungsangeboten zum Thema digitale Gewalt, die aus der App heraus angerufen werden können. Zudem gibt es eine Videoanleitung zur Erstellung einer Online-Anzeige in Berlin und eine Linksammlung zu sämtlichen Internetwachen aller Bundesländer.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Alle Videotipps liegen in einfacher Sprache und in Gebärdensprache vor. Die App wurde partizipativ erarbeitet. Das bedeutet, dass die Inhalte (Texte, Videos, Design) mit und von Menschen mit Beeinträchtigungen der Werkstätten in Berlin erarbeitet wurden.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Es bestehen keine speziellen Zugangsvoraussetzungen. Die App begleitet Nutzer:innen so lange diese dies wünschen und benötigen.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Die App ist kostenlos.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die App wurde im Rahmen einer Kooperation von klicksafe https://www.klicksafe.de/ und der Landesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen Berlin e. V. erarbeitet.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Eine Evaluation der App steht noch aus.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Die App liegt bisher noch nicht in anderen Sprachen vor, ist aber angedacht.

    Die Fragen beantwortete Sascha Omidi, Fachberater für Gewaltprävention, Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für Menschen mit Behinderung Berlin e. V.

    belinu

    belinu – Abkürzung für believe in yourself. Während meiner eigenen Trauerzeit war der Glaube an mich selbst, um diese herausfordernde Zeit zu überwinden, sehr prägend und wichtig. Da es so wichtig ist, an sich selbst zu glauben, besonders in herausfordernden Zeiten und persönlichen Krisen, liegt uns diese Botschaft sehr am Herzen. Deshalb haben wir auch die App danach benannt.

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    belinu ist im App Store und Google Play Store verfügbar.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Wir haben uns auf die Themenbereiche Trauer, Einsamkeit, Stress und Überforderung sowie Probleme in Beziehungen spezialisiert. Für diese Themen gibt es zahlreiche Videokurse und Übungen, die wir speziell für die App mit unseren Expert:innen entwickeln. Hier arbeiten wir mit verschiedensten Psycholog:innen, Trauerbegleiter:innen und anderen ausgebildeten Expert:innen zusammen.

    3. An wen richtet sich die App?
    Die App richtet sich an Betroffene, die mit einem oder mehreren unserer Themengebiete zu kämpfen haben. Alle unsere Themengebiete lassen sich nicht auf ein Alter beschränken, weshalb wir keine bestimmte Altersgruppe haben. Allerdings richtet sich die App an Erwachsene und ist somit erst ab 18.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    belinu ist in zwei Hauptbereiche aufgeteilt. Zum einen gibt es die Video-Mediathek mit zahlreichen praktischen Übungen und Anwendungsfällen zu den genannten Themengebieten. Zum anderen gibt es einen Community Bereich. Hier können sich Betroffene austauschen, Erfahrungen und Informationen teilen. Hierfür wählen die Nutzer:innen aus, über welches Thema, mit welcher Altersgruppe oder mit welchem Geschlecht sie sich gerne austauschen möchten. Anschließend wird eine Liste mit Menschen, die vor ähnlichen / gleichen Herausforderungen stehen, vorgeschlagen, und die Nutzer:innen können selbst entscheiden, mit wem sie sich vernetzen möchten. Hierbei können die Nutzer:innen so viel sie von sich preisgeben, wie sie möchten, und die App auch anonym nutzen.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Die Nutzer:innen können sich aktiv mit der Community austauschen und das Schwarmwissen der Community nutzen. Zusätzlich können sie Übungen aus den verschiedenen Kursen direkt in ihren Alltag integrieren, da die Kurse sehr praktisch sind und der Fokus auf der direkten Umsetzungsmöglichkeit im Alltag liegt. Zusätzlich gibt es ein Tagebuch mit Stimmungstracking. Täglich kann eine Emotion des Tages und der Grund für diese Emotion erfasst werden. Das ermöglicht einen guten Überblick über die eigenen Gefühle und die Gründe für diese Gefühle.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Unser Merkmal ist die Bandbreite an Expert:innen und unterschiedlichen Menschen. Was für den einen passt, ist für den anderen unpassend. Deshalb arbeiten wir mit verschiedensten Expert:innen und erweitern unsere Videokurse laufend. Auch unsere Community wächst stetig, was einen Austausch mit verschiedensten Personen ermöglicht.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    belinu ist für Nutzer:innen ab 18 Jahren geeignet. Weitere Voraussetzungen bestehen nicht. Wie lange die App die Nutzer:innen begleitet, ist von Nutzerin zu Nutzer unterschiedlich. Jede:r entscheidet selbst, mit welchem Tempo und in welcher Intensität er/sie die App nutzen möchte.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    belinu ist in zwei Abo-Varianten erhältlich. Nutzer:innen können zwischen einem Quartals-Abo (38,90 €) und einem Jahres-Abo (94,90 €) entscheiden. Bisher ist die App nicht auf Rezept erhältlich.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    belinu wurde vollständig von uns selbst in Kooperation mit verschiedenen Expert:innen und Psycholog:innen entwickelt.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Hier sind wir dran. Bisher noch kein Start einer Studie.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Die App ist im DACH Raum verfügbar, bisher nur in deutscher Sprache.

    Die Fragen beantwortete Lisa Mutvar, Gründerin von belinu.


    RAUCHEN

    NichtraucherHelden

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Die NichtraucherHelden-App ist als Präventionsprogramm im jeweiligen Store von Apple und Google erhältlich und kann auch über einen Browser auf www.nichtraucherhelden.de genutzt werden. Zuerst war die App als Präventionsprogramm für Unternehmen im Rahmen ihres BGM-Angebots (Betriebliches Gesundheitsmanagement) sowie für Krankenkassenversicherte erhältlich. Inzwischen gibt es auch eine Variante als DiGA (Digitale Gesundheits- Anwendung), diese kann somit als „App auf Rezept“ von Ärzten und Ärztinnen verordnet werden. Im Folgenden wird nur auf die als DiGA auf Rezept erhältliche NichtraucherHelden-App eingegangen.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Bei Personen, die sich das Zigarettenrauchen abgewöhnen wollen, kommt die NichtraucherHelden-App zum Einsatz. Sie kann entweder als eigenständiges Hilfsmittel genutzt werden, aber auch in Verbindung mit Medikamenten. Ansprechpartner dazu ist dann zwingend der Arzt. Die App informiert und motiviert die Anwender:innen, um den Entschluss des Rauchstopps besser und erfolgreicher umsetzen zu können und Entzugserscheinungen und mit dem Rauchen verbundenen Gewohnheiten bewusst zu begegnen.

    3. An wen richtet sich die App?
    Die NichtraucherHelden-App richtet sich an Zigarettenraucher:innen, die tabakabhängig sind und sich das Rauchen abgewöhnen wollen. Es gibt dabei keine Einschränkung bezüglich Personengruppen oder Alter. Die NichtraucherHelden-Anwendung ist nicht geeignet bei Personen mit psychiatrischen Erkrankungen mit Zeichen der akuten Depressivität oder Suizidalität sowie bei Erkrankungen mit akuten deliranten oder akuten psychotischen Störungen.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die NichtraucherHelden-App bietet mit informativen Videos und lehrreichen Aufgaben eine umfangreiche Vorbereitung auf den Rauchstopp. Anschließend folgen verschiedene Angebote nach dem Rauchstopp, z. B. was tun, wenn Entzugserscheinungen eintreten, Verlangen nach einer Zigarette auftritt, gegen mögliche Gewichtszunahme und Ähnliches. Sehr gerne wird die moderierte NichtraucherHelden-Community genutzt, die im Rahmen der App angeboten wird. Darin tauschen sich die Anwender und Anwenderinnen aus, beantworten sich gegenseitig Fragen und geben und finden Motivation.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?
    Neben informativen und motivierenden Coaching-Videos haben die Benutzer und Benutzerinnen die Möglichkeit, sportliche Übungen mitzumachen und gesunde Rezepte auszuprobieren. In der NichtraucherHelden-Community können die Anwender und Anwenderinnen sich austauschen. Im Rahmen der täglichen Betreuung fordert die App die Benutzer:innen auf, Aufgaben abzuarbeiten und sich seiner Gewohnheiten bewusst zu werden und sie gegebenenfalls zu ändern. Zur Belohnung gibt es Informationen, was man erreicht hat und wie viel Geld man an nicht gerauchten Zigaretten gespart hat.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Die Vorgehensweise im Programm basiert auf einem eigens entwickelten Ansatz des „Medical Story Telling“. In Videos werden medizinische Informationen mit Filmszenen aus dem Leben und Tipps zum Nichtrauchen angeboten. Zusammen mit Aufgaben zur Selbstanalyse wird dem Benutzer und der Benutzerin bewusst, welche schädlichen Folgen das Rauchen hat, und es wird eine starke Motivation erzeugt, mit dem Rauchen aufzuhören. Durch tägliche Abfragen trägt der Anwender und die Anwenderin eigenes Feedback ein, womit die NichtraucherHelden-App auf jeden individuellen Fall angepasst wird.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Nachdem der Arzt oder die Ärztin ein Rezept ausgestellt hat, wird dieses vom Patienten oder der Patientin bei der Krankenkasse eingereicht. Die Kasse gibt dem Patienten oder der Patientin einen Zugangs-Code, mit dem man sich bei den NichtraucherHelden anmelden kann. Zuvor muss man nur die App aus dem jeweiligen Store auf sein Smartphone laden und installieren, und es kann losgehen. Die Nutzungsdauer der App ist angelegt auf drei Monate, das heißt Vorbereitung zum Rauchstopp, die Phase des Rauchstopps sowie die Begleitung und Unterstützung hinterher. Es kann jederzeit ein Folgerezept ausgestellt werden, sodass die App jeweils weitere drei Monate genutzt werden kann.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Nach Feststellen der Nikotinabhängigkeit durch den Arzt oder die Ärztin wird ein Rezept für den Patienten oder die Patientin ausgestellt. Dies belastet das Budget des Arztes bzw. der Ärztin nicht. Durch das Rezept wird die Nutzung der App für drei Monate freigeschalten. Für den Patienten oder die Patientin entstehen keine Kosten.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die Firma Sanero Medical GmbH aus Stuttgart ist ein Startup, das sich auf medizinische Apps auf Rezept spezialisiert hat. Die NichtraucherHelden-App wurde gemeinsam mit Medizinern und Fachleuten entwickelt und wird von Sanero Medical vermarktet.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Damit die NichtraucherHelden-App als DiGA dauerhaft zugelassen werden konnte, wurde eine umfangreiche klinische Studie durchgeführt. Das Ziel der Studie war die Evaluierung der Wirksamkeit der Digitalen Gesundheitsanwendung (DiGA) NichtraucherHelden. Als Schlussfolgerung aus der Studie kann man zusammenfassen, dass der Rauchstopp mit Hilfe der NichtraucherHelden-App die Abstinenzquote verdoppelt.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Aktuell ist die NichtraucherHelden-App nur in Deutsch verfügbar. Inzwischen führen weitere Länder Programme für eine App auf Rezept ein, ähnlich der DiGA in Deutschland. Entsprechend ist geplant, die App in weiteren Sprachen für andere Länder anzubieten.

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Anfang 2024 ist die NichtraucherHelden App bei der Stiftung Warentest Testsieger geworden und mit Top-Noten bewertet worden. Aktuell ist die NichtraucherHelden-App die einzige DiGA zur Rauchentwöhnung, die vom Bundesamt für Arzneimittel (BfArM) eine dauerhafte Zulassung erhalten hat. Auf der Internetseite von NichtraucherHelden (www.nichtraucherhelden.de) findet man interessante Erfahrungsberichte von Personen, die mit der Nichtraucherhelden-App aufgehört haben zu rauchen.

    Die Fragen beantwortete Rainer Ott, Sales und Partner Manager, Firma Sanero Medical GmbH.

    Smoke Free – Rauchen aufhören

    1. Auf welchen Plattformen ist die App zu bekommen?
    Die App ist im Apple App Store und Google Play Store verfügbar. Es gibt keine Web-Version.

    2. Bei welchem Thema kommt die App zum Einsatz? Was ist ihr Anwendungsbereich?
    Smoke Free wird im Bereich der Rauchentwöhnung eingesetzt. Sie ist eine evidenzbasierte, digitale Therapie, die als Smartphone-App angeboten wird und darauf abzielt, Menschen beim Aufhören mit dem Rauchen zu unterstützen. Sie kann von Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen beim Vorliegen einer Tabakabhängigkeit (ICD 17.2) als Digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) verordnet werden. Die App hilft, die nötige Motivation aufzubauen und aufrechtzuerhalten, um dem Rauchverlangen zu widerstehen und dauerhaft rauchfrei zu bleiben.

    3. An wen richtet sich die App?
    Smoke Free richtet sich an Erwachsene zwischen 18 und 65 Jahren, die direkt von der Tabakabhängigkeit betroffen sind und mit dem Rauchen aufhören möchten.

    4. Welche Leistungen, welchen Nutzen bietet die App?
    Die App zielt darauf ab, die Motivation der Nutzer:innen zu steigern und ihr Selbstbewusstsein zu stärken, indem sie Feedback zu Fortschritten gibt und den Rauchstopp als einen Prozess mit möglichen Rückschlägen betrachtet. Dazu bietet sie eine Vielzahl an Leistungen:

    • Tägliche Missionen und Belohnungssystem: Nutzer:innen erhalten bereits sieben Tage vor dem Rauchstoppversuch tägliche Missionen, um sich auf den Rauchstopp vorzubereiten und diesen erfolgreich zu absolvieren. Im Verlauf des Rauchstoppversuchs nimmt die Frequenz der Missionen ab. Darüber hinaus lassen sich Abzeichen verdienen, was zur Steigerung des Selbstbewusstseins beiträgt und die Motivation aufrechterhält.
    • Unterstützung durch Community und Chatbot: Die App bietet Unterstützung durch einen Chatbot, der rund um die Uhr verfügbar ist und den Rauchstopp begleitet. Der Chatbot vermittelt praktische Tipps und passende Strategien, zum Beispiel im Umgang mit Rauchverlangen. Er basiert auf einem etablierten Protokoll zur Rauchentwöhnung, das in Face-to-Face-Rauchentwöhnungsangeboten im Vereinigten Königreich genutzt wird. Außerdem gibt es eine Community, in der sich unsere Nutzer:innen gegenseitig motivieren und unterstützen können.
    • Fortschrittsverfolgung: Nutzer:innen können verfolgen, wie lange sie rauchfrei sind, wie viel Geld sie gespart haben und welche gesundheitlichen Verbesserungen sie bereits mit der rauchfreien Zeit erzielt haben.
    • Ablenkung: Nutzer:innen können in einem virtuellen Haustierspiel Ablenkung finden, bis ein aufgekommenes Rauchverlangen vorbeigeht. Mit der Nutzung verschiedener Aspekte der App schaltet man dazu noch Gegenstände frei, die zur individuellen Dekoration des eigenen Haustiers genutzt werden können.
    • Analyse von Auslösern für Rauchverlangen und Stress-Tracking: Nutzer:innen werden ermutigt, aufgekommene Rauchverlangen in die App einzutragen und sowohl die Stärke des Verlangens als auch Uhrzeit, Ort oder Tätigkeiten zu notieren. Die Rauchverlangen können dann im Anschluss räumlich, zeitlich und situativ ausgewertet werden, um kritische Situationen zu identifizieren und diese besser bewältigen zu können. Darüber hinaus bietet die App ein Stress-Tracking, um Veränderungen im Stresserleben, die zu einem möglichen Rückfall führen könnten, frühzeitig zu erkennen und dem entgegenzuwirken.
    • Verhaltenstherapeutische Techniken: Die App integriert Techniken zur Verhaltensänderung, die auf psychologischen Theorien zur Verhaltensänderung basieren. Dies schließt Erkenntnisse aus der kognitiven Verhaltenstherapie, aber auch der Motivationspsychologie ein.
    • Wissenschaftlich nachgewiesene Wirksamkeit: In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass die Nutzung der App die Erfolgsrate beim Rauchstopp signifikant erhöhen kann.

    5. Was können die Nutzer:innen aktiv damit machen?

    • Tägliche Missionen: Nutzer:innen können tägliche Aufgaben absolvieren, die speziell darauf ausgelegt sind, die Rauchgewohnheiten zu durchbrechen und die Motivation zu steigern. Diese Missionen sind wissenschaftlich fundiert und konnten in einer Studie die Erfolgschancen beim Rauchstopp verdoppeln.
    • Generelle Unterstützung bei Rauchverlangen: Die App bietet Tools und Tipps, um mit Rauchverlangen umzugehen, einschließlich eines Chatbots, der rund um die Uhr Unterstützung bietet.
    • Soziale Unterstützung: In der App haben Nutzer:innen Zugang zu einer Community, in der Tipps und Strategien zum Rauchstopp ausgetauscht werden können sowie Erfolge gemeinsam gefeiert werden.
    • Spielerische Unterstützung (Haustierspiel): Nutzer:innen können ihren eigenen virtuellen Drachen großziehen und diesen pflegen. Dies kann vor allem dann hilfreich sein, wenn die Dauer eines Verlangens überbrückt werden soll. Generell bietet das Spiel aber auch einen Anreiz, andere Teile der App zu nutzen, da man damit Gegenstände für den Drachen freischalten kann.
    • Analytische Unterstützung: Die App ermöglicht es den Nutzer:innen, ihren Fortschritt zu überwachen, indem sie sehen, wie lange sie rauchfrei sind, wie viel Geld sie gespart haben und welche gesundheitlichen Verbesserungen sie erzielt haben. Darüber hinaus können die Nutzer:innen die eingetragenen Rauchverlangen nach Ort, Zeit und auslösenden Situationen analysieren.

    6. Hat die App weitere besondere Merkmale? Wenn ja, welche?
    Die App umfasst sowohl off- als auch online nutzbare Funktionen. Das ist besonders im Kontext der Rauchentwöhnung wichtig, da Rauchverlangen nicht immer nur dann auftreten, wenn eine gute Internetverbindung vorhanden ist. Allgemein versteht sich die App nicht als Onlinekurs, bei dem Lerninhalte (z. B. im Videoformat) vermittelt werden, sondern als Begleiter auf dem Weg ins rauchfreie Leben. Deshalb wird viel Wert auf eine therapeutische Allianz zwischen App und Nutzer:in gelegt.

    7. Bestehen für die Nutzer:innen Zugangsvoraussetzungen? Wie lange begleitet die App die Nutzer:innen?
    Es bestehen keine Zugangsvoraussetzungen. Die Zusatzfunktionen der App begleiten die Menschen beim Rauchstopp für den Verschreibungszeitraum (90 Tage, Folgeverschreibungen sind möglich). Die Basisfunktionen sind dauerhaft kostenfrei verfügbar und bieten im Anschluss an einen Verschreibungszeitraum weiterhin Unterstützung.

    8. Ist die App für Nutzer:innen kostenlos oder kostenpflichtig? Ist sie auf Rezept erhältlich? Wie hoch sind die Kosten?
    Die App Smoke Free enthält sowohl kostenlose Basisfunktionen als auch kostenpflichtige Zusatzfunktionen. Nutzer:innen können die App kostenlos im App-Store herunterladen und die Zusatzfunktionen für eine Woche unverbindlich testen. Nach der einwöchigen Testphase ist für die Zusatzfunktionen ein Rezept nötig. Dies kann von Ärzt:innen oder Psychotherapeut:innen ohne Kontraindikationen verordnet werden. In diesem Fall übernehmen sowohl gesetzliche Krankenkassen als auch viele private Krankenversicherungen die Kosten, sodass die App für die Nutzer:innen kostenlos ist. Selbstzahler:innen zahlen 389,00 € für den Nutzungszeitraum von 90 Tagen.

    9. Wer hat die App entwickelt bzw. ist „Herausgeber“?
    Die App wurde von Dr. David Crane entwickelt, der auch als Gründer und CEO des Unternehmens fungiert. David hat einen Hintergrund in den Verhaltenswissenschaften und hat die App als Teil seiner Dissertation im Bereich der digitalen Gesundheitslösungen entwickelt.

    10. Wird oder wurde die Nutzung der App evaluiert?
    Verschiedene Aspekte der App wurden bereits in größeren RCTs mit der englischsprachigen Version evaluiert. Hier zeigte sich, dass sowohl die Missionen als auch der Chatbot die Chance, erfolgreich aufzuhören, etwa verdoppeln konnte. Die App wird darüber hinaus im englischen Kontext stetig evaluiert, da dies von den Kooperationspartnern vorausgesetzt wird (siehe unten). In der letzten derartigen Evaluation wurden beispielsweise Aufhörraten von 40 % nach drei Monaten ermittelt. Für die deutschsprachige Version mit Zusatzfunktionen liegen erste Ergebnisse im Rahmen der vorläufigen Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis vor. Momentan sind wir in der Abschlussphase der bis dato größten DiGA-Evaluationsstudie mit über 1.450 Teilnehmenden, um die Voraussetzungen für eine dauerhafte Listung zu erfüllen. Die Ergebnisse der Studie werden in den kommenden Monaten veröffentlicht.

    11. Ist die App noch in anderen Sprachen außer Deutsch verfügbar? Wenn ja, welche?
    Die Zusatzfunktionen in der App sind auch auf Englisch verfügbar. Die Basisfunktionen werden auch noch in weiteren Sprachen (momentan Spanisch, Französisch, Russisch und Portugiesisch) angeboten, wobei wir das Angebot stetig ausbauen wollen.

    12. Weitere interessante Informationen über die App
    Die App wird sowohl im deutschen als auch im englischen Gesundheitssystem genutzt. Dort bestehen Kooperationen unter anderem mit dem britischen National Health Service (NHS) und dem National Centre for Smoking Cessation and Training (NCSCT).
    Die App ist bereits seit über zehn Jahren erhältlich und verzeichnet mehr als sieben Millionen Downloads, wovon mehr als eine Million Downloads auf Deutschland fallen. Sie gehört zu den bestbewerteten Rauchstopp-Apps mit mehr als 185.000 5-Sterne-Bewertungen.

    Die Fragen beantwortete Dr. Lucas Keller, Lead Researcher.

  • Abhängigkeitserkrankungen im Kindes- und Jugendalter

    Abhängigkeitserkrankungen im Kindes- und Jugendalter

    Florian Moser

    Einleitung

    Zwischen 2001 und 2021 ist unter 12- bis 17-Jährigen die 12-Monats-Konsumprävalenz von Alkohol (2001: 78,6 %; 2021: 47,2 %) bzw. Tabak (2001: 27,5 %; 2021: 6,1 %) deutlich gesunken, wohingegen die 12-Monats-Konsumprävalenz von Cannabis nach einem Rückgang bis 2011 seit etwa zehn Jahren zunimmt (2001: 9,2 %; 2021: 7,6 %) (Orth & Merkel, 2022). Die 12-Monats-Konsumprävalenzen für andere illegale Drogen lagen zwischen 2001 (2,0 %) und 2019 (1,0 %) auf einem sehr niedrigen Niveau (ebd.). Regelmäßiger und intensiver Konsum psychotroper Substanzen hat neurobiologische, soziale und psychische Folgen. Bei frühem Konsumbeginn in der Adoleszenz zeigt sich ein erhöhtes Risiko von Fehlentwicklungen (Küfner et al., 2020), so dass Kinder und Jugendliche, die verstärkt psychoaktive Substanzen konsumieren, eine wichtige Zielgruppe für das Hilfesystem sein sollten.

    Vorarbeiten belegen eine Versorgungslücke für Kinder und Jugendliche mit klinisch relevantem Substanzkonsum (DHS, 2018; Thomasius & Stolle, 2008; Thomasius et al., 2016). Versorgungsschritte in der Arbeit mit suchterkrankten und -gefährdeten Kindern und Jugendlichen reichen auch in die Kinder- und Jugendhilfe hinein, so dass heterogene Hilfeformen und Settings eine umfängliche Analyse der aktuellen Versorgungslage verkomplizieren. Bislang stehen für den bayerischen Raum kaum aussagekräftige Daten zur Versorgungslage von suchterkrankten und -gefährdeten Kindern und Jugendlichen zur Verfügung, was praxistaugliche Empfehlungen für eine bedarfsgerechte Ausgestaltung des regionalen Hilfesystems erschwert.

    Um abzuschätzen, inwieweit das regionale Versorgungsangebot in Stadt und Landkreis Landshut den Bedarfen suchterkrankter und -gefährdeter Kinder und Jugendlicher gerecht wird, wurden daher bewusst Hilfeformen und Settings einbezogen, deren primäre Aufgabe nicht in der Versorgung suchterkrankter und -gefährdeter Personen liegt.

    Methodik

    Wir haben im Rahmen einer Forschungswerkstatt an der Hochschule Landshut in den Studiengängen Soziale Arbeit sowie Soziale Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe 13 leitfadengestützte Interviews mit Personen geführt, die in verschiedenen Einrichtungen in der Stadt und dem Landkreis Landshut suchterkrankte und -gefährdete Kinder und Jugendliche beraten und behandeln. Hierbei kam für alle Einrichtungen und Settings ein einheitlicher Interviewleitfaden zum Einsatz.

    Tabelle 1: Themen und Settings der Interviews

    Die Interviewthemen und -settings sind in Tabelle 1 dargestellt. Für eine lockere und entspannte Gesprächssituation wurden die Interviews persönlich im jeweiligen Arbeitsumfeld geführt. Die Durchführung, Transkription und Auswertung gemäß qualitativer Inhaltsanalyse (Mayring, 2015) der Interviews erfolgte durch Studierende in supervidierten Kleingruppen.

    Ergebnisse

    Insgesamt wurden 343 Minuten Interviewmaterial analysiert, wobei die Interviews im Mittel 25 Minuten (Spannweite: 8 Minuten bis 45 Minuten) dauerten. Es ließen sich neun, dem Interviewleitfaden entsprechende Endkategorien identifizieren:

    1. Versorgungsangebot
    2. Inanspruchnahme von Angeboten
    3. Problemlagen und Klientel
    4. Behandlungserfolge
    5. Pandemiebedingte Veränderungen
    6. Vernetzung
    7. Grenzen, Schwierigkeiten und Veränderungsbedarf
    8. Beurteilung des regionalen Versorgungssystems
    9. Wünsche an das Versorgungssystem

    Nachfolgend werden die Ergebnisse zur Beschreibung der Klientel, des Versorgungsangebots und der Vernetzung sowie weitere Entwicklungspotenziale näher beleuchtet.

    1) Charakterisierung der Klientel

    Hilfen werden den Interviewten zu Folge größtenteils im Jugend- und frühen Erwachsenenalter in Anspruch genommen, wobei die Hilfesuchenden insbesondere Cannabis und Alkohol konsumierten. Auch Mischkonsum verschiedener Substanzen sei weit verbreitet:

    „Ähm ich glaube nicht, dass wir viele haben, die nicht kiffen, also ich denke (…) über 90 Prozent“ (I5, 138-139). „Also bei uns (…) entweder mit Alkohol oder THC-Konsum“ (I13, 113-114). „Sonst ist es viel Misch Masch“ (I7, 91-92).

     Nach Einschätzung der praktisch Tätigen sind zwei von drei Hilfesuchenden männlich, die Kontaktaufnahme wurde überwiegend als fremdmotiviert eingestuft.

    2) Versorgungsangebot

    In Stadt und Landkreis Landshut bestehen folgende Versorgungsangebote:

    • Bezirkskrankenhaus Landshut (Qualifizierte Entzugsbehandlung; Suchtambulanz für Jugendliche)
    • Fachambulanz des Caritasverbands (für Erwachsene; in Ausnahmefällen für Minderjährige, da keine andere Beratungsstelle vorgehalten wird)
    • Landshuter Netzwerk (Präventionsprojekte HaLT, Zündstoff, FreD)

    Die Hilfesuchenden sind in unterschiedlichen Settings anzutreffen, was nach Meinung der praktisch Tätigen den Bedarfen nicht ausreichend gerecht wird. Oftmals würden Suchterkrankungen oder -gefährdungen bekannt, wenn die Klientel bereits in einer anderen Hilfeform angebunden sei. Die Interviewten äußerten, dass auch Hilfeformen, die nicht auf Suchterkrankungen spezialisiert seien, allgemeine Aspekte der Suchthilfe durch individuelle und flexible Konzepte umsetzen könnten, eine gezielte störungs- und altersspezifische „Suchtversorgung“ jedoch nur in Settings mit entsprechender Spezialisierung gelänge. Das Ausmaß und die Qualität der Anbindung suchterkrankter und -gefährdeter Kinder und Jugendlicher an verschiedene Hilfeformen und Settings wurde sehr unterschiedlich bewertet.

    Im Bereich Prävention bzw. medizinische Versorgung wurde überwiegend ein bedarfsgerechtes Versorgungsangebot konstatiert:

    „Ähm, in der Prävention würde ich sagen gut“ (I4, 56). „(…) die medizinische Versorgung, die ist wahrscheinlich in Landshut am allerbesten im Vergleich zu allen anderen Städten in Niederbayern (…)“ (I5, 352-353).

    In den Settings Beratung, ambulante psychiatrisch/psychotherapeutische Versorgung und stationäre Jugendhilfe wurden hingegen Lücken wahrgenommen:

    „Im Moment haben wir Wartezeiten, worüber ich ganz unglücklich bin“ (I10, 35). „Ich weiß, die Wartezeiten sind ja unendlich lange“ (I10, 457). „(…) an stationären Hilfen ist es eigentlich desaströs, weil eigentlich gibt es keine spezialisierte Einrichtung für diese Altersgruppe im Landkreis“ (I1, 380-381).

    3) Vernetzung

    Vernetzung eröffnet grundsätzlich Möglichkeiten, Chancen und Weiterentwicklungspotenzial für praktisch Tätige, Betreute und die Versorgung. Durch regionale und überregionale Vernetzung und Kooperation können lange Wartezeiten bis zur Einleitung passender Hilfen vermieden werden und nahtlose Anschlussmaßnahmen, bspw. nach qualifizierter Entzugsbehandlung, erfolgen. In Landshut besteht durch den Arbeitskreis Sucht ein Forum zur Vernetzung der einzelnen Akteure und zur Weiterentwicklung des regionalen Suchthilfesystems. Nach Einschätzung der Interviewten ist das Hilfesystem für suchterkrankte und -gefährdete Kinder und Jugendliche in Stadt und Landkreis Landshut regional relativ gut vernetzt und unterschiedliche Akteure arbeiten gut zusammen (Kinder- und Jugendpsychiatrie, Jugendhilfe, Prävention):

    „Ich glaube unser Netz ist tatsächlich relativ gut oder ist in einem guten Aufbau“ (I9, 243-244). „(…) wir vermitteln wie gesagt, wenn wir den Bedarf feststellen, was jetzt unsere Kompetenzen überschreiten sollte“ (I12, 247-248).

     Die Bedeutung der überregionalen Vernetzung wurde auch im Kontext der regionalen Versorgungslage bewertet. Ohne überregionale Kooperationen sei eine alters- und störungsspezifische Behandlung aufgrund fehlender Angebote vor Ort nicht umsetzbar:

    „Tatsächlich sind die Vernetzung zu Suchteinrichtung / ist wirklich schwierig, weil es fast keine gibt“ (I1, 334-335).Man sucht Alternativen. Also man sucht sowohl irgendwie Einrichtungen, die trotzdem das machen können, obwohl sie nicht dieses Spezialgebiet haben, durch andere Vernetzungen“ (I9, 220-222).

    4) Weiterentwicklungspotenziale

    Die angemessene Versorgung suchterkrankter und -gefährdeter Kinder und Jugendlicher ist laut den praktisch Tätigen komplex. Persönliche Aspekte wie Multi-Problemlagen und motivationale Prozesse sowie strukturelle Faktoren erschwerten eine bedarfsgerechte Suchthilfe im Kinder- und Jugendbereich. Als unbefriedigend wurde insbesondere erlebt, dass der Bedarf der Kinder und Jugendlichen mitunter über die im eigenen Angebot leistbare Hilfe hinausgehe und es zugleich nicht immer geeignete weiterführende bzw. begleitende Versorgungsangebote gäbe.

    Als Hürden für die Inanspruchnahme von Hilfe wurden zunächst die unzureichende Übersicht über die bestehenden Versorgungsstrukturen und eine fehlende Koordinierungsstelle genannt, außerdem wurde der Bedarf nach Angehörigenarbeit festgestellt:

    „Ansonsten Zugangsbarrieren (…) fehlendes Wissen: ´Wo kann ich hin?´“ (I1, 431-432). „Und nachdem die Suchterkrankung von Jugendlichen ein sehr (.) komplexes Problem ist, ist die Einbeziehung von dem Umfeld natürlich unglaublich wichtig“ (I6, 25-27).

     Um angemessen auf die Bedarfe der Jugendlichen reagieren zu können, wurde neben einer regelmäßigen Weiterqualifizierung der praktisch Tätigen auch eine größere Bereitschaft der Kostenträger zu flexiblen Lösungen gewünscht:

    „(…) Supervision ist notwendig (…) Auch die Fortbildung ist ein wichtiger Faktor (…) um hier eine gute Arbeit machen zu können“ (I6, 163-165). „(…) wie (…) die Kassen ähm bestimmte Strukturen vorgeben (…) ich glaube da würde es das schon erleichtern, wenn da ein bisschen mehr Freiheit da wäre“ (I5, 336-346).

    Seitens der praktisch Tätigen besteht auch der Wunsch nach mehr niedrigschwelligen, suchtspezifischen Angeboten. Hierzu müssten persönliche Kompetenzen und strukturelle Rahmenbedingungen für (digitale) innovative Versorgungsstrategien ausgebaut werden:

    „(…) eine Anschlussmaßnahme an eine stationäre Behandlung, da gibt es hundertprozentig in Bayern gut Bedarf“ (I5, 422-423). „Es kommt darauf an, ähm wie gut die jeweiligen Stellen, in denen wir dann arbeiten, mit ihrem eigenen Online-Tool eingearbeitet sind“ (I4, 265-266).

    Diskussion

    Die bestehenden Hilfen werden laut praktisch Tätigen vor allem im Jugend- und frühen Erwachsenenalter in Anspruch genommen. Dies deckt sich mit Evidenz für einen Anstieg der Prävalenzen mit dem Übergang in das Erwachsenenalter (Orth & Merkel, 2020; 2022) und spricht für den Ausbau von Hilfen, die im Setting der Jugendarbeit die Weiterbetreuung über das 18. Lebensjahr hinaus ermöglichen.

    Das Versorgungsangebot in der Stadt und dem Landkreis Landshut scheint insgesamt nicht ausreichend auf die speziellen Bedarfe suchterkrankter und -gefährdeter Kinder und Jugendlicher ausgerichtet zu sein. Hier besteht Handlungsbedarf, um einer „Mitnahme“ von Suchterkrankungen ins Erwachsenenalter bestmöglich vorzubeugen (Kuntz et al., 2018; DGKJP; BAG; BKJPP, 2012). Zwar wurden die stationäre medizinische Versorgung, die Angebote der Suchtambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Bezirkskrankenhaus Landshut und das Präventionsangebot gelobt, doch im Hinblick auf Beratungsangebote und die ambulante psychiatrisch/psychotherapeutische Versorgung durch Niedergelassene wurde ein Versorgungsengpass konstatiert. Um regionale Lücken zu schließen, brauche es überregionale Vernetzung, entsprechende bereits bestehende Kooperationen seien aber ausbaufähig. Zudem sahen die Interviewten Bedarf, bestehende Angebote niederschwelliger zu gestalten bzw. hier innovative neue Angebote zu schaffen.

    Die Interviewten betonten, dass isolierte Hilfsangebote aufgrund der multifaktoriellen Problemlagen und alters- bzw. störungsspezifischen Bedarfe der Betroffenen ihre Grenzen hätten. Deswegen sei die bestehende enge regionale Vernetzung positiv zu bewerten.

    Im Einklang mit der Forderung aktueller Leitlinien nach einer besseren Einbeziehung des sozialen Umfelds in die Behandlung von Menschen mit Suchtproblemen (AWMF, 2020; DGPPN, 2016) wurde der Angehörigenarbeit settingübergreifend große Bedeutung beigemessen. Dies sollte bei der Weiterentwicklung der Versorgungsangebote mitbedacht werden. Die Interviewten äußerten den Wunsch nach einer systematischeren Steuerung des Zugangs zum (suchspezifischen) Hilfesystem.

    Limitationen und Stärken

    Die hier präsentierten Ergebnisse spiegeln die subjektive Sicht der Interviewten wider und erheben keinen Anspruch auf Repräsentativität. Aufgrund der kleinen Fallzahl (13 Interviews) war es zudem nicht möglich herauszuarbeiten, inwieweit sich die Sichtweise von praktisch Tätigen in suchtspezifischen und nicht-suchtspezifischen Hilfsangeboten für Kinder und Jugendliche unterscheidet. Zugleich ermöglicht die Einbeziehung suchtspezifischer und nicht-suchtspezifischer Hilfsangebote eine möglichst umfassende Darstellung des Versorgungsangebots für suchterkrankte und -gefährdete Kinder und Jugendliche in Stadt und Landkreis Landshut. Hieraus lassen sich sehr konkrete Ansatzpunkte und Impulse für die Weiterentwicklung des Hilfesystems ableiten.

    Schlussfolgerungen für die Praxis

    In Stadt und Landkreis Landshut besteht ein gut vernetztes und ausbaufähiges regionales Versorgungssystem. Zugleich besteht überregionaler Kooperationsbedarf, um Zugang zu Angeboten zu schaffen, die aufgrund von Personalmangel, fehlender Fachexpertise oder finanziellen Engpässen vor Ort nicht vorgehalten werden können. Um die Versorgungsbedarfe suchterkrankter Kinder und Jugendlicher noch besser zu erfüllen, scheint es wünschenswert, eine Stelle mit Koordinierungsfunktion und niedrigschwellige Zugänge zum Hilfesystem zu schaffen sowie die überregionale Vernetzung weiter auszubauen. Zudem sollte im Sinne früher Hilfen der Ausbau präventiver und digitaler Angebote im Fokus stehen. In diesem Zusammenhang und vor dem Hintergrund der kürzlich erfolgten Teil-Legalisierung von Cannabis erscheint der Ausbau regionaler Cannabis-spezifischer (präventiver) Behandlungs- und Beratungsangebote sinnvoll. Cannabiskonsum wurde auch von den interviewten Fachkräften als zentrales Problemfeld benannt.

    Danksagung
    Ein großer Dank gebührt Frau Dr. Schwarzkopf (IFT – Institut für Therapieforschung München) für die wertvolle Unterstützung und Begleitung beim Erstellen dieses Artikels.

    Der ungekürzte Forschungsbericht u. a. mit Inhalten zu medienbezogenen Störungen und Auswirkungen der Sars-CoV-2-Pandemie kann bei den Autor:innen angefordert werden.

    Kontakt:

    Florian Moser
    Bezirkskrankenhaus Landshut
    Prof.-Buchner-Str. 22
    84034 Landshut
    f.moser(at)bkh-landshut.de

    Sabrina Zenger
    MOFAM GmbH & Co.KG
    Ohmstraße 4
    84144 Geisenhausen
    sabrina.zenger(at)mofam.de

    Angaben zu den Autor:innen:

    Florian Moser ist Suchttherapeut M. Sc., Promovend an der Universität Regensburg und in Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Er ist auf der Akutstation und in der Suchtambulanz der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Landshut tätig.
    Sabrina Zenger ist Familienhebamme und Sozialarbeiterin B. A. Sie ist beim Kinder- und Jugendhilfeträger Mofam GmbH & Co. KG im ambulanten Bereich als Sozialpädagogische Familienhilfe, Erziehungsbeiständin oder in den Frühen Hilfen tätig.

    Literatur:
    • Arnaud, Nicolas & Thomasius, Rainer (2022). Substanzbezogene Störungen und Transitionspsychiatrie. Der Nervenarzt, 93(4), 341–350. https://doi.org/10.1007/s00115-022-01266-6
    • Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (Hrsg.) (2020). S3 Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“. URL: https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/076-001l_S3-Screening-Diagnose-Behandlung-alkoholbezogene-Stoerungen_2021-02.pdf. Zugriff: 04.02.2023
    • Bock, A., Huber, E., Müller, S., Henkel, M., Sevecke, K., Schopper, A., Steinmayr-Gensluckner, M., Wieser, E., & Benecke, C. (2019). Psychisches Strukturniveau im Jugendalter und der Zusammenhang mit späterer psychischer Erkrankung – eine Langzeitstudie. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 47(5), 400–410. https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000656
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (2018). Stationäre Einrichtungen: medizinische und pädagogische Angebote für abhängige Jugendliche, in: N. Wirth (Hrsg.), Suchtprävention in der Heimerziehung: Handbuch zum Umgang mit legalen wie illegalen Drogen, Medien und Ernährung, 2. Aufl., S. 62-63
    • Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (BAG KJPP), Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland (BKJPP) (2012): Anforderungen an die qualifizierte Entzugsbehandlung bei Kindern und Jugendlichen
    • Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) (2016): S3-Leitlinie Methamphetamin-bezogene Störungen. URL: https://www.dgppn.de/_Resources/Persistent/42b731d6180ceeaceae551fc8ae2a1b54eea591a/S3-LL-Methamphetamin_lang.pdf. Zugriff: 25.10.2022
    • Keller, F., Stadnitski, T., Nützel, J., & Schepker, R. (2019). Verlaufsanalyse wöchentlicher Selbst- und Fremdeinschätzungen in der Langzeittherapie suchtkranker Jugendlicher. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 47(2), 126-137. https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000594
    • Kuntz, Benjamin; Waldhauer, Julia; Zeiher, Johannes; Finger, Jonas D. & Lampert, Thomas (2018). Soziale Unterschiede im Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Querschnittergebnisse aus KIGGS Welle 2. Journal of Health Monitoring 3 (2), Berlin
    • Küfner, Heinrich; Pfeiffer-Gerschel, Tim & Hoch, Eva (2020): Störungen durch den Konsum illegaler Substanzen (Drogenkonsumstörungen). In: Hoyer, Jürgen & Knappe Susanne (Hrsg.) Klinische Psychologie & Psychotherapie. Berlin, Heidelberg: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-61814-1_40. Zugriff: 04.02.2023
    • Mayring, Philipp (2015): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, 12. Aufl., Weinheim: Beltz
    • Orth, Boris & Merkel, Christina (2020): Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland 2019. Rauchen, Alkoholkonsum und Konsum illegaler Drogen: aktuelle Verbreitung und Trends. BZgA-Forschungsbericht. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. DOI: 17623/BZGA:225-DAS19-DE-1.0. Zugriff: 04.02.2023
    • Orth, B. & Merkel, C. (2022). Der Substanzkonsum Jugendlicher und junger Erwachsener in Deutschland. Ergebnisse des Alkoholsurveys 2021 zu Alkohol, Rauchen, Cannabis und Trends. BZgA-Forschungsbericht. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. https://doi.org/10.17623/BZGA:Q3-ALKSY21-DE-1.0
    • Paus, T., Keshavan, M. S., & Giedd, J. N. (2008). Why do many psychiatric disorders emerge during adolescence? Nature Reviews Neuroscience, 9(12), 947–957. https://doi.org/10.1038/nrn2513
    • Plener, P. L., Groschwitz, R. C., Franke, C., Fegert, J. M., & Freyberger, H. J. (2015). Die stationäre psychiatrische Versorgung Adoleszenter in Deutschland. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 63(3), 181–186. https://doi.org/10.1024/1661-4747/a000238
    • Thomasius, Rainer & Stolle, Martin (2008): Substanzbezogene Störungen im Kindes- und Jugendalter – diagnostische und therapeutische Strategien. Sucht Aktuell. Zeitschrift des Fachverbandes Sucht e. V.
    • Thomasius, R., Thoms, E., Melchers, P., Roosen-Runge, G., Schimansky, G., Bilke-Hentsch, O., & Reis, O. (2016). Anforderungen an die qualifizierte Entzugsbehandlung bei Kindern und Jugendlichen. Sucht, 62(2), 107–111. https://doi.org/10.1024/0939-5911/a000416
  • Fachliche Potenziale des Bundesteilhabegesetzes für die Suchthilfe

    Fachliche Potenziale des Bundesteilhabegesetzes für die Suchthilfe

    Einleitung

    Im Zuge der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) sind die Leistungserbringer der Eingliederungshilfe (EGH) aktuell mit der Umstellung auf das neue Leistungssystem beschäftigt. Dies umfasst die Neujustierung der Fachkonzepte, die Schulung der Mitarbeitenden und die Prozessorganisation in den Angeboten. Diese Umstellung beinhaltet zwangsläufig auch die Auseinandersetzung mit den reformierten behinderungspolitischen Leitideen.

    Für die Suchthilfe bietet dieser Prozess verschiedene fachliche Gestaltungsoptionen. Es besteht die Chance, arbeitsfeldspezifische Paradigmen wie die Abstinenzorientierung neu zu bewerten und die Praxis der Suchthilfe durch die systematische Implementierung von fachlichen Konzepten und Verfahren weiter zu professionalisieren. Hierbei kann der Fokus um zeitgemäße partizipative und sozialräumliche Ansätze erweitert werden. Die Entwicklungen lassen sich für die gezielte Vernetzung mit relevanten Akteuren nutzen und auf andere Segmente der Suchthilfe jenseits der EGH und weitere Bereiche des Gesundheits- und Sozialwesens übertragen.

    Grundsatz Selbstbestimmung

    Ein zentraler Grundsatz des BTHG bezieht sich auf das Recht auf Selbstbestimmung. Gemäß § 8 SGB IX lassen Leistungen, Dienste und Einrichtungen „den Leistungsberechtigten möglichst viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung ihrer Lebensumstände und fördern ihre Selbstbestimmung“. Laut Beyerlein (2021) bedeutet Selbstbestimmung als gesetzliches Ziel, „die Betroffenen bei der Ermöglichung gleichberechtigter Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in ihrer Persönlichkeit zu achten und dementsprechend zu handeln und sie darüber hinaus zu aktivieren und in die Lage zu versetzen, autonom darüber zu entscheiden, in welcher Weise die gleichberechtigt Teilhabe stattfinden soll“ (S. 21). In der Suchthilfe ist der Umgang mit Selbstbestimmung elementar im Hinblick auf das Abstinenzpostulat, das trotz vorliegender alternativer Therapieansätze wie die Trinkmengenreduktion vielfach noch vorherrscht. Die Kritik, dass Abstinenz als vorgegebenes Behandlungsziel nicht dem Willen vieler Betroffener entspreche und zudem autonomieverletzend sei (vgl. Körkel 2002; Körkel und Nanz 2016), trifft ins Mark des Selbstbestimmungsgrundsatzes im BTHG. Dies erfordert insbesondere von hochschwellig ausgerichteten Anbietern bei der Erarbeitung der Fachkonzepte eine intensive Auseinandersetzung mit der fachlich-therapeutischen Haltung des Trägers und seiner Mitarbeitenden. Nur auf konzeptionell geklärter Grundlage ist der Rechtsanspruch auf selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Substanzkonsumstörungen umsetzbar.

    Grundsatz Partizipation

    Zu den wesentlichen Prinzipien des BTHG zählt die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe, die sich aus dem Partizipationsbegriff ableitet und soziales Einbezogensein, politische Beteiligung und Einflussnahme auf zentrale Entscheidungen in diesen Lebensbereichen beinhaltet (vgl. Rambausek-Haß und Beyerlein 2018). Hieraus ergeben sich Aufgaben für die Arbeit mit Menschen mit Substanzkonsumstörungen, die sich auf ressourcenorientierte Befähigungsleistungen und die partizipative Weiterentwicklung der Angebote beziehen und eng mit den fachlichen Grundlagen, wie z. B. einer Ausrichtung am Recovery-Ansatz, verbunden sind.

    Partizipation bezieht sich auf die aktive Einbeziehung der Betroffenen in Entscheidungsprozesse, die sie selbst betreffen (wie Bedarfsermittlung, Vereinbarung von Zielen und Teilhabeplanung), und ihre Beteiligung an der Entwicklung der Strukturen, in die sie eingebunden sind (z. B. Angebote der Suchthilfe sowie sozialräumliche, kommunale und weitere Entwicklungen und Entscheidungen). Sowohl in der EGH als auch in der Suchthilfe gilt Partizipation als ein Prozess, der an vorhandene Ressourcen und bisherige Erfahrungen gebunden ist. Damit Beteiligung als sinnvoll und attraktiv bewertet werden kann, müssen Befähigungsleistungen ggf. vorgeschaltet werden (vgl. Mattern et al. 2023). Zentrale Grundlage zur Umsetzung von Partizipation sind eine Empowerment-geleitete fachliche Haltung der Mitarbeitenden und eine beteiligungsorientierte Ausrichtung der Organisation. Beides kann z. B. durch methodische Anleihen bei dem Projekt „Hier bestimme ich mit – Ein Index für Partizipation“ (vgl. BeB – Der evangelische Fachverband für Teilhabe 2020; 2021) weiterentwickelt werden.

    Leitkriterium Sozialraumorientierung

    Eng mit Partizipationsprozessen ist die Sozialraumorientierung (SRO) verbunden, die als neues Leitkriterium in das SGB IX eingeführt worden ist. Sie lässt sich mit Hilfe des sozialarbeitswissenschaftlichen Fachkonzepts SRO operationalisieren. Das Konzept ist ein mehrdimensionaler Theorie- und Handlungsansatz und fußt auf den drei Handlungsebenen der fallspezifischen, fallübergreifenden und fallunspezifischen (personenunabhängigen) Ebene (vgl. Hinte 2019; 2020). Es lässt sich um die organisatorische Ebene der Leistungserbringer erweitern und stellt eine umfassende Sammlung an Methoden und Techniken zur Verfügung (vgl. Früchtel et al. 2007a; 2007b), die auch in der Suchthilfe einsetzbar sind.

    Zu den wesentlichen Handlungsprinzipien der Sozialraumorientierung zählen:

    • die Ausrichtung am Willen und den Interessen der Betroffenen,
    • die Stärkung von Eigeninitiative und Selbsthilfe,
    • die Fokussierung der personellen und sozialräumlichen Ressourcen,
    • zielgruppen- und bereichsübergreifende Aktivitäten und
    • die Kooperation und Vernetzung mit Fachdiensten, umgebenden Einrichtungen und weiteren Akteur:innen etc. im Quartier.

    Die Ausrichtung am Willen der Betroffen und der Sozialraum- und Lebensweltbezug im sozialarbeitswissenschaftlichen Fachkonzept decken sich mit den Kriterien des Gesamtplanverfahrens inkl. der Bedarfsermittlung nach § 117 SGB IX. Diese Passung bezieht sich auch auf die Haltung. Zur Umsetzung der Sozialraumorientierung ist eine ressourcenorientierte Haltung jenseits paternalistischer Fürsorge erforderlich, die der im BTHG formulierten Erwartung des Gesetzgebers an die professionelle Beziehungsgestaltung und Rollenklarheit bei den Mitarbeitenden entspricht: „Der Begriff der Assistenz bringt in Abgrenzung von förderzentrierten Ansätzen der Betreuung, die ein Über-/ Unterordnungsverhältnis zwischen Leistungserbringern und Leistungsberechtigten bergen, auch ein verändertes Verständnis von professioneller Hilfe zum Ausdruck“ (BT-Drucks. 18/9522, S. 261). Durch die zielorientierte Vernetzung und Kooperation zur wirksamen Leistungserbringung kann das Konzept einen wesentlichen Beitrag zur Entsäulung innerhalb der Suchthilfe leisten.

    Anforderungen an Qualität und Wirksamkeit der EGH im Vertragsrecht

    Das Vertragsrecht der EGH sieht vor, dass bei der Umstellung auf das neue Leistungssystem für alle Angebote Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen abgeschlossen werden, die Inhalt, Umfang, Qualität, Wirksamkeit und Vergütung der Leistungen regeln. Referenzrahmen der Vereinbarungen sind die neuen Fachkonzepte, die gemäß Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (BAGüS 2021) die fachliche Ausrichtung der Suchthilfe-Angebote beschreiben und Wirkannahmen für die angebotenen Leistungen sowie Qualitätsstandards enthalten sollen, um die „qualitative Leistungserbringung, Fachlichkeit und Sinnhaftigkeit der Maßnahme“ (BAGüS 2021, S. 12) zu gewährleisten.

    Die wirksamkeits- und qualitätsfokussierte Ausrichtung der EGH ermöglicht nun die finanzielle Berücksichtigung von Ansätzen und Verfahren der Suchthilfe, die früher in der Regel als im weitesten Sinne therapeutisch und daher nicht EGH-konform abgelehnt worden sind. Die verbindliche Umsetzung der Fachkonzepte ist im Kontext der sanktionsbewehrten Prüfungen nach § 128 SGB IX von den Leistungserbringern sicherzustellen. Das erforderliche regelmäßige Qualitätsmonitoring wird professionalitätssteigernde Effekte mit sich bringen. Dazu trägt auch die Vorgabe bei, dass sich sämtliche Merkmale des fachlichen Handelns in der Dokumentation der Leistungserbringung und in der reflektierten Ergebnisqualität zeigen müssen (vgl. BAGüS, S. 13). Dies wiederum setzt geschulte Mitarbeitende voraus, die sich mit den fachlichen Grundlagen auseinandergesetzt haben.

    Exkurs: Potenziale des Vertragsrechts für die Psychosoziale Begleitung von substituierten Opioidabhängigen (PSB)

    Mit Herauslösung der EGH aus dem Sozialhilferecht werden die Leistungen auf Antrag gewährt und sind mit neuen Verwaltungsverfahren und Zugangswegen ins System verbunden. Diese können für Teilgruppen der Anspruchsberechtigten zu hochschwellig sein und de facto den Ausschluss von der Leistung bedeuten. Diese Situation trifft für substituierte Opioidabhängige und das spezifische Angebot PSB in den Fällen zu, in denen es über die EGH finanziert wird. Die besonderen Bedarfe des Personenkreises und die organisatorischen Anforderungen an die Leistungserbringer lassen sich unter den administrativen und ökonomischen Rahmenbedingungen des neuen Leistungsrechts für das Gros der Betroffenen nicht abbilden. Das Vertragsrecht enthält jedoch Optionsrechte gemäß § 125 Abs. 3 Satz 4 SGB IX und § 132 SGB IX, auf deren Grundlage die PSB als personenorientierte und wirksame Leistung der EGH konfigurierbar wird (vgl. Gellert-Beckmann 2022). Da die Anwendung der Optionsrechte als Kann-Regelung im Ermessen der Leistungsträger liegt, besteht für die Leistungserbringer kein Anspruch auf ihre Nutzung. Dieser lässt sich aus der Perspektive der Leistungsberechtigten jedoch aus deren Recht auf diskriminierungsfreie Angebote und Zugänge aus den Artikeln 3, 4, 19, 25 und 26 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ableiten.

    Fachliche Grundlagen für die Umsetzung des BTHG

    Für die Leistungskonzeptionierung und -erbringung in der geforderten Qualität ist der Rückgriff auf fachlich bzw. wissenschaftlich anerkannte Verfahren und Konzepte notwendig, die insbesondere in S3-Leitlinien dargestellt werden. Geeignete psychosoziale Interventionen, die mit den Rehabilitationszielen der EGH kompatibel sind, finden sich in der S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen (DGPPN 2018). Sie sind auf die psychiatrische Teilgruppe der Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen übertragbar (vgl. Gellert-Beckmann 2023a). Aus den suchtspezifischen Leitlinien lassen sich im Vergleich dazu weniger geeignete evidenzbasierte Ansätze in Bezug auf die Reha-Leistungen der EGH entnehmen, deren Umsetzungsmöglichkeit im Rahmen des BTHG analysiert und bestätigt worden ist (Gühne und Konrad 2019).

    Die psychosozialen Interventionen aus der S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen zielen auf psychische und physische Stabilisierung, die Aktivierung von Motivation und Ressourcen und die Entwicklung von Fähigkeiten für eine weitestgehend selbstständige und eigenverantwortliche Lebensführung. Für die Erstellung der Fachkonzepte und die Festlegung auf fachliche Grundlagen bieten sie eine Vielzahl konkreter Verfahren, die sich mit weiteren suchthilfespezifischen Ansätzen verbinden lassen.

    Zentrale Ansätze der Leitlinie sind Recovery und Empowerment, die für das praktische Handeln operationalisiert und in der Arbeitsorganisation verankert werden müssen. Recovery-Elemente umfassen z. B. eine partnerschaftlich-professionelle und autonomiefördernde Arbeitsbeziehung und einen stärkenorientierten Ansatz, der die Klient:innen bei der (Wieder-)Entdeckung ihrer Ressourcen unterstützt. Angestrebt wird die Förderung von Selbstbestimmung, sozialer und beruflicher Teilhabe sowie der (Bürger:innen-)Rechte (DGPPN 2018, S. 52). Die Recovery-Prinzipien sind in die Angebotsstrukturen und Ablauforganisation einzubetten. Sie müssen für die Klient:innen erfahrbar und auch für die Mitarbeitenden greifbar werden in Form von Leistungen, die systematisch die Partizipation der Klient:innen integrieren und somit einen Bogen zu den Zielen des BTHG spannen.

    Die S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen enthält Schnittstellen zu den evidenzbasierten suchthilfespezifischen Verfahren Motivational Interviewing und Community Reinforcement Approach sowie zu allen suchthilfespezifischen Verfahren, die mit dem Empowerment-Ansatz assoziiert sind. Empowerment zielt als wichtiger Bestandteil von Recovery auf die Förderung von Selbstbefähigung, Eigeninitiative und Selbsthilfe – Kompetenzen, die in der Suchthilfe in Form von Selbsthilfegruppen, Lotsenkonzepten und Peer-Support unterstützt werden. Gemäß Leitlinien-Empfehlung ist Selbstmanagement „ein bedeutender Teil der Krankheitsbewältigung und sollte im gesamten Behandlungsprozess unterstützt werden“ (DGPPN 2018, S. 65). Selbstmanagement in der Suchthilfe umfasst Trainingsprogramme wie Psychoedukation, Konsumreduktionsprogramme wie Kontrolliertes Trinken und Kontrolle im selbstbestimmten Konsum, Rückfallprophylaxe und Training sozialer Fertigkeiten.

    Eine wesentliche Grundlage sowohl der Leitlinie als auch der Suchthilfe und der EGH stellt die professionelle Beziehungsgestaltung dar. Deren Qualität ist Bestandteil anderer Ansätze, z. B. des Wirkfaktorenmodells nach Grawe (vgl. DGPPN 2018, S. 58). Dieses Konzept fokussiert darüber hinaus Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung, motivationale Klärung und Befähigung zur Problembewältigung, die wiederum an den Befähigungsaspekt des neuen Leistungstatbestands der qualifizierten Assistenzleistung im SGB IX anschließt.

    Mit der partizipativen Entscheidungsfindung sollen die Rechte auf Autonomie und Selbstbestimmung respektiert und die aktive Beteiligung an der Behandlungsgestaltung im Recovery-Prozess sichergestellt werden (vgl. DGPPN 2018). Ein Anknüpfungspunkt zu dieser Recovery-Orientierung besteht u. a. für das Konzept der Zieloffenen Suchtarbeit nach Körkel.

    Für Suchthilfe-Angebote bietet sich an, die konzeptionelle Berücksichtigung von Case Management im Kontext der Assistenz zur persönlichen Lebensplanung gemäß § 78 Abs. 1 SGB IX zu prüfen und zielgruppenspezifisch auszuformen. Hierfür steht exemplarisch das Modellprojekt „Alters-CM3“ für die Arbeit mit älteren Drogenkonsument:innen (Schmid 2018). Das Modell verknüpft „Motivational Case Management“ (Case Management, das Motivational Interviewing methodisch integriert) mit Elementen eines stärkenorientierten Ansatzes und der „Problem Solving Therapy“. Somit lassen sich Verbindungen zu Recovery und zum Graw’schen Wirkfaktorenmodell herstellen.

    Als Basisleistung für die Bereiche „Navigation zur Strukturierung der Lebensgestaltung, Erschließung weiterer notwendiger Sozialleistungen, Krisenplanung“ (Konrad 2020, S. 29) kann Case Management von der Suchthilfe genutzt werden, um sozialarbeiterische Expertise im Bedarfskontext der Zielgruppe zu begründen.

    Aufgrund der hohen Prävalenz somatischer und psychiatrischer Komorbiditäten bei Substanzkonsumstörungen sollten auch Leistungen zum Lebensbereich Gesundheit im Hinblick auf die Bewältigung der zusätzlichen Erkrankungen regelhaft angeboten werden. Ein Mindestmaß an Gesundheit ist Voraussetzung für Teilhabe und unabdingbar für Lebensqualität und das Vermeiden vorzeitiger Mortalität. Gesundheitsbezogene Interventionen und Angebotsstrukturen und -prozesse auf System- und Einzelfallebene lassen sich in der EGH mit dem von der Dt. Vereinigung für Rehabilitation erarbeiteten Konzept der Gesundheitssorge (vgl. DVfR 2021) für die Suchthilfe entwickeln (vgl. Gellert-Beckmann 2023b). Das Konzept ist hilfreich für die Bedarfsermittlung, die individuelle Maßnahmenplanung und die organisationsstrukturelle Implementierung entsprechender Angebote. Hierzu zählen psychoedukative Trainings, das Schaffen von Zugängen zu Informationen und Angeboten, spezifische Fortbildung der Mitarbeitenden, Gruppenangebote zur Förderung der Gesundheitskompetenz und personenunabhängige Sozialraumarbeit zur Etablierung einer gesundheitskompetenzförderlichen Umgebung (vgl. AOK 2021).

    Ein Großteil der Verfahren ist über die EGH hinaus auch in anderen Settings der Sucht- und Drogenhilfe wie Beratungs- und Kontaktstellen einsetzbar.

    Neue Verfahrensregelungen im SGB IX

    Chancen für eine bessere Zusammenarbeit liegen auch in den neuen Verfahrensregelungen im Teil 1 des SGB IX für die Reha-Träger. Letztere sollen durch koordiniertes Handeln schnelle und wirkungsvolle Rehabilitationsleistungen ermöglichen. Die optimierte Kooperation der Leistungsträger soll unter Einbezug der weiteren Prozessbeteiligten erfolgen, da die übergreifende Zusammenarbeit als erfolgskritische Voraussetzung der Rehabilitation gilt. In der „Gemeinsamen Empfehlung Reha-Prozess“ (BAR 2019) sind in § 3 die beteiligten Akteure aufgelistet, die Einrichtungen und Dienste der Suchthilfe umfassen. Zu entwickeln sind mit den relevanten Beteiligten „verbindliche Strukturen, die ein regelhaftes und verlässliches System zum Informationsaustausch und zur Zusammenarbeit sicher stellen, das der möglichst frühzeitigen Erkennung eines Teilhabebedarfs und Einleitung von Leistungen zur Teilhabe dient“ (§ 16 Abs. 3 GE Reha-Prozess).

    Werden die in der Gemeinsamen Empfehlung formulierten Vorgehensweisen realisiert, profitieren einerseits Menschen mit Substanzkonsumstörungen von den vom Gesetzgeber angestrebten Verbesserungen, da sämtliche Leistungsgruppen gemäß § 5 SGB IX für sie relevant sein können. Andererseits lassen sich für die Suchthilfe und die angrenzenden Arbeitsfelder systematisch Vernetzungspotenziale heben, die zusammen mit den oben dargestellten Konzeptansätzen eine neue konstruktive Grundlage schaffen für die Überwindung von Schnittstellenproblemen (vgl. DHS 2019, S. 5).

    Kinder von suchtkranken Eltern

    Die Assistenzleistungen gemäß § 78 SGB IX umfassen auch Leistungen an Mütter und Väter mit Behinderungen bei der Versorgung und Betreuung ihrer Kinder. Mittels pädagogischer Anleitung, Beratung und Begleitung sollen Eltern mit Abhängigkeitserkrankungen unterstützt werden, um ihrer Elternrolle gerecht zu werden und z. B. die Grundbedürfnisse ihres Kindes wahrzunehmen, zu verstehen und ihnen nachkommen zu können (vgl. BMAS 2018, S. 44). Es lassen sich Angebote der begleiteten Elternschaft entwickeln, die in Modellprojekten erprobt worden sind (vgl. AFET-Bundesverband für Erziehungshilfe e. V. 2019; Dachverband Gemeindepsychiatrie 2019).

    Ausblick

    Die Potenziale des BTHG und der reformierten EGH lassen sich für weitere Bereiche der Suchthilfe nutzen. Der systematische fachliche Fokus als Folge der Qualitäts- und Wirksamkeitsanforderungen in der EGH erfordert finanzielle Ressourcen, die zunächst zu verhandeln und in Umsetzung zu bringen sind. Als Professionalisierungstreiber kann er für die Weiterentwicklung anderer sozialarbeiterischer Tätigkeitsfelder und Angebote in der Suchthilfe genutzt werden, die sich der Kritik häufig fehlender fachlicher Standards der Leistungserbringung stellen müssen (vgl. Arendt 2019). Auch die Auseinandersetzung mit den Prämissen der UN-BRK und des BTHG und die Übersetzung der menschenrechtsbasierten und behinderungspolitischen Grundlagen in fachliches Handeln kann den Fachdiskurs über die EGH hinaus bereichern, zumal die UN-BRK als mächtiger Hebel für die Durchsetzung von Rechtsansprüchen im Diskriminierungskontext Chancen für die Arbeit mit Menschen mit Substanzkonsumstörungen enthält, die noch lange nicht aufgegriffen sind.

    Kontakt und Angaben zur Autorin:

    Stefanie Gellert-Beckmann ist Geschäftsführerin der Suchthilfe Wuppertal gGmbH,
    Hünefeldstr. 10a, 42285 Wuppertal.
    www.sucht-hilfe.org
    stefanie.gellert-beckmann(at)sucht-hilfe.org

    Literatur
    • Arendt I. Case Management in der Sucht- und Drogenhilfe. Soziale Arbeit 2018; 9/10: 360-366 
    • AOK-Bundesverband GbR. Forschungsprojekt QualiPEP/ Qualitätsorientierte Prävention- und Gesundheitsförderung in Einrichtungen der Pflege und Eingliederungshilfe. 2021. Im Internet: www.aok-qualipep.de; Stand: 07.04.2023
    • AFET-Bundesverband für Erziehungshilfe e. V. (Hg.). Abschlussbericht Arbeitsgruppe Kinder psychisch und suchtkranker Eltern. 2019: 14ff.
    • BeB – Der evangelische Fachverband für Teilhabe. Mitbestimmen! Fragensammlung zur Partizipation. 2. Auflage, Berlin 2021.
    • BeB – Der evangelische Fachverband für Teilhabe. Mitbestimmen! Informationen für mehr Mitbestimmung. Berlin 2020.
    • Beyerlein M. Kurzgutachten zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes in den Bundesländern. Analyse von Regelungen zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung in Landesrahmenverträgen nach § 131 SGB IX (2021: 21).
    • Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e. V. (BAR). Gemeinsame Empfehlung Reha-Prozess. Frankfurt 2019.
    • Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (BAGüS). Orientierungshilfe zur Durchführung von Prüfungen der Wirtschaftlichkeit und Qualität einschließlich der Wirksamkeit nach § 128 SGB IX. 2021
    • Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Häufige Fragen zum Bundesteilhabegesetz (BTHG). 25. Oktober 2018. Im Internet: https://www.bmas.de/DE/Soziales/Teilhabe-und-Inklusion/Rehabilitation-und-Teilhabe/Fragen-und-Antworten-Bundesteilhabegesetz/faq-bundesteilhabegesetz.html; letzter Zugriff: 03.05.2024
    • Bundestags-Drucksache 18/9522. Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG). 05.09.2016
    • Dachverband Gemeindepsychiatrie e. V. (Hg.). Unterstützung für Familien mit einem psychisch kranken Elternteil. Leuchtturmprojekte. Köln: Psychiatrie-Verlag 2019.
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS). Die Versorgung von Menschen mit Suchtproblemen in Deutschland – Analyse der Hilfen und Angebote und Zukunftsperspektiven. Update 2019
    • Deutsche Vereinigung für Rehabilitation (DVfR). Gesundheitssorge – Erhalt und Förderung von Gesundheit für Menschen mit Behinderungen unter besonderer Berücksichtigung der Eingliederungshilfe. Positionspapier der DVfR, 2021.
    • DGPPN – Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen. 2. Auflage, Berlin: Springer 2018: 65. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-662-58284-8
    • Früchtel F, Budde W, Cyprian G. (2007a). Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007.
    • Früchtel F, Budde W, Cyprian G. (2007b): Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Fieldbook: Methoden und Techniken, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007.
    • Gellert-Beckmann S. Analyse der BTHG-bezogenen Chancen und Grenzen für die Suchthilfe. Suchttherapie 2023; DOI 10.1055/a-2159-8397 (2023a)
    • Gellert-Beckmann S. Gesundheitssorge als spezifische Teilhabeleistung der Eingliederungshilfe im Arbeitsfeld Suchthilfe. Nachrichtendienst des deutschen Vereins 2023; 1: 20 – 27 (2023b).
    • Gellert-Beckmann S. Überlegungen zur psycho-sozialen Betreuung für substituierte opioidabhängige Menschen im Kontext der UN-BRK und des BTHG – Personenzentrierte Verfahren und Zielvereinbarungen gemäß Kapitel 8 SGB IX; Beitrag E1-2022 unter www.reha-recht.de; 09.08.2022
    • Gühne U, Konrad M. Chancen zur Umsetzung der Leitlinienempfehlungen zu psychosozialen Therapien im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG); Psychiat Prax 2019; 46: 468 – 475. DOI: https://doi.org/10.1055/a-1011-9606
    • Hinte W. Das Fachkonzept „Sozialraumorientierung“ – Grundlage und Herausforderung für professionelles Handeln, ln: Fürst R, Hinte W (Hg.). Sozialraumorientierung. Ein Studienbuch zu fachlichen, institutionellen und finanziellen Aspekten, 3. Auflage., Stuttgart: UTB; 2019: 13–32.
    • Hinte W. Original oder Karaoke – was kennzeichnet das Fachkonzept Sozialraumorientierung? In: Fürst R, Hinte W. Sozialraumorientierung 4.0. Das Fachkonzept: Prinzipien, Prozesse & Perspektiven, Wien: Facultas Verlags- und Buchhandels AG; 2020: 11 -26.
    • Körkel J, Nanz M. Das Paradigma Zieloffener Suchtarbeit. In: akzept e. V., Dt. Aidshilfe, JES e. V., (Hg.). 3. Alternativer Drogen- und Suchtbericht 2016. Berlin: Pabst Science Publishers; 2016: 196 – 204.
    • Körkel J. Kontrolliertes Trinken. Eine Übersicht. Suchttherapie 2002; 3: 87–96.
    • Konrad M. Assistenzleistungen zur Sozialen Teilhabe als Rechtsanspruch nach dem Bundesteilhabegesetz (BTGH). Webinar der Umsetzungsbegleitung BTHG 05.06.2020. Im Internet: https://www.lag-avmb-bw.de/Teilhaberecht/Assistenzleistung_BTHG-2006.pdf
    • Mattern, L, Peters, U, Rambausek-Haß, T (2023). Zur Umsetzung der Partizipation in der Bedarfsermittlung und Teilhabeplanung – Forschungsstand; Beitrag D5-2023 unter www.reha-recht.de; 25.04.2023.
    • Rambausek-Haß, T, Beyerlein, M. Partizipation in der Bedarfsermittlung – Was ändert sich durch das Bundesteilhabegesetz? – Teil II; Beitrag D28-2018 unter www.reha-recht.de; 31.07.2018.
    • Reker M. Zur Implementation eines evidenzbasierten Therapieverfahrens in die deutsche Suchtkrankenversorgung: Der Community Reinforcement Approach. Suchttherapie 2013; DOI 10.1055/s-0033-1341430
    • Schmid M. Case Management für ältere Drogenabhängige – Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt. In: Schmid M, Arendt I. „Es ist ein Wunder, dass ich noch lebe …“ – Ältere Drogenabhängige, Hilfesysteme und Lebenswelten: Dokumentation zur Fachtagung des Verbundprojekts Alters-CM³ – Case Management für ältere „Drogenabhängige“. Koblenz: Institut für Forschung und Weiterbildung (IFW), Hochschule Koblenz 2018: 5-14.
  • Neue Visionen für die Suchtprävention?

    Neue Visionen für die Suchtprävention?

    Dr. Johannes Nießen, Errichtungsbeauftragter des BIPAM und Kommissarischer Leiter der BZgA. Fotograf: Carsten Kobow i.A. BZgA

    Die Suchtprävention ist wichtiger denn je! Als zentrale staatliche Institution ist aktuell die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA, Fachbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit) mit dieser Aufgabe betraut. Sie ist zuständig für die Erarbeitung und Umsetzung von Maßnahmen der Suchtprävention auf Bundesebene. Bis 2025 soll die BZgA nun in das neue Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM) übergehen. Was bedeutet das für die Suchtprävention? Welche Rolle wird sie im BIPAM spielen? Darüber sprach KONTUREN online mit Dr. Johannes Nießen. Er ist seit Oktober 2023 Errichtungsbeauftragter des neuen Instituts und Kommissarischer Leiter der BZgA.

    KONTUREN online: Aufgabe des BIPAM soll es sein, sich mit der Vermeidung nicht übertragbarer Erkrankungen wie Krebs, Demenz und koronaren Herzerkrankungen zu befassen. Was sind für Sie die wichtigsten konkreten Handlungsfelder für das BIPAM? Rückt die Suchtprävention in den Hintergrund?

    Dr. Johannes Nießen: Das BIPAM soll als zentrale Instanz auf Bundesebene die Strukturen für Öffentliche Gesundheit – insbesondere im Bereich Prävention, Gesundheitsförderung und -kommunikation – ausbauen und die Vernetzung von Bund, Ländern und Kommunen stärken. Die BZgA soll in dieser neuen Behörde aufgehen, die Expertise des RKI genutzt werden. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit auf den Gebieten der übertragbaren und nicht übertragbaren Erkrankungen (kurz NCDs) soll gefördert werden, um eine übergreifende Betrachtung sicherzustellen und der gesamten Situation des Gesundheitsschutzes und der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung Rechnung zu tragen.
    Präventionsarbeit hat einen hohen Stellenwert im BIPAM. Dies wird auch international, beispielsweise von der WHO, als sehr wichtig angesehen. Die Suchtprävention rückt dabei keinesfalls in den Hintergrund, sondern wird aufgrund der Interdependenz zu NCDs einen höheren Stellenwert erhalten.
    Erklärtes Ziel ist es, allen Bürgerinnen und Bürgern einen einfachen und schnellen Zugang zu verständlichen Gesundheitsinformationen über Erkrankungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall und Krebs zu ermöglichen. Zudem wird das BIPAM den Öffentlichen Gesundheitsdienst vernetzen und mit verschiedenen Angeboten bei seiner Arbeit vor Ort unterstützen.

    Wie wird die Suchtprävention am BIPAM strukturiert sein? Welche Fachleute sind in die Entwicklung von Maßnahmen eingebunden?

    Der Errichtungsprozess ist in vollem Gange. Welche Verantwortlichkeiten und Arbeitseinheiten wie zusammenkommen und wie die Facharbeit gestaltet wird, kann erst dann festgelegt werden, wenn die Aufbauorganisation des BIPAM steht.

    Was sind für Sie die wichtigsten konkreten Ziele und Handlungsfelder in der Suchtprävention? Welches sind die größten Herausforderungen?

    Wichtigste Ziele der Suchtprävention und gleichzeitig größte Herausforderungen sind die Vermeidung oder Hinauszögerung des Erstkonsums, die Früherkennung und Frühintervention bei riskantem Konsumverhalten sowie die Verringerung von einem missbräuchlichen Konsumverhalten und einer Suchtentwicklung. Jedes Jahr sterben etwa 127.000 Menschen allein in Deutschland an den Folgen des Tabakkonsums und über 40.000 Menschen an den Folgen schädlichen Alkoholkonsums. Eine zielgerichtete und evidenzbasierte Suchtprävention kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Gesundheitskompetenz zu stärken und Lebensqualität zu verbessern. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bietet dazu für diverse Zielgruppen qualitätsgesicherte Angebote zur Suchtprävention im Bereich der legalen und illegalen Drogen sowie der Verhaltenssüchte.

    Was wird das BIPAM in der Suchtprävention anders machen als die BZgA? Haben Sie neue Ideen? Wo sind Verbesserungen zu erwarten?

    Das BIPAM wird auf einem soliden Fundament der Suchtprävention aufbauen können, das die BZgA mit ihrer langjährigen Kommunikationsexpertise gelegt hat. Ergänzt wird sie um Datenexpertise aus dem RKI, etwa zu Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring. Diese Verbindung ermöglicht es, evidenzbasierte Bedarfe passgenauer zu ermitteln, Präventionsmaßnahmen gezielter zu entwickeln und sie abschließend zu evaluieren.

    Zum 1. April 2024 ist eine gesetzliche Neuregelung zur Teil-Legalisierung von Cannabis in Kraft getreten. Welche konkreten Maßnahmen planen Sie, um schädlichem Cannabiskonsum vorzubeugen?

    Die BZgA bietet für unterschiedliche Zielgruppen fachlich fundierte, gut verständliche und sachliche Informationen zu Cannabis, dessen Wirkweise sowie den gesundheitlichen Risiken des Konsums, zudem digitale Beratungsangebote und Selbsttests. Zielgruppen sind Jugendliche unter 18 Jahren, für die Cannabis auch weiterhin verboten bleibt, sowie junge Erwachsene ab 18 Jahren – aber auch Eltern, pädagogische Fachkräfte und Fachkräfte der Suchtprävention. Ziel ist es, insbesondere bei der jugendlichen Zielgruppe über die schädliche Wirkung des Cannabiskonsums aufzuklären, das heißt vor allem eine bleibende Schädigung des Gehirns in der Entwicklungsphase, sowie insgesamt für einen verantwortungsvollen Umgang mit Cannabis zu sensibilisieren.

    Wie wollen Sie – insbesondere für die Cannabisprävention – die verschiedenen Zielgruppen in ihren Lebenswelten erreichen? Gibt es z. B. spezifische Programme für Schulen? Ist eine Zusammenarbeit mit den Ländern und Kommunen vorgesehen?

    Die BZgA setzt einen Fokus auf den Ausbau der schulischen Cannabisprävention, um insbesondere Jugendliche, die noch nicht konsumieren, zu erreichen, sie für die gesundheitlichen Risiken des Cannabiskonsums zu sensibilisieren und darin zu bestärken, auf den Konsum von Cannabis zu verzichten. Neben der Entwicklung von Lehrkräfte-Schulungen, Weiterbildungsangeboten und Elternabenden speziell zur Cannabisprävention fördert die BZgA bereits Angebote zum direkten Einsatz im Unterricht, wie zum Beispiel Unterrichtseinheiten und -materialien. Die Präventionsangebote der BZgA werden kontinuierlich ausgebaut und weiterentwickelt. Hierzu veranstaltet die BZgA unter anderem regelmäßige Austauschformate mit dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) sowie den entsprechenden Landesstellen, um eine frühzeitige übergreifende Abstimmung zu Bedarfen und Entwicklungspotentialen zu ermöglichen.

    Werden die Präventionsbeauftragten der Anbauvereinigungen fachlich begleitet und unterstützt?

    Das Cannabisgesetz sieht vor, dass Präventionsbeauftragte gegenüber ihrer jeweiligen Anbauvereinigung spezifische Beratungs- und Präventionskenntnisse nachweisen müssen. Der Nachweis wird erbracht durch eine Bescheinigung der Teilnahme an einer Suchtpräventionsschulung bei Landes- oder Fachstellen für Suchtprävention oder Suchtberatung oder bei vergleichbar qualifizierten öffentlich geförderten Einrichtungen. Welche Schulungen im jeweiligen Land angeboten werden, von welchem Träger und mit welchem konkreten Inhalt, entscheidet daher das jeweilige Bundesland. Der Bund wird die Erarbeitung eines Mustercurriculums für Schulungen von Präventionsbeauftragten im Rahmen einer Vergabe beauftragen, das die Länder dann für Schulungen nutzen können.

    Der Bedarf an Beratung durch Fachleute und an Programmen wie FreD (Frühintervention bei erstauffälligen Drogenkonsumenten) und SKOLL (Selbstkontrolltraining) wird steigen. Wie sollen diese für die Prävention dringend nötigen Angebote finanziert werden?

    Die BZgA bietet bereits für konsumierende, eher drogenaffine junge Menschen qualitätsgesicherte Informationen auf www.drugcom.de sowie Unterstützungsangebote wie zum Beispiel einen Online-Selbsttest „Cannabis Check“, eine digitale Beratung sowie das Online-Verhaltensänderungsprogramm „Quit the Shit“.

    In Deutschland gibt es verschiedene Verbände, die sich für Suchthilfe und -prävention einsetzen. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS) wird durch das Bundesministerium für Gesundheit gefördert und ist die zentrale Dachorganisation der deutschen Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe. An welchen Stellen bzw. zu welchen Themen ist eine Kooperation des BIPAM mit der DHS angedacht?

    Die BZgA pflegt seit vielen Jahren eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit der DHS und fördert beispielsweise die Produktion und Distribution von Printmaterialien der DHS oder beteiligt sich an der inhaltlichen Neu- und Weiterentwicklung von relevanten Printprodukten. Ein regelmäßiger fachlich-inhaltlicher Austausch erfolgt dabei in Sachstandsgesprächen von BZgA, BMG und DHS sowie in den Austauschformaten der BZgA mit den Landesstellen für Suchtfragen und wird auch im zukünftigen BIPAM von großer Relevanz sein.

    Herr Dr. Nießen, wir wünschen Ihnen eine glückliche Hand beim Aufbau des BIPAM! Auf welche Aufgaben freuen Sie sich besonders?

    Es ist sehr spannend, gemeinsam mit den engagierten Kolleginnen und Kollegen aus BMG, BZgA und RKI Ideen für das BIPAM zu entwickeln, um die Öffentliche Gesundheit in Deutschland zu stärken.

    Vielen Dank für das Interview!

  • Prävention von Suchtproblemen bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung

    Prävention von Suchtproblemen bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung

    Prof. Dr. Knut Tielking
    Julia Klinkhamer

    Einleitung

    Während Suchtprävention als Gesundheitsthema in der Gesellschaft bereits etabliert ist, steht sie bezogen auf Menschen mit geistiger Beeinträchtigung noch vor besonderen Herausforderungen. Die zunehmende Verselbstständigung führt dazu, dass Menschen mit geistiger Beeinträchtigung vermehrt Suchtmittel wie Alkohol und Tabak konsumieren (Jung/Nachtigal 2018). Sie benötigen spezielle Präventionsangebote, da herkömmliche Programme oft nicht ausreichend auf ihre Bedürfnisse eingehen (Tielking/Rabes 2022). Aufgrund ihrer Beeinträchtigung weisen sie ein erhöhtes Risiko für einen problematischen Konsum auf. Es besteht daher die Notwendigkeit, ein neues Bewusstsein für den Konsum zu schaffen und dieser Zielgruppe die erforderlichen Werkzeuge und Strategien zur Verfügung zu stellen, um eine gesunde und bewusste Entscheidungsfindung zu unterstützen.

    Der Caritasverband für den Landkreis Emsland hat es in Angriff genommen, diese entscheidende Versorgungslücke mit dem Selbstkontrolltraining „Suchtprävention inklusiv (SUPi)“ zu schließen. SUPi geht neue Wege im Hinblick auf Inklusion und Partizipation und ermöglicht den Menschen den Zugang zur Suchtprävention in Form eines bundesweit einmaligen Gruppenangebotes. Eine innovative, zielgruppenadäquate Wirkungsevaluation durch die Hochschule Emden/Leer begleitet die Teilnehmenden und Trainer:innen im Trainingsprozess.

    Problemhintergrund

    Anforderungen aus Sicht der UN-Behindertenrechtskonvention

    Die Anerkennung und die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland sowie die damit einhergehende Inklusion stärkten die Position von Menschen mit Beeinträchtigung. Die Kernpunkte Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Teilhabe sollen umgesetzt werden (BMAS 2011). Erklärtes Ziel dieser Konvention ist die „gleichberechtigte Teilhabe am politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben“ (ebd. S. 10). Im März 2009 ratifizierte die Bundesrepublik Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention. Infolgedessen ist sie verpflichtet, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass Menschen mit Beeinträchtigungen Zugang zu Gesundheitsdiensten und gesundheitlicher Rehabilitation erhalten (BMAS 2011).
    Auch das im Jahr 2016 verabschiedete Bundesteilhabegesetz (BTHG) verfolgt das Ziel, die „volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft [für Menschen mit Beeinträchtigungen] zu fördern“ (§ 1 SGB IX) und Benachteiligungen für diesen Personenkreis zu vermeiden. Gemäß § 118 SGB IX des BTHG sollen sich die Instrumente zur Bedarfsermittlung an der ICF orientieren. Dies legt bundesweit die Grundlage für das bio-psycho-soziale Modell sowie für ethische Leitlinien im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen fest (BMAS 2023).

    Anforderungen aus Sicht des Präventionsgesetzes

    Am 18. Juni 2015 verabschiedete der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz, PrävG). Ziel dieses Gesetzes ist es, der Prävention in unserer Gesellschaft einen angemessenen Stellenwert zuzuweisen. Der Gesetzesansatz beinhaltet die Unterstützung aller Menschen, gesundheitsförderliche Lebensweisen in ihren individuellen Lebensumgebungen zu entwickeln und im täglichen Leben umzusetzen (BMG 2023). Insbesondere in der Lebenswelt von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung zeigt sich, dass diese Forderung bisher schwierig umzusetzen ist. Zielgruppenadäquate Angebote in Form eines Gruppentrainings zur Suchtprävention gibt es derzeit nicht (Feldmann 2020).

    Anforderungen aus Sicht der Gesundheitspolitik

    Die zunehmende Verselbstständigung von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung führt neben individuellen Herausforderungen zu veränderten, ambulanten Wohnformen in der Behindertenhilfe. Aufgrund der Intelligenzminderung kann dies zu Problemen im Konsumverhalten führen, da der Konsum nicht realistisch eingeschätzt werden kann und die Selbstreflexion nur eingeschränkt möglich ist (Feldmann 2020; Sandfort 2022). Insbesondere im Bereich der Prävention müssen Instrumente entwickelt und angewendet werden, um diese spezielle Zielgruppe, ebenso wie alle anderen Bürger:innen, zu befähigen, ihren Konsum frühzeitig zu überprüfen. Es herrscht ein akuter Mangel an entsprechenden Angeboten, der – sofern er nicht behoben wird – zu einem Anstieg der Zahl suchtmittelabhängiger Menschen mit geistiger Beeinträchtigung führen könnte (Jung/Nachtigal 2018).

    Studienlage

    Laut dem Bundesministerium für Gesundheit existieren auf Bundesebene keine Studien zu den Prävalenzen des Suchtmittelkonsums bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Verfügbare Informationen basieren auf regionalen Untersuchungen, die nahelegen, dass der missbräuchliche oder problematische Suchtmittelkonsum in dieser Zielgruppe ähnlich ausgeprägt ist wie in der restlichen Gesellschaft (BMG 2017).

    Im Rahmen des Modellprojektes „Vollerhebung Sucht und geistige Behinderung in NRW“ wurde im Jahr 2011 eine Umfrage unter Mitarbeiter:innen in Einrichtungen für Behinderten- und Suchthilfe in Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Ziel war es, valide Aussagen über den Suchtmittelkonsum bei erwachsenen Menschen mit geistiger Beeinträchtigung zu erhalten. Zwei Drittel der Befragten (66,7 %; N=780) gaben an, dass aufgrund von riskantem oder abhängigem Substanzkonsum Probleme in der jeweiligen Einrichtung aufgetreten seien. Die Häufigkeit des problematischen Substanzkonsums bei den Betreuten wurde wie folgt eingeschätzt (Kretschmann-Weelink 2013):

    1. Nikotinkonsum: 32,5 %,
    2. Alkoholkonsum: 15,7 %,
    3. verhaltensbezogene Störungen (insbesondere Computerspiele): 14,2 %

    Im Projekt „Geistige Behinderung – problematischer Konsum – (k)ein Thema?!“ wurde 2019 eine regionale Bedarfsanalyse im nördlichen Emsland durchgeführt. Mitarbeiter:innen einer Einrichtung für Menschen mit Beeinträchtigungen (St. Lukas Papenburg) wurden zur Substanznutzung der Betreuten befragt (N=506). Drei Viertel (76 %) betrachteten es als wichtig, sich mit dem Thema des problematischen Konsums bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung zu befassen. Bei 21,8 % der Betreuten wird der Konsum von Suchtmitteln als problematisch eingestuft. Es ergab sich folgendes Ranking der von den Betreuten konsumierten Suchtmittel (Feldmann et al. 2020):

    1. Nikotin (53,3 %)
    2. Alkohol (27,3 %)
    3. Computer-/Handynutzung (20,9 %)
    4. Cannabis (5,9 %)
    5. Glücksspiel (3,7 %)
    6. Sonstige Drogen (7,0 %)

    Das Trainingsprogramm SUPi

    Die Zielgruppe: Menschen mit geistiger Beeinträchtigung

    Zielgruppe des SUPi-Angebotes sind Menschen mit geistiger Beeinträchtigung im Erwachsenenalter, die durch Angebote der kooperierenden Einrichtungen unterstützt werden. Über diese Einrichtungen erfolgt zugleich der Zugang zur Zielgruppe. Ein wichtiges Kriterium ist eine mögliche Auffälligkeit im Konsumverhalten (Feldmann 2020).

    Unter „geistiger Beeinträchtigung“ ist ein andauernder Zustand zu verstehen, der durch deutlich unterdurchschnittliche kognitive Fähigkeiten und die damit verbundenen Einschränkungen des affektiven Verhaltens gekennzeichnet ist (Theunissen 2011). Diese Beeinträchtigung kann sich auf die intellektuelle Entwicklung, die Lernfähigkeit und die allgemeine Lebensführung auswirken. Menschen mit geistiger Beeinträchtigung haben unterschiedliche Grade von Einschränkungen in der kognitiven Funktionalität. Ihre Fähigkeit, Informationen zu verstehen, zu verarbeiten und zu kommunizieren, wird dadurch unterschiedlich stark beeinflusst. In der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) wird diese Erkrankung als „Intelligenzminderung“ (F70-79) klassifiziert.

    Vorerfahrung des Caritasverbandes für den Landkreis Emsland

     Im Rahmen des Projektes „Geistige Behinderung – problematischer Konsum – (k)ein Thema?!“ wurden in Kooperation mit St. Lukas Papenburg Maßnahmen entwickelt, die als Grundlage zur Förderung der Gesundheit der benannten Zielgruppe dienen können sollten. Ein Baustein war das Selbstkontrolltraining „SKOLL“, welches nach § 20 SGB V als Leistung der Primären Prävention und Gesundheitsförderung anerkannt ist. In der Umsetzung stellte sich heraus, dass das bestehende Trainingsmanual aufgrund der Beeinträchtigungen der Zielgruppe nicht zum Einsatz kommen kann (Feldmann 2020).

    Besondere Bedürfnisse von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung

    Das SUPi-Training wurde entwickelt, um den Bedürfnissen von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung gerecht zu werden. Dabei wurde besonders darauf geachtet, die Inhalte an die individuellen Erfahrungen und die Lebenswelt der Teilnehmenden anzupassen (Moisl 2017). Die eingesetzten Materialien sind in Leichter Sprache verfasst und auf die kognitiven Fähigkeiten der Teilnehmenden abgestimmt. Die Leichte Sprache ist eine spezielle Form der sprachlichen Darstellung, um Informationen barrierefrei verständlich und zugänglich zu machen. Komplizierte Grammatikstrukturen werden reduziert und einfache Wörter anstelle von Fachbegriffen verwendet. Zudem werden unterstützende visuelle Elemente wie Symbole und Zeichnungen auf Arbeitsblättern eingesetzt, um die relevanten Inhalte zu vermitteln (Ahlers et al. 2023).

    Um bestmöglich auf die Zielgruppe einzugehen, wird das Training von Tandems ausgebildeter Fachkräfte aus der Sucht- und Behindertenhilfe durchgeführt. Beide Bereiche bringen spezifisches Fachwissen mit: Die Suchthilfe bietet Kenntnisse über Suchtprävention und Suchtbehandlung, während die Behindertenhilfe sich auf die Bedürfnisse und Unterstützung von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung spezialisiert hat. Die Kombination dieser Hilfesysteme stellt sicher, dass die Zielgruppe bei ihrer selbstständigen und selbstbestimmten Lebensführung im Hinblick auf einen gesundheitsgerechten Umgang mit Suchtmitteln optimal begleitet und unterstützt wird (Feldmann 2020).

    Der SUPi-Aufbau

    Das SUPi-Training zielt darauf ab, zu einem gesundheitsbewussten Umgang mit den von den Teilnehmenden genannten Suchtmitteln zu motivieren. Es besteht aus zwölf wöchentlichen Sitzungen. In den 90-minütigen Kurseinheiten werden verschiedene didaktische Methoden und Materialien eingesetzt, um wiederholt über die Auswirkungen des Konsums zu informieren und das Wissen darüber zu vertiefen. Durch dieses Vorgehen sollen sich die Teilnehmenden Informationen besser aneignen können (Sandfort 2022) und ein tieferes Verständnis für den eigenen Konsum, insbesondere von Alkohol und Tabak, erlangen. Die Teilnehmenden erhalten während des Trainings Hilfestellung für die Entwicklung individueller Strategien, mit denen sie ihren Konsum reduzieren und ihre Impulskontrolle verbessern können (Feldmann 2020; Ahlers et al. 2023).

    Es wird ein individueller Plan erstellt, in dem jedes Gruppenmitglied sein persönliches Ziel festlegt. Dieser Plan erfasst den aktuellen Status, den die Teilnehmenden verändern möchten, und formuliert einen angestrebten Zielzustand. Um diese Ziele zu erreichen, werden Strategien zur Umsetzung mit den durchführenden Fachkräften besprochen (Ahlers et al. 2023). Die Trainer:innen stehen den Gruppenmitgliedern während des Umsetzungsprozesses ihrer Ziele kontinuierlich unterstützend zur Seite (Feldmann 2020). Folgende Übersicht zeigt die inhaltlich aufeinander aufbauenden Kurseinheiten (Abb. 1).

    Abb. 1: SUPi-Kurseinheiten. Eigene Darstellung.

    Zertifizierung und Krankenkassenanerkennung

    Es wird eine Zertifizierung des SUPi-Trainings als qualitativ hochwertige Präventionsmaßnahme durch die Zentrale Prüfstelle Prävention sowie die Aufnahme in die Grüne Liste Prävention angestrebt. Dies dient dem übergeordneten Interesse, dass Krankenkassen das Training gemäß § 20 SGB V in ihr Leistungsangebot aufnehmen und damit die Implementierung in weiteren Einrichtungen erleichtern. Voraussetzung für die Zertifizierung und Krankenkassenanerkennung ist der wissenschaftliche Wirkungsnachweis (Feldmann 2020).

    Wirkungsevaluation

    Die wissenschaftliche Wirkungsevaluation erfolgt durch das Team der Hochschule Emden/Leer unter der Leitung von Prof. Dr. Knut Tielking und wird durch das Bundesministerium für Gesundheit gefördert. Ziel ist es festzustellen, ob das SUPi-Training den Bedürfnissen der Zielgruppe gerecht wird, zu einer positiven Veränderung im Konsumverhalten der Teilnehmenden führt und damit einen nachweislichen Beitrag zur Suchtprävention bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung leisten kann. Insbesondere Wissens-, Einstellungs- und Verhaltensänderungen werden durch Vorher-Nachher-Messungen (Döring/Bortz 2016) überprüft. Die quantitative Befragung der Studieneilnehmenden erfolgt zu drei Messzeitpunkten mit identischen Fragen, um Vergleichbarkeit der Ergebnisse im Zeitverlauf herstellen zu können: Mithilfe eines standardisierten Fragebogens in Leichter Sprache wird der Zustand der Trainingseilnehmenden (Interventionsgruppe) vor Beginn des Trainings (T1) erfasst. Die Ausgangssituation beleuchtet das Wissen und die Einstellung in Bezug auf den Suchtmittelkonsum sowie das Konsumverhalten der Zielgruppe vor der Intervention. Es schließen sich zwei weitere Befragungen, unmittelbar nach Trainingsabschluss (T2) und drei Monate nach Trainingsabschluss (T3), an. Durch diese strukturierten Messungen werden Langzeiteffekte des SUPi-Trainings dargestellt. Den Ergebnissen der Interventionsgruppe werden Ergebnisse einer Kontrollgruppe gegenübergestellt, die ebenfalls zu drei Messzeitpunkten mit einem zeitlichen Abstand von drei Monaten den identischen Fragebogen beantwortet.

    Herausforderung

    Unter Berücksichtigung der Möglichkeiten und Einschränkungen von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung mussten die wissenschaftlichen Anforderungen spezifiziert werden – sowohl methodisch als auch bei der inhaltlichen Ausgestaltung. Die Evaluation stellt sich damit der Herausforderung eines simplifizierenden Verfahrens mit dem gleichzeitigen Ziel, valide Daten zu generieren, die den Bewertungskriterien der Zentralen Prüfstelle Prävention (GKV Spitzenverband 2022) und der Grünen Liste Prävention (Groeger-Roth/Hasenpusch 2011) entsprechen. Vor diesem Hintergrund wurden die Erhebungsinstrumente partizipativ, unter Einbezug der Zielgruppe, entwickelt.

    Methode: Partizipative Evaluation

    Die partizipative Evaluation zeichnet sich durch die aktive Einbindung aller am Projekt beteiligten Personen von Anfang bis Ende des Evaluationsprozesses aus (Hartung et al. 2020). Dieses Vorgehen erfordert eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Betroffenen, den Fachkräften und den Projektverantwortlichen. In den einzelnen Kurseinheiten wurden in enger Abstimmung von Wissenschaft und Praxis kompetenzorientierte Ziele gesetzt.

    Fragebogenentwicklung

    Die Fragen wurden in Anlehnung an standardisierte Formulierungen aus Studien aus der Sucht- und Präventionsforschung ausgestaltet. Inhalte aus validierten Studien wurden mit den kompetenzorientierten Zielen der SUPi-Kurseinheiten abgeglichen. Um ein zielgruppenadäquates Messinstrument zu entwickeln, wurde der Fragenpool reduziert. Durch dieses Vorgehen sollte die Beantwortung für die Zielgruppe erleichtert sowie Demotivierung und Überforderung vermieden werden.

    Der Fragebogen wurde in Leichte Sprache transferiert, ohne von der inhaltlichen Bedeutung abzuweichen. Anstelle von fachspezifischen Begriffen fanden einfache Wörter Anwendung. Lange Sätze wurden in verständliche Abschnitte unterteilt. Der Fragebogen wurde durch das Büro für Leichte Sprache (Andreaswerk Vechta) zertifiziert. Zusätzlich wurde die Formatierung des Fragebogens durch klare, sich wiederholende Strukturen und eine große, deutliche Schrift vereinfacht. Farbliche Hervorhebungen von Rot bis Grün und visuelle Elemente verdeutlichen den Inhalt der Fragen und Antworten und erleichtern die Orientierung bei der Beantwortung. Die Praxistauglichkeit des Fragebogens wurde in einem Pretest mit neun Personen aus der Zielgruppe auf Verständlichkeit, Akzeptanz und Durchführbarkeit überprüft. Der Pretest bestätigte die Angemessenheit des Fragebogens für die Zielgruppe.

    Durchführung der Befragung

    Aufgrund der kognitiven Einschränkung der Zielgruppe liegt eine weitere Herausforderung in der Evaluationsdurchführung. Es bedarf einer besonderen Beziehungsgestaltung, um bestehende Ängste hinsichtlich einer schriftlichen Befragung abzubauen. Über diesen Zugangsweg gelingt es, die Bereitschaft der Betroffenen zur Mitarbeit zu fördern.

    Die Teilnahme an der Evaluation erfolgt auf freiwilliger Basis. Um eine freiwillige Entscheidung zu gewährleisten, ist die hinreichende barrierefreie Aufklärung der Studienteilnehmenden über die Evaluationsziele, die Freiwilligkeit an der Teilnahme und die Sicherstellung der Anonymität entscheidend. Potenzielle Studienteilnehmende werden dazu befähigt, sich anhand der dargestellten Informationen autonom und selbstbestimmt für bzw. gegen eine Teilnahme zu entscheiden.

    Aussagemöglichkeiten

    Für die Wirkungsevaluation sollen unter Berücksichtigung der Bewertungskriterien der Zentralen Prüfstelle Prävention sowie der Grünen Liste insgesamt 50 Personen für die freiwillige Teilnahme an dem SUPi-Training gewonnen werden. Bis April 2024 wurden 44 Personen mit geistiger Beeinträchtigung in das SUPi-Training involviert. Weitere 40 Personen bilden die Kontrollgruppe.

    Durch fortlaufende Akquisetätigkeiten der kooperierenden Einrichtungen, darunter St. Lukas in Papenburg, das Christophorus-Werk in Lingen und das St. Vitus-Werk in Meppen, wird erwartet, dass im zweiten Quartal 2024 die angestrebte Stichprobengröße von je 50 Teilnehmenden in der Interventions- und Kontrollgruppe erreicht werden kann. Die darauffolgende Analyse lenkt den Fokus, neben der Überprüfung der persönlichen Zielerreichung, auf folgende Rubriken (Abb. 2):

    Abb. 2: Bestandteile der Wirkungsanalyse. Eigene Darstellung.

    Die Wirkungsevaluation involviert zudem die SUPi-Trainer:innen, die mithilfe kursbegleitender Fragebögen dokumentieren, welche Gruppeninhalte erarbeitet und welche kompetenzorientierten Ziele erreicht wurden. Zudem bewerten sie die eingesetzten Materialien und Hilfsmittel sowie die Motivation und Gruppendynamik pro Kurseinheit. Es ist zu erwarten, dass diese umfassenden Bewertungen der einzelnen Kurseinheiten dazu beitragen, erfolgreiche Einheiten, effektive Kursmaterialien und bedarfsgerechte pädagogische Methoden für die Zielgruppe zu identifizieren. So lassen sich jene Faktoren erkennen, die besonders förderlich für das Training sind. Gleichzeitig werden Einblicke in Bereiche ermöglicht, in denen das SUPi-Training Verbesserungspotenzial aufweist. So dient diese Analyse dazu, sowohl Stärken als auch Schwächen des Trainings zu erkennen und dieses gezielt weiterzuentwickeln.

    Diskussion und Ausblick

    Im vierten Quartal 2024 sollen repräsentative Aussagen über die Wirksamkeit des SUPi-Trainings bezüglich des Wissens, der Einstellung und des Verhaltens der Teilnehmenden in Bezug auf den Konsum von Suchtmitteln sowie über die Kursdynamik und das verwendete Trainingsmaterial vorliegen.

    Das SUPi-Training trägt das Potenzial, eine bedeutende Versorgungslücke in der Suchtprävention zu schließen. Durch seine Implementierung soll eine maßgeschneiderte Intervention für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung bereitgestellt werden, die die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten dieser Personengruppe berücksichtigt. Dies gilt es, durch die Wirkungsanalysen zum SUPi-Training nachzuweisen. Gelingt dies, soll die Anerkennung des Trainings seitens der Krankenkassen und die Aufnahme in die Grüne Liste zu einer bundesweiten Verbreitung und damit zur besseren Versorgung von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung beitragen.

    Kontakt:

    Julia Klinkhamer (M.A.)
    Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit
    Hochschule Emden/Leer
    Constantiaplatz 4
    26723 Emden
    julia.klinkhamer(at)hs-emden-leer.de

    Angaben zu den Autor:innen:

    Prof. Dr. Knut Tielking ist Professor für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Sucht- und Drogenhilfe an der Hochschule Emden/Leer, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit. Er ist Leiter des Forschungsprojektes „Wirkungsevaluation des Selbstkontrolltrainings SUPi – Suchtprävention – inklusiv für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung“ (2022-2024).
    Julia Klinkhamer (M.A.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit an der Hochschule Emden/Leer und Geschäftsführerin der Firma PRINOR Statistik.

    Literatur
    • Ahlers, L./Clavée, M./Hopster, T. (2023): Konzept SUPi – Suchtprävention inklusiv. Caritasverband für den Landkreis Emsland. Meppen.
    • Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2011): Nationaler Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Berlin.
    • Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2023): Bundesteilhabegesetz (BTHG). Berlin.
    • Bundesministerium für Gesundheit (BMG) (2017): Richtlinie zur Förderung von Forschung auf dem Gebiet „Geistige Behinderung und problematischer Substanzkonsum“. Berlin.
    • Bundesministerium für Gesundheit (BMG) (2023): Präventionsgesetz (PrävG). Berlin. Online verfügbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/gesetze-und-verordnungen/detail/praevg.html (06.12.2023).
    • Döring, N./Bortz, J. (2016): Forschungsmethoden und Evaluation in den Sozial- und Humanwissenschaften. 5. Aufl., Berlin/Heidelberg: Springer Verlag.
    • Feldmann, M. (2020): Konzept zur Entwicklung eines Gruppentrainings zum gesundheitsgerechten Umgang mit Suchtstoffen/ Reduzierung des Alkoholkonsums für erwachsene Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Caritasverband für den Landkreis Emsland. Meppen.
    • Feldmann, M./Veld, M./Schomaker, K./Speller, B. (2020): Abschlussbericht zum Projekt „Geistige Behinderung – problematischer Konsum – (k)ein Thema?!“. Caritasverband für den Landkreis Emsland. Papenburg.
    • GKV Spitzenverband (2022): Kriterien zur Zertifizierung von Kursangeboten in der individuellen verhaltensbezogenen Prävention nach § 20 Abs. 4 Nr. 1 SGB V, Stand 22.11.2023. Online verfügbar unter: https://www.zentrale-pruefstelle-praevention.de/wp-content/uploads/2023/11/20231122_Leitfaden_Praev_Kap_5_Kritierien_zur_Zertifizierung.pdf   (17.04.2024)
    • Groeger-Roth, F./Hasenpusch, B. (2011): Grüne Liste Prävention. Auswahl und Bewertungskriterien für die CTC Programm-Datenbank. Landespräventionsrat Niedersachsen. Fassung v. 01.11.2011. Online verfügbar unter: https://www.gruene-liste-praevention.de/communities-that-care/Media/_Grne_Liste_Kriterien.pdf (17.04.2024)
    • Hartung, S./Wihofszky, P./Wright, M. T. (2020): Partizipative Forschung – ein Forschungsansatz für Gesundheit und seine Methoden. In: Hartung, S./Wihofszky, P./Wright, M. T. (Hrsg.): Partizipative Forschung. Ein Forschungsansatz für Gesundheit und seine Methoden. Wiesbaden: Springer VS, S. 1-19.
    • Jung, F./Nachtigal, P. (2018): Suchtselbsthilfe für Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Praxisbericht. Bremen.
    • Kretschmann-Weelink, M. (2013): Prävalenz von Suchtmittelkonsum bei Menschen mit geistiger Behinderung in Nordrhein-Westfalen. Gevelsberg.
    • Moisl, D. (2017): Methoden zur Befragung von Menschen mit geistiger Behinderung. Public Health Forum, 25(4), 312-323. https://doi.org/10.1515/pubhef-2017-0051
    • Sandfort, G. (2022): SUPi – Suchtprävention inklusiv. Caritasverband für die Diözese Osnabrück. Osnabrück.
    • Theunissen, G. (2011): Geistige Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten. Ein Lehrbuch für die Schule, Heilpädagogik und außerschulische Behindertenhilfe. 4. Auflage, Bad Heilbrunn: Klinkhardt UTB.
    • Tielking, K./Rabes, M. (2022): Niedersächsisches Suchtpräventionskonzept. Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung. Hannover.
  • Mediennutzung bei Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit

    Mediennutzung bei Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit

    David Schneider
    Ulrich Claussen
    Katharina Munz

    Die heute teils intensive Mediennutzung im Alltagsleben der Bevölkerung ist ein medial verbreitetes und mitunter kontrovers diskutiertes Thema. Auch in der Suchthilfe kommt der Thematik „intensiver Medienkonsum“ eine immer größere Bedeutung zu. Es ist damit zu rechnen, dass die gesellschaftliche und gesundheitspolitische Relevanz der Folgen der allgemeinen Digitalisierung eher zu- als abnehmen wird.

    Das intensive Mediennutzungsverhalten von Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung lässt sich als komorbides Verhalten im Sinne einer medienbasierten Abhängigkeit begreifen oder auch als Verlagerung anderer Suchtproblematiken interpretieren. Es ist davon auszugehen, dass Menschen mit Suchtproblematik ein spezifisches Risiko für problematischen Medienkonsum aufweisen. Studien, die in der stationären Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen und in anderen Hilfesettings durchgeführt wurden, deuten auf einen Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen bzw. Abhängigkeitserkrankungen und einer erhöhten Vulnerabilität für medienbasiertes Suchtverhalten hin (Müller et al., 2012 a + b; Müller, 2019).

    Seit der Studie von Müller et al. über „Komorbide Internetsucht unter Patienten der stationären Suchtrehabilitation“ aus dem Jahr 2012, auf die wir uns in der vorliegenden Untersuchung zu einem großen Teil beziehen, ist viel Zeit vergangen. Das Internet wird flächendeckend in allen sozialen Milieus genutzt und ist durch Smartphones auch mobil jederzeit verfügbar. Die durch technische Neuerungen bewirkten Veränderungen der Kommunikationsformen haben dazu geführt, dass der Stellenwert digitaler Medien heute ein ganz anderer ist. Deswegen erscheint es uns sinnvoll, an die mitunter über zehn Jahre zurückliegenden Fragen nach dem medienbasierten Verhalten von Klientinnen und Klienten im Suchthilfesystem anzuknüpfen.

    Unserer Einschätzung nach ist es wichtig, das Medienkonsumverhalten anamnestisch abzuklären, es im Blick zu haben und auf entsprechende Anzeichen und Hinweise seitens der unterstützten Personen zu reagieren. Aus der Perspektive der Suchthilfe besteht die Gefahr, dass behandlungsrelevante pathologische Mediennutzung in den verschiedenen Suchthilfesettings lange unentdeckt bleibt und sich − auch in Wechselwirkung mit stoffgebundenen Süchten – negativ auf den individuellen Verlauf auswirkt.

    Forschungsfrage

    In den Einrichtungen des Frankfurter Trägers Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. (JJ) ist das Thema Medienkonsumverhalten – insbesondere im Kontext der Suchtprävention – immer wieder präsent, gleichzeitig liegen wenige aktuelle belastbare Daten vor. Mit der im Folgenden vorgestellten Untersuchung wollten wir feststellen, in welcher Intensität Medien von den von uns beratenen und behandelten Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit tatsächlich genutzt werden.

    Aufgrund der weiten Verbreitung des Internets und der Möglichkeit, dieses auch in Einrichtungen der Suchthilfe während der Beratung und Behandlung zu nutzen, liegt die Hypothese nahe, dass sich die bereits im Jahr 2012 festgestellte Komorbidität weiter erhöht hat. Auch könnte der Anteil der Personen mit einer latenten medienbasierten Abhängigkeit in den ambulanten Einrichtungen der Suchthilfe weit höher liegen als bisher angenommen, da das Medienkonsumverhalten bei anderweitiger Erstdiagnose oft nicht abgefragt wird. Klientinnen und Klienten werden deshalb nicht ausreichend unterstützt, ihr Medienkonsumverhalten zu hinterfragen und zu ändern. Ziel unserer praxisnahen Untersuchung ist folglich auch, das Thema abhängiger Medienkonsum zu beleuchten und ggf. noch stärker in die Alltagspraxis der Beratung und Behandlung zu integrieren.

    Methode und Design

    Es wurde eine explorative Querschnittsstudie mit n=136 Personen mit einer Suchtmittelabhängigkeit mit einem Befragungszeitpunkt durchgeführt. Die Befragung fand von November 2021 bis März 2022 statt. Die teilnehmenden Einrichtungen wurden zuvor ausführlich informiert, die Fragebögen wurden den beteiligten Mitarbeiter:innen erläutert. Die Befragung wurde anonym und ohne die Möglichkeit zur Verknüpfung mit anderen Daten aus Betreuung und Behandlung durchgeführt.

    Befragt wurden nur Klient:innen, die bereits mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit oder pathologischem Glücksspiel als Erstdiagnose ins Hilfesystem eingemündet waren. Klient:innen, die aufgrund eines medienbasierten abhängigen Verhaltens als Hauptproblematik die Einrichtungen aufsuchten, waren von der Studie ausgenommen. So sollte sichergestellt werden, dass tatsächlich das Phänomen der Komorbidität untersucht wurde.

    Um eine Stichprobe von Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankung zu gewinnen, wendeten wir uns an verschiedene Suchthilfeeinrichtungen des Trägervereins JJ. Die Gewinnung der Befragten erfolgte ohne weitere Ausschlusskriterien als anfallende Stichprobe. Wir erhielten 138 Fragebögen zurück, davon waren 136 auswertbar. Es konnte eine sehr gute Datenqualität erreicht werden. Die Antworten verteilen sich auf ein breites Spektrum von Einrichtungstypen, wie in Tabelle 1 ersichtlich. (Am Ende des Artikels werden die beteiligten Einrichtungen aufgezählt*.)

    Tabelle 1: Anzahl der Personen aus den verschiedenen Einrichtungstypen

    Instrumente

    Die Skala zum Onlinesuchtverhalten bei Erwachsenen OSVe-S (Wölfling, K., Müller, K.W. & Beutel, M.E., 2008) ist ein Fragebogen zur Erfassung medienbasierten Suchtverhaltens. Neben einer Beschreibung des Medienkonsums werden im OSVe-S Kriterien für eine Abhängigkeit erfragt. Einige Fragen beziehen sich beispielsweise auf das Verlangen nach Onlineaktivitäten („Wie häufig erscheint Ihnen Ihr Verlangen nach Onlineaktivitäten so übermächtig, dass Sie diesem nicht widerstehen können?“), andere auf vergebliche Kontrollversuche („Wie häufig haben Sie bisher versucht, Ihr Onlineverhalten aufzugeben bzw. einzuschränken?“). Weitere Items erfragen schädlichen Gebrauch von Medien („Wie häufig vermeiden Sie negative Gefühle [z. B. Langeweile, Ärger, Trauer] durch Onlineaktivitäten?“). Insgesamt können 45 Punkte erreicht werden, mehr als 13 Punkte sprechen für abhängigen, 7 bis 13 Punkte für einen problematischen oder grenzwertigen Medienkonsum.

    Ergänzt wurden die Angaben zum OSVe-S durch Angaben zu Alter, Geschlecht, Betreuungssetting, Einrichtung und Hauptsuchtmittel.

    Stichprobe

    Es werden n=136 Menschen befragt, die sich in einer stationären Suchthilfeeinrichtung befinden oder durch eine ambulante Suchthilfeeinrichtung beraten oder betreut werden: 112 Männer (82,3 %) und 24 Frauen (17,7 %). Es werden fast ausschließlich Erwachsene befragt, das Durchschnittsalter beträgt 36,2 Jahre, die jüngste befragte Person ist 17, die älteste befragte Person 63 Jahre alt.

    Nach der von ihnen hauptsächlich konsumierten Substanz befragt, nennen 60,5 % eine Substanz, 39,5 % nennen mehrere. Insgesamt zeigen sich folgende Ergebnisse: 30,7 % der Befragten nennen Cannabis, 25,4 % Kokain, 23,7 % Alkohol, 18,4 % Opiate, 13,2 % Stimulanzien und 13,2 % Sonstiges.

    Berufstätig sind 25 % der Befragten, 14,4 % in Vollzeit angestellt, 6,1 % in Teilzeit, 4,5 % der Befragten geben eine selbständige Tätigkeit an. Weitere 6,8 % befinden sich in Ausbildung oder Studium. 46,2 % der Befragten geben an, kein Anstellungsverhältnis zu haben, also ohne Erwerbstätigkeit zu sein.

    Aus vorangegangenen Untersuchungen und aus der klinischen Beobachtung vermuten wir, dass es in der hier untersuchten Stichprobe von Menschen mit einer Drogen-, Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit einen relativ hohen Anteil von Personen mit einem missbräuchlichen oder abhängigen Mediennutzungsverhalten geben könnte.

    Aufgrund des explorativen Designs unserer Studie haben wir darauf verzichtet, eine Kontrollgruppe zu rekrutieren, und vergleichen die Anteile missbräuchlichen oder abhängigen Mediennutzungsverhaltens in unserer Stichprobe mit den Ergebnissen der vorausgegangenen Untersuchung „Komorbide Internetsucht unter Patienten der stationären Suchtrehabilitation: Eine explorative Erhebung zur klinischen Prävalenz“ (2012).

    Ergebnisse

    Häufigkeit einer problematischen oder abhängigen Mediennutzung

    Insgesamt zeigen 21,3 % der Befragten ein missbräuchliches oder abhängiges Mediennutzungsverhalten. 78,7 % zeigen ein unauffälliges Mediennutzungsverhalten (s. Tabelle 2).

    Tabelle 2: Onlinenutzung: Ergebnisse der beiden Studien im Vergleich

    In der Auswertung von JJ kamen 23 Personen auf einen Wert zwischen 7 und 13 Punkten. Dieser Punktebereich zeigt missbräuchliche Mediennutzung an und liegt bei 16,9 % der Befragten vor.

    Sechs Personen oder 4,4 % weisen einen Punktewert höher als 13 Punkte auf und fallen damit in den Bereich der Abhängigkeit. Im Vergleich mit der Studie aus dem Jahr 2012 lässt sich ein hoher Anteil an Menschen feststellen, die die Kriterien für medienbasiertes Suchtverhalten erkennen lassen.

    Genutzte Onlineangebote

     Die bloße Erfassung der Onlineaktivitäten sagt zunächst wenig über ein potenziell riskantes, missbräuchliches oder gar abhängiges Mediennutzungsverhalten aus. Gerade für Klient:innen in stationären Settings der Suchthilfe stellt z. B. das Chatten über Messenger-Dienste oder Online-Communities eine wesentliche Möglichkeit dar, mit ihren Angehörigen während der Zeit der Reha in Kontakt zu bleiben. Gleichwohl liefern die Daten einen Überblick, welche digitalen Möglichkeiten wie intensiv genutzt werden. Am meisten Zeit wird laut der Befragten für Internetrecherche aufgebracht, gefolgt von Chatten und Online-Communities. Aber auch Angebote wie Glücksspiel werden von 6,8 % oft bzw. sehr oft genutzt. 16,1 % benutzen oft oder sehr oft Onlinesex-Angebote (s. Tabelle 3).

    Tabelle 3: Genutzte Onlineangebote (JJ 2022)

    Begrenzung der online verbrachten Zeit

    Insgesamt ist ein Drittel (33,2 %) der Befragten zumindest gelegentlich länger online, als sie es sich vorgenommen hatten. 11,1 % sind dies oft oder sehr oft. Ihnen gelingt es kaum, sich online zu begrenzen. Es ist dann auch diese Gruppe, die sich schlecht fühlt, wenn sie nicht online sein kann (11,8 %). Gelegentlich schlecht fühlen sich  9,6 %, wenn sie keine Onlineaktivitäten ausüben können.

    Verlangen nach Onlineaktivitäten

    Fragt man nach der Stärke des durchschnittlichen Verlangens nach Onlineaktivitäten, geben insgesamt 41,9 % an, einen mittelstarken bis sehr starken Drang nach Onlineaktivitäten zu verspüren. Bei 13,2 % ist der Drang stark bis sehr stark.

    8 % der Befragten geben an, dass ihnen der Drang nach Onlineaktivitäten sehr oft so übermächtig erscheint, dass sie ihm nicht widerstehen können. 13,2 % der Befragten geben an, dass es ihnen gelegentlich so geht.

    Vermeidung negativer Gefühle

    Um negative Gefühle wie Langeweile oder Ärger zu überspielen, gehen zumindest gelegentlich 41,9 % online. 16,9 % tun dies oft bzw. sehr oft. Dies verweist auf die Kompensations- und Ablenkungskraft des Onlineangebotes.

    Länge und Intensität der Onlineaktivitäten

    Ein schlechtes Gewissen bezüglich der Länge und Intensität ihrer Onlineaktivitäten haben zumindest gelegentlich 35,5 %. 14,0 % geben an, oft oder sehr oft zu viel oder zu lange online zu sein.

    Negative Folgen aufgrund des Onlineverhaltens

    Die Befragten nennen manifeste negative Folgen des Mediennutzungsverhaltens (s. Tabelle 4). Die Vernachlässigung anderer Freizeitaktivitäten kennt ein Drittel der Befragten. Knapp 20 % nennen Geldprobleme, was darauf verweist, dass auch kostenintensive Aktivitäten zu verzeichnen sind. 22,1 % nennen Probleme mit der Gesundheit, was ein hoher Wert ist. Leider kann nicht expliziert werden, um welche gesundheitlichen Probleme es sich hierbei handelt. Aus der Beratungspraxis lässt sich schließen, dass es sich hierbei um Probleme der körperlichen Gesundheit wie Schmerzen im Rücken, Belastung der Augen oder auch Probleme mit dem Tag-Nacht-Rhythmus bzw. dem Einschlafen handeln könnte. Auch psychische Probleme sind denkbar, ein erhöhter Medienkonsum geht häufig mit einer zunehmenden Antriebslosigkeit einher und kann die Entstehung von depressiven Symptomen begünstigen.

    Tabelle 4: Von Befragten genannte Problembereiche aufgrund ihrer Mediennutzung (JJ 2022)

    Insbesondere Menschen aus der jüngeren Altersgruppe bis 34 Jahre leiden aufgrund ihrer Mediennutzung häufiger an sogenanntem digitalen Stress, einem Zustand der psychischen und physiologischen Stressbelastung, die auf die Nutzung von z. B. Social Media zurückzuführen ist. So heißt es in einer Studie aus dem Jahr 2020: „Für die jüngste Altersgruppe (14. bis 34. Lebensjahr) bestätigte sich, dass ein intensiver bis exzessiver Gebrauch von Social Media mit erhöhter Ängstlichkeit und Symptomen aus dem depressiven Formenkreis, insbesondere Antriebsminderung, innerer Unruhe und Erschöpfungszuständen korrespondierte.“ (Müller, 2020)

    In dieser Altersgruppe ist auch in der aktuellen Befragung der Anteil der Personen mit problematischer Mediennutzung erheblich höher als in der älteren Gruppe (s. Tabelle 7).

    Vergleiche zwischen Gruppen

    Im Folgenden werden Personen, die die Kriterien für eine suchtartige Mediennutzung erfüllen, mit Personen verglichen, die keine Mediennutzungsstörung aufweisen.

    Tabelle 5: Geschlecht der Klient:innen mit unauffälligem und mit suchtartigem Mediennutzungsverhalten
    Tabelle 6: Genannte hauptsächlich konsumierte Substanz

    Auffällig ist der hohe Anteil der Menschen, die Stimulanzien konsumieren und gleichzeitig suchtartig Medien nutzen (60,0 %). An zweiter und dritter Stelle für die Häufigkeit einer komorbiden Mediennutzungsstörung stehen Klient:innen, die hauptsächlich Cannabis (35,0 %) und Alkohol (30,8 %) konsumieren (s. Tabelle 6).

    Tabelle 7: Alter der Befragten

    Nicht sehr überraschend wird deutlich, dass der Anteil derjenigen, die Medien suchtartig nutzen, unter den Jüngeren (bis 34 Jahre) höher, ja fast doppelt so hoch, ist als bei den Befragten, die älter als 34 Jahre sind (27,3 % vs. 13,4 %) (s. Tabelle 7).

    Tabelle 8: Betreuungssetting, in dem sich die Befragten zum Zeitpunkt der Befragung befanden

    Auffällig ist in Tabelle 8 die hohe Zahl der von suchtartiger Mediennutzung Betroffenen im ambulanten Setting. Dies könnte darauf hindeuten, dass die Strukturen in stationären Einrichtungen mehr Kontrolle über den Medienkonsum bieten, während eine Person, die Beratung in einem ambulanten Setting wahrnimmt, außerhalb dieser Termine weitestgehend selbst über ihren Medienkonsum und ihre Tagesstruktur bestimmen kann.

    Vergleich mit vorangegangener Studie

    Im Folgenden werden die JJ-Zahlen mit den Zahlen der Studie „Komorbide Internetsucht unter Patienten der stationären Suchtrehabilitation“ aus dem Jahr 2012 (vgl. Müller et al., 2012) verglichen.

    Nutzung von Onlineangeboten

    Tabelle 9: Nutzung von Onlineangeboten im Vergleich

    Es lässt sich gut erkennen, dass in den letzten Jahren vor allem die Bereiche Online-Einkaufen, Online-Communities und Streamingdienste deutlich stärker genutzt werden (s. Tabelle 9). Der Bereich der Streamingdienste wurde 2012 noch nicht abgefragt, da ein solches Angebot zu diesem Zeitpunkt noch nicht flächendeckend der Allgemeinbevölkerung zur Verfügung stand. An der aktuellen Prozentzahl lässt sich jedoch erkennen, dass dieser Bereich einen großen Teil der Mediennutzung ausmacht.

    Negative Folgen bzw. Probleme aufgrund des Onlineverhaltens

    Tabelle 10: Entstandene Probleme bei Menschen mit suchtartiger Internetnutzung im Vergleich

    Auffällig ist, dass sich die entstandenen Probleme der Menschen, die eine suchtartige Internetnutzung aufweisen, verbessert haben und in fast allen Bereichen weniger Probleme aufzutreten scheinen, als das in der Studie von 2012 der Fall war (s. Tabelle 10). Dies mag zum einen an der Veränderung der Stichprobe liegen. Prozentual gesehen ist der Anteil der Menschen mit suchtartiger Nutzung stark angestiegen, aber die Konzentration der verschiedenen Probleme pro Person ist nicht mehr so hoch wie bei der Stichprobe aus 2012. Zum anderen lassen sich Medien heutzutage aufgrund von Smartphones etc. möglicherweise besser in den Alltag integrieren und verursachen dadurch gefühlt oder tatsächlich weniger Probleme als vor zehn Jahren. Werte bis zu 69 % sind aber trotz der Verbesserung immer noch sehr hoch, und es verwundert nicht, dass sich diese Probleme bei Menschen mit suchtartiger Nutzung immer noch zeigen.

    Tabelle 11: Entstandene Probleme bei Menschen ohne suchtartige Internetnutzung im Vergleich

    Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass es sich bei Tabelle 11 um die Werte der Personen handelt, die anhand des Fragebogens keine problematische Nutzung des Internets aufweisen. Trotzdem zeigen sich in unserer Untersuchung deutlich höhere Werte für entstandene Probleme als in der Vergleichsstudie.

    Obwohl laut Fragebogen hier keine suchtartige Mediennutzung besteht, berichtet fast ein Viertel der Befragten von Vernachlässigung anderer Freizeitaktivitäten und fast ein Fünftel von finanziellen Schwierigkeiten aufgrund des eigenen Mediennutzungsverhaltens. Es scheint also angeraten, auch bei Personen, die in der Befragung keine suchtartige Internetnutzung gezeigt haben und ein scheinbar unproblematisches Nutzungsverhalten haben, genauer nachzufragen, ob ihr Verhalten trotz der niedrigen Punktzahl in der Auswertung Probleme in ihrem Leben verursacht.

    Zusammenfassung und Fazit

    Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die aktuelle Zahl der Klient:innen in der ambulanten und stationären Suchthilfe, die Kriterien für ein medienbasiertes Suchtverhalten zeigen, hoch ist. Sie ist deutlich höher (21,3 %) als in der zum Vergleich herangezogenen Studie von Müller et al. aus dem Jahr 2012 (4,2 %).

    Unterscheidet man bei JJ die Suchthilfesettings ambulant und stationär, ergibt sich, dass Klient:innen im ambulanten Setting mit 30,6  % stärker betroffen sind als Personen im stationären Setting mit 16,7 %.

    Jüngere Klient:innen unter 34 Jahren scheinen mehr von medienbasiertem Suchtverhalten betroffen zu sein (27,3 %) als ältere Klient:innen (13,4 %).

    Auch Personen, die unterhalb des Cut-Offs für suchtartige Internetnutzung liegen und somit als „unproblematische“ Nutzer:innen gelten, beschreiben, dass ihr Mediennutzungsverhalten in vielen Bereichen ihres Lebens Probleme verursacht (Vernachlässigung anderer Freizeitaktivitäten 23,4 %, Konflikte mit der Familie 15,9 % und Probleme mit der Gesundheit 13,1 %). In diesem Themenfeld ist ebenfalls ein starker Anstieg im Vergleich zur Studie aus 2012 zu erkennen.

    Hervorzuheben ist zudem noch die Differenz zur Allgemeinbevölkerung. Die Studie „Prävalenzschätzung und Strategieentwicklung zur suchtassoziierten Internetnutzung in der Steiermark“ aus dem Jahr 2023 legt hierzu valide Zahlen vor. Demnach liegt die Prävalenz in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung der Steiermark geräteunabhängig bei 9,7 %. Ausgehend davon, dass sich die Internetnutzung in Deutschland und Österreich nur bedingt unterscheiden dürfte, lässt sich hier ein signifikanter Unterschied der Prävalenzen zwischen Allgemeinbevölkerung (9,7 %) und Personen aus dem Suchthilfesetting (21,3 %) feststellen.

    Diskussion

    Die vorliegende Untersuchung ist als explorative Querschnittsstudie angelegt, eine Intervention wurde nicht vorgenommen, ein randomisiertes und kontrolliertes Design haben wir für unsere Fragestellung „Wie stellt sich das Mediennutzungsverhalten der von uns beratenen und behandelten Menschen mit einer stoffgebundenen Abhängigkeit dar?“ nicht vorgesehen. Dementsprechend können wir hier deskriptive Ergebnisse vorlegen und mit Ergebnissen von vorausgehenden Untersuchungen vergleichen. Aus den Ergebnissen leiten wir weiteres Vorgehen und Ansatzpunkte zur Verbesserung der Versorgung ab, die wir im Folgenden darstellen.

    Aus unserer Sicht sollten einige Ansatzpunkte weiterverfolgt werden. Diese betreffen vor allem eine Anpassung der Versorgung an die hier ermittelten Bedarfe an Beratung und Behandlung, aber auch zusätzliche Forschungsfragen, da die Datenlage zum Mediennutzungsverhalten bei Personen mit einer substanzgebundenen Abhängigkeit bislang sehr überschaubar ist. Folgende Ansatzpunkte sehen wir:

    • Anpassen von Dokumentation und Anamnese
    • Dezentrale Beratung bei medienbasiertem Suchtverhalten
    • Weitere Forschung

    Anpassen von Dokumentation und Anamnese

    Die hier vorgelegten Daten spiegeln sich bislang in unseren Jahresstatistiken nicht wider. Dies liegt zum einen an Voreinstellungen der Basisdokumentation, die somit zu einer Unterbetonung des Problems beitragen. Studien zeigen, dass insbesondere die suchtartige Nutzung von Pornographie in den letzten Jahren vermehrt vorkommt und auch in den kommenden Jahren stärker in der Suchthilfe vertreten sein könnte (vgl. Mestre-Bach et al., 2020). Dieses Themenfeld lässt sich in der aktuellen Basisdokumentation noch nicht dokumentieren. Hier sind also bessere Möglichkeiten der digitalen Dokumentation nötig.

    Des Weiteren ist medienbasiertes Suchtverhalten ein Thema, das oft nicht direkt angesprochen wird. Oftmals stehen stoffgebundene Probleme im Fokus von Beratung und Behandlung. Aus den vorgelegten Daten lässt sich die Notwendigkeit ableiten, Mediennutzung in der Anamneseerhebung stets zu erfragen und Beratung und Behandlung auf die Bedarfe hin abzustimmen. Nicht erfasstes Medienverhalten kann nicht behandelt werden – ein Phänomen, das auch in der „IBSfemme“-Studie thematisiert wird (vgl. Müller et al, 2019).

    Dezentrale Beratung bei medienbasiertem Suchtverhalten

    Wenn gleichzeitig eine stoffgebundene Abhängigkeit und ein problematisches oder abhängiges Mediennutzungsverhalten vorliegen, sollten beide Anliegen in einer Beratung ihren Platz finden, die Aufteilung auf zwei beratende Personen erscheint wenig zielführend und wenig ökonomisch. Eine Aufteilung in allgemeine, oft auch dezentrale Suchtberatungen und Fachstellen für Verhaltenssucht, die vorrangig in Großstädten angeboten wird, bietet keine integrierte Versorgung aus einer Hand und erfordert zusätzliche Wege und weitere Ressourcen.

    Eine Integration der Beratung zu problematischer Mediennutzung erfordert Schulungen für die Beratenden. Sowohl Beratung im Einzelkontakt als auch Beratung in Gruppen für substanzgebundene Störungen erfordert neben allgemeiner beraterischer Kompetenz noch Fachwissen zu Substanzen und zu abhängiger und problematischer Mediennutzung. Eine Spezialisierung weniger Beratender wird der Breite des Problems nicht gerecht. Um mit der Vielzahl der komorbid betroffenen Klient:innen sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich kompetent umgehen und passgenaue Angebote entwickeln/umsetzen zu können, müssen Mitarbeiter:innen zum Thema geschult sein und sich kompetent fühlen. Ist dies nicht der Fall, können Gefühle von Überforderung entstehen und Widerstände, sich des Themas anzunehmen.

    Weitere Forschung

    Kinder und Jugendliche gelten als gefährdete Gruppe für die Entwicklung eines problematischen Mediennutzungsverhaltens. Zur Entwicklung von Medienkompetenz sind präventive Angebote erforderlich. Bei bereits bestehenden Problemen mit Mediennutzung sind sekundärpräventive Ansätze zu entwickeln. Die Beratung und Behandlung von Menschen mit abhängiger oder problematischer Mediennutzung zusätzlich zu einer bereits bestehenden Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen ist wenig erforscht und sollte in die bestehenden Angebote integriert werden. Mögliche Forschungsfragen hierzu wären:

    • Wie kann die Funktionalität dieser beiden Störungen geklärt werden? Bedingt das eine Problem das andere, gehen beide auf eine gemeinsame Ursache zurück oder existieren sie unabhängig voneinander? (vgl. Moggi, 2014)
    • Verändern sich Auftretenswahrscheinlichkeiten von problematischer Mediennutzung im lebensgeschichtlichen Verlauf einer substanzbezogenen Abhängigkeit?
    • Wie ist die Geschlechterverteilung dieser Problematik einzuschätzen und was sind mögliche Ursachen hierzu? Gibt es systematische Unterschiede zu den einzelnen Bereichen problematischer Mediennutzung?
    • Handelt es sich um eine jugendtypische Problematik oder tritt diese auch im höheren Erwachsenenalter auf?
    • Gibt es Zusammenhänge zwischen konsumierten Substanzen und Art der problematischen Mediennutzung?

    Zusammenfassend lässt sich sagen: Ein Großteil der von Substanzen abhängigen Menschen scheint zusätzlich von medienbasiertem Suchtverhalten betroffen zu sein. Zudem lassen Studien in der Allgemeinbevölkerung besonders unter den Minderjährigen und in Bezug auf spezielle Themenfelder wie Online-Sexsucht darauf schließen, dass exzessive Mediennutzung ein Thema ist, das die Suchthilfe und andere Hilfeangebote in den kommenden Jahren zunehmend beschäftigen wird.

    *An der Untersuchung beteiligte Einrichtungen: Therapiedorf Villa Lilly (Bad Schwalbach), Haus der Beratung (Frankfurt), Therapeutische Einrichtung Auf der Lenzwiese (Höchst im Odenwald), Übergangseinrichtung Wolfgang-Winckler-Haus (Kelkheim), Suchthilfezentrum Wiesbaden, Zentrum für Jugendberatung und Suchthilfe für den Hochtaunuskreis (Bad Homburg), Betreute Wohngemeinschaft Eddersheim, Zentrum für Jugendberatung und Suchthilfe für den Main-Taunus-Kreis (Hofheim), Zentrum für Jugendberatung und Suchthilfe für den Rheingau-Taunus-Kreis (Taunusstein)

    Kontakt und Angaben zu den Autor:innen:

    Katharina Munz
    Jugendberatung und Jugendhilfe e.V.
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt am Main
    Telefon: 0611 9004870
    E-Mail: Katharina.munz(at)jj-ev.de

    Ulrich Claussen
    Jugendberatung und Jugendhilfe e.V.
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt am Main
    Telefon: 069 743480-11
    E-Mail: kontakt(at)claussen-psychotherapie.de

    David Schneider
    Jugendberatung und Jugendhilfe e.V.
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt am Main
    Telefon: 069 743480-13
    E-Mail: david.schneider(at)jj-ev.de

    Literatur
    • Programmheft Deutscher Suchtkongress 7. – 9. September 2022 in München. Lübeck, 2022
    • Herz, A., Tran, K. (2022). Jugendfreundschaften während der Coronakrise. https://www.dji.de/themen/corona/jugendfreundschaften-in-der-pandemie.html
    • JIM-Studie 2020 + 2021
    • DAK Mediensucht 2020-Studie: Gaming und Social Media und Corona 2020, vor allem S. 82 ff.
    • DKHW Kinderreport 2021
    • Mestre-Bach, G., Blycker, G.R., Potenza, M.N. (2020): Pornography use in the setting of the COVID-19 Pandemic, J Behav Addict. 2020 Jun; 9(2):181-183
    • Moggi, F. (2014) Theoretische Modelle bei Doppeldiagnosen. In: Walter, M., Gouzoulis-Mayfrank, E. (Hrsg.) (2014) Psychische Störungen und Suchterkrankungen: Diagnostik und Behandlung von Doppeldiagnosen. Stuttgart: Kohlhammer
    • Müller, K.W., Koch, A., Beutel, M.E., Dickenhorst, U., Medenwaldt, J., Wölfling, K., (2012 a). Komorbide Internetsucht unter Patienten der stationären Suchtrehabilitation: Eine explorative Erhebung zur klinischen Prävalenz. Psychiatrische Praxis, 2012, 39: 286 – 292
    • Müller, K.W., Ammerschläger, M., Freisleder, F. J., Beutel, M., E., Wölfling, K., (2012 b). Suchtartige Internetnutzung als komorbide Störung im jugendpsychiatrischen Setting – Prävalenz und psychopathologische Symptombelastung. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 40 (5), 2012, S. 331 – 339
    • Müller, K. W., (2019). Internetbezogene Störungen bei weiblichen Betroffenen: Nosologische Besonderheiten und deren Effekte auf die Inanspruchnahme von Hilfen (IBSfemme)
    • Türcke, C., (2019): Digitale Gefolgschaft. Auf dem Weg in eine neue Stammesgesellschaft, C.H. Beck, München 2019
    • Müller, K. W. (2020): Die Nutzung von sozialen Medien durch Kinder und Jugendliche – Ein Überblick über gesundheitsrelevante Aspekte, Kinder- und Jugendmedizin 2020; 20(04): 229-236
    • Gesundheitsfond Steiermark (2023). Prävalenzschätzung und Strategieentwicklung zur suchtassoziierten Internetnutzung in der Steiermark, Graz 2023
  • KISucht Hackathon 2024

    KISucht Hackathon 2024

    Suchthilfe und Digitalisierung

    Wolfgang Rosengarten

    Die Digitalisierung bietet für die Suchtprävention und Suchthilfe Chancen und neue Möglichkeiten. Allerdings ist es der Suchthilfe nicht leichtgefallen, sich diesen Entwicklungen zu öffnen. Zu groß waren lange Zeit die Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes und einer zusätzlichen finanziellen und personellen Belastung. Ein wichtiger Meilenstein waren 2020 die „Essener Leitgedanken zur digitalen Transformation in der Suchthilfe“, die thesenartig zusammenfassen, wie die Suchthilfe gemeinsam mit den Verbänden und Leistungsträgern den digitalen Wandel für die Weiterentwicklung der Hilfeangebote nutzen kann. Entstanden ist das Thesenpapier aus der gewachsenen Erkenntnis, dass die Suchthilfe die Digitalisierung selbst gestalten muss, wenn sie ihre digitale Transformation nicht anderen Akteuren überlassen will.

    Die „Essener Leitgedanken“ wurden im Rahmen eines Fachgesprächs erarbeitet, das auf Initiative der AG Suchthilfe der Arbeitsgemeinschaft der obersten Landesgesundheitsbehörden (AOLG) und mit Finanzierung des Bundesgesundheitsministeriums durchgeführt wurde. Beteiligt waren 21 Expert:innen aus unterschiedlichen Bereichen der Suchthilfe (Ministerien, Träger, Verbände, Fachverbände) und aus dem Bereich Digitalisierung. Nur wenige Wochen nach der Erarbeitung der „Essener Leitgedanken“ veränderte die Corona-Pandemie die Ausgangslage dramatisch.

    Während es vor der Corona-Pandemie nur vereinzelte Online-Beratungsangebote gab, hat die Online-Beratung seit Beginn der Pandemie an Bedeutung gewonnen.  Das Format trug dazu bei, dass viele laufende Beratungen und Betreuungen fortgeführt werden konnten, und ermöglichte auch in Zeiten der Lockdowns eine kontaktlose Inanspruchnahme für Hilfesuchende und deren Angehörige.

    Bereits vor der Pandemie waren erste Konzeptideen für eine bundesweite Online-Suchtberatungsplattform entstanden. Aber erst unter dem Eindruck der Erfahrungen, die während der Coronazeit gemacht wurden, konnte schließlich mit der Förderung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) die Implementierung der bundesweiten träger- und länderübergreifenden Onlineplattform „DigiSucht“ realisiert werden. Das Projekt „DigiSucht“ wurde von Fachkräften aus Suchtberatungsstellen, Landesstellen für Suchtfragen, Sozial- und Gesundheitsministerien der Länder sowie der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) in Kooperation mit der Firma delphi erarbeitet. Im Anschluss an die vom BMG geförderte Entwicklungs- und Modellphase der Plattform ermöglicht seit dem 1. Januar 2024 die gemeinsame Finanzierung der Länder den nahtlosen Weiterbetrieb der Plattform DigiSucht.

    Mit DigiSucht hat die Suchthilfe einen digitalen Leuchtturm im Bereich der gemeinwohlorientierten psychosozialen Arbeit etabliert, der nur durch die gelungene Kooperation von Bund und Ländern unter Einbindung der Wohlfahrts- und Suchthilfeverbände realisiert werden konnte.

    Suchthilfe und Künstliche Intelligenz (KI)

    Willkommen zum Hackathon „KI in der Suchthilfe“! Foto: nuvio gGmbH, Felix Ladewig

    In der Entwicklung weiterer digitaler Werkzeuge werden jedoch kontinuierlich Fortschritte gemacht. So hat die Künstliche Intelligenz (KI) mit der Veröffentlichung von ChatGPT im letzten Jahr auch außerhalb der IT-affinen Fachöffentlichkeit einen erheblichen Schub an Interesse und Aufmerksamkeit erfahren. KI-Anwendungen werden zurzeit allerdings fast ausschließlich von gewinnorientierten Unternehmen entwickelt und eingesetzt. Während sie im Gesundheitsbereich z. B. in der Versorgung bereits genutzt werden, bleibt ihr Potenzial in der Suchtprävention und Suchthilfe, wie im gemeinwohlorientierten Bereich insgesamt, derzeit noch weitgehend außen vor. Das Bundesministerium für Gesundheit hat daher im Rahmen seiner Förderung innovativer Projekte im Januar 2024 den zweitägigen „KISucht Hackathon 2024“ gefördert. Organisiert und durchgeführt wurde die Veranstaltung von „nuvio – Institut für Gesundheitsgestaltung“ in Kooperation mit der Brandenburgischen Landesstelle für Suchtfragen e. V. (BLS).

    Wozu ein Hackathon?

    Impulsvortrag. Foto: nuvio gGmbH, Felix Ladewig

    Ursprünglich aus dem IT-Bereich stammend, hat das Veranstaltungsformat „Hackathon“ inzwischen auch in anderen Arbeitsfeldern Einzug gehalten. Es ist ein kreativer Ideenwettbewerb, bei dem Expert:innen verschiedener Fachrichtungen in einem intensiven Austausch innerhalb von 24 bis 48 Stunden innovative Lösungen entwickeln.

    Der „KISucht Hackathon 2024“ brachte Fachleute aus ganz unterschiedlichen Aufgabenbereichen der Suchthilfe und Suchtprävention mit Expert:innen aus dem Feld der KI zusammen. Gemeinsam gingen sie der Frage nach, ob und wie Künstliche Intelligenz die Arbeit in der Suchtprävention und Suchthilfe unterstützen könnte. In vier interdisziplinären Teams erarbeiteten die 30 Teilnehmenden aus Verwaltungen, Verbänden, Suchthilfeträgern, Wissenschaft und IT innovative Ideenskizzen für mögliche KI-Modellprojekte zu aktuellen Herausforderungen der Suchthilfe und Suchtprävention. Begleitet wurde der Hackathon von Impulsvorträgen zum Entwicklungsstand der Künstlichen Intelligenz sowie zu einem KI-Vorhaben im Bereich des Kinderschutzes.

    Vor dem Hintergrund des zunehmenden Fachkräftemangels sowie der Notwendigkeit, die Zugangshürden zum Hilfesystem zu senken, standen für die Teams zwei konkrete Aufgabenstellungen im Fokus:

    • Wie könnte KI dazu beitragen, den Zugang zu den Angeboten der Suchthilfe zu verbessern?
    • Wie könnte KI zur Vereinfachung von Arbeitsprozessen in Einrichtungen der Suchthilfe und Suchtprävention beitragen?

    Ergebnisse des Hackathons

    Teamarbeit. Foto: nuvio gGmbH, Felix Ladewig

    Um den Zugang zum Suchthilfesystem zu erleichtern, wurde von einem Team die Idee eines KI-Chatbots entwickelt, der in der Lage ist, menschliche Gespräche zu verstehen und darauf zu reagieren. So soll er individuelle Risikofaktoren erkennen und maßgeschneiderte Hilfsangebote vorschlagen können, die speziell auf die Bedürfnisse und Herausforderungen der jeweiligen Person zugeschnitten sind, z. B. die Weiterleitung zur Onlineplattform DigiSucht oder direkt zu einer Beratungsstelle oder Selbsthilfegruppe.

    Ein anderes Team entwickelte die Idee von einer KI-gestützten Personal- und Terminverwaltung. Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels sollen damit die psychosozialen Fachkräfte in den Beratungsstellen so weit wie möglich von administrativen Aufgaben entlastet werden.

    Künstliche Intelligenz löst aufgrund ihrer Komplexität und ihres Potenzials, menschliche Arbeitsplätze zu ersetzen, oft Ängste aus. Ein weiterer Grund für Ressentiments gegenüber KI ist der Mangel an Transparenz und Kontrolle über die Entscheidungen, die von KI-Systemen getroffen werden. Dass es auch möglich ist, KI-Systeme so zu gestalten, dass sie transparent arbeiten sowie verantwortungsvolle Ergebnisse produzieren und am Ende den Nutzer:innen die Kontrolle über zu treffende Entscheidungen obliegt, zeigte das Praxisbeispiel von Prof. Dr. Robert Lehmann (TH Nürnberg). Er gab Einblicke in sein Projekt KAIMo, ein mehrstufiges Assistenzsystem, das Fachkräfte im Kinderschutz evidenzbasiert im Prozess der Urteilsfindung und ethischen Reflexion unterstützt.

    Produktive Pausengespräche. Foto: nuvio gGmbH, Felix Ladewig

    So wichtig wie die entwickelten Projektvorhaben und die Impulsvorträge waren während des Hackathons auch die grundsätzlichen Diskussionen sowohl im Plenum als auch in den Pausengesprächen über den Einsatz von KI in der Sozialen Arbeit.

    Die Veranstaltung hat deutlich gemacht, wie sinnvoll, fruchtbar und letztlich auch unerlässlich es ist, dass sich auch die Suchthilfe und Suchtprävention mit den Chancen und Risiken von KI auseinandersetzt und sicherstellt, dass der Einsatz von KI in diesen Arbeitsfeldern im Einklang mit gesellschaftlichen Werten und Zielen erfolgt.

    Durch die Auseinandersetzung mit dem Thema schärften die Teilnehmenden des Hackathons ihr Bild von Künstlicher Intelligenz. Es wurde klar, dass KI nicht gleichzusetzen ist mit der Vorstellung von einer übermenschlichen Superintelligenz, die der Menschheit absichtlich oder versehentlich Schaden zufügen könnte. Vielmehr zeigte sich, dass KI für den Praxisalltag einer Suchthilfeeinrichtung eine enorme Arbeitserleichterung bedeuten kann, wenn z. B. Informationen strukturiert erfasst und selbstständig in die entsprechenden Rubriken eingeordnet werden, insbesondere bei Dokumentationsaufgaben.

    Perspektiven

    Ideensammlung. Foto: nuvio gGmbH, Felix Ladewig

    Natürlich muss die weitere Entwicklung im Bereich der KI einerseits gesetzlich reguliert werden (im Juni 2023 verabschiedete das Europäische Parlament seine Verhandlungsposition zum Gesetz über künstliche Intelligenz, dem weltweit ersten umfassenden Regelwerk zur Bewältigung von KI-Risiken) und es muss darauf geachtet werden, dass sie sich nicht gegen den Menschen richtet oder soziale Verwerfungen erzeugt. Andererseits wäre es angesichts der Engpässe bei der personellen und finanziellen Ausstattung sozialer Träger fahrlässig, KI nicht als Instrument zur Bewältigung dieser Herausforderungen zu nutzen.

    Die dringend notwendige Diskussion zu diesem Thema in der Suchthilfe und Suchtprävention wurde mit dieser Veranstaltung angestoßen. Dabei war es eine wunderbare Erfahrung zu sehen, mit wie viel Neugier und Kreativität die Kolleg:innen aus der Suchthilfe und Suchtprävention potenziellen Einsatzmöglichkeiten von KI in ihrem Arbeitsfeld begegneten. Zusammen mit den Perspektiven der Teilnehmenden aus dem IT-Bereich bot der Hackathon einen kreativen und inspirierenden Rahmen für neue Ideen. Dank dafür gebührt dem Team von nuvio, aber vor allem auch dem Bundesministerium für Gesundheit, das sich auf diese innovative Form des Fachaustauschs und der Wissensvermittlung eingelassen hat.

    Konkrete Schritte

    Man darf gespannt sein, wie sich die Thematik weiterentwickeln wird und welche konkrete Anwendung KI- oder Algorithmeneinsätze in der Suchtprävention und Suchthilfe finden werden, um die Missionen dieser Arbeitsfelder zu unterstützen.

    Sowohl für diesen Schritt als auch für das Erlernen der notwendigen Kompetenz, um die Technologien zur Anwendung zu bringen, wird es unbedingt notwendig sein, dass die Suchtprävention und Suchthilfe aktiv den Kontakt zu entsprechenden Hochschulen oder Start-ups sucht. Mit Fördermitteln des Bundes oder der Länder sollte dieser Prozess weiter unterstützt werden.

    Viele digitale Werkzeuge sind bundesweit und trägerübergreifend einsetzbar. Für die Entwicklung und die Implementierung solcher Instrumente werden jedoch Investitionsmittel benötigt, die in der Suchthilfe und Suchtprävention schwerlich von einzelnen Trägern übernommen werden können. Um zu wirtschaftlichen und nachhaltigen Lösungen für den Einsatz digitaler Werkzeuge zu kommen, müssen Poolfinanzierungsmodelle eingesetzt werden, über die Bund und Länder Mittel zur Verfügung stellen. Damit können bundesweit zum Einsatz kommende Vorhaben konzeptioniert, implementiert und dauerhaft finanziert werden.

    Die Onlineplattform DigiSucht ist ein erstes Mut machendes Beispiel für solch eine gemeinsame Finanzierung und Entwicklung eines innovativen, zeitgemäßen Instruments auf dem Weg der digitalen Transformation der Suchthilfe.

    Uns interessiert Ihre Meinung

    Wie ist Ihre Haltung zum Einsatz von KI in der Suchthilfe und Suchtprävention? Welche Möglichkeiten sehen Sie? Für wie wichtig und produktiv halten Sie Veranstaltungen wie den KISucht Hackathon? Würden Sie selbst gern an einem teilnehmen?

    Schreiben Sie uns gerne Ihre Meinung an: redaktion@konturen.de

    Angaben zum Autor:

    Wolfgang Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Familie, Senioren, Sport, Gesundheit und Pflege in Wiesbaden. Vorher war er über 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.

    Kontakt:

    Wolfgang Rosengarten
    w.rosengarten(at)t-online.de

     

  • Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie auf die Sucht-Rehabilitation

    Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie auf die Sucht-Rehabilitation

    1. Einleitung

    Bereits Anfang 2020 war erkennbar, dass die SARS-CoV-2-Pandemie erhebliche Implikationen auch auf die medizinische Rehabilitation haben wird. Daher initiierte die Deutsche Rentenversicherung Bund den Förderaufruf „Forschungsvorhaben zu Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie auf das System der Rehabilitation“. In diesem Rahmen wurde das hier vorgestellte Forschungsprojekt „Auswirkungen der SARS‐CoV‐2-Pandemie auf die Sucht-Rehabilitation und Nachsorge (CoV-AZuR)“ im Sommer 2020 am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin konzipiert.

    Die Sucht-Rehabilitation unterscheidet sich von der medizinischen Rehabilitation bei anderen Indikationen in mehreren Aspekten, welche während der SARS-CoV-2-Pandemie Bedeutung gehabt haben könnten. Hierzu gehören besondere Zugangswege. Neben Entgiftungsstationen in Akutkrankenhäusern und weiteren Institutionen erfolgt der Zugang insbesondere über Suchtberatungsstellen. Das Spektrum der Einrichtungen, in denen Sucht-Rehabilitation durchgeführt wird, variiert erheblich, von Suchtberatungsstellen mit wenigen Reha-Behandlungsplätzen bis hin zu großen Fachkliniken mit hunderten Betten. Die durchschnittliche Dauer der Sucht-Rehabilitation beträgt 86 Tage, im Gegensatz zu 23 Tagen in der somatischen Rehabilitation (Deutsche Rentenversicherung Bund, 2022). Entsprechend höher liegen die Kosten für Sucht-Rehabilitationsleistungen (Deutsche Rentenversicherung Bund, 2020). Die Rehabilitandenstruktur unterscheidet sich deutlich von derjenigen in der übrigen medizinischen Rehabilitation: Sie weist einen hohen Männeranteil, ein vergleichsweise niedriges mittleres Alter und einen niedrigen sozioökonomischen Status mit einer Überrepräsentation von z. B. Arbeitslosen, Wohnungslosen, Menschen in betreutem Wohnen und Gefangenen auf.

    Während der Pandemie kam es zu Veränderungen im Zugang zu Suchtmitteln und im Konsumverhalten. Die Studienlage hierzu ist je nach Suchtmittel und untersuchter Population uneinheitlich (Georgiadou et al., 2020; Koopmann et al., 2020; Manthey et al., 2020; Suhren et al., 2021; Klosterhalfen et al., 2022). Es wurden neue oder vermehrt in der Pandemie auftretende Motive für erhöhten Substanzkonsum und verstärktes Suchtverhalten identifiziert, darunter Langeweile, Einsamkeit und Angst vor Ansteckung (Lochbühler, 2021). Es ist aus vorherigen Studien bekannt, dass diese Faktoren bestehende Suchterkrankungen verstärken bzw. die Rückfallgefahr erhöhen können (Henkel, Zemlin, 2009).

    Vor diesem Hintergrund hatte die Studie zum Ziel, pandemiebedingte Veränderungen in der Sucht-Rehabilitation und ‑Nachsorge zu beschreiben. Folgende Fragestellungen wurden untersucht: Welche Veränderungen während der SARS‐CoV‐2-Pandemie zeigten sich für die Sucht-Rehabilitation und ‑Nachsorge in Bezug auf

    1. organisatorische, strukturelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen,
    2. Personal und Teamarbeit,
    3. Zugang und Inanspruchnahme der Sucht-Rehabilitation und Rehabilitandenstruktur,
    4. Reha-Konzept, therapeutische Leistungsangebote und Digitalisierung
    5. und in Bezug auf Behandlungsergebnisse?

    2. Methoden

    Die Beobachtungsstudie verfolgt einen Mixed-Methods-Ansatz und bindet mehrere Akteure und Perspektiven ein. Hierzu gehören Einrichtungsleitungen, Behandler:innen und Rehabilitand:innen. Die Studie gliedert sich in vier Module M1 bis M4:

    M1: Einrichtungsleitungen aller ca. 1.050 Einrichtungen der Sucht-Rehabilitation und ‑Nachsorge in Deutschland wurden zu zwei Zeitpunkten (t1: Herbst 2021, t2: Sommer 2022) angefragt, online einen Fragebogen auszufüllen. Einschlusskriterium war das Vorhalten wenigstens einer der folgenden Leistungstypen: stationäre Rehabilitation (STR), Adaption (ADA), ganztägig ambulante Rehabilitation (TAR), ambulante Rehabilitation (ARS) und Suchtnachsorge (NAS). Der auswertbare Rücklauf umfasste zu t1/t2 n=336/415 Fragebögen für n=556/615 Einrichtungsstandorte. Für einen Teil der Analysen wurden die Einrichtungen in drei Settings gruppiert:

    1. Stationäre Einrichtungen: ausschließlich stationäres Angebot inkl. Adaption (t1/t2 n=58/68)
    2. Gemischt stationär-ambulante Einrichtungen (inkl. TAR, n=39/35)
    3. 3. Ambulante Einrichtungen: ausschließlich berufs-/alltagsbegleitendes ambulantes Angebot (ARS und/oder NAS, n=239/312).

     M2: Zur vertieften Exploration wurden mit n=26 ärztlich oder therapeutisch in Sucht-Reha-Einrichtungen tätigen Personen Leitfaden-gestützte Interviews (über Videotelefonie) zu zwei Zeitpunkten durchgeführt (t1: Ende 2021/Anfang 2022; t2: Herbst 2022). Die Audioaufnahmen wurden transkribiert und inhaltsanalytisch nach Kuckartz ausgewertet.

     M3: In der ersten Jahreshälfte 2022 wurde in 34 Sucht-Reha-Einrichtungen eine Hybrid-Befragung (wahlweise online oder schriftlich) von insgesamt n=460 Personen, die sich zum Befragungszeitpunkt in Sucht-Rehabilitation (n=303) oder Nachsorge nach vorheriger Sucht-Rehabilitation (n=157) befanden, durchgeführt. Die Angaben wurden deskriptiv ausgewertet.

    M4: Ergänzend wurden Routine-Statistiken der Deutschen Rentenversicherung und Routine-Daten, die mit dem Kerndatensatz Sucht (KDS) erhoben werden, vergleichend für die Jahre 2019 bis 2021 herangezogen.

    Abbildung 1 zeigt, wie sich die vier Studienmodule in den Pandemieverlauf zeitlich einordnen.

    Abbildung 1: Studienmodule mit Erhebungszeiträumen im Pandemieverlauf. Pfeile symbolisieren retrospektive Fragestellungen teils spezifisch auf die erste Welle bezogen (M1) und Einschluss von Personen in Nachsorge, die zuvor ihre Rehabilitation abgeschlossen hatten (M3). Quelle: Robert-Koch-Institut 2023; eigene Darstellung.

    In diesem Beitrag werden ausgewählte Studienergebnisse vorgestellt. Eine detailliertere Beschreibung sowohl der Methodik als auch von einzelnen Ergebnissen und deren Einordnung in den Forschungsstand wurde an anderer Stelle publiziert (Brünger et al., 2023; Burchardi et al., 2023).

    3. Ergebnisse

    3.1 Organisatorische, strukturelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen

    Nahezu sämtliche Einrichtungen der Sucht-Rehabilitation und Nachsorge berichteten von der Implementierung umfassender Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit der Pandemie. Diese Maßnahmen umfassten die Verpflichtung zum Testen und zum Tragen von Masken, Abstandsregeln, die Reduzierung von Gruppengrößen, die Erweiterung räumlicher Kapazitäten (teilweise durch Anmietung oder Umwidmung von Räumlichkeiten), die Umwandlung von Doppelzimmern in Einzelzimmer sowie restriktivere Vorschriften bezüglich Ausgang, Besuchen und Heimfahrten. Der infolge der Implementierung von Hygiene- und Abstandsregeln entstandene Raummangel führte bei etwa 70 % der Einrichtungen zu Problemen bei der Umsetzung von Therapie und Aufenthalt. Die subjektive Wahrnehmung von Corona-Schutzmaßnahmen durch die Rehabilitand:innen selbst variierte: Während 34 % der Befragten eher oder völlig zustimmten, dass sie sich durch die Hygienemaßnahmen stark eingeschränkt fühlten, gaben 42 % an, sie fühlten sich eher nicht oder überhaupt nicht eingeschränkt.

    Die Einstellungen in Bezug auf Corona-Schutzimpfungen variierten deutlich zwischen den verschiedenen Einrichtungen. Einerseits akzeptierte etwa ein Drittel der Einrichtungen zumindest zeitweise nur Rehabilitand:innen mit Impfnachweis (34 %). Andererseits verzichteten zwei Drittel der Einrichtungen durchgehend im Zeitverlauf auf einen Impfnachweis (66 %). Die einrichtungsbezogene Impfpflicht für das Personal wurde je nach Setting von 59-85 % der Einrichtungsleitungen begrüßt. Allerdings traten in 23-30 % der Einrichtungen Konflikte in der Belegschaft in Bezug auf die Corona-Schutzimpfung auf, die in Einzelfällen zu Kündigungen oder Versetzungen führten (Abbildung 2).

    Abbildung 2: Interne Probleme aufgrund der einrichtungsbezogenen Impfpflicht (M1, t2). Mehrfachantworten möglich

    Abbrüche oder Unterbrechungen laufender Reha-Leistungen, ein Aufnahmestopp und die generelle Ein­­stellung von rehabilitativen und weiteren, nicht-rehabilitativen Leistungen waren am häufigsten in der ersten Pandemiewelle im Frühjahr 2020 zu verzeichnen. Jedoch war dies bei einer Minderheit der Einrichtungen der Fall. Die häufigsten genannten Gründe hierfür waren landesrechtliche bzw. behördliche Anordnungen gefolgt von innerbetrieblichen Gründen. Ein beträchtlicher Anteil der Einrichtungs­leitungen gab an, die Anzahl der Behandlungsplätze pandemiebedingt reduziert zu haben. Die Reduktion fiel in der ersten Welle besonders hoch aus, überwiegend in Einrichtungen der stationären (48 %) und ganztägig ambu­lan­ten Rehabilitation (55 %). Die am häufigsten genannten Gründe waren ein Mangel an Therapie­räumen sowie ein Mangel an Rehabilitandenzimmern aufgrund zunehmender Einzel­belegung.

    Bedingt durch die Reduktion von Behandlungsplätzen, die gesunkene Nachfrage und pandemiebedingte Mehrausgaben gestaltete sich die wirtschaftliche Situation der Einrichtungen 2020 und 2021 im Vergleich zu 2019 auch unter Berücksichtigung von Ausgleichszahlungen für etwa jede zweite Einrichtung mit stationärem Angebot (49 %) und gut jede dritte ambulante Einrichtung schwieriger (39 %). Dies führte je nach Setting bei 26-51 % der Einrichtungen zu Zurückstellungen von Investitionen (Abbildung 3).

    Abbildung 3: Finanzielle Auswirkungen der Pandemie (M1, t1). Mehrfachantworten möglich

    Die Einrichtungsleitungen bewerteten Vorgaben und Unterstützungsangebote der Fachverbände überwiegend positiv, auch die Leistungsträger erhielten eine eher positive Bewertung. Hierzu zählt die mehrheitlich als flexibel und unbürokratisch erachtete Möglichkeit zur modifizierten Leistungs­erbringung bzw. Abrechnung während der Pandemie. Hingegen wurden Gesundheitsämter und andere staatliche Institutionen bzw. Behörden kritischer bewertet.

    3.2 Personal und Teamarbeit

    Die Pandemie war mit erheblichen Auswirkungen auf Personalsituation und -management verbunden. Hierzu gehören zum ersten Befragungszeitpunkt im Herbst 2021 eine Verringerung oder Einstellung von Fortbildungen, mehr Homeoffice, Mehrarbeit/Überstunden und Verschiebung von Urlaub. Daneben wurden als Herausforderungen krankheitsbedingte Ausfälle beim Personal, besondere Regelungen für Risiko-Beschäftigte, Abbau von Überstunden bzw. Resturlaub sowie erhöhter Personalbedarf genannt. Zum zweiten Befragungszeitpunkt im Sommer 2022 hatten pandemiebedingte Auswirkungen auf die Personalsituation etwas abgenommen, lagen jedoch weiterhin auf einem hohen Niveau. Eine Ausnahme stellte der Personalausfall durch Krankheit dar: Dies war zu diesem Zeitpunkt mit je nach Setting 61-85 % Nennungen der am häufigsten berichtete Aspekt (Abbildung 4).

    Abbildung 4: Auswirkungen der Pandemie auf Personalsituation und -management (M1). Mehrfachantworten möglich

    Je nach Setting berichteten im Herbst 2021 74-82 % der Einrichtungen von erheblichen Veränderungen in der Teamarbeit. Im Sommer 2022 ging dieser Anteil bei den stationären Einrichtungen leicht von 74 % auf 67 % zurück und halbierte sich in gemischt stationär-ambulanten (41 %) und rein ambulanten Einrichtungen (37 %). Zu den genannten Veränderungen gehörten die Einführung von digitalen Teamsitzungen, weniger Möglichkeiten zur Supervision und Team-Konflikte hinsichtlich Corona (Abbildung 5).

    Abbildung 5: Art der Veränderungen in Teamarbeit (M1). Mehrfachantworten möglich

    Ein sehr hoher Anteil der Einrichtungsleitungen in stationären (90 %) und gemischt stationär-ambulanten Einrichtungen (97 %) sowie 77 % der ambulanten Einrichtungen berichteten im Herbst 2021 von pandemiebedingten beruflichen Mehrbelastungen beim Personal. Private Mehrbelastungen wurden vergleichbar häufig genannt (84-89 %). Im Sommer 2022 ging der Anteil zurück, jedoch gab weiterhin die Mehrheit der Einrichtungsleitungen berufliche (53-73 %) und private (58-71 %) Mehrbelastungen an. Zu den genannten beruflichen Mehrbelastungen gehören Hygiene- und Schutzmaßnahmen, höhere Arbeitsintensität bzw. Mehrarbeit, veränderte Teamarbeit und veränderte Arbeitsinhalte, Umstellung auf digitale therapeutische Angebote, Homeoffice und veränderte Arbeitszeiten. Als private Mehrbelastungen wurden psychische Anspannung und Stress, Angst vor Ansteckung und Belastung durch vermehrte häusliche Kinderbetreuung bzw. Homeschooling sowie Belastungen durch soziale Isolation und reduzierte Work-Life-Balance genannt.

    3.3 Zugang, Inanspruchnahme und Rehabilitandenstruktur

    Gut die Hälfte der befragten Rehabilitand:innen (54 %) gab an, dass es pandemiebedingt zu einem erhöhten Verlangen bzw. Drang nach Suchtmitteln kam. Von diesen Personen wurden als häufigste Gründe soziale Isolation/Einsamkeit (73 %), Langeweile (64 %) und Konflikte in Partnerschaft und/oder Familie (36 %) angegeben. 52 % gaben einen (eher) erhöhten Suchtmittel­konsum an, 11 % einen verminderten Konsum. 62 % der Befragten berichteten, häufiger allein konsumiert zu haben.

    Während der Pandemie waren zunächst 23 % der Rehabilitand:innen über Behandlungsmöglich­keiten (eher) verunsichert, 19 % hatten laut eigenen Angaben nicht ausreichend professionelle Hilfe. 12 % gaben (eher) Schwierigkeiten an, sich über Möglichkeiten einer Sucht-Rehabilitation zu infor­mieren. 13-15 % der Befragten empfanden die Suchthilfe und ‑beratung in der Nähe als schwer oder gar nicht persönlich erreichbar und nahmen überwiegend telefonische oder Online-Gespräche wahr. 11 % gaben (eher) an, dass sie von keiner Klinik zur Entgiftung aufgenommen werden konnten (Abbildung 6).

    Abbildung 6: Subjektive Wahrnehmung von Beratung und Unterstützung im Vorfeld einer Sucht-Rehabilitation (M3)

    Gemäß Auswertungen der Deutschen Rentenversicherung lag die Anzahl der Sucht-Reha-Leistungen 2020 und 2021 um 10 % bzw. 9 % unter dem Niveau des Vorpandemiejahrs 2019. Der Rückgang fiel bei Frauen (-12 %/-11 %) und Alkohol­abhängigkeit (-13 %/-16 %) sowie für Kurzzeitbehandlung (-12 %/-18 %) und Adaption (-14 %/-12 %) überdurchschnittlich hoch aus. Bei illegalen Drogen wurde 2021 fast wieder das Niveau von 2019 erreicht (-2 %). Die Quote von angetretenen zu bewilligten Sucht-Reha-Leistungen reduzierte sich gemäß Deutsche Rentenversicherung von 79 % im Jahr 2019 auf 70 % im Jahr 2021. Die Einrichtungsleitungen berichteten ebenfalls von einem erhöhten Anteil an Nicht-Antrit­ten, der im Sommer 2022 noch anhielt. Als Gründe für die gesunkene Nachfrage wurden Verun­sicherung über Behandlungsmöglichkeiten in der Pandemie (79 %), weniger Weitervermittlungen (69 %), Angst vor Ansteckung (62 %) und restriktive Regeln in der Einrichtung (48 %) am häufigsten genannt.

    Je nach Setting vermuteten im Sommer 2022 71-80 % der Einrichtungsleitungen mittelfristig einen erhöhten Bedarf an Sucht-Rehabilitationen im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie. Als primärer Grund wurde von 99 % ein pandemiebedingter Anstieg von Suchtproblematiken angegeben, 47 % begründeten ihre Erwartungen zudem mit nachzuholenden Leistungen.

    Hinsichtlich möglicher Veränderungen der Rehabilitandenstruktur während der Pandemie gaben die Einrichtungsleitungen zu beiden Befragungszeitpunkten an, dass der Anteil von Personen mit ausgeprägter somatischer bzw. psychischer Komorbidität gestiegen sei.

    3.4 Reha-Konzept, Leistungsangebote und Digitalisierung

    Die Einrichtungsleitungen berichteten zum ersten Befragungszeitpunkt im Herbst 2021 von erheblichen Änderungen sowohl am Reha-Konzept als auch bei einzelnen therapeutischen Leistungsangeboten. Die Mehrheit der Einrichtungen trennte zumindest zeitweise konsequent sowohl Behandlungsgruppen (60-66 %) als auch Wohnbereiche (48-56 %). Bei gruppen­therapeutischen Angeboten wurden Gruppengrößen reduziert, Gruppen ins Freie verlagert, Ersatzangebote wie „Stillarbeit“ angeboten bzw. auf telefonische und videogestützte Einzel- und Gruppentherapie umgestellt. Auch angehörigenorientierte Interventionen wurden stark eingeschränkt bzw. auf digitale Formen umgestellt. Externe Belastungs- und Arbeitserprobungen sowie Praktika mussten aufgrund von Ausgangs- und Heimfahrtbeschränkungen sowie restriktiven Regeln bei kooperierenden Unternehmen eingeschränkt werden. Einige Reha-Einrichtungen erweiterten im Gegenzug ihre internen berufsbezogenen Angebote oder gewährleisteten einen digitalen Austausch mit externen Unternehmen. Im Sommer 2022 zum zweiten Befragungszeitpunkt wurden Änderungen am Reha-Konzept und an einzelnen therapeutischen Leistungsangeboten seltener berichtet.

    Im Herbst 2021 gaben 48 % der Leitungen von stationären Einrichtungen und 71-74 % der Leitungen der übrigen Einrichtungen an, dass sich in der Pandemie die therapeutische Beziehung verändert habe. Als Gründe wurden vorwiegend die Maskenpflicht und Abstandsregeln genannt. Reduzierte Gruppengrößen sowie mehr Einzeltherapie wurden in Hinblick auf den Aufbau einer guten therapeutischen Beziehung kontrovers beurteilt. Je nach Setting überwogen leicht negative bzw. positive Bewertungen. Die Rehabilitand:innen nahmen ihre Rehabilitation während der Pandemie subjektiv überwiegend positiv wahr. 63 % stimmten der Aussage (eher) zu, sich innerhalb der Reha-Einrichtung sicher und frei zu fühlen. Nur 12 % gaben an, dass die Therapie durch Konflikte aufgrund von Meinungsverschieden­heiten zum Thema Corona beeinträchtigt war. Allerdings berichtete gut die Hälfte der Einrichtungsleitungen im Herbst 2021, dass es wegen restriktiverer Ausgangs-, Besuchs- und Heimfahrtregeln häufig (17 %) bzw. gelegentlich (39 %) zu Konflikten mit Rehabilitand:innen oder Angehörigen kam. Lediglich etwa 7 % der Einrichtungen gaben an, dass es diesbezüglich nie zu Konflikten gekommen sei.

    Telefonische und digitale Technologien kamen in der Pandemie für zahlreiche Leistungsangebote vermehrt zum Einsatz. Am häufigsten waren telefonische Einzeltherapien verbreitet, 95 % der ambulanten und 58 % der stationären Einrichtungen berichteten dies. Zudem boten 72 % der ambulanten Einrichtungen Einzeltherapie auch videogestützt an, bei stationären Einrichtungen waren es 22 %. Ein häufiger Einsatzzweck für digitale Technologien waren auch Online-Vorgespräche vor Aufnahme (je nach Setting bei 38-45 % der Einrichtungen) und Online-Angehörigengespräche (51-56 %). Gut ein Drittel der gemischt stationär-ambulanten (35 %) und ambulanten Einrichtungen (37 %) berichtete, auch Gruppentherapien online erbracht zu haben. Telefonisch angebotene Gruppen­therapien waren hingegen selten (je nach Setting 1-14 %) (Abbildung 7).

    Abbildung 7: Nutzung telefonischer/digitaler Therapieangebote (M1, t2). Mehrfachantworten möglich

    Von den befragten Rehabilitand:innen gab ein Viertel an, telefonische bzw. digitale Angebote in Anspruch genommen zu haben, wobei die Nutzung in der ambulanten Rehabilitation (37 %) erheblich höher als in der stationären Rehabilitation (10 %) ausfiel.

    Die Implementierung von telefonischen bzw. digitalen Therapieangeboten wurde sowohl von Einrichtungsleitungen als auch Rehabilitand:innen überwiegend positiv beurteilt. 87 % der Einrichtungsleitungen fanden dies während der Pandemie als ergänzendes Angebot (eher) sinnvoll, 84 % plädierten (eher) dafür, dies auch nach der Pandemie zu ermöglichen. Zugleich gaben 75 % an, dass Vor-Ort-Angebote (eher) zu bevorzugen sind. Bei der Befragung von Rehabilitand:innen zeigten sich vergleichbare Ergebnisse.

    3.5 Behandlungsergebnisse

    Laut Deutscher Suchthilfestatistik blieb der Anteil planmäßiger Entlassungen über die Jahre 2019 bis 2021 konstant bei etwa 80 %. Gemäß Auswertungen der Deutschen Rentenversicherung ging der Anteil regulärer Entlassungen im Bereich Alkoholabhängigkeit im Jahr 2020 (62 %) im Vergleich zu 2019 (66 %) etwas zurück, stabilisierte sich jedoch 2021 (65 %) wieder annähernd. Ein vergleichbarer Befund zeigte sich für die Arbeitsfähigkeit bei Rehabilitationsende.

    Schwierigkeiten beim Entlassmanagement berichteten 77 % der stationären Einrichtungen und 43 % der Einrichtungen mit ambulantem Angebot im Herbst 2021. Im Sommer 2022 reduzierte sich dieser Anteil deutlich auf 33 % bzw. 19 % der Einrichtungen. Am häufigsten wurden Probleme bei der Weitervermittlung in Selbsthilfegruppen berichtet (je nach Setting 83-86 %). Ebenso war der Zugang in Nachsorge (41 %), in ambulante ärztliche (23-46 %) und psychotherapeutische Versorgung (36-52 %) und in berufliche Wiedereingliederungsmaßnahmen (28-51 %) während der Pandemie vielfach erschwert. Tendenziell wurden in allen drei Settings im Sommer 2022 für die meisten Weiterbehandlungsbereiche seltener besondere Schwierigkeiten berichtet. Ausnahmen stellen die ambulante ärztliche (48-55 %) und psychotherapeutische Versorgung (50-85 %) dar (Abbildung 8).

    Abbildung 8: Weiterbehandlungsbereiche, bei denen Schwierigkeiten auftraten (M1). Mehrfachantworten möglich; nur Ergebnisse n≥5 dargestellt

    Die befragten Einrichtungsleitungen berichteten sowohl von positiven als auch negativen Einflüssen auf den Behandlungserfolg. Verkleinerungen der Gruppengröße wurden am häufigsten positiv hinsichtlich des Behandlungserfolgs eingeschätzt, gefolgt von mehr Einzeltherapie und festen Gruppenkonzepten. Als negative Einflussfaktoren des Behandlungserfolgs wurden fehlende externe Belastungserprobung, Veränderungen der Ausgangs-, Heimfahrt- und Besuchsregelungen, Personalbelastungen sowie Hygiene- und Abstandsregeln genannt.

    4. Diskussion

    Es zeigten sich deutliche pandemiebedingte Auswirkungen auf die Sucht-Rehabilitation in Bezug auf Rahmenbedingungen, Personalsituation und Teamarbeit, Inanspruchnahme von Sucht-Rehabilitation sowie hinsichtlich Reha-Konzept und Ausgestaltung einzelner therapeutischer Leistungsangebote. Um das Therapieangebot bei gleichzeitig bestmöglichem Schutz von Rehabilitand:innen und Personal vor einer Corona-Infektion aufrechtzuerhalten, mussten die Sucht-Reha-Einrichtungen mit Beginn der Pandemie in kürzester Zeit umfassende Konzepte zur Hygiene und Infektionsprävention erstellen, umsetzen und regelmäßig an die aktuellen Vorgaben und die jeweilige Pandemiesituation anpassen. Damit einher gingen Veränderungen in der Teamarbeit – z. B. digital geführte Teamsitzungen, Supervisionen sowie Fort- und Weiterbildungen – sowie erhöhte berufliche und private Belastungen für das Personal.

    Die Nachfrage nach Sucht-Rehabilitation reduzierte sich in den Jahren 2020 und 2021 um jeweils etwa 10 % gegenüber 2019, allerdings fiel dieser Rückgang weniger stark aus als in der medizinischen Rehabilitation insgesamt. Hier waren Rückgänge von 18 % bzw. 15 % zu verzeichnen (Deutsche Rentenversicherung Bund, 2022). Ein Großteil der Einrichtungsleitungen rechnet kurz- bis mittelfristig mit einer steigenden Nachfrage nach Sucht-Rehabilitation, im Wesentlichen begründet durch einen pandemiebedingten Anstieg an Suchtproblematiken und als Nachholeffekt. Die gesunkene Nachfrage, die notwendige Verringerung von Behandlungsplätzen und pandemiebedingte Mehrausgaben gingen mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Reha-Einrichtungen einher. 2022 kamen Energiekrise und Inflation hinzu.

    Nahezu alle therapeutischen Leistungsangebote mussten zur Wahrung von Corona-Schutzmaßnahmen zumindest zeitweise in veränderter Form erbracht werden, beispielsweise durch Verkleinerungen von Gruppen, Verlagerungen ins Freie und durch Umstellungen auf digitale und telefonische Angebote. Dies hatte laut Einrichtungsleitungen unterschiedliche Auswirkungen auf die therapeutische Beziehung. So wurden Maskenpflicht und Abstandsregeln mehrheitlich als negativ empfunden. Es ist derzeit noch nicht eindeutig beurteilbar, ob Pandemie und Corona-Schutzmaßnahmen und damit verbundene Änderungen des Rehabilitationskonzepts und der therapeutischen Leistungsangebote Auswirkungen auf den langfristigen Behandlungserfolg haben, da Auswertungen zur Katamnese zwölf Monate nach dem Ende der Rehabilitation im Pandemiezeitraum erst begrenzt verfügbar sind. Gemäß Routinedatenauswertungen hat sich der kurzfristige Behandlungserfolg hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit zu Reha-Ende – nach einem leichten Rückgang im Jahr 2020 – im Jahr 2021 wieder auf dem Niveau vor der Pandemie stabilisiert (Erbstößer et al., 2022).

    Während der Pandemie wurden vermehrt telefonische und digitale Technologien für einzelne therapeutische Leistungsangebote eingesetzt, darunter Einzel- und Gruppentherapien sowie für Vorgespräche und angehörigenorientierte Interventionen. Dies wurde sowohl von Einrichtungs­leitungen als auch Rehabilitand:innen als ergänzendes Angebot überwiegend positiv bewertet. Grund­sätzlich werden Vor-Ort-Angebote bevorzugt. Zugleich waren sowohl Einrichtungsleitungen als auch befragte Rehabilitand:innen mehrheitlich der Meinung, dass telefonische und digitale Therapieangebote auch über die Pandemie hinaus eine sinnvolle und niedrigschwellige Ergänzung darstellen. Solche Angebote ermöglichten es den Einrichtungen zudem, in der Pandemie unter Wahrung von Corona-S­chutz­maßnahmen die therapeutische Beziehung auch bei Personen aufrechtzuerhalten, die beispiels­weise aufgrund von Krankheit oder Quarantäne nicht an Vor-Ort-Therapien teilnehmen konnten.

    Es liegt bislang wenig Evidenz vor, ob telefonische oder digitale rehabilitative Angebote genauso wirksam sind wie Vor-Ort-Angebote. Es gibt zwar vergleichende Studien zur Wirksamkeit einzelner digitaler Angebote wie ambulante Psychotherapie (Lutz et al., 2021) und Suchtberatung (Pritszens, Köthner, 2020). Jedoch existieren noch keine ausreichenden Erkenntnisse darüber, ob sich diese Ergebnisse auf komplexe Versorgungsformen wie die Sucht-Rehabilitation übertragen lassen. Weitere Wirksamkeits­untersuchungen sind wünschenswert, um den Nutzen digital erbrachter Therapieangebote besser beurteilen zu können.

    5. Fazit

    Die Einrichtungen der Sucht-Rehabilitation und ­‑Nachsorge wurden in der Pandemie vor erhebliche Herausforderungen gestellt. Durch gemeinschaftliche Anstrengungen konnten diese Herausforderungen gemeistert werden. Davon zeugen:

    • der im Vergleich zur übrigen medizinischen Rehabilitation geringere Rückgang bei der Inanspruch­nahme der Sucht-Rehabilitation,
    • die im gesamten Pandemieverlauf kontinuierliche und lückenlose Aufrechterhaltung eines niedrigschwelligen Sucht-Rehabilitations- und Nachsorgeangebots in der Fläche, teils unter Nutzung telefonischer und digitaler Technologien,
    • der allenfalls temporär reduzierte kurzfristige und langfristige Rehabilitationserfolg (soweit sich dies anhand der vorliegenden Studiendaten und weiterer Statistiken und Veröffentlichungen aktuell beurteilen lässt).

    Diese in der Pandemie gewonnenen Erfahrungen bieten Potenzial für die Weiterentwicklung der Sucht-Rehabilitation sowohl für zukünftige Krisen als auch für die Routineversorgung in postpandemischer Zeit.

    Um die Versorgung auf hohem Niveau und angepasst an die gegebenen Bedingungen auch in Krisenzeiten zu gewährleisten, ist es sinnvoll, Vorkehrungen zu treffen. Dazu zählen:

    • die Erstellung von Pandemieplänen einschließlich der kurzfristigen Einrichtung eines Krisenstabs bei Bedarf,
    • die Bereitstellung der erforderlichen technischen Ausstattung,
    • das Vorhalten von Infektionsschutzmaterialien und
    • die entsprechende Schulung der Beschäftigten.

    Zusätzlich ist es von entscheidender Bedeutung, die Erreichbarkeit und Zugänglichkeit des Suchthilfesystems für Betroffene und Angehörige auch in Krisenzeiten zu kommunizieren, um potenzielle Versorgungslücken zu vermeiden.

    In einem anderen Forschungsprojekt wurden detaillierte Handlungsempfehlungen für pandemische Krisensituationen entwickelt, die prinzipiell auch auf die Sucht-Rehabilitation übertragbar sind (Annaç et al., 2023a). Dieser Handlungskatalog ist frei zugänglich (Annaç et al., 2023b). Jedoch sollte wegen Spezifika der Sucht-Rehabilitation geprüft werden, ob gegebenenfalls Modifikationen oder Ergänzungen bei einzelnen Empfehlungen ratsam sind.

    Neben der besseren Bewältigung zukünftiger Krisensituationen lassen sich aus der Studie Möglichkeiten für eine Weiterentwicklung der Sucht-Rehabilitation in der Regelversorgung ableiten. Der bedeutendste Aspekt ist der vermehrte Einsatz digitaler Technologien. Die Pandemie wirkte als Katalysator für die Digitalisierung im Bereich der Sucht-Rehabilitation. Zum einen sind digitale Technologien für interne Prozesse wie Besprechungen, Homeoffice, Supervisionen, Fort- und Weiterbildungen sowie für die externe Kommunikation mit Vor- und Nachbehandler:innen, mit Rehabilitand:innen und deren Angehörigen nutzbar. Zum anderen ist vor allem der Einsatz für therapeutische Zwecke möglich, beispielsweise für Einzel- und Gruppentherapien sowie für angehörigenorientierte Interventionen. Die Mehrheit der Einrichtungsleitungen hält dies in Ergänzung zu Vor-Ort-Angeboten für sinnvoll, beispielsweise als niedrigschwelliges Angebot für bislang nicht ausreichend erreichte Personengruppen (z. B. ländliche Regionen, bessere Vereinbarkeit von Reha und beruflichen oder privaten Verpflichtungen wie Kinderbetreuung oder Pflege von Angehörigen). Ob digitale Technologien nach dem temporären Einsatz während der Pandemie auch langfristig in der Regelversorgung für die Erbringung von therapeutischen Leistungen in der Sucht-Rehabilitation eingesetzt werden, hängt insbesondere von der Schaffung entsprechender rechtlicher, finanzieller und organisatorischer Rahmenbedingungen und dem Nachweis vergleichbarer Behandlungserfolge ab.

    Förderhinweis:
    Die Studie wurde von der Deutschen Rentenversicherung Bund finanziell gefördert. Kooperationspartner der Studie waren der Bundesverband Suchthilfe e. V. (bus.) und der Fachverband Sucht+ e. V. Die Forschungsgruppe dankt allen Einrichtungen, die mitgewirkt haben.

    Literatur
    • Annaç, K., Fieselmann, J., Wahidie, D., Ölcer, S., Audia, A., Yilmaz-Aslan, Y., Brzoska, P. (2023a): Entwicklung eines Handlungskatalogs zur Bewältigung pandemiebedingter Herausforderungen in der medizinischen Rehabilitation aus intersektionaler Multi-Stakeholder-Perspektive. Deutsche Rentenversicherung, 78(1). 3-26.
    • Annaç, K., Fieselmann, J., Wahidie, D., Ölcer, S., Audia, A., Yilmaz-Aslan, Y., Brzoska, P. (2023b). ReCoVer-Handlungskatalog. Handlungsoptionen zur Bewältigung pandemiebedingter Herausforderungen in der medizinischen Rehabilitation aus intersektionaler Multi-Stakeholder-Perspektive. Letzter Zugriff am 01.10.2023, https://www.uni-wh.de/fileadmin/user_upload/03_G/07_Humanmedizin/03_Lehrstuehle/Versorgungsforschung/ReCoVer_Handlungskatalog.pdf.
    • Brünger, M., Burchardi, J., Jansen, E., Schall, F., Schlumbohm, A., Spyra, K., Köhn, S. (2023): Änderungen der Therapiegestaltung und Nutzung digitaler Angebote in der Sucht-Rehabilitation während der SARS-CoV-2-Pandemie – Eine bundesweite Befragung von Einrichtungsleitungen und Rehabilitand:innen. SuchtAktuell, 1/2023. 5-14.
    • Burchardi, J., Brünger, M., Schlumbohm, A., Spyra, K., Köhn, S. (2023): Rehabilitand:innen mit Abhängigkeitserkrankungen in der SARS-CoV-2 Pandemie. Eine Querschnittbefragung in der Sucht-Rehabilitation und -Nachsorge. DRV-Schriften, 128. 210-212.
    • Deutsche Rentenversicherung Bund (2020). Reha-Atlas 2020. Die Teilhabeleistungen der Deutschen Rentenversicherung in Zahlen, Fakten und Trends. Berlin, Deutsche Rentenversicherung Bund.
    • Deutsche Rentenversicherung Bund (2022). Reha-Bericht 2022. Die medizinische und berufliche Rehabilitation der Rentenversicherung im Licht der Statistik. Berlin, Deutsche Rentenversicherung Bund.
    • Erbstößer, S., Mayer, A.-K., Zollmann, P. (2022). Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen. Reha-Bericht 2022. Die medizinische und berufliche Rehabilitation der Rentenversicherung im Licht der Statistik. Berlin, Deutsche Rentenversicherung Bund.
    • Georgiadou, E., Hillemacher, T., Müller, A., Koopmann, A., Lemenager, T., Kiefer, F. (2020): Die Covid-19-Pandemie als idealer Nährboden für Süchte. Deutsches Ärzteblatt, 117(25). A1251-A1254.
    • Henkel, D., Zemlin, U. (2009). Arbeitslosigkeit und Sucht: Ein Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Frankfurt a. M., Fachhochschulverlag.
    • Hoffmann, W., Latza, U., Baumeister, S. E., Brünger, M., Buttmann-Schweiger, N., Hardt, J., Hoffmann, V., Karch, A., Richter, A., Schmidt, C. O., Schmidtmann, I., Swart, E., van den Berg, N. (2019): Guidelines and recommendations for ensuring Good Epidemiological Practice (GEP): a guideline developed by the German Society for Epidemiology. Eur J Epidemiol, 34(3). 301-317.
    • Klosterhalfen, S., Kotz, D., Kastaun, S. (2022): Did Smoking, Alcohol Consumption, and Physical Activity Change during the COVID-19 Restrictions in Germany in Spring 2020? SUCHT, 68(3). 129-138.
    • Koopmann, A. G., E., Kiefer, F., Hillemacher, T. (2020): Did the general population in Germany drink more alcohol during the COVID-19 pandemic lockdown? Alcohol and Alcoholism, 55(6). 698-699.
    • Lochbühler, K., Kühn, R., Maspero, S., Aydin, D., Hulm, M. (2021). Phar-Mon plus – Der Konsum etablierter sowie neuer psychoaktiver Substanzen in unterschiedlichen Risikopopulationen. München, Institut für Therapieforschung.
    • Lutz, W., Edelbluth, S., Deisenhofer, A.-K., Delgadillo, J., Moggia, D., Prinz, J., Schwartz, B. (2021): The impact of switching from face-to-face to remote psychological therapy during the COVID-19 pandemic. Psychother Psychosom, 90(4). 285.
    • Manthey, J., Kilian, C., Schomerus, G., Kraus, L., Rehm, J., Schulte, B. (2020): Alkoholkonsum in Deutschland und Europa während der SARS-CoV-2 Pandemie. SUCHT, 66(5). 247-258.
    • Pritszens, N., Köthner, U. (2020). Drogenhilfe in Zeiten von Corona – eine Zwischenbilanz 7. Alternativer Drogen- und Suchtbericht 2020. akzept e.V. Bundesverband und Deutsche Aidshilfe. Lengerich, Papst: 14-21.
    • Steffen, D. (2023): digARS – Effektivität der ARS unter Berücksichtigung von „digitalen“ Leistungen während der Coronapandemie. DRV-Schriften, 128. 206-207.
    • Suhren, E., von Dewitz, M., Bodemer, N., Lohmann, K. (2021). Forschungsaktivitäten zu den Auswirkungen von COVID-19 auf den Substanzkonsum, die Entwicklung von Verhaltenssüchten sowie das Suchthilfesystem. Berlin, Institut für Innovation und Technik (iit).
    Kontakt:

    Martin Brünger
    Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft
    Charité – Universitätsmedizin Berlin
    Charitéplatz 1
    10117 Berlin
    https://medizinsoziologie-reha-wissenschaft.charite.de/forschung/rehabilitationsforschung/
    rehaforschung@charite.de

    Angaben zu den Autor:innen:

    Alle Autor:innen sind am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin affiliiert.

    • Martin Brünger, Arzt, MPH, Wissenschaftlicher Mitarbeiter
    • Stefanie Köhn, Dipl.-Päd. (Rehab.), Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Jennifer Marie Burchardi, B.Sc. Physiotherapie, M.Sc. Public Health, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Dr. Anna Schlumbohm, M.A. Soziologie, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Dr. Eva Jansen, M.A. Ethnologie, Psychologie und Politik, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
    • Friedericke Schall, cand. med., Doktorandin
    • Prof. Dr. Karla Spyra, Professorin für Rehabilitationswissenschaften und Leiterin des Bereichs Rehabilitationsforschung am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft
  • Sucht ist divers

    Sucht ist divers

    Prof. Dr. Rebekka Streck

    Dass Sucht als Krankheit zu verstehen ist, scheint in der deutschsprachigen Fachwelt unstrittig. Ein solches Krankheitsverständnis beruht auf einem Diagnosesystem, in dem Symptome einer Diagnostik untergeordnet werden. Diese Praxis hat Vorteile – aber auch Nachteile. Ein Nachteil ist, dass die Diversität eines Phänomens aus dem Blick gerät.

    Im Folgenden fokussiere ich auf die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Phänomens Sucht. Ich setze das Wort „Sucht“ kursiv. Dies soll verdeutlichen, dass es sich dabei um ein gesellschaftliches Deutungsmuster handelt. Zugleich soll diese Schreibweise zeigen, dass Sucht ein offenes Konzept ist, das von Menschen – so wie den im Folgenden zitierten Gesprächspartner:innen – individuell genutzt wird. Ich spreche nicht von Abhängigkeit, weil dieser Begriff (jenseits von diagnostischen Setzungen) alltagsweltlich weniger präsent und in seiner Wortbedeutung unspezifisch ist, denn Menschen sind von sehr vielen Handlungsweisen und Stoffen abhängig.

    Nach einer kurzen kritischen Diskussion geläufiger Suchtdiagnostik werde ich einen lebensweltlichen Blick auf Sucht vorstellen, der Diversität zulässt, sogar nach ihr sucht. Hierzu werde ich anhand der Analyse von Interviews mit suchterfahrenen Menschen exemplarisch Unterschiede herausarbeiten und diese drei Kategorien zuordnen. Im Anschluss lege ich dar, welche Vorteile in einem solchen auf Diversität bezogenen Suchtverständnis liegen, im Gegensatz zu einem Verständnis, das nach Eindeutigkeit strebt. Dieser Artikel versteht sich als Teil der Wissenschaft Soziale Arbeit. Lebensweltorientierung (Thiersch u. a. 2012) ist eine der zentralen Theorien Sozialer Arbeit im deutschsprachigen Raum.

    1. Das Deutungsmuster „Sucht als Krankheit“ als Reduktion der Komplexität und Diversität

    Psychiatrisch-medizinisch geprägte Suchtdiagnostik ist gekennzeichnet durch Subsumtion (= Unterordnung). Ein Leiden, eine Beschreibung, ein Gefühl oder die Ergebnisse eines Tests werden einer Oberkategorie zugeordnet. Durch quantitative Forschung gestützte Diagnostikmanuale wie ICD-11 oder DSM-5 sollen das Diagnostizieren erleichtern, indem sie wahlweise unterschiedlich viele Aspekte benennen und festlegen, dass, wenn eine bestimmte Anzahl davon mit Ja beantwortet wird, eine Abhängigkeit oder substance use disorder vorliege (bei DSM-5 in unterschiedlicher Ausprägung). So ist medizinische Diagnostik erst einmal dadurch gekennzeichnet, dass Komplexität reduziert wird, um Kategorisierungen vorzunehmen. Dass diese Reduktion an Komplexität herausfordernd ist, wenn ein in sich konsistentes Diagnoseschema entwickelt werden soll, verdeutlicht eine rege Diskussion sowie eine kontinuierliche Veränderung von Diagnostiksystemen (vgl. bspw. Rumpf u. a. 2011, Heinz u. a. 2022).

    Ein solcher Prozess der Subsumtion prägt auch das alltagsbezogene Verständnis von Sucht. Menschen nehmen fremdes oder eigenes Handeln als abweichend und problematisch wahr und ordnen dieses dem Deutungsmuster Sucht zu. Diese alltägliche Typisierung eines Handelns als süchtig geschieht erheblich chaotischer und stärker subjektiv und kulturell geprägt, als es in der disziplinären Debatte in Psychologie und Medizin der Fall scheint. So begegnet uns Sucht ständig, im Gespräch mit der Freundin, die sich über das Computerspielverhalten ihres Freundes erregt, genauso wie in unterschiedlichsten medialen Formaten.

    Sucht ist also erstmal ein Deutungsmuster, mit dem diverse Phänomene in einen Container gepackt werden. Ein solches Deutungsmuster dient der alltäglichen oder auch der fachdisziplinären Kommunikation (vgl. Schmidt-Semisch 2010). Im sozialstaatlichen verwalterischen Umgang mit abweichendem Handeln dient es auch dazu, Zugänge zu öffentlich finanzierten Hilfemaßnahmen zu gewähren oder zu begrenzen. Es kann auch hilfreich sein, um das eigene oder fremde Handeln zu verstehen, ihm eine beispielsweise durch Medizin und Psychologie abgesegnete Bedeutung zu geben. Zugleich können solche vereinheitlichenden Deutungsmuster aber auch irreführend sein, weil möglicherweise auf subjektiver Ebene sehr unterschiedliche Erfahrungen gleichgesetzt werden. Vereinheitlichende Deutungsmuster können als einengend und stigmatisierend empfunden werden, weil die eigene Geschichte durch mächtigere Deutungen überschrieben wird (vgl. Boyd u.a. 2020).

    Eine solche Subsumtion kann auch den fachlichen Blick verstellen, so dass beispielsweise Sozialarbeiter:innen oder auch Ärzt:innen voreilig ihre Schlüsse ziehen, ohne den Einzelfall angemessen zu würdigen. Schütze (1992, S. 148 f.) sieht in dieser Paradoxie professionellen Handelns ein Risiko für Stigmatisierung und fachliche Fehleinschätzungen. In der Typisierung klammern Fachleute „sehr häufig – eigentlich empirisch durchaus vorliegende – konkrete, ‚schwierige‘ Informationen des Einzelfalls aus, die ein genaueres differenzierendes Hinsehen erforderlich machen und die automatische Anwendung von Typenkategorien verbieten würden“ (Schütze 1992, S. 149).

    2. Den lebensweltlichen Blick auf Diversitäten zulassen

    Auch wenn Sozialarbeiter:innen sich punktuell auf bio-medizinische Krankheitsverständnisse beziehen, bestimmen diese nicht ihre alltägliche Praxis. So wird in der Sozialen Arbeit eine lebensweltliche, soziale Diagnostik präferiert, die sich bspw. auf die ICF, die internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, bezieht (vgl. Hansjürgens/Schulte-Derne 2020). Darüber hinaus möchte ich im Folgenden diesem diagnostizierenden Blick einen lebensweltlichen Blick zur Seite stellen. Hier geht es um die Frage, wie Menschen, die selbst sagen, dass sie süchtig sind oder süchtige Phasen durchlebt haben, Sucht beschreiben.

    Füssenhäuser (2016, S. 214) entsprechend verstehe ich Sucht als „ein spezifisches Deutungs- und Handlungsmuster, in und mit dem Menschen/Subjekte ihr Leben gestalten“. Dieses Deutungs- und Handlungsmuster kann im Kontext der Bewältigung alltäglicher Aufgaben Handlungsoptionen eher eröffnen oder eher schließen. Funktionalität und Dysfunktionalität können auch gleichzeitig bestehen oder sich in einer dynamischen Entwicklung abwechseln.

    Diversität von Sucht kann mindestens auf vier Ebenen betrachtet werden: Erstens kann das Deutungsmuster über verschiedene Zeiten und sozio-kulturelle Orte hinweg verglichen werden. Zweitens kann es aus einer intersektionalen Perspektive analysiert werden. Wie beeinflussen bestimmte Ungleichheitskategorien (bspw. Geschlecht, ökonomische Ressourcen oder Staatsbürgerschaft) die Klassifikation eines Handelns als süchtig oder auch das Erleben und Bewältigen von süchtigen Phasen? Drittens kann Diversität auch bezogen auf die präferierten Substanzen und ihre bio-medizinischen und sozialen Eigenschaften untersucht werden. So unterscheiden sich beispielsweise Praxen und das Erleben von Alkohol-, Crack- oder Tabakkonsum oder gar exzessivem Glücksspiel erheblich. Ich werde im Folgenden eine vierte Ebene in den Fokus nehmen: Welche Unterschiede zeigen sich in den Erzählungen von suchterfahrenen Menschen?

    Mit dem Ziel, ein lebensweltliches Suchtverständnis zu entwickeln, begann ich im Oktober 2022 ein Lehr-Lern-Forschungsprojekt an der Evangelischen Hochschule Berlin. Studierende führten zehn problemzentrierte Interviews mit suchterfahrenen Menschen. Die Kontaktaufnahme erfolgte unsystematisch über das private Umfeld der Studierenden, über Praxisstellen Sozialer Arbeit sowie über Selbsthilfegruppen. Es wurden neun Männer und eine Frau interviewt. Vornehmlich konsumierten die Befragten illegale Substanzen (Cannabis, Amphetamine, Kokain oder Heroin). Sie waren zwischen 19 und 60 Jahre alt. Die Analyse wurde gemeinsam mit den Studierenden angestoßen und schließlich allein fortgesetzt und orientiert sich an dem Forschungsstil der Grounded Theory.*

    Die Interviewtexte unterschieden sich stark voneinander und waren schwer unter ein lebensweltliches Suchtverständnis zusammenzufassen. Vielmehr wurden Unterschiede deutlich, die ich im Folgenden anhand von drei Kategorien darstellen werde: Motive für fortgesetzten Konsum (1), Verknüpfung von lebensweltlichen Aspekten mit dem Konsum (2) sowie Prozessverläufe (3). Ziel der folgenden Darstellung ist es nicht, Unterscheidungskategorisierungen zu fixieren. Hierzu bedürfte es einer entsprechenden Weiterführung der Forschung. Ich möchte die Bandbreite von Erfahrungen, die mit dem Deutungsmuster Sucht verbunden werden, darstellen. Zudem ist es mir wichtig, Menschen mit Suchterfahrungen selbst zu Wort kommen zu lassen. Denn ein Blick in die deutschsprachige Forschungslandschaft verdeutlicht, dass Menschen, die von sich sagen würden, dass sie süchtig sind oder waren, bisher kaum in den Diskurs zur Frage, was Sucht ist, einbezogen werden.

    3. Suchterfahrene Menschen erzählen

    3.1 Motive für fortgesetzten Konsum: Sucht als Anpassungsversuch oder inszenierte Besonderheit

    Menschen berauschen sich mit legalen wie illegalen Substanzen. Die Gründe für den Konsum variieren: gemeinsam eine gute Zeit verbringen, Entspannung am Abend oder Intensivierung eines Erlebnisses (vgl. auch Barsch/Leicht 2014, S. 230). Auch suchterfahrene Menschen berichten von solchen Motiven. Bei den Motiven, den Konsum fortzusetzen und zu intensivieren, können mindestens zwei Begründungen unterschieden werden: Konsum als Bewältigung schwieriger Lebenssituationen einerseits und Konsum als Teil der Identitätsentwicklung andererseits.

    Daniel ist beim Interview ungefähr 30 Jahre alt. Wir haben ihn über eine Selbsthilfegruppe der Narcotics Anonymous für ein Interview gewinnen können. Er erzählt, dass er mit 19 Jahren begonnen hat, regelmäßig Cannabis zu rauchen, um sich „dicht zu machen. Das heißt, die Realität war mir zu viel.“ Er sagt: „Das Cannabis habe ich funktional genutzt, […] um mich zu betäuben.“ Er habe eine „hohe Grundanspannung“, und Cannabis habe ihm dabei geholfen, sich zu entspannen. Mit der Wirkung von Cannabis gelang es ihm, sich „freier zu fühlen und um auch tanzen zu können“ und auch „soziale Ängste“ zu bewältigen. Insofern erweitert der Konsum von Cannabis zunächst seine Handlungsmöglichkeiten, weil er sich in Situationen bewegen kann, die ihm zuvor verschlossen geblieben waren. Das Rauchen von Cannabis hilft ihm, soziale und emotionale Komplexität zu reduzieren. Der Konsum kann somit als Anpassungsversuch an soziale Anforderungen gedeutet werden.

    Konträr zu dieser Beschreibung erzählt Andreas, dass er derjenige gewesen sei, der immer „ins Extrem und dann noch einen Schritt weiter“ gegangen sei. Andreas ist zum Zeitpunkt des Interviews 30 Jahre alt. Ein Student hat über eine gemeinsame Freundin zu ihm Kontakt aufgenommen. Andreas beginnt das Interview folgendermaßen: „Also es ist relativ früh schon sichtbar geworden, 14, 15, 13 um den Dreh. Extrem extrovertiertes Verhalten. Immer so ein bisschen ins Extreme gehen müssen und so, um Aufmerksamkeit zu generieren.“ Andreas stellt seinen Drogenkonsum in den Kontext einer Selbstbeschreibung. Dieser hilft ihm aber nicht – wie Daniel –, sich sozialen Anforderungen anzupassen, sondern ermöglicht ihm, sich als besonders darzustellen. Im weiteren Verlauf des Interviews bringt er die Funktion des Drogenkonsums auf den Punkt: „Also so blöd das klingt, es war halt ein Stück von mir sozusagen, wie ich mich gegeben habe. Ich war halt Andreas, so ein bisschen das Sorgenkind. Andreas der Süchtige, was weiß ich, um den man sich kümmert und der ja voll lieb ist und den wir voll gern haben und so.“

    Sowohl Daniel als auch Andreas leben mittlerweile weitgehend abstinent. Sie beschreiben, dass sie ihren Konsum verändert haben, als diese Strategien im Kontakt zu anderen Menschen zunehmend dysfunktional wurden. Für Daniel behindert der Konsum zunehmend das angestrebte integrierte Leben (bspw. Kritik von Freund:innen, Probleme beim Lernen für die Universität). Andreas befürchtet, an einem Punkt seine Familie zu verlieren, die ihn lange begleitet hat. Sucht wird in beiden Fällen sozial kontextualisiert: als Anpassungsversuch oder inszenierte Besonderheit.

    3.2 Verknüpfung von lebensweltlichen Aspekten mit dem Konsum: Sucht als soziale Eingebundenheit oder radikales Ausblenden sozialer Einflüsse

    Eine Vielzahl von Unterschieden im Erleben des Konsums psychoaktiver Substanzen und im Erzählen davon zeigt sich auf einer zweiten Ebene. Diese Ebene entspricht dem, was mit der Akteur-Netzwerk-Theorie als „Attachements“ bezeichnet werden kann (vgl. Gertenbach 2019, Streck 2022). Menschen stellen in ihrem Alltag unterschiedliche Verknüpfungen zwischen Substanzen, Zeiten, Orten oder auch sozialen Beziehungen her. Diese Verknüpfungen prägen auch die Möglichkeiten der Veränderungen des Konsums.

    Denise ist zum Zeitpunkt des Interviews 19 Jahre alt. Eine Studentin hat über ein Jugendberufshilfeprojekt zu ihr Kontakt aufgenommen. Denise erzählt, dass sie auf der Straße gelebt hat, nachdem sie aus einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe „abgehauen“ war. Im Interview gibt es mehrere Passagen, in denen Denise das Leben auf der Straße, ihre soziale Eingebundenheit und ihren Drogenkonsum (v. a. Kokain, Speed und Ecstasy) miteinander verknüpft. So antwortet sie auf die Frage, welche Rolle ihre Freundinnen und Freunde bezogen auf den Konsum spielen: „Also dieses Motto, nach dem Motto, wenn du Drogen nimmst, geht‘s ja wieder gut so, und du bist halt so in deiner Welt so und du bist halt nicht alleine so.“ Sie stellt die Erfahrung von Gemeinsamkeit heraus: „Auch die Freunde, die dabei waren so. Die waren alle genauso verballert wie ich so. Aber es hat mir irgendwie auch gefallen, so irgendwie, dass wir alle zusammen auf demselben Film waren.“ Denise bearbeitet ihre Einsamkeitsgefühle, indem sie mit anderen Menschen illegale Substanzen konsumiert. Beides, die Wirkung der Drogen und das gemeinsame Handeln, helfen ihr bei der Bewältigung der schwierigen Lebensphase. Zugleich bietet die Gruppe auf der Straße einen Zufluchtsort in einer Zeit, in der andere Möglichkeiten der Einbindung (Jugendhilfe oder auch Kontakte zu den Eltern) konflikthaft sind.

    Denises ambivalente Haltung gegenüber dieser Eingebundenheit und ihre Erkenntnis, dass das Leben auf der Straße auch mit vielen Verletzungen und Enttäuschungen einhergeht, nimmt dieser biografischen Erfahrung nicht ihre emotionale Bedeutung und die damit erfahrene Sicherheit. Im Interview erzählt Denise, dass sie kein Verlangen hat, Drogen zu nehmen, wenn sie bei ihrem Vater ist. Für sie gibt es somit Menschen und Orte, die mit dem Konsum von Drogen verknüpft sind, und andere Menschen und Orte, mit und an denen sie keine Drogen nimmt.

    Während solche Verknüpfungen in Denises Erzählungen sehr bedeutsam sind, spielen sie in Roberts Erzählungen keine Rolle. Ihm scheint es stärker um die Wirkung der Substanz selbst und die damit einhergehenden Handlungen zu gehen. Eine Studentin hat den Kontakt zu Robert über gemeinsame Freund:innen hergestellt. Er ist 33 Jahre alt und erzählt, dass er zwischen 19 und 21 Jahren exzessiv Amphetamine genommen hat. Diese Phase, in der er „eigentlich bloß noch für die Drogen gelebt“ habe, mündete in die Einweisung ins Krankenhaus aufgrund einer psychotischen Episode, nachdem er sieben Tage wach gewesen sei.

    Seine Konsumphasen beschreibt Robert so: „Wenn man dann halt relativ viel nach einer Zeit, irgendwie so eins, zwei Gramm, wenn der Körper halt mehr aushält sozusagen. Ähm ja, wird es halt trotzdem irgendwie, ja man kriegt einen Art Tunnelblick, sowas habe ich oft beim Zocken dann gehabt, dass ich dann halt voll den Tunnelblick hatte und konnte halt wirklich die ganze Zeit irgendwie halt eine und dieselbe Sache machen. Ich habe dann zum Schluss irgendwie, drei Stunden am Stück, ohne mich zu bewegen, Solitär gezockt auf dem Handy. Das war dann halt irgendwie total der Film, ja.“

    Aus Roberts Schilderungen kann geschlossen werden, dass im Verlauf der Steigerung seines Amphetaminkonsums für ihn andere Menschen weitgehend unbedeutend waren. In diesem Ausschnitt verbindet er den Konsum mit dem Spielen eines relativ simplen Computerspiels. Beides zusammen führte zu einem „Tunnelblick“, der es ihm ermöglichte, alle andere Dinge auszublenden. Auch er verknüpft den Konsum mit einer anderen Tätigkeit. Im Gegensatz zu Denise, für die der Konsum mit sozialer Eingebundenheit einher geht, hebt Robert stärker die Bindung an die Wirkung der Substanz selbst hervor. Der Konsumkontext scheint für ihn weniger relevant.

    Mit der Hilfe eines Freundes distanziert sich Denise von ihrem sozialen Umfeld und reduziert ihren Konsum illegaler Substanzen. Robert wird nach mehreren Nächten ohne Schlaf ins Krankenhaus eingewiesen. Das Fehlen einer sozialen Eingebundenheit von Roberts Konsum begünstigt die exzessivere Konsumdynamik. In der situativen Verengung des Alltagslebens auf den Substanzkonsum zeigt sich ein deutlicher Unterschied zu Denises Suchtverhalten.

    Neben den Merkmalen von Substanzen (bspw. legal oder illegal, betäubend oder aufputschend) sind somit auch die Verknüpfungen der Konsumsituation und des sozialen Gefüges von großer Bedeutung, um spezifische Suchtdynamiken, aber auch Bedürfnisse und Sehnsüchte von Menschen zu verstehen, in deren Leben phasenweise der Konsum psychoaktiver Substanzen eine große Rolle spielt. Je nachdem, welche Aspekte miteinander verknüpft werden, kann es sein, dass Konsumveränderung begünstigt (bspw. wenn man aus einem Milieu herauswächst) oder auch erschwert wird (bspw. wenn ein Aufenthaltsort mit dem Konsum verknüpft ist).

    3.3 Prozessverläufe: Sucht als persönlicher Veränderungs- oder Normalisierungsprozess

    „Klassische“ Ergebnisse der Suchtforschung wie beispielsweise die „Subspecies of Alcoholism“ von Jellinek aus den 1960er Jahren (vgl. Kelly 2018, S. 3) oder die Analyse von Prozessen des „Herauswachsen aus der Sucht“ von Weber und Schneider (1997) zeigen, dass sich Konsummuster und Prozesse unterscheiden. Studien zu solchen Unterschieden sind jedoch immer noch marginal. Um die Bedeutung dieser Perspektive auf Sucht hervorzuheben, stelle ich die Erzählungen von Igor und Bernd dar.

    Igor ist zum Zeitpunkt des Interviews 30 Jahre alt. Der Kontakt konnte über eine Selbsthilfegruppe der Narcotics Anonymous hergestellt werden. Er beschreibt, dass er mit 13 angefangen hat, regelmäßig Cannabis zu rauchen. Er sagt, dass es seine „erste Liebe“ gewesen sei, weil es ihm in einer Phase des Hin und Her zwischen Jugendhilfe und seiner Mutter half abzuschalten. Zugleich erleichterte das gemeinsame Kiffen eine Verbindung zwischen ihm und seiner Mutter. „Das hat son bisschen die Spannung rausgenommen.“

    Mit Mitte zwanzig merkt er, dass das Kiffen das Lernen für die Ausbildung und das Fachabitur erschwert. Eine Entgiftung sowie eine Drogentherapie folgen. Erst nach der Drogentherapie, in der er neue Kontakt knüpft, beginnt er, andere illegale Substanzen auszuprobieren. Er bezeichnet diese Phase als „Experimentierorgie“. Er habe in einer recht kurzen Zeit das „Ende der Spirale schnell durchlaufen, um dann zu verstehen, dass es keine Substanz gibt, die mich irgendwie ja hält“. Es folgen die Kontaktaufnahme zu den Narcotics Anonymous und verschiedene stationäre und ambulante Therapien. „Es waren so viele Runden, dass ich das manchmal gar nicht so richtig rekapitulieren kann.“ Er stellt schließlich heraus: „Und ich würd sagen, dieses Kapitel Drogen ist auch irgendwann abgehakt für mich gewesen so. Ich hab mich jetzt ausgelebt mit der Sache und ähm bin ja jetzt auch 33.“ Rückblickend sagt er, dass seine Sucht „mein Lebensretter“ war. „Weil es war irgendwie meine intelligenteste Form, irgendwie mit dem Leben klar zu kommen.“ Zugleich sei es aber auch „Selbstzerstörung auf Raten“ gewesen, weil der Drogenkonsum seine Situation langfristig nicht verbessert habe.

    Igor erzählt seine Konsumgeschichte als Prozess, in dem der Konsum die Bewältigung schwieriger Lebenssituationen erleichtert und zugleich andere Aspekte erschwert. Im Verlauf seiner Konsumgeschichte hat er sich mit den Wirkungen verschiedener Substanzen auseinandergesetzt. Phasen des Ausprobierens, Stabilisierens, Destabilisierens und Reflektierens wechselten sich ab. Sucht scheint hier Teil eines biografisch-dynamischen Veränderungsprozesses zu sein, dessen retrospektive Bewertung ambivalent ist und damit auch als bedeutsam für die eigene Entwicklung eingeschätzt wird.

    Bernd ist zum Zeitpunkt des Interviews ungefähr 50 Jahre alt und wird von einem Studenten in einer Tagesstätte für Menschen in Substitution interviewt. Bernd erzählt, dass er als junger Mann verschiedene Substanzen im Partykontext aus Neugier probiert habe. „Sucht selber ist erst viele Jahre später durch Heroin entstanden.“ Mit ca. 30 Jahren bietet ihm ein Freund Heroin an, und dann habe sich der regelmäßige Konsum so „eingeschlichen“. Im weiteren Gesprächsverlauf wird deutlich, dass er seit ca. 20 Jahren Opiate konsumiert. Mit ca. 40 Jahren entscheidet er sich für eine Substitutionsbehandlung.

    Das Interview mit Bernd unterscheidet sich deutlich von anderen Interviews. Bernd redet ruhig und abgeklärt über seinen Drogenkonsum. Zugleich scheint es kaum größere Krisen aufgrund des Konsums gegeben zu haben. Er berichtet von kürzeren Phasen, in denen er versucht habe, nicht zu konsumieren, letztlich aber wegen der Entzugserscheinungen wieder angefangen habe. Das Rauchen von Heroin begleitet ihn durch sein Leben. Die körperliche Abhängigkeit von Opiaten stellt er schließlich als Normalität in seinem Leben heraus, mit der er sich abgefunden habe. So sagt er: „Turn selber hat man nicht mehr, sondern nur, dass man aufm normalen Level ist.“ Im Gegensatz zu Igor berichtet Bernd nicht von Therapien oder Selbsthilfegruppen, auch die Auseinandersetzung mit seinem sozialen Umfeld scheint konfliktarm. Die biografische Erzählung lässt sich so deuten, dass der Drogenkonsum in einem Prozess der Normalisierung zum alltäglichem Begleiter wird.

    Hier zeigt sich die Bandbreite der biografischen Prozesse mit und durch den Konsum illegaler Substanzen. Sucht kann eine zeitlich begrenzte biografische Phase beschreiben, genauso wie eine lebenslange Bindung an eine Substanz. Die Deutung von Drogenkonsum als Sucht kann das Resultat eines Prozesses der Bewusstwerdung oder die Interpretation körperlicher Reaktionen als Entzugserscheinungen sein. Genauso können süchtige Phasen als konflikthaft, eruptiv und als Grenzerfahrungen beschrieben werden, sie können aber auch relativ unauffällig auftreten und konfliktarm in die Arbeit am eigenen Alltag integriert werden.

    4. Chancen eines Suchtverständnisses, das Vielfalt zulässt

    Die Perspektive auf Diversitäten im Suchterleben kann Forschung und Praxis dazu anstoßen, eigene Glaubenssätze zu hinterfragen und das Erleben von Menschen und deren Erzählungen ernst zu nehmen.

    Für die Suchtforschung heißt das, weniger nach typisierenden Mustern oder Regeln zu suchen, als Unterschiede hervorzuheben. Diese Perspektive ermöglicht auch eine komplexere Analyse von Einflussfaktoren auf Suchterleben und -verläufe.

    Für die Suchthilfe heißt das, dass subjektbezogen und dialogisch gearbeitet wird. Es geht weniger darum, die eine Behandlungsform für diese oder jene Gruppe zu finden, als für jede Person erneut zu schauen, was bezogen auf ihre biografischen Erfahrungen, Deutungsmuster und ihren Alltag Unterstützung bedeuten kann. So fühlen sich Menschen in ihrer konkreten Einzigartigkeit sowie in den spezifischen sozialen Kontexten ihrer Erlebnisse ernst genommen.

    Für in der Suchthilfe beruflich tätige Menschen bedeutet die Perspektive auf Diversitäten im Suchterleben auch, sich immer wieder überraschen zu lassen und nach dem Besonderen, Neuen und Erstaunlichen Ausschau zu halten. Brown und MacDonald (2022, S. 405) plädieren für das Zulassen, Fördern und Wertschätzen von „Counternarratives“. Solche Gegenerzählungen fordern gängige Sucht-Narrative heraus und wären somit elementarer Teil einer kritischen und stigmasensiblen klinischen Sozialen Arbeit.

    Und für suchterfahrene Menschen heißt das, dass ihnen eine eigene, mitunter widersprüchlich, eigensinnige Deutung ermöglicht wird. Ihnen wird die Anstrengung erspart, sich mit den dominanten Deutungen anderer auseinandersetzen zu müssen. Die Arbeit mit lebensweltlichen Deutungen ermöglicht das Herstellen eigener Kohärenz und die Aneignung des süchtigen Erlebens unter eigenen, und nicht fremden Konditionen.

    *Ich danke den Ko-Forschenden L. Beyer, J. Bürgel, F. Dürr, L. Fink, M. Gollnick, A. Heckert, S. Hofer, A. Janz, R. Kaiser, G. Kalayeh, H. Kiesewetter, S. Kuhn, K. Müller, R. Neumann, S. Pfitzner, V. Rakow, L. Sawatzki, C. Strauß, M. Vogt, J. Wockenfuß.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Rebekka Streck
    Studiengang Soziale Arbeit
    Evangelische Hochschule Berlin
    rebekka.streck(at)eh-berlin.de

    Angaben zur Autorin:

    Prof. Dr. Rebekka Streck hat eine Professur für Sozialpädagogik und die Studiengangsleitung des Bachelorstudiengangs Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Berlin inne.

    Literaturverzeichnis:
    • Barsch, Gundula/Leicht, Astrid (2014). Drogenkonsum und Abhängigkeit/Sucht – Begrifflichkeiten und Diagnostik. In: Marc Lehmann/Marcus Behrens/Heike Drees (Hg.). Gesundheit und Haft. Handbuch für Justiz, Medizin, Psychologie und Sozialarbeit. Lengerich, Pabst Science Publishers, 226–252.
    • Brown, Catrina/MacDonald, Judy E. (2020). Counterstorying for Social Justice. In: Catrina Brown/Judy E. MacDonald (Hg.). Critical clinical social work: Counterstorying for social justice. Toronto, Vancouver, Canadian Scholars, 405–409.
    • Boyd, Susan/Ivsins, Andrew/Murray, Dave (2020): Problematizing the DSM-5 cirteria for opioid use disorder: A qualitative analysis. In: International Journal of Drug Policy (78), 1-10.
    • Füssenhäuser, Cornelia (2016). Lebensweltorientierung und Sucht. In: Klaus Grunwald/Hans Thiersch (Hg.). Praxishandbuch Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Handlungszugänge und Methoden in unterschiedlichen Arbeitsfeldern. 3. Aufl. Weinheim, Beltz Juventa, 212–220.
    • Gertenbach, Lars (2019). Die Droge als Aktant. Akteur-Netzwerk-Theorie. In: Robert Feustel/Henning Schmidt-Semisch/Ulrich Bröckling (Hg.). Handbuch Drogen in sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. Wiesbaden, Springer VS, 263–277.
    • Hansjürgens, Rita/Schulte-Derne, Frank (2020) (Hrsg.). Soziale Diagnostik in der Suchthilfe. Leitlinien und Instrumente für Soziale Arbeit. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht.
    • Heinz, Andreas/Gül Halil, Melissa/Gutwinski, Stefan/Beck, Anne/Liu, Shuyan (2022). ICD-11: Änderungen der diagnostischen Kriterien der Substanzabhängigkeit. Der Nervenarzt (1), 51–58.
    • Kelly, John F. (2019). E. M. Jellinek’s Disease Concept of Alcoholism. Addiction 114 (3), 555–559.
    • Rumpf, Hans-Jürgen/Kiefer, Falk (2011). DSM-5: Die Aufhebung der Unterscheidung von Abhängigkeit und Missbrauch und die Öffnung für Verhaltenssüchte. Sucht 57 (1), 45–48.
    • Schmidt-Semisch, Henning (2010). Doing Addiction. Überlegungen zu Risiken und Nebenwirkungen des Suchtdiskurses. In: Bettina Paul/Henning Schmidt-Semisch (Hg.). Risiko Gesundheit. Über Risiken und Nebenwirkungen der Gesundheitsgesellschaft. Wiesbaden, VS Verl. für Sozialwiss., 143–162.
    • Schütze, Fritz (1994). Strukturen des professionellen Handelns, biographische Betroffenheit und Supervision. Supervision 26, 10–39.
    • Streck, Rebekka (2022). Parkbank, Schnaps und Spritze – ethnografische Einblicke in Relationierungen von Alkohol- und Drogenkonsum mit dem Schlafen auf der Straße. In: Dierk Borstel/Jennifer Brückmann/Laura Nübold et al. (Hg.). Handbuch Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Wiesbaden, Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH; Springer VS.
    • Thiersch, Hans; Grunwald, Klaus; Köngeter, Stefan 2012: Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. In: Thole, Werner (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. Wiesbaden: VS Verlag. S. 175-196.
    • Weber, Georg/Schneider, Wolfgang (1997). Herauswachsen aus der Sucht illegaler Drogen: Selbstausstieg, kontrollierter Gebrauch und therapiegestützter Ausstieg. Berlin, VWB Verl. für Wiss. und Bildung.
  • Kooperation von Suchthilfe und Wohnungslosenhilfe

    Kooperation von Suchthilfe und Wohnungslosenhilfe

    Jane van Well
    Thomas Rasch

    In Deutschland leben derzeit etwa eine Viertelmillion Menschen ohne eigenen Mietvertrag (wohnungslose Geflüchtete nicht miteingerechnet). Wohnungslose Frauen und Männer sind sehr häufig krank: Weit mehr als die Bevölkerung mit Wohnung leiden sie unter Mehrfacherkrankungen verschiedener Art, insbesondere an psychischen Beeinträchtigungen und manifesten Suchterkrankungen. Die Mortalität ist ungleich höher. Ein wohnungsloser Mensch erreicht im Durchschnitt kaum sein 50. Lebensjahr.

    Niedrigschwellige Hilfen kümmern sich sowohl in der Suchthilfe als auch in der Wohnungslosenhilfe um Menschen mit Multiproblemlagen. Häufig agieren wesentliche Hilfsdienste von Sucht- und Wohnungslosenhilfe jedoch unverzahnt nebeneinander, statt ihre Kompetenzen zusammenzulegen und gemeinsam Menschen zu helfen, die in prekären Umständen leben. Das zeigt sich teilweise auch in der Stimmung und der gegenseitigen Einschätzung: die Wohnungslosenhilfe verhalte sich co-abhängig und die Suchthilfe lasse Wohnungslose durch zu hochschwellige Angebote außen vor.

    Zutreffend ist, dass die Schwerpunkte der Zuständigkeiten und „Aufträge“ in den beiden Hilfesystemen zunächst unterschiedlich sind: Während die Suchthilfe sich um Hilfen für Menschen mit riskantem oder missbräuchlichem Suchtmittelkonsum im Sinne einer bio-psycho-sozialen Erkrankung (vgl. Anerkennung von Alkoholismus als Krankheit im Jahr 1968 durch das Bundessozialgericht) kümmert, stehen bei der Unterstützung wohnungsloser Menschen deren soziale Schwierigkeiten in „besonderen Lebensverhältnissen“ im Vordergrund. Dazu gehören eben insbesondere fehlende Wohnmöglichkeiten. Auch die Durchsetzung von individuellen (sozialen) Rechten wohnungsloser Mensch spielt eine besondere Rolle im Hilfeverständnis der Wohnungslosenhilfe.

    Die Schnittmenge der Klientel: wohnungslos UND suchtkrank

    Zahlreiche Studien belegen, dass rund 75 Prozent der Menschen in „besonderen Lebensverhältnissen“ mit „sozialen Schwierigkeiten“ suchtkrank und/oder – wenn auch nicht diagnostiziert – seelisch beeinträchtigt sind, oftmals begründet in langjährigen Obdach- bzw. Wohnungslosigkeiten, unterschiedlich ausgeprägter Verwahrlosung und sozialer Verrohung. Dennoch scheint das Thema Abhängigkeitserkrankungen nicht immer die angemessene Berücksichtigung und Bedeutung in den Positionspapieren und Konzepten der Wohnungslosenhilfe zu finden, sieht man von sporadischen Angeboten zum „Kontrollierten Trinken“ ab, die dazu beitragen sollen, die Trinkmengen betroffener wohnungsloser Menschen zu reduzieren.

    Herangehensweise der Wohnungslosenhilfe

    Der fachliche Fokus in der Wohnungslosenhilfe bezieht sich eher darauf, die „Verarmung und soziale Ausgrenzung wohnungsloser Menschen“ zu verhindern, sowie auf deren „gesellschaftliche Integration“. Das ist absolut nachvollziehbar, wenn man den § 67 SGB XII betrachtet, der von pflichtgemäßer Leistungserbringung zur Überwindung von – durch ausgrenzendes Verhalten geprägten – „sozialen Schwierigkeiten“ bei Personen in normabweichenden „besonderen Lebensverhältnissen“ spricht, sofern jene aus eigener Kraft hierzu nicht in der Lage seien. Weiter geht aus § 67 SGB XII hervor: Sobald die Abhängigkeitserkrankung (eine nach WHO anerkannte seelische Erkrankung) im Vordergrund stünde, fiele die Bearbeitung derselben in die Leistungserbringerschaft der Eingliederungshilfe im SGB IX und damit die Klientel heraus aus der Zuständigkeit der Facheinrichtungen der Wohnungslosenhilfe, was nicht in deren Sinne ist.

    Ähnliche „Ausgrenzungstendenzen“ finden sich auch in der Suchthilfe, in deren fachlichem Fokus die Beratung, Begleitung und Behandlung von Menschen mit Substanzkonsumstörungen liegt.

    Herangehensweise der Suchthilfe

    Sozialarbeiterisch geprägte Suchthilfe beschäftigte sich lange mit ihrer eigenen therapeutischen Qualifizierung für Behandlungsmaßnahmen jeglicher Art und konzentrierte sich lange Zeit auf im weitesten Sinne behandlungswillige Klientel, deren Motivation und Veränderungsbereitschaft durch Lebenskrisen (point of no return) hervorgerufen worden war. Auf der Strecke blieben allerdings häufig die oben beschriebenen Menschen mit ihren mannigfachen Problemstellungen, denn sie sind oft nicht in der Lage, eigenständig Beratungs- und Behandlungseinrichtungen jedweder Art aufzusuchen oder einen Behandlungsplan zu absolvieren. Vielmehr bedarf es hier aufsuchender Arbeit bzw. niedrigschwelliger Suchthilfe, um überhaupt die Bereitschaft zur Annahme suchtspezifischer Hilfen zu entwickeln. Auch fehlt es nicht selten an Kooperationen der Suchthilfe mit angrenzenden Hilfegebieten der Allgemeinen Sozialberatung  und/oder der Fachberatung Wohnungslosenhilfe.

    Hiermit werden wesentliche Problemkreise deutlich, die eine gesamtgesellschaftliche soziale Herausforderung darstellen.

    Aktuelle Entwicklungen in beiden Hilfefeldern

    Der oben beschriebenen Situation begegnet die Wohnungslosenhilfe i.d.R. mit breitestmöglicher Erreichbarkeit, niedrigschwelligen Angeboten sowie einer guten Vernetzung mit kommunalen Ämtern (Soziales, Wohnung) und selten mit Blick auf gesundheitliche Belastungen des Einzelnen.

    Die Suchthilfe ist schon lang nicht mehr nur auf die Abhängigkeit von einer bestimmten Substanz bezogen, sondern fokussiert den Menschen in aktuellen Lebenssituationen oder betrachtet seinen erlernten Umgang mit gewachsenen belastenden Themen seiner Lebensgeschichte. Hier geht es also nicht mehr um die Frage „Schnaps oder Heroin?“, sondern um soziale Herausforderungen, an denen Menschen zugrunde gehen oder nicht. Dieser Verschiebung wurde in der Suchthilfe vielerorts Rechnung getragen, indem Drogenberatungsstellen, die den Fokus auf Heranwachsende legten, und traditionelle Suchtberatungsstellen, die sich eher Menschen mit „konventionellen“ Alkoholkonsumstörungen widmeten, zusammengelegt wurden. So profitierten beide Angebote voneinander: Die klassisch hochschwellig und therapeutisch ausgerichtete Beratungsstelle wurde um den niedrigschwelligen Ansatz der „Jugend- und Drogenberatung“ mit aufsuchender Sozialarbeit ergänzt. So konnte nun neben der „sprechstundentauglichen Termin-Klientel“ auch die Gruppe der verelendeten Straßenklientel, die der Einladung in Sprechstunden nicht folgen konnte, durch proaktives Aufsuchen im Rahmen der Straßensozialarbeit erreicht werden.

    Und hier wurde die große Schnittmenge beider Hilfesysteme – Sucht- und Wohnungslosenhilfe – sichtbar, sind doch viele chronisch Abhängigkeitskranke ebenfalls sozial verelendet, leben ohne eigene Wohnadresse auf der Straße und können ihren Alltag nur noch mithilfe von Suchtmitteln durchstehen.

    Möglichkeiten der Zusammenarbeit … von der Wohnungslosenhilfe her gedacht

    Menschen, deren Lebensmittelpunkt die Straße oder der Park ist, finden in den Kontaktläden der Wohnungslosenhilfe Ansprechpartner:innen für soziale Fragen, aber auch Ruheräume, Möglichkeiten der Tagesstruktur oder schlicht Grundversorgung wie Essen und Trinken sowie sanitäre Angebote. Orientiert an ihren Lebensumständen hilft dieser Personengruppe die Entwicklung von Angeboten, die auf niedrigschwelligem Niveau beginnen.

    Hier geht es vor allem darum, Menschen eine Perspektive zu geben, Selbstwirksamkeitskräfte und Ressourcen zu wecken, bspw. mit niedrigschwelligen Beschäftigungsangeboten, die Rücksicht auf die kräftezehrenden Lebensumstände der Teilnehmenden nehmen. Diese Angebote können einen hoch sinnstiftenden Effekt haben. In diesen niedrigschwelligen Angeboten können die ansonsten verschieden sozialisierten Berufsgruppen der Sucht- und Wohnungslosenhilfe gemeinsam wirken und Unterstützung schaffen.

    Möglichkeiten der Zusammenarbeit … von der Suchthilfe her gedacht

    Streetwork der Suchthilfe wurzelt historisch in der Drogenhilfe für jugendliche Konsument:innen und hat sich mittlerweile häufig für alle „User-Szenen“ auf den Straßen, in Parks und vor Bahnhöfen etabliert. Niedrigschwellige Hilfen für Konsument:innen von Suchtmitteln (Safer Use, Spritzentausch, Ernährung, Schlafangebote, Tagesstruktur etc.) dienen der existenzsichernden und gesundheitlichen Grundversorgung und damit der Sofort- und Überlebenshilfe. Diese Hilfen, die ohne Voraussetzungen in Anspruch genommen werden können, bieten gleichzeitig einen Zugang zu weiterführenden Angeboten der Suchthilfe und sind damit der Ort des niedrigschwelligsten Zugangs.

    Was bisher konkret geschah

    2013 formulierte die Caritas-Suchthilfe (CaSu) bereits das Positionspapier „Niedrigschwellige Hilfen für Menschen mit suchtbezogenen Problemlagen“, in dem sie zur Zusammenarbeit von Sucht- und Wohnungslosenhilfe aufrief. Hieran anschließend bildete sich im Auftrag der Vorstände der beiden Bundesarbeitsgemeinschaften CaSu und Katholische Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (KAG W) eine paritätisch besetzte Projektgruppe, die sich konkret mit Fragestellungen zur verbesserten Kooperation beider Hilfefelder auseinandersetzte. Ein bisheriges Ergebnis ist ein gemeinsam entwickeltes Diskussionspapier im Jahr 2021 zum „Verständnis der niedrigschwelligen Sucht- und Wohnungslosenhilfe-Angebote der Caritas“. Die Arbeit wird in einer offenen Arbeitsgruppe (AG Sucht- und Wohnungslosenhilfe) fortgeführt.

    Im intensiven Austausch dieser gemeinsamen Arbeitsgruppe zu den unterschiedlichen Positionen, Traditionen und Kulturen zweier an sich eng verwandter Arbeitsfelder zeigen sich Synergiemöglichkeiten der Fachdisziplinen, die bisher noch weitgehend ungenutzt geblieben sind.

    Ziele

    Die grundlegende Empfehlung der Arbeitsgruppe an die beiden Hilfefelder bedeutet für die Wohnungslosenhilfe, Suchtphänomene intensiver handlungsleitend wahrzunehmen, und für die Suchthilfe, ihre klinische Perspektive um die Wahrnehmung der Breite sozialer Lebenssituationen zu erweitern und den Blick über das Familiensystem hinaus auf das gesamte Umfeld zu richten. Für beide Hilfefelder gilt, ihre Angebote vor Ort, stärker als bisher, konzeptionell und strukturell, auf der Grundlage eines gemeinsamen Hilfeverständnisse und einer gemeinsamen „Sprache“ zu vernetzen.

    Ergebnisse sollen die Auflösung starrer Positionen im eigenen Feld zugunsten gegenseitiger Unterstützung und ein Gewinn an Perspektiven sein. Enge Zusammenarbeit, gelegentlich auch Fusion, zumindest aber gemeinsame Konzeptionierung von Sucht- und Wohnungslosenhilfe sind unabdingbar.

    Wenn das Ziel aller Aktivitäten der Wohlfahrtsverbände in Deutschland die Verbesserung von Lebenslagen gesellschaftlich Benachteiligter ist, so heißt dies bei der Caritas: Not sehen und Handeln. Damit ist die Zielrichtung eindeutig: Zuvorderst stehen Menschen, die sich (noch) nicht selbständig um Beendigung ihrer Notlagen kümmern können. Folglich müssen die in diesem Artikel fokussierten Hilfebedürftigen den Kern aller Bemühungen darstellen.

    Über die AG Sucht- und Wohnungslosenhilfe
    Seit 2010 beschäftigte sich ein Arbeitskreis der CaSu, bestehend aus Mitgliedern und Vorständen, mit der Problematik „Niedrigschwellige (Sucht-)Hilfen“ und verfasste 2013 ein entsprechendes Positionspapier. Hieraus ergab sich die Initiative, zudem externe Mitstreiter:innen bei der Katholischen Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (KAG-W) für eine Projektgruppe zu finden. Diese Projektgruppe fasste ihre Arbeitsergebnisse 2021 in einem Diskussionspapier zusammen. Schließlich kam es zur zeitlich unbefristeten AG Sucht- und Wohnungslosenhilfe, in der sich zweimal jährlich Praktiker:innen über ihre Erfahrungen austauschen. Geleitet wird diese AG gemeinsam von Jane van Well, Vorstandsmitglied der KAG-W, und Thomas Rasch, Vertreter des CaSu-Rates.

    Veröffentlichungen:

    Kontakt:

    Jane van Well
    SKM Köln – Sozialdienst Katholischer Männer e. V.
    Große Telegraphenstraße 31
    50676 Köln
    Jane.vanWell(at)skm-koeln.de

    Thomas Rasch
    Caritasverband für den Kreis Mettmann e. V.
    Johannes-Flintrop-Straße 19
    40822 Mettmann
    thomas-rasch(at)gmx.de

    Angaben zu den Autor:innen:

    Jane van Well ist Diplom-Sozialarbeiterin und Kriminalpräventionsfachkraft. Sie leitet beim SKM Köln (Sozialdienst Katholischer Männer e. V.) das Sachgebiet „Niedrigschwellige Hilfen“.
    Thomas Rasch ist Diplom-Sozialpädagoge und Sozialtherapeut (Integrative Suchttherapie). Bis Frühjahr 2023 verantwortete er als Bereichsleiter in der Geschäftsleitung des Caritasverbandes Mettmann u. a. die Abteilung Rehabilitation „Menschen in Krisen“.