Dem Europäischen Drogenbericht 2022 zufolge ist Heroin zwar nach wie vor das am häufigsten konsumierte illegale Opioid in Europa und die Droge, die für die meisten drogenbedingten Todesfälle verantwortlich ist. Doch geben synthetische Opioide im Hinblick auf das Drogenproblem in Europa zunehmend Anlass zur Sorge.
Synthetische Opioide werden im Gegensatz zu Opiaten (Morphin) und halbsynthetischen Opioiden (Heroin) vollständig aus Chemikalien synthetisiert. Sie sind mit pharmazeutischen Grundkenntnissen leicht herzustellen. Es handelt sich um Substanzen mit einer schmerzlindernden Wirkung, die der von Heroin und Morphin ähnelt. Die Wirkung ist allerdings viel stärker und potenter als die von Heroin und Morphin, sodass das Risiko einer Überdosierung höher ist.
Synthetische Opioide werden in der Medizin häufig zur Behandlung starker Schmerzen sowie bei der Palliativversorgung eingesetzt. Es gibt zwei separate Lieferketten für synthetische Opioide, die auf den unterschiedlichen Drogenmärkten verkauft werden: Abzweigung und Missbrauch innerhalb der legalen Lieferkette der medizinischen und veterinärmedizinischen Versorgung sowie Synthetisierung der synthetischen Opioide in illegalen Laboren für die illegale Lieferkette.
Fentanylderivate sind laut Europäischem Drogenbericht aufgrund der zentralen Rolle, die sie im nordamerikanischen Opioid-Problem spielen, besonders besorgniserregend. Weiter heißt es, es gebe jedoch auch Anzeichen dafür, dass in einigen Ländern andere synthetische Opioide vorherrschend bei den Drogenproblemen sein könnten. Die derzeitigen Überwachungssysteme dokumentierten die Trends des Konsums von synthetischen Opioiden möglicherweise nicht ausreichend, die Beobachtungskapazitäten müssten verbessert werden (Europäischer Drogenbericht 2022, S. 36).
Weiter heißt es im Europäischen Drogenbericht, dass in Europa in den Jahren 2020 und 2021 keine neuen Fentanylderivate nachgewiesen wurden, in diesem Zeitraum jedoch 15 neue synthetische Opioide entdeckt wurden, die nicht unter die Regelung zur Kontrolle von Fentanylderivaten fallen. Dazu gehörten neun potente Benzimidazol-Opioide. Hergestellt worden seien z. B. gefälschte Arzneimittel wie Oxycodon-Tabletten, die erwiesenermaßen potente Benzimidazol-Opioide enthalten. Auch gefälschte Xanax- und Diazepam-Tabletten mit neuen Benzodiazepinen wurden sichergestellt. Die Konsumierenden könnten, ohne es zu wissen, starken Substanzen ausgesetzt sein, die das Risiko tödlicher oder nicht tödlicher Überdosierungen erhöhen können (Europäischer Drogenbericht 2022, S. 38).
Toolkit für das Gesundheitswesen
Das europäische Forschungsprojekt „Stärkung der Reaktionsbereitschaft von Gesundheitssystemen auf den potenziellen Anstieg der Prävalenz und des Konsums von synthetischen Opioiden“ (Strengthening Synthetic Opioids Health Systems‘ Preparedness to respond to the Potential Increases in Prevalence and Use of Synthetic Opioids) hat ein Toolkit mit Schlüsselstrategien zur Bekämpfung der mit synthetischen Opioiden verbundenen negativen Folgen (SO-PREP) entwickelt. Ziel des Projektes ist, den Verantwortlichen im öffentlichen Gesundheitswesen Angebote, Informationen und praktische Hilfen an die Hand zu geben, um den spezifischen Herausforderungen im Umgang mit synthetischen Opioiden zu begegnen. Das Toolkit enthält Empfehlungen und Anleitungen zu sieben Schlüsselstrategien:
Frühwarnsysteme
Internet-Monitoring
E-Health
Drug-Checking
Drogenkonsumräume
Naloxon
Opioid-Agonisten-Therapie
Frühwarnsysteme
Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) und die Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden (Europol) arbeiten seit 1997 mit Unterstützung der EU-Mitgliedstaaten, der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) und der Europäischen Kommission (EK) zusammen, um das Risiko neu aufkommender Drogen auf dem europäischen Drogenmarkt zu überwachen und zu bewerten und ein Frühwarnsystem einzurichten. Ende 2020 überwachte die EBDD rund 830 Neue psychoaktive Substanzen (NPS), von denen 67 zu den synthetischen Opioiden gehörten. Doch in vielen europäischen Ländern gibt es Defizite beim zeitnahen Austausch aktueller Informationen. Daher besteht die größte Herausforderung darin, die Zusammenarbeit sowie die systematische Datenerfassung und den Informationsaustausch zwischen allen relevanten Partnern sowohl auf nationaler als auch auf lokaler Ebene zu stärken (vgl. Abbildung 1). Für einen schnellen Datenaustausch werden nationale Datenbanken und digitale Plattformen benötigt. Auch die Koordination, Implementierung und Evaluierung von Daten sowie die Berichterstattung darüber sollten für ein funktionierendes Frühwarnsystem zu synthetischen Opioiden optimiert werden.
Abb. 1: Voraussetzungen für ein funktionierendes Frühwarnsystem
Internet-Monitoring
Die Überwachung im Internet beinhaltet das Monitoring von Daten zu
Suchverhalten
Austausch über Drogen
Nutzererfahrungen
Drogenmärkte und Drogenangebot
sowohl im Clearnet (öffentliches Internet) als auch im Deep-Web (nur mit Anonymisierungssoftware zugängliches Web, darunter das Darknet). Für den Handel mit synthetischen Opioiden werden Kanäle wie Google Trends, Instagram, Twitter, Facebook, Chatrooms, Kryptomärkte sowie Diskussionsforen im Clearnet und Darknet genutzt. Mithilfe eines Online-Monitorings können Mechanismen innerhalb dieser Plattformen sowie die Entwicklung von Angebot und Nachfrage überwacht werden. Das liefert Erkenntnisse, die durch traditionellere Forschungsmethoden wie z. B. Umfragen nicht gewonnen werden können.
E-Health
Obwohl das Forschungsinteresse zu E-Health-Angeboten bei Substanzstörungen in den vergangenen Jahren stark zugenommen hat, sind digitale Informations- und Kommunikationstechnologien wie Telemedizin und Apps für Drogenkonsumierende noch relativ begrenzt. Realisierbar sind geeignete E-Health-Maßnahmen für die drei Säulen der Drogenpolitik
Prävention,
Therapie und
Schadensminimierung.
Wie wirksam digitale Präventionsmaßnahmen für Konsumierende von synthetischen Opioiden sein können, zeigt das finnische Online-Portal Päihdelinkki (https://paihdelinkki.fi/) mit seinem Informationsangebot zu Drogenkonsum und Drogenentwöhnung. E-Health-Apps können als alternativer Ansatz genutzt werden, um Klient:innen zu einer Therapie zu bewegen und langfristig zu motivieren. In der Telemedizin ist MySafeRx (https://www.c4tbh.org/program-review/mysaferx/) eine Plattform für Mobilgeräte, die Text- und Videokommunikation anbietet und es den Patient:innen ermöglicht, ein Medikament unter Aufsicht einzunehmen.
E-Health-Angebote können nicht nur den Zugang zu bereits existierenden Maßnahmen wie Drug-Checking und Drogenkonsumräumen vereinfachen, sondern auch den Weg für neue, innovative Methoden der Schadensminimierung ebnen. So bietet die app-gestützte Begleitung von Konsumierenden via Telefonbetreiber oder Biofeedback eine Art virtuellen Drogenkonsumraum, in dem sich die Drogengebraucher:innen sicherer fühlen können.
Drug-Checking
Drug-Checking ist ein Angebot an Drogenkonsumierende. Anonym können sie Proben von illegal erworbenen Drogen chemisch analysieren lassen, ohne Strafverfolgung befürchten zu müssen. Sobald die Ergebnisse der Analyse vorliegen, werden die Informationen zu den Inhaltsstoffen und zur Reinheit der Drogenprobe übermittelt. In der Regel gehören Hinweise zur Schadensminimierung, eine Beratung und Kurzinterventionen zu dem Angebot dazu. In Deutschland ist Drug-Checking inzwischen durch Träger der Jugend- und Drogenhilfe in Kooperation mit zur Betäubungsmittelanalyse befähigten Laboren rechtlich abgesichert. Der Deutsche Bundestag hat am 23. Juni 2023 im Betäubungsmittelgesetz (BtMG) die gesetzlichen Grundlagen für das Drug-Checking-Modellvorhaben geschaffen. Das im BtMG verankerte Verbot von Drug-Checking in Drogenkonsumräumen wurde aufgehoben. Berlin macht seit April 2023 erste Erfahrungen in einem Modellprojekt. Hessen und Baden-Württemberg wollen folgen, andere Bundesländer beraten noch.
Da der illegale Drogenmarkt äußerst dynamisch ist, müssen Drug-Checking-Dienste sich kontinuierlich weiterentwickeln, um neuen Bedrohungen wie synthetischen Opioiden gewachsen zu sein. Möglich sind sowohl stationäre Angebote an festen Standorten als auch mobile Angebote, z. B. bei Festivals oder großen Partys. Um mit Drug-Checking gute Ergebnisse zu erzielen, empfehlen sich Handlungsleitfäden. Darin sollten die Zuständigkeiten des Personals, die Qualitätsanforderungen und vor allem die standardmäßigen Schutz- und Sicherheitsvorschriften beim Umgang mit Drogenproben, insbesondere mit hochpotenten Substanzen wie Fentanyl und seinen Analoga, beschrieben werden. Die Laborergebnisse aus dem Drug-Checking können wichtige Informationen für das Frühwarnsystem liefern.
Drogenkonsumräume
Seit 1986 wirken sich Drogenkonsumräume positiv auf Gesundheit und Lebensqualität drogenkonsumierender Menschen aus. Hinsichtlich Prävention und Intervention haben sie eine Schlüsselrolle. Sie bieten eine überwachte, hygienische und sichere Umgebung für den Konsum – auch von synthetischen Opioiden. Mitarbeitende klären über Substanzen und sichere Konsumpraktiken auf. Sie entwickeln Strategien für den Umgang mit Überdosierungen und setzen diese um. So tragen Drogenkonsumräume dazu bei, die Selbstfürsorge und Selbstregulierung von Konsumierenden zu verbessern.
Bei einem starken Anstieg des SO-Konsums müssen die Maßnahmen, Ressourcen und Regelungen in Drogenkonsumräumen angepasst werden. Die Mitarbeitenden müssen sich zusätzliches Fachwissen und Kompetenzen aneignen, um die Sicherheit zu fördern. Fentanyl und andere synthetische Opioide, die zum Strecken von Substanzen verwendet werden, können nicht nur in Opioiden, sondern auch in Stimulanzien vorkommen. Wichtig ist auch, dass Kenntnisse über die Risiken verschiedener Substanzkombinationen vermittelt werden.
Mitarbeitende der Drogenkonsumräume können für das Frühwarnsystem Echtzeit-Daten zur Überwachung des Drogenmarktes liefern. So können Konsumierende, Anbieter von Diensten zur Schadensminimierung, Fachleute des öffentlichen Gesundheitswesens, Wissenschaftler:innen und Strafverfolgungsbehörden zeitnah über hochpotente oder verunreinigte Drogenchargen informiert und davor gewarnt werden.
Naloxon
Der Konsum hochpotenter synthetischer Opioide kann sehr schnell und völlig unvorhergesehen zu einer lebensbedrohlichen Überdosierung, irreversiblen gesundheitlichen Schäden und zum Tode führen. Naloxon ist ein einfacher und sicherer selektiver Opioidrezeptor-Antagonist, der die Wirkung eines Opioids am Rezeptor blockiert und dadurch die Intoxikation aufhebt. Das synthetische Opioid Fentanyl ist schätzungsweise 100-mal stärker als Morphium. Eine Dosis von zwei Milligramm reicht bereits aus, um einen erwachsenen Menschen zu töten. Angesichts dieser Wirkstärke ist eine viel höhere Naloxondosis erforderlich, um eine Überdosis von synthetischen Opioiden zu bekämpfen, als z. B. bei einer Heroinüberdosis.
Naloxon muss breiter verfügbar gemacht werden, da es eine der Schlüsselstrategien zum Schutz vor der wachsenden Bedrohung durch synthetische Opioide ist (siehe hierzu das Positionspapier „Naloxon rettet Leben. Empfehlungen zu Take-Home-Naloxon“). Bisher ist das Medikament in Deutschland rezeptpflichtig. Doch sollte es rezeptfrei erhältlich sein oder zumindest von entsprechend befugten Drogendiensten rezeptfrei abgegeben werden. Es ist wichtig, dass Fachkräfte und Laien wie z. B. Drogenkonsumierende in Schulungen lernen, wie sie im Fall einer Überdosis reagieren sollten und wie das Naloxon zu verabreichen ist. Besonders wichtig sind dabei Peer-to-Peer-Programme.
Die Peer-Schulungen zum Umgang mit Opioidüberdosierungen können Folgendes beinhalten:
Ursachen und Risikofaktoren für eine Überdosierung
Erkennen von Anzeichen und Symptomen einer Überdosierung (einschließlich der Unterschiede zwischen einer Überdosierung durch Stimulanzien, Heroin, Fentanyl oder andere synthetische Opioide)
Begutachtung und Behandlung von Betroffenen
adäquate lebenswichtige Unterstützung, einschließlich Wiederbelebung und Beatmung
Informationen zur Wirkung von Naloxon
Nebenwirkungen und Überwachung nach der Verabreichung von Naloxon
mögliches Risiko aggressiven Verhaltens
häufige Fehlannahmen zur Überdosisprävention
rechtlicher Rahmen zum Umgang mit Naloxon für die Zielgruppen: Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen und der Strafverfolgung (Polizei)
Auch sollte sichergestellt sein, dass Naloxon Ersthelfer:innen wie Polizei oder Krankenwagenpersonal und in Notaufnahmen zur Verfügung steht und angemessen eingesetzt wird.
Opioid-Agonisten-Therapie
Mit der Opioid-Agonisten-Therapie (OAT) – auch Opioid-Substitutionstherapie (OST) bzw. medikamentengestützte Therapie genannt – werden Opioidabhängige behandelt. Zwei der am häufigsten verwendeten Medikamente sind Methadon und Buprenorphin. Diese morphinähnlichen Substanzen wirken wie natürliche Opiumextrakte. Sie werden je nach Bedarf der behandelten Person für kurze oder lange Behandlungszeiträume verschrieben. Die Therapie hat dann die größte Aussicht auf Erfolg, wenn sie mit Maßnahmen wie Beratung, soziale Unterstützung, Überwachung des Substanzkonsums sowie Aufklärung und Rückfallprävention kombiniert wird.
Zu den operativen Risiken der OAT für Menschen, die synthetische Opioide konsumieren, gehören Rückfälle, Abzweigung und Missbrauch der Medikamente sowie Überdosierungen. Bei der Umsetzung der OAT für Konsumierende von synthetischen Opioiden sind eine routinemäßige Kontrolle und Evaluierung, qualifiziertes ärztliches Personal und Take-Home-Medikation wichtig. Gleichzeitig muss auf schwere Infektionskrankheiten und die Lebensqualität der behandelten Personen geachtet werden. Ein gut funktionierendes OAT-System kann einen wirksamen Schutzmechanismus im Kampf gegen den illegalen Opioidmarkt bieten. Die OAT ist nach wie vor der wichtigste Ansatz zur Behandlung von Konsumstörungen im Zusammenhang mit Opioiden und synthetischen Opioiden.
Fazit
Um die komplexen Herausforderungen im Kontext von synthetischen Opioiden zu bewältigen, reichen ein einzelner Ansatz sowie herkömmliche Maßnahmen nicht aus. Neue und innovative Ansätze wie Drug-Checking, E-Health und Internet-Monitoring sind notwendig, um etablierte Maßnahmen wie die OAT zu ergänzen. Da jede Maßnahme ihre Schwachstellen hat, liegt der Schlüssel zum Erfolg in der Kombination und Integration verschiedener Ansätze.
Anmerkung des Autors: Für die textliche Unterstützung danke ich Wissenschaftsjournalistin Ursula Katthöfer (textwiese.com) sehr herzlich.
Kontakt:
Prof. Dr. Heino Stöver, Dr. Babak Moazen
Frankfurt University of Applied Sciences
Institut für Suchtforschung (ISFF)
hstoever(at)fb4.fra-uas.de
Angaben zum Autor:
Prof. Dr. Heino Stöver leitet den Studiengang „Suchttherapie und Sozialmanagement in der Suchthilfe“ des Instituts für Suchtforschung (ISFF) an der Frankfurt University of Applied Sciences.
Literatur:
Institut für Suchtforschung an der FRA-AUS (ISFF) und akzept e.v. (Hg.): SO-PREP, Toolkit mit Schlüsselstrategien zur Bekämpfung der mit synthetischen Opioiden verbundenen negativen Folgen, Frankfurt 2023, www.akzept.eu/publikationen
Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (2022), Europäischer Drogenbericht 2022: Trends und Entwicklungen, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg 2022, doi:10.2810/541855
Menschen mit Suchterkrankungen haben im Anschluss an eine Entzugsbehandlung – bei Erfüllung der Zugangsvoraussetzungen – grundsätzlich Anspruch auf eine Entwöhnungsbehandlung („Suchtrehabilitation“) als Antragsleistung, wobei sich die Maßnahme möglichst nahtlos an den qualifizierten Entzug anschließen soll. Neben einer nachhaltigen Konsummengenreduktion (i. d. R. mit dem Ziel der Abstinenz) wird bei Entwöhnungsbehandlungen großer Wert auf eine psycho-soziale Stabilisierung der Behandelten und die Förderung ihrer beruflichen und sozialen Teilhabe gelegt (Deutsche Rentenversicherung, 2017; Verband der Ersatzkassen (vdek), 2001).
Der gesamte Rehabilitationssektor – und damit auch die Suchtrehabilitation – ist traditionell durch stationäre Maßnahmen geprägt. Allerdings mehrten sich in den vergangenen 20 Jahren Stimmen, die eine konsequentere Umsetzung des gesundheitspolitischen Leitsatzes „ambulant vor stationär“ im Rehabilitationssektor forderten und sich für den Ausbau stationsersetzender Angebote aussprachen (Hibbeler, 2010; Kalinka, 2003; Karoff, 2003; Seitz et al., 2008). Im Zuge dieser Tendenzen wurde auch bei Abhängigkeitserkrankungen die Rolle ambulanter bzw. ganztägig ambulanter Angebote u. a. auf Grundlage gemeinsamer Rahmenvereinbarungen der Deutschen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung gestärkt (Deutsche Rentenversicherung, 2008; Deutsche Rentenversicherung, 2011).
Zugleich wurde klargestellt, dass ambulante und stationäre Suchtrehabilitation nicht automatisch austauschbare Angebote darstellen. Vielmehr bestimmen medizinische Aspekte (Schwere der Störung, Komorbiditätsprofil), soziale Aspekte (Teilhabe, Unterstützung durch das Umfeld) und infrastrukturelle Aspekte (Erreichbarkeit), ob eine ambulante Entwöhnungsbehandlung im konkreten Einzelfall in Erwägung zu ziehen ist (Deutsche Rentenversicherung, 2001).
Einzelstudien bestätigen, dass ambulante und stationäre Entwöhnungsbehandlung tatsächlich unterschiedliche Zielgruppen erreichen (Preuss et al., 2012), eine systematische Gegenüberstellung der Klientel beider Behandlungsformen hinsichtlich soziodemographischer und behandlungsbezogener Parameter auf einer breiten Datengrundlage fehlt aber bislang.
2 Methodik
Dieser Artikel baut auf dem Kurzbericht 2023/I der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS) auf (Künzel et al., 2023) und erweitert die dort vorgenommene beschreibende Darstellung um statistische Verfahren, die Aufschluss geben, inwieweit Unterschiede zwischen der Klientel, die eine ambulante, und der Klientel, die eine stationäre Rehabilitation erhalten hat, als „auffällig“ einzustufen sind. Maßnahmen aus dem Bereich der ganztägigen ambulanten Rehabilitation bleiben unberücksichtigt.
2.1 Datenquelle
Die analysierten Daten stammen aus der Routineerhebung der DSHS im Datenjahr 2021. Die DSHS basiert auf einer großzahligen Gelegenheitsstichprobe ambulanter und stationärer Suchthilfe-Einrichtungen, die ihre Arbeit entsprechend den Vorgaben des Kerndatensatzes zur Dokumentation in der Suchtkrankenhilfe (KDS; aktuelle Version KDS 3.0) (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), 2022) mittels zertifizierter Softwareprogramme dokumentieren. Die Daten werden in den Einrichtungen fallbezogen erhoben, anhand bestimmter Gruppierungskriterien gebündelt und als Aggregatdaten dem IFT Institut für Therapieforschung in München zur Verfügung gestellt. Detaillierte Informationen zu den Erhebungsmechanismen und Datenflüssen wurden an anderer Stelle publiziert (Schwarzkopf et al., 2020).
2.2 Stichprobenselektion
Die hier präsentierten Auswertungen basieren auf der Gegenüberstellung der beiden Stichproben („Läufe“) „Fälle mit Hauptmaßnahme Stationäre Medizinische Rehabilitation“ (STR) sowie „Fälle mit Hauptmaßnahme Ambulante Medizinische Rehabilitation“ (ARS). Als Hauptmaßnahme gilt dabei diejenige Maßnahme, die die jeweilige Behandlungsepisode dominiert hat. Um bestmögliche Vergleichbarkeit der beiden Stichproben sicherzustellen, wurde jeweils die Bezugsgruppe der „Zugänge und Beender“ herangezogen. Somit gehen in die Auswertung nur Daten von Fällen ein, die im Jahr 2021 begonnen bzw. beendet wurden.
Bei der Selektion wurde, den Standards der DSHS entsprechend, eine Missingquote von 33 % angesetzt. Demnach sind für jeden Auswertungsparameter nur Daten derjenigen Einrichtungen berücksichtigt, bei denen für den jeweiligen Parameter maximal 33 % der Angaben fehlen. Dies erhöht einerseits die Datenqualität, da Einrichtungen, die für einen entsprechenden Parameter viele Fehlwerte aufweisen, nicht in die Auswertungen eingehen, führt aber andererseits dazu, dass sich die Fallzahl von Parameter zu Parameter unterscheidet. Die Fallzahlen sowie die Anzahl der für die einzelnen Parameter datenliefernden Einrichtungen werden daher zusammen mit den Missingquoten jeweils ausgewiesen.
2.3 Zielparameter
Zunächst wurde die Zahl der Einrichtungen, die ARS bzw. STR als Hauptmaßnahme durchgeführt haben, sowie die Zahl der ARS- bzw. STR-Fälle deskriptiv gegenüberstellt.
Anschließend wurde die in ARS und STR behandelte Klientel hinsichtlich soziodemographischer (Geschlechterverteilung, Altersstruktur, Elternschaft, Schulabschluss, Arbeitslosigkeit), störungsbezogener (Alter bei Erstkonsum, Konsumhäufigkeit bei Maßnahmenbeginn, dokumentierte Problembereiche) und behandlungsbezogener Parameter (Haltequote, Behandlungserfolg) verglichen. Hierfür wurde für soziodemographische und störungsbezogene Parameter auf Informationen aus der Stichprobe „Zugänge“ zurückgegriffen und für behandlungsbezogene Parameter auf Informationen aus der Stichprobe „Beender“. Auch dies trägt zu unterschiedlichen Fallzahlen bei.
Zur Berücksichtigung der Altersstruktur wurde neben dem Durchschnittsalter die Verteilung der Fälle über die Kategorien „unter 30 Jahre“, „30 bis 49 Jahre“ und „50 Jahre und älter“ abgebildet. Der binär kodierte Parameter Elternschaft erfasst, ob die Behandelten eigene minderjährige Kinder haben. Für den Parameter Schulabschluss wurden die Ausprägungen „Abitur“ und „Schulabbruch“ dichotomisiert ausgewertet. Konsumhäufigkeit adressiert die Anzahl an Konsumtagen in den 30 Tagen vor Antritt der Maßnahme und berücksichtigt neben dem Durchschnittswert auch die Verteilung der Klientel über die Kategorien „kein Konsum“, „1 bis 6 Konsumstage“, „7 bis 15 Konsumstage“, „16 bis 28 Konsumtage“ und „(fast) täglicher Konsum“. Die dokumentierten Problembereiche benennen Bereiche des täglichen Lebens, die bei Behandlungsbeginn beeinträchtigt waren. Der Parameter Haltequote adressiert den Anteil planmäßig beendeter Behandlungen, wobei die unterschiedlichen Gründe einer plan- bzw. unplanmäßigen Beendigung differenziert erfasst werden. Als Behandlungserfolg gelten in Einklang mit den Standards der DSHS Behandlungen, an deren Ende sich die Suchtproblematik im Vergleich zur Ausgangssituation verbessert hat bzw. unverändert geblieben ist.
2.4 Auswertungen
Die Auswertungen konzentrieren sich auf eine Gegenüberstellung von ARS- und STR-Fällen aufgrund von alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen, wobei die Klassifikation der zu Grunde liegenden Störungen gemäß der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) erfolgt (Dilling et al., 2015). Hierbei werden sowohl Fälle mit Abhängigkeitssyndrom als auch Fälle mit missbräuchlichem Konsum der jeweiligen Substanzen berücksichtigt, wobei DSHS-Auswertungen beide Ausprägungen nicht differenzieren, sondern gemeinsam berichten. Die Schwerpunktsetzung auf Alkohol- (ICD-10 F10) und Cannabinoidkonsumstörungen (ICD-10 F12) ist mit ihrer empirischen Relevanz in ARS und STR begründet.
Aufgrund der aggregierten Daten können in der DSHS nur einfache Gruppenvergleiche vorgenommen werden. Eine modelltechnische Mitberücksichtigung weiterer Erklärungsfaktoren bei der Interpretation der Unterschiede ist nicht möglich. Somit wurden für kontinuierliche Daten Mittelwertsvergleiche anhand von t-Tests durchgeführt. Für Anteilswerte erfolgten Chi²-Tests. Hierbei wurden in die Grundgesamtheit auch Fälle mit der Variablenausprägung „unbekannt“ einbezogen. Aufgrund der hohen Sensitivität der beiden statistischen Tests und der großen Fallzahlen wurde ein Signifikanzniveau von p < 0,01 festgelegt, um das Risiko einer Überinterpretation kleiner Ausprägungsunterschiede zu minimieren.
Alle Auswertungen und Datenvisualisierungen wurden mit Hilfe der Statistik-Tools von Microsoft Excel vorgenommen.
3 Ergebnisse
3.1 Fallzusammensetzung
328 Einrichtungen haben Falldaten zu ARS als Hauptmaßnahme und 107 Einrichtungen Falldaten zu STR als Hauptmaßnahme geliefert. ARS wurde überwiegend in ambulanten Suchthilfe-Einrichtungen (n = 309 Einrichtungen) und STR nahezu ausnahmslos in stationären Suchthilfe-Einrichtungen (n = 104 Einrichtungen) erbracht. Das Fallvolumen der STR war mit 24.508 Zugängen bzw. 26.985 Beendern rund fünfmal so hoch wie das der ARS mit 4.871 Zugängen bzw. 5.469 Beendern.
Informationen zur Hauptdiagnoseverteilung lagen für 322 Einrichtungen mit ARS-Angebot sowie für alle 107 Einrichtungen mit STR-Angebot vor, wobei in ARS häufiger keine Hauptdiagnose dokumentiert wurde (n = 293 Fälle; 6,1 %) als in STR (n = 387 Fälle; 1,6 %; p-Wert < 0,0001). Alkoholbezogene Störungen dominierten jeweils die Fälle mit Hauptdiagnose (ARS: n = 3.103 Fälle; 69,0 % | STR: n = 15.711 Fälle; 65,2 %; siehe Abbildung 1). In ARS wie auch in STR folgten an zweiter Stelle Behandlungen aufgrund von cannabinoidbezogenen Störungen (ARS: n = 406 Fälle; 9,0 % | STR: n = 2.342 Fälle; 9,7 %). An dritter Stelle stand in ARS das Pathologische Spielen (n = 325 Fälle; 7,2 %), das in STR den siebten Rang einnahm (n = 445 Fälle; 1,8 %). Hier bildete Multipler Substanzmissbrauch den dritthäufigsten Behandlungsanlass (n = 2.085 Fälle; 8,6 %), der in ARS an sechster Stelle stand (n = 131 Fälle; 2,9 %). Auf Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von Störungen durch den Konsum von Flüchtigen Lösungsmitteln, Tabak oder Halluzinogenen entfiel jeweils nur ein geringer Anteil. Gleiches gilt für Exzessive Mediennutzung.
3.2 Klientelcharakteristika
a) Soziodemographie
Die aufgrund von alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen behandelte ARS-Klientel unterschied sich hinsichtlich soziodemographischer Charakteristika systematisch von der STR-Klientel (siehe Tabelle 1). Bei beiden Konsumstörungen war die ARS-Klientel im Mittel älter und es fand sich ein geringerer Anteil an unter 30-Jährigen. Zudem lebte die ARS-Klientel jeweils seltener allein, hatte ein höheres Bildungsniveau (Abiturquote höher, Schulabbruchquote geringer) und war häufiger an den Arbeitsmarkt angebunden (Erwerbstätigkeit häufiger, Arbeitslosigkeit seltener). Für Rehabilitationsmaßnahmen aufgrund von alkoholbezogenen Störungen fand sich in ARS zudem ein höherer Anteil an Frauen und an Eltern minderjähriger Kinder.
b) Störungsbezogene Parameter
Der Erstkonsum von Alkohol bzw. Cannabinoiden erfolgte bei der ARS-Klientel und der STR-Klientel ähnlich früh, jedoch waren die ARS-Fälle bei Störungsbeginn im Mittel älter (siehe Tabelle 1). ARS wurde häufiger abstinent angetreten als STR, zugleich waren die drei Konsumklassen „7 bis 15 Tage“, „16 bis 28 Tage“ und „fast täglich“ schwächer besetzt (höchste Klasse bei cannabinoidbezogenen Störungen nicht signifikant). Für ARS-Fälle mit alkoholbezogenen Störungen ließen sich zudem im Mittel weniger Konsumtage im Monat vor Maßnahmenantritt beobachten.
c) Dokumentierte Problembereiche
Grundsätzlich wurde in ARS seltener eine Beeinträchtigung verschiedener Lebensbereiche dokumentiert als in STR, wobei die entsprechenden Unterschiede für beide Konsumstörungen meist signifikant waren (siehe Abbildung 2). Lediglich psychische Probleme (alkoholbezogene Störungen: ARS = 67,9 %; STR = 71,8 %; p = 0,02 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 71,0 %; STR = 79,0%; p = 0,09) und familiäre Probleme (alkoholbezogene Störungen: ARS = 54,7 %; STR = 51,8 %; p = 0,05 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 53,4 %; STR = 62,9 %; p = 0,03) wurden in ARS und STR jeweils ähnlich häufig erfasst.
3.3 Behandlungsergebnisse
Grundsätzlich endeten Entwöhnungsbehandlungen überwiegend planmäßig, wobei die Haltequote bei ARS und STR jeweils ähnlich war (siehe Abbildung 3). In wenigen Fällen wurde nicht dokumentiert, ob die Maßnahme planmäßig oder unplanmäßig endete, ohne dass diesbezüglich systematische Unterschiede zwischen ARS und STR bestanden (alkoholbezogene Störungen: ARS = 2,8 %, STR = 0,2 %; p = 0,16 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 2,3 %, STR = 0,3 %; p = 0,68).
Betrachtet man die Anlässe einer planmäßigen Beendigung, so kam es in ARS jeweils häufiger als in STR zur Beendigung nach Behandlungsplan (alkoholbezogene Störungen 80,2 % vs. 73,8 %; p = 0,0003 | cannabinoidbezogene Störungen 80,1 % vs. 57,5 %; p < 0,0001) und seltener zu planmäßigen Wechseln in andere Einrichtungen (alkoholbezogene Störungen 5,1 % vs. 12,6 %; p < 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen 5,8 % vs. 17,9 %; p < 0,0001). Bei Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von alkoholbezogenen Störungen fanden sich in ARS zudem häufiger vorzeitige Beendigungen mit ärztlichem / therapeutischem Einverständnis (8,8 % vs. 7,3 %; p = 0,008) und bei cannabinoidbezogenen Störungen seltener Beendigungen auf ärztliche / therapeutische Veranlassung (7,6 % vs. 15,4 %; p = 0,0003).
In Bezug auf eine unplanmäßige Beendigung waren disziplinarische Beendigungen in ARS seltener als in STR (alkoholbezogene Störungen 10,7 % vs. 17,5 %; p = 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen 9,8 % vs. 27,9 %; p = 0,003). Zudem kam es bei Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von cannabinoidbezogenen Störungen in ARS häufiger zu außerplanmäßigen Einrichtungswechseln (17,1 % vs. 2,7 %; p < 0,0001) und bei Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von alkoholbezogenen Störungen gab es in ARS mehr Todesfälle (2,7 % vs. 0,1 %; p < 0,0001).
Im Zuge der Entwöhnungsbehandlung wurde bei beiden Konsumstörungen in ARS und STR ähnlich häufig eine Verbesserung der Ausgangssituation erreicht (siehe Abbildung 4). Bei alkoholbezogenen Störungen bestand auch hinsichtlich des Prozentsatzes, der stabil geblieben ist, kein Unterschied zwischen ARS und STR. Bei cannabinoidbezogenen Störungen wurde in ARS indes seltener eine Stabilisierung erreicht als in STR (13,3 % vs. 21,9 %; p = 0,005). Die Ausgangsproblematik verschlechterte sich in ARS jeweils häufiger als in STR, allerdings auf niedrigem Niveau (alkoholbezogene Störungen: ARS = 2,6%; STR = 0,6 %, p < 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen: ARS = 5,5%; STR =1,0 %, p < 0,0001).
Zugleich war der Anteil an Behandelten, die die Konsumenge von Alkohol bzw. Cannabinoiden im Zuge der Entwöhnungsbehandlung verringert haben, in ARS niedriger als in STR (alkoholbezogene Störungen: 38,3 % vs. 72,5 %; p < 0,0001 | cannabinoidbezogene Störungen: 35,2 % vs. 63,4 %; p < 0,0001). Allerdings war am Ende der Maßnahme nicht immer dokumentiert, ob sich die anfängliche Suchtproblematik verändert hat, wobei dies bei der Klientel mit cannabinoidbezogenen Störungen in ARS seltener vorkam als in STR (5,0 % vs. 9,9 %; p = 0,002).
4 Einordnendes Fazit
Dieser Artikel vergleicht erstmals anhand von aktuellen Daten der DSHS die Fallzusammensetzung und das Ergebnis bei ambulanten und stationären Entwöhnungsbehandlungen aufgrund von alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen. Hierbei zeigt sich, dass stationäre Suchtrehabilitation deutlich weiter verbreitet ist als ambulante Maßnahmen, wobei in beiden Settings jeweils eine spezifische Klientel behandelt wird. Einschränkend sei darauf verwiesen, dass die Gegenüberstellung Fälle mit alkohol- bzw. cannabinoidbezogenen Störungen – die Hauptanlässe für Suchtrehabilitation – adressierte. Eine Verallgemeinerung auf andere stoffgebundene und stoffungebundene Suchterkrankungen ist nicht unmittelbar möglich.
Grundsätzlich waren soziodemographische Unterschiede zwischen der ARS-Klientel und der STR-Klientel ausgehend von den Anforderungskriterien, für wen eine ambulante Maßnahme geeignet ist, zu erwarten: Anlage 3 zur Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“ fordert unter anderem, dass im Falle einer ambulanten Entwöhnungsbehandlung ein stabilisierendes / unterstützendes soziales Umfeld sowie ausreichende berufliche Integration gewährleistet sein sollten (Deutsche Rentenversicherung, 2001). Dass den DSHS-Daten zu Folge die ARS-Klientel seltener allein lebt und häufiger erwerbstätig sowie seltener arbeitslos ist als die STR-Klientel, spiegelt eine adäquate Umsetzung dieser Vorgabe.
Darüber hinaus hat die ARS-Klientel ein höheres Bildungsniveau (d. h. Abitur häufiger, Schulabbruch seltener) als die STR-Klientel. Dies deckt sich mit Beobachtungen in einer kleinen monozentrischen Studie unter Alkoholabhängigen (Schmidt et al., 2009). Hier steht zu vermuten, dass das höhere Bildungsniveau sich förderlich auf die Therapieadhärenz auswirkt, die wiederum eine Grundanforderung an die ambulante Durchführbarkeit einer Suchtrehabilitation darstellt (Deutsche Rentenversicherung, 2001). Zudem legt episodische Evidenz nahe, dass ein höherer Bildungsgrad – insbesondere bei Frauen – positiv mit dem Verbleib in der Suchtbehandlung assoziiert ist (Courtney et al., 2017; Pinto et al., 2011; Vigna-Taglianti et al., 2016).
Des Weiteren finden sich in ARS häufiger Eltern minderjähriger Kinder als in STR. In einem ambulanten Setting lassen sich annahmegemäß Fürsorge- und Aufsichtspflichten leichter realisieren als in einem stationären Setting, weswegen Eltern gewisse Präferenzen für ambulante Angebote haben könnten. Dies legt zumindest eine Studie nahe, die den Mangel an auf Eltern zugeschnitten Therapieangeboten als eine von mehreren Hürden für die Inanspruchnahme stationärer Entwöhnungsbehandlungen unter Methamphetaminabhängigen identifizierte (Hoffmann et al., 2018). Eine Übertragbarkeit auf andere Suchterkrankungen erscheint hier legitim.
Darüber hinaus spricht das klinische Bild der STR-Klientel für eine komplexere Problematik. Die STR-Fälle haben häufiger Probleme in verschiedenen Lebensbereichen und konsumieren Alkohol bzw. Cannabinoide im Monat vor Behandlungsbeginn intensiver. Dies korrespondiert mit den Klientelcharakteristika einer früheren Studie, die Risikoprofile für den frühzeitigen Abbruch einer ambulanten bzw. stationären Entwöhnungsbehandlung unter Personen mit Alkoholkonsumstörungen analysierte (Preuss et al., 2012). Hier fand sich eine höhere Prävalenz psychischer und körperlicher Begleiterkrankungen und eine kürzere Abstinenzperiode unter den stationär Behandelten. Beide Befunde reflektieren die Vorgaben der Anlage 3 zur Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“, die bei Personen mit intensivem Suchtverlauf und schwerwiegenden psychischen, sozialen oder körperlichen Beeinträchtigungen eine stationäre Rehabilitation empfehlen (Deutsche Rentenversicherung, 2001).
Trotz dieser unterschiedlichen Fallcharakteristika wird in ARS und STR ähnlich häufig ein positives Behandlungsergebnis (Reduktion oder Stabilisierung) erzielt. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass sich in ARS behandelte Personen mit cannabinoidbezogenen Störungen zwar signifikant seltener stabilisieren, sich aber zugleich (nicht-signifikant) häufiger verbessern. Dies spricht für eine tendenzielle Verschiebung aus der Kategorie „Stabilisierung“ in die Kategorie „Verbesserung“. Zudem ist eine Verringerung der initialen Suchtproblematik in ARS und STR ähnlich wahrscheinlich. Dies lässt vermuten, dass Personen mit komplexerem Störungsbild von STR zumindest kurzfristig stärker profitieren als von ARS. Zugleich kommt es in ARS häufiger als in STR zu einer Verschlechterung der Suchtproblematik und die Konsummenge wird seltener verringert – was sicher auch mit der ausgangs niedrigeren Konsumintensität zusammenhängt. Ein wichtiger Erklärungsfaktor hierfür dürfte aber insbesondere die einfachere Verfügbarkeit der Substanzen kombiniert mit weniger engmaschigen Kontrollmöglichkeiten im ambulanten Setting sein.
Da die Daten die Situation unmittelbar zum Behandlungsende abbilden, besteht keine Rückschlussmöglichkeit, ob sich die für STR beobachtete deutlich stärkere Konsummengenreduktion nachhaltig verstetigt. Es ist anzunehmen, dass bei stationären Entwöhnungsbehandlungen ein erhöhtes Rückfallrisiko besteht, sobald die Betroffenen in ihrer regulären Lebenswelt wieder erleichterten „Substanzzugriff“ haben. So geht der Katamnesebericht des Fachverbandes Sucht für das Datenjahr 2018 davon aus, dass die Hälfte der Personen, die eine ambulante Entwöhnungsbehandlung durchlaufen haben – davon 79,2 % aufgrund von Alkohol- und 6,4 % aufgrund von Cannabinoidkonsumstörungen – ein Jahr nach deren Abschluss gemäß DGSS 4-Standard (also ggf. nach Rückfall) abstinent war (Becker et al., 2021). Im Bereich der stationären Entwöhnungsbehandlung galt dies im Datenjahr 2020 aber nur für zwei Fünftel der Personen, die aufgrund von Alkoholkonsumstörungen behandelt worden waren (Bachmeier et al., 2023), bzw. für ein Fünftel der Personen, die aufgrund von Cannabinoidkonsumstörungen behandelt worden waren (Kemmann et al., 2023). Dies unterstreicht implizit die Bedeutung, die einer adäquaten Rehabilitations-Nachsorge (Deutsche Rentenversicherung, 2015) insbesondere nach einer stationären Entwöhnungsbehandlung zukommt.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ARS und STR unterschiedliche Personengruppen erreichen und nicht per se individuell austauschbare Behandlungsangebote darstellen. Da es die Aggregatdaten der DSHS nicht erlauben, soziodemographische und störungsbezogene Unterschiede zwischen ARS-Klientel und STR-Klientel statistisch zu berücksichtigen, ist ein Vergleich der „Effektivität“ von ARS und STR grundsätzlich nicht angebracht. Vor dem Hintergrund der komplexeren Problematik der STR-Fälle ist der fehlende Unterschied zwischen beiden Behandlungsansätzen hinsichtlich Haltequote und Anteil an Fällen mit verbesserter Suchtproblematik allerdings positiv zu werten. Anscheinend gelingt es ARS und STR gleichermaßen gut, ihre spezifische Klientel bedarfsgerecht durch die Entwöhnung zu begleiten.
5 Abkürzungsverzeichnis
ARS Ambulante Medizinische Rehabilitation
DSHS Deutsche Suchthilfestatistik
ICD International Classification of Diseases
IFT Institut für Therapieforschung
KDS Kerndatensatz zur Dokumentation in der Suchtkrankenhilfe
STR Stationäre Medizinische Rehabilitation
6 Literatur
Bachmeier, R., Bick-Dresen, S., Daniel, H., Dyba, J., Funke, W., Kemmann, D., Klein, T., Medenwaldt, J., Premper, V., Reger, F., & Wagner, A. (2023). Effektivität der stationären Suchtrehabilitation – FVS+-Katamnese des Entlassjahrgangs 2020 von Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige. Sucht aktuell, 2023(5) 21-36.
Becker, A., Bick-Dresen, S., Schneider, B., Bachmeier, R., Bingel-Schmitz, D., Fölsing, B., Funke, W., Klein, T., Kramer, D., Löhnert, B., Steffen, D., Seydlitz, U., & Granowski, M. (2021). Effektivität der ambulanten Suchtrehabilitation–FVS-Katamnese des Entlassjahrgangs 2018 von Ambulanzen für Alkohol-und Medikamentenabhängige. Sucht aktuell, 2021(3) 38-47.
Courtney, R. J., Clare, P., Boland, V., Martire, K. A., Bonevski, B., Hall, W., Siahpush, M., Borland, R., Doran, C. M., West, R., Farrell, M., & Mattick, R. P. (2017). Predictors of retention in a randomised trial of smoking cessation in low-socioeconomic status Australian smokers. Addict Behav, 64, 13-20. https://doi.org/10.1016/j.addbeh.2016.07.019
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Pinto, R. M., Campbell, A. N., Hien, D. A., Yu, G., & Gorroochurn, P. (2011). Retention in the National Institute on Drug Abuse Clinical Trials Network Women and Trauma Study: implications for posttrial implementation. Am J Orthopsychiatry, 81(2), 211-217. https://doi.org/10.1111/j.1939-0025.2011.01090.x
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Förderhinweis
Das Projekt Deutsche Suchthilfestatistik wird im Rahmen einer jährlichen Laufzeit vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert.
Kontakt:
PD Dr. Larissa Schwarzkopf
Leiterin Forschungsgruppe Therapie und Versorgung
IFT Institut für Therapieforschung
Leopoldstraße 175
80804 München www.ift.de
schwarzkopf(at)ift.de
Angaben zu den Autorinnen:
Die Autorinnen repräsentieren die Forschungsgruppe „Therapie und Versorgung“ am IFT Institut und Therapieforschung. Das IFT ist als selbstständiges, gemeinnütziges Forschungsinstitut auf dem Gebiet der Abhängigkeitserkrankungen tätig und bearbeitet grundlagen- und anwendungsbezogene Fragestellungen zu Ätiologie, Epidemiologie, Prävention, Therapie und Versorgungsforschung. Die Deutsche Suchthilfestatistik (DSHS), die das IFT seit mehr als vierzig Jahren betreut, bildet einen zentralen Grundpfeiler dieser Forschungsaktivitäten. Hierbei koordiniert die Forschungsgruppe Therapie und Versorgung schwerpunktmäßig die inhaltliche und methodische Weiterentwicklung der DSHS.
PD Dr. Larissa Schwarzkopf, Dipl.-Ges.ök, MSc. Biostatistics, IFT, Leiterin Forschungsgruppe Therapie und Versorgung
Soziale Netzwerkseiten mit den unterschiedlichsten Schwerpunktsetzungen sind schon seit Anfang der 2000er Jahre fester Bestandteil des Internets. Im Gegensatz zu Online-Computerspielen oder Online-Pornografie ist der Name nicht selbsterklärend hinsichtlich der Art und Weise, worin das Angebot der Sozialen Netzwerke besteht und wie dieses genutzt wird. Für Behandler:innen und Forscher:innen, die sich mit dem pathologischen Potenzial bestimmter Online-Aktivitäten und -Angebote auseinandersetzen, dem Phänomen der sog. Internetnutzungsstörungen, stellt sich die Frage, ob es auch ein Suchtverhalten im Umgang mit Sozialen Netzwerken gibt, und wenn ja, wie sich dieses darstellt und woraus es sich speist.
Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, die wichtigsten Fragen rund um Soziale Netzwerke zu beantworten, exemplarisch empirische Hintergründe zu einigen Effekten dieser Netzwerke darzustellen und sich speziell mit der Frage nach dem Suchtpotenzial und dem klinischen Umgang mit der Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung zu befassen.
Allgemeines zu Sozialen Netzwerkseiten
Was versteht man unter Sozialen Netzwerken? Oft wird die Nutzung von Sozialen Netzwerken mit jener von Online-Messengern gleichgesetzt. Das ist jedoch nicht korrekt. Im Gegensatz zu den sehr einfachen Messengerdiensten erlaubt die Aktivität in Sozialen Netzwerken nicht lediglich die Text- oder Bild-Kommunikation mit vorhandenen Kontakten. Die Möglichkeiten des Austauschs reichen hier wesentlich weiter. Wichtige Merkmale Sozialer Netzwerke sind:
die Möglichkeit, ein beliebig detailreiches eigenes Profil zu erstellen und …
… dieses fortwährend zu erweitern oder zu modifizieren.
eigene Beiträge (Posts) der gesamten Community oder nur einem Teil davon zu präsentieren, wobei diese Beiträge …
… nicht textbasiert sein müssen, sondern etwa Bilder oder Audiodateien etc. sein können, oder eine Kombination daraus.
über Verlinkungen auch mit Usern in Kontakt zu treten bzw. sich zu vernetzen, die man außerhalb des Netzwerkes nie kennengelernt hat …
… und deren Profile und Beiträge man somit betrachten, begleiten und bewerten (z. B. Likes) kann, und welche wiederum …
… das eigene Profil und die eigenen Beiträge betrachten, begleiten und bewerten (Likes, aber auch Dislikes) können.
Diese Aufstellung beinhaltet nur die wesentlichsten und allgemeinsten Strukturmerkmale von Sozialen Netzwerken, denn natürlich unterscheiden sich unterschiedliche Anbieter wie TikTok, Instagram oder Facebook in ihrer Produktpalette und damit auch in den Optionen, welche den Usern zur Verfügung stehen. Trotzdem wird schon bei dieser knappen Auflistung ein bisschen klarer, dass das Kommunizieren in Sozialen Netzwerken eben nicht das moderne Äquivalent zum vormaligen Telefonat ist oder zum Versenden einer SMS. Soziale Netzwerke sind von ihrem Aufbau und der ihnen innewohnenden Dynamik her wesentlich komplexer und gehen weit über einen bilateralen kommunikativen Austausch hinaus. Aus dieser Komplexität heraus ergeben sich für die User spezielle Effekte, welche in dieser Form eben nicht bei einem Telefonat oder einer SMS oder einer Messenger-Kurznachricht auftreten.
Suchtartige Nutzung Sozialer Netzwerke: die unerkannte Störung
Warum tun sich viele Menschen, die in der klinischen Versorgung oder der ambulanten Suchthilfe arbeiten, eher schwer damit, die Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung als eine Variante von Internetnutzungsstörungen wahrzunehmen? Vermutlich liegt es an der Häufigkeit des Auftretens. Patienten und bisweilen auch Patientinnen mit einer suchtartigen Nutzung von Online-Computerspielen, auch Online-Pornografie oder Online-Einkaufsseiten, begegnen Mitarbeitenden in der Suchthilfe in ihrer praktischen Arbeit häufig, wohingegen Personen mit einer suchtartigen Nutzung Sozialer Netzwerke noch immer eine Ausnahme unter den Personen, die das Hilfesystem in Anspruch nehmen, darstellen. Es fehlt demnach an klinischen Erfahrungswerten und an direkten Patientenkontakten.
Im Gegensatz zu den fehlenden Zahlen aus der Versorgung wissen wir aus epidemiologischen Studien, dass
erstens in der Allgemeinbevölkerung Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörungen mit durchaus hoher Prävalenz auftreten (z. B. Paschke et al., 2021),
zweitens Menschen, welche die Kriterien dieser Störung erfüllen, ähnlich belastet sind wie Personen mit anderen Internetnutzungsstörungen und
drittens insbesondere Mädchen und Frauen zu den von einer Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörungen Betroffenen zählen (z. B. Müller et al., 2016; Scherer et al., 2021).
Ähnliches geht aus Studien an klinischen Stichproben hervor. Hier zeigt sich, dass gerade Mädchen und Frauen, die wegen anderer psychischer Erkrankungen in ambulanter oder stationärer Behandlung sind, mit ca. 17 Prozent äußerst häufig eine komorbide Internetnutzungsstörung aufweisen, häufig im Zusammenhang mit der Nutzung Sozialer Netzwerke. Ungünstig ist, dass diese Begleiterkrankung nur in den seltensten Fällen diagnostisch festgestellt wird und damit auch kein Teil des Behandlungsplans wird. Sie bleibt also in vielen Fällen unbehandelt (Scherer et al., 2021).
Was sagen uns diese Zahlen? Sie sprechen dafür, dass es die suchtartige Nutzung Sozialer Netzwerke gibt und diese auch mit einem Krankheitswert einhergeht. Dementsprechend ist die Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung als eine Erscheinungsform aus dem Spektrum der Online-Verhaltenssüchte bzw. Internetnutzungsstörungen aufzufassen. Diese Auffassung wird auch in einem Positionspapier zur Vereinheitlichung der Bezeichnungen für Verhaltenssüchte (Rumpf et al., 2021) vertreten. Hier wird argumentiert, dass die Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung vergleichbare diagnostische Kriterien aufweist wie die Störung durch Computerspielen und dementsprechend in der ICD-11-Kategorie „andere spezifische Verhaltenssüchte“ verschlüsselt werden soll.
Konkret bedeutet dies, dass wir es auch bei der Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung mit drei diagnostischen Kernmerkmalen zu tun haben:
eine verminderte Kontrolle über Häufigkeit und zeitlichen Umfang der Nutzung,
eine Priorisierung des Nutzungsverhaltens vor anderen, essenziellen Lebensbereichen und persönlichen Interessen sowie
die Fortführung der Nutzung trotz damit einhergehender negativer Konsequenzen.
Zu diagnostischen Zwecken stehen mittlerweile diverse Screeningverfahren zur Verfügung. Verbreitet ist hier beispielsweise die Social Media Disorder Scale (Van den Eijnden, Lemmens & Valkenburg, 2016) oder die speziell für Jugendliche konzipierte Social Media Disorder Scale for Adolescents (SOMEDIS-A), welche es auch als Fremdbeurteilungsinstrument gibt (SOMEDIS-P). Für die weiterführende klinische Beurteilung steht das adaptive „Strukturierte klinische Interview für Internetbezogene Störungen“ (AICA-SKI:IBS; Müller & Wölfling, 2017) zur Verfügung.
Ergebnisse aus dem Projekt IBS femme
Die Zahlen verdeutlichen jedoch ebenso, dass wir es in der klinischen Versorgung mit einer hohen Dunkelziffer von Personen, insbesondere Frauen, mit einer nicht diagnostizierten und entsprechend unbehandelten Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung zu tun haben. Wie schon gesagt, ist es noch immer äußerst selten, dass sich Patientinnen im spezifischen Versorgungssystem (z. B. Suchthilfe, Spezialambulanzen) eigeninitiativ vorstellen. Die Gründe dafür sind vielfältig und wurden in dem vom Bundesgesundheitsministerium geförderten Projekt IBS femme erstmals systematisch untersucht. Im Projekt zeigte sich:
Mädchen und Frauen mit Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung fallen ihrem direkten sozialen Umfeld deutlich seltener als erkrankt auf als Personen mit anderen Internetnutzungsstörungen. Im Gegensatz zu z. B. Patienten mit einer Computerspielstörung ziehen sie sich nicht physisch so stark zurück, sie bleiben präsent, auch wenn sie ihren Mitmenschen vielleicht zerstreuter, unaufmerksamer und weniger zugewandt als früher vorkommen mögen. Dieser Eindruck führt aber seltener zur Sorge im sozialen Umfeld, sondern erweckt eher Unmut. („Muss sie denn die ganze Zeit auf ihr Smartphone starren? Wir unterhalten uns doch gerade.“) Dadurch, dass das soziale Umfeld „ahnungslos“ bleibt, fällt ein wesentlicher Faktor weg, der Abhängigkeitskranke sonst dazu motiviert, sich Hilfe zu suchen.
Mädchen und Frauen mit Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung nehmen zwar wahr, dass sie sich weniger leistungsfähig, weniger motiviert, weniger interessiert, emotional unausgeglichener und freudloser fühlen als früher; sie nehmen auch wahr, dass sie vergleichsweise hohe Nutzungszeiten haben. Allerdings werden die Symptome nur selten mit dem gesteigerten Nutzungsverhalten in einem Zusammenhang gesehen. Anders ausgedrückt: Die Symptomwahrnehmung bei Mädchen und Frauen ist zwar gegeben, jedoch stellen sie keinen Zusammenhang mit einem etwaigen Suchtverhalten her. Diejenigen Frauen, die sich wegen der assoziierten Symptome (Freudlosigkeit, Interessenlosigkeit, abnehmendes psychosoziales Funktionsniveau etc.) psychosoziale oder psychotherapeutische Hilfe suchen, suchen diese also nicht im Suchthilfesystem und thematisieren die Nutzungsproblematik dementsprechend auch nicht in der psychotherapeutischen Behandlung.
Gleichzeitig fehlt auch auf der Seite der Behandelnden in der Regel eine systematische Exploration oder gar Diagnostik einer etwaig begleitend auftretenden Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung. Wenn überhaupt, fällt die Internetnutzungsstörung indirekt auf, etwa dadurch, dass in der Beratung oder Behandlung ab einem gewissen Punkt die Fortschritte ausbleiben, sodann die Ursachenforschung angegangen wird und nun die exzessiven Nutzungszeiten bzw. das Suchtverhalten aufgedeckt werden.
Suchtartige Nutzung Sozialer Netzwerke: Perspektiven für die Versorgung
Beschäftigt man sich mit der Thematik etwas näher, wird immer deutlicher, dass die Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung ein gesundheitsrelevantes Thema darstellt, absolut vergleichbar mit der mittlerweile anerkannten und auch klinisch zunehmend besser erforschten und versorgten Störung durch Computerspielen. Umso wichtiger ist es, dass die Versorgungssysteme sich der suchtartigen Nutzung Sozialer Netzwerke verstärkt annehmen. Erste Lehren können aus dem Projekt IBS femme gezogen werden, welches derzeit in Form des Folgeprojekts IBS femme*INTERV als Kooperation zwischen der Ambulanz für Spielsucht der Universitätsmedizin Mainz und dem Fachverband Medienabhängigkeit e.V. dank einer erneuten Förderung des Bundesministeriums für Gesundheit fortgeführt wird.
Aus dem Projekt IBS femme geht hervor, dass es besonders wichtig ist, Behandlerinnen und Behandler jenseits des Suchthilfesystems oder der Spezialisierung auf Verhaltenssüchte für die Thematik zu sensibilisieren und mit entsprechenden diagnostischen Mitteln auszustatten. Eine Sensibilisierung sollte gleichsam für Angehörige Betroffener erfolgen, gleichzeitig aber auch die Betroffenen selbst adressieren. Deshalb werden im Rahmen des Projekts IBS femme*INTERV derzeit verschiedene Social Media-Kampagnen ausgearbeitet, die auf die Thematik der Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung aufmerksam machen und Betroffenen den Zugang zum Hilfesystem erleichtern sollen.
Auf Grund der fehlenden klinischen Erfahrungswerte stellt sich die Frage nach angemessenen Versorgungsansätzen für Personen mit einer Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung. Diesbezüglich sind derzeit positive Entwicklungen zu beobachten, die für mehr Klarheit sorgen könnten:
S1-Leitlinie Diagnostik und Therapie Internetbezogener Störungen
Zum einen wurde im März 2020 die S1-Leitlinie Diagnostik und Therapie Internetbezogener Störungen bei der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) angemeldet und seitdem in einem ausführlichen Prozess ausgearbeitet. Die Leitlinie beinhaltet auch die Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung, was bedeutet, dass klinisch relevantes Wissen aus der verfügbaren empirischen Literatur zusammengetragen, gesichtet und für die Praxis aufbereitet wurde. Die Leitlinie hat den Zweck, Fachleuten aus der Praxis eine beraterische bzw. therapeutische Richtschnur an die Hand zu geben und Interventionsansätze vorzuschlagen, welche nachweislich mit den besten Erfolgsaussichten eingesetzt werden können. Die Arbeiten an der Leitlinie sind derzeit noch nicht abgeschlossen, jedoch zeigt sich speziell für die Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung, dass ähnlich wie bei anderen Formen internetsüchtigen Verhaltens verhaltenstherapeutische Ansätze (z. B. das STICA-Programm, vgl. Wölfling et al., 2019; Wölfling, Beutel, Bengesser & Müller, 2022) empfohlen werden und dass auch (teilabstinenzorientierte) Kurzzeitinterventionen mit guten Effekten einhergehen können, was eine erste Verbesserung der Symptome betrifft. Die Fertigstellung der Leitlinie ist noch für 2023 vorgesehen. Sie kann dann frei abgerufen werden auf der Webseite der AWMF.
Das Beratungsprogramm „PSY-Social Workout“
Zum anderen wurde im Rahmen des Projekts IBS femme*INTERV ein spezifischer Beratungsleitfaden entwickelt. Dieser stellt eine Zusammenführung aus bereits in IBS femme identifizierten Spezifika bei einer Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung, Erkenntnissen aus der AWMF-Leitlinie und bewährten Methoden aus dem STICA-Programm (Wölfling et al., 2022) dar. Das so entwickelte Beratungsprogramm „PSY-Social Workout“ umfasst zwei vorgeschaltete diagnostische Einheiten, an welche sich zehn Interventionseinheiten anschließen. Acht Wochen nach dem letzten Kontakt erfolgt eine Booster-Session.
In der Interventionsphase besteht das Programm aus Psychoedukation, Erarbeitung eines individuellen Störungsmodells nach dem InPrIS-Ansatz (Müller & Wölfling, 2017), Abstinenzexperimenten, dem Aufbau alternativer Verhaltensweisen, schematherapeutischen Elementen und Bestandteilen der Well-Being-Therapie sowie ergänzenden neurokognitiven Trainingsansätzen.
Wichtige übergeordnete Merkmale des Programms PSY-Social Workout sind:
Es soll möglichst niedrigschwellig sein, d. h., es sieht zwar Abstinenzpläne vor, jedoch ist die Abstinenz von der Nutzung Sozialer Netzwerke nicht das erklärte Ziel der Intervention. Das Programm umfasst nur wenige Sitzungen und soll positive Veränderungen vor allem anstoßen und ggf. den Weg in eine weiterführende Behandlung erleichtern. Zudem soll das Programm nach erfolgreicher Evaluation auch als Selbsthilfemanual zur Verfügung gestellt werden.
Das Programm PSY-Social Workout soll größtmögliche Flexibilität bieten, d. h., es kann im Einzel- wie auch im Gruppensetting durchgeführt werden, im direkten Kontakt wie auch als videobasierte Beratung. Ebenso ist ein Einsatz begleitend zu einer laufenden Beratung oder Behandlung wegen anderer psychischer Erkrankungen möglich (z. B. als ergänzende Bausteine).
Demnach handelt es sich bei PSY-Social Workout eher um ein sog. Empowerment-Programm als um eine psychotherapeutische Behandlung. Dies soll den Kreis derjenigen, die das Programm einsetzen wollen, erweitern und somit möglichst viele Anlaufstellen für Betroffene generieren. Derzeit werden umfassende Schulungsmaterialien (Leitfaden inklusive Arbeitsblätter sowie kurze Video-Tutorials) konzipiert, welche u. a. auf der Webseite des Fachverbands Medienabhängigkeit e.V. ab Herbst 2023 verfügbar sein werden. Interessierte, die sich an der Durchführung des Programms in der Praxis beteiligen wollen, können über info@fv-medienabhaengigkeit.de sehr gerne Voranmeldungen senden.
Kontakt:
Dr. Kai W. Müller
Diplom-Psychologe, Wissenschaftlicher Mitarbeiter – Forschung & Diagnostik
Grüsser Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht
Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
muellka(at)uni-mainz.de
Angaben zu den Autor:innen:
Dr. Kai W. Müller, (1) Ambulanz für Spielsucht an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz, (2) Fachverband Medienabhängigkeit e.V. Lisa Mader, Ambulanz für Spielsucht an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz Kristin Schneider, (1) Caritasberatungsstelle „Lost in Space“, (2) Fachverband Medienabhängigkeit e.V.
Literatur:
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Müller, K.W. & Wölfling, K. (2017). Pathologischer Mediengebrauch und Internetsucht. Stuttgart: Kohlhammer
Müller, K.W. & Wölfling, K. (2017). AICA-SKI:IBS. Strukturiertes klinisches Interview zu Internetbezogenen Störungen (1. Aufl.), Ambulanz für Spielsucht an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsmedizin Mainz
Paschke, K., Austermann, M.I. & Thomasius, R. (2021). ICD-11-based assessment of social media use disorder in adolescents: Development and validation of the Social Media Use Disorder Scale for Adolescents. Frontiers in Psychiatry, 12, 661483
Paschke, K., Austermann, M.I. & Thomasius, R. (2022). International Classification of Diseases-11-based external assessment of social media use disorder in adolescents: Development and validation of the Social Media Use Disorder Scale for Parents. Cyberpsychology, Behavior, and Social Networking, 25(8), 518-526
Rumpf, H.J., Batra, A., Bischof, A., Hoch, E., Lindenberg, K., Mann, K., Montag, C., Müller, A., Müller, K.W., Rehbein, F., Stark, R., te Wildt, B., Thomasius, R., Wölfling, K. & Brand, M. (2021). Vereinheitlichung der Bezeichnungen für Verhaltenssüchte. Sucht, 67(4), 181–185
Scherer, L., Mader, L., Wölfling, K., Beutel, M.E., Dieris-Hirche, J. & Müller, K.W. (2021). Nicht diagnostizierte internetbezogene Störungen im psychotherapeutischen Versorgungssystem: Prävalenz und geschlechtsspezifische Besonderheiten. Psychiatrische Praxis, 48(08), 423-429
Van den Eijnden, R.J., Lemmens, J.S. & Valkenburg, P.M. (2016). The social media disorder scale. Computers in human behavior, 61, 478-487
Wölfling, K. & Müller, K.W., Dreier, M., Ruckes, C., Deuster, O., Batra, A., Mann, K., Musalek, M., Schuster, A., Lemenager, T., Hanke, S. & Beutel, M.E. (2019). Efficacy of Short-term Treatment of Internet and Computer game Addiction (STICA): A multicenter randomized controlled trial. JAMA Psychiatry, 76(10), 1018-1025
Wölfling, K., Beutel, M.E., Bengesser, I. & Müller, K.W. (2022). Computerspiel- und Internetsucht – Ein kognitiv-behaviorales Behandlungsmanual, 2. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer
Am 1. September 2020 ist ein neues Psychotherapeutengesetz in Kraft getreten. Seit dem Wintersemester 2020/21 ist es möglich, die Universität nach einem fünfjährigen Studium mit dem Masterabschluss „Klinische Psychologie und Psychotherapie“ und mit Approbation zu verlassen. Daran kann sich eine Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeut:in anschließen (KONTUREN berichtete).
Ab 2024 werden mit steigender Anzahl approbierte Psychotherapeut:innen von den Universitäten abgehen und ihre Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeut:in beginnen. Durch das neue Psychotherapeutengesetzt wird es ihnen u. a. möglich sein, die zweijährige stationäre Weiterbildungsphase komplett in der Suchtrehabilitation zu absolvieren. Wie wird sich die Veränderung in der Aus- und Weiterbildung von Psychotherapeut:innen auf die Einrichtungen der Suchthilfe auswirken? KONTUREN online hat Expert:innen aus der Praxis nach ihren Einschätzungen gefragt und die Antworten im Folgenden zusammengestellt. Die Leitfrage an alle Expert:innen lautete:
Welche Chancen, Risiken und Herausforderungen sehen Sie in der neuen Weiterbildung der Psychotherapeut:innen und wie gehen Sie in der Praxis damit um?
Dr. med. Elke H. Sylvester
Dr. Elke H. Sylvester
Chefärztin, Fachklinik Nettetal, CRT Caritas-Reha und Teilhabe GmbH, Wallenhorst
Nachdem die Ausbildung der Psychotherapeut:innen auf neue gesetzliche Grundlagen gestellt wurde, ist es seit dem Wintersemester 2020/21 möglich, nach einem fünfjährigen Universitätsstudium und erfolgreicher Abschlussprüfung die Approbation als Psychotherapeut:in zu bekommen. Eine nach Landesrecht organisierte Weiterbildung (auf Basis der Muster-Weiterbildungsordnung von Seiten der Bundespsychotherapeutenkammer) soll in stationären und ambulanten Einrichtungen angeschlossen werden. Die Weiterbildung zur Fachpsychotherapeut:in erfolgt damit in Analogie zur ärztlichen Weiterbildung.
Für den großen Bereich der Suchthilfe ergeben sich vielfältige Möglichkeiten der Beschäftigung der zukünftigen Psychotherapeut:innen sowohl in der ambulanten, ganztägig ambulanten und stationären medizinischen Rehabilitation als auch in Übergangseinrichtungen. Damit besteht die Möglichkeit, fundierte Erfahrungen in der multiprofessionellen und interdisziplinären Zusammenarbeit zu sammeln.
Die vergleichsweise langen Therapiezeiten bieten auch angehenden Fachpsychotherapeut:innen eine gute Möglichkeit, entsprechend umfassende Therapie- und Veränderungsprozesse kennenzulernen, im Weiteren selbst zu initiieren und unter Supervision zu gestalten. Der Wirkfaktor der therapeutischen Beziehung kann so umfassend gelernt und erfahren werden. Der hohe Anteil an gruppentherapeutischen Angeboten ergänzt den Weiterbildungsprozess in besonderer Weise. Der Blick über das „eigene“ Setting hinaus wird dabei durch die gute Vernetzung in der Suchthilfe gefördert. Die vorgesehenen Weiterbildungszeiten zum / zur Fachpsychotherapeut:in, die länger sind als die Praktika in der bisherigen Ausbildung, kommen diesem Prozess zugute.
Die neue Psychotherapie-Ausbildung sieht die Möglichkeit einer Qualifizierung in der Sozialmedizin vor. Für die medizinische Rehabilitation ist diese Qualifikation erforderlich. Vor dem Hintergrund des zunehmenden Fachkräftemangels auch im ärztlichen Bereich ergeben sich hier neue Möglichkeiten, den Anforderungen der Kosten- und Leistungsträger gerecht zu werden.
Suchttherapie ist mehr als reine Psychotherapie – es wird für die Weiterbildungsanbietenden notwendig sein, dieses Wissen potenziellen Bewerber:innen zu vermitteln. Auch die in der medizinischen Rehabilitation erforderliche Orientierung nicht nur an Diagnoseklassifikationssystemen (ICD-10, DSM-V), sondern an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) mit der entsprechenden Auswirkung auf die Gestaltung von Therapieprozessen, sollte deutlich kommuniziert werden. Das Therapieziel ist nicht nur eine Symptomreduktion, sondern eine umfassende Verbesserung der Teilhabe.
Eine Herausforderung besteht schon jetzt darin, therapeutisch Tätige mit unterschiedlicher Grundprofession und dementsprechend unterschiedlicher Therapieausbildung gut in ein Team zu integrieren und Grabenkämpfe insbesondere zwischen Suchttherapeut:innen und Psychotherapeut:innen zu vermeiden. Beide sind für eine gelungene Suchttherapie –natürlich neben den anderen notwendigen Berufsgruppen – unverzichtbar.
Eine Substanzkonsumstörung ist eine bio-psycho-soziale Erkrankung. In der Praxis heißt das, dass im Therapieprozess alle Ebenen Berücksichtigung finden müssen. Die Komorbidität weiterer psychischer Störungen ist dabei eher die Regel, denn die Ausnahme. Dementsprechend kann der große Bereich der Suchthilfe eine fundierte Weiterbildung nicht nur hinsichtlich der Substanzkonsumstörung, sondern auch in Bezug auf weitere psychische Störungen wie affektive Störungen, psychotische Erkrankungen, Traumafolgestörungen, Angsterkrankungen, ADHS oder Persönlichkeitsstörungen garantieren.
Je besser dabei das Zusammenspiel zwischen den unterschiedlichen Professionen und den unterschiedlichen therapeutischen Ansätzen, desto besser das Outcome. Eine vorbehaltlose und wertschätzende Zusammenarbeit im multiprofessionellen und interdisziplinären Team ist dafür eine grundlegende Voraussetzung.
Marcus Breuer
Marcus Breuer
Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Klinikleitung und Therapeutische Leitung, Würmtalklinik Gräfelfing, Deutscher Orden – Ordenswerke
Chancen: Durch die Revision der Psychotherapeuten-Approbationsordnung im Jahr 2020 ergibt es sich erstmalig, dass zukünftige Psychotherapeut:innen ihre therapeutische Zusatzausbildung nicht selbst werden bezahlen müssen. Dies ist berufspolitisch ein wesentlicher Fortschritt. Außerdem ist hiermit erstmals sichergestellt, dass auch während der psychotherapeutischen Weiterbildung (bzw. der Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeuten:in) – analog zur Facharztausbildung bei den Ärzt:innen – angemessene Gehälter bezahlt werden. Schließlich verfügen die Betroffenen bereits über einen anerkannten Masterabschluss!
Risiken:
Was für die zukünftigen Master-Absolventen nach dem neuen Psychotherapeutengesetz eine Chance ist (s.o.), ist zugleich ein Risiko. Aktuell ist nämlich keinesfalls sichergestellt, dass ausreichend Plätze für die Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeut:in (das Analogon zur bisherigen Psychotherapie-Zusatzausbildung) zur Verfügung stehen werden. Und anders als bisher kann man sich in die neue Weiterbildung auch nicht selbst „einkaufen“. Es besteht also die reale Gefahr, dass es (ggf. deutlich) mehr Bewerber:innen für die Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeut:in geben wird, als überhaupt Weiterbildungsplätze bestehen. Das größte Problem ist die Frage, wie die Kliniken bzw. Leistungserbringer die einzelnen Weiterbildungsanteile (insbesondere Theorieteil, Supervision sowie Selbsterfahrung) refinanzieren.
Herausforderungen: Die größten Herausforderungen betreffen zwei Aspekte: Erstens gilt es, die Kosten- und Leistungsträger mit ins Boot zu bekommen. Nur wenn es von dieser Seite zu einer realistischen Refinanzierung der zusätzlichen Lasten kommt, werden ausreichend viele Weiterbildungsplätze geschaffen werden. Dies wiederum wäre auch im Interesse der Kostenträger. Die zweite Herausforderung für die Leistungserbringer besteht in der Bewältigung der mit der neuen Weiterbildungsordnung (WBO) verbundenen Logistik und Bürokratie. Dies reicht von den Anträgen zur Anerkennung als Weiterbildungsstätte bei der jeweiligen Landespsychotherapeutenkammer über das Finden geeigneter Weiterbildungsbefugter bis hin zur konkreten Betreuung zukünftiger Kolleg:innen, die sich in der Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeuten:in befinden. Diese müssen deutlich aufwendiger betreut werden als bisher. Auch hierfür werden (z. B. Personal-)Ressourcen benötigt. Schließlich ist auch die zeitliche Befristung der Tätigkeit im Rahmen der Weiterbildung (maximal zwei Jahre stationäre Tätigkeit) ein Problem bzw. eine Herausforderung für die Kliniken als Leistungserbringer. Hier besteht die Gefahr einer häufigen Personalrotation, welche nicht im Interesse der Kliniken und auch nicht der Kostenträger sein kann.
So gehen wir in der Praxis aktuell mit diesem Thema um:
Als kleinere stationäre Suchtrehaklinik werden wir nicht in der Lage sein, die oben genannten Weiterbildungsanteile selbst anzubieten. Wir machen uns daher gerade auf die Suche nach Kooperationspartnern (z. B. bei den Weiterbildungsinstituten). Wir haben uns bisher auch noch nicht final entschieden, ob wir die Anerkennung als Weiterbildungsstätte überhaupt anstreben werden. Neben der Prüfung der für uns in Frage kommenden Optionen beobachten wir aktuell die Entwicklung am Arbeitsmarkt besonders genau.
Zunächst einmal können wir festhalten, dass mit dem neuen Psychotherapeutengesetz der Weg zum/zur „einsatzfähigen“ Psychotherapeuten bzw. Psychotherapeutin kürzer und einfacher wird: Nach dem Bachelor-Studium der Psychologie, dem Master-Studium der Klinischen Psychologie und Psychotherapie sowie der Approbationsprüfung stehen künftig approbierte Psychotherapeut:innen nach gut fünf Jahren für die psychotherapeutische Behandlung in unseren Suchtfachkliniken zur Verfügung. Die bisher für eine Approbation erforderliche Weiterbildung mit einer Dauer von weiteren fünf Jahren ist nicht mehr Voraussetzung für eine Tätigkeit in der medizinischen Rehabilitation.
Falls wir uns als Praktikumsbetriebe engagieren, lernen wir die angehenden Psychotherapeut:innen bereits während ihres Studiums kennen. Das führt günstigstenfalls zu einer vorgezogenen Personalrekrutierung bzw. -bindung. Die erste Herausforderung wird sein, 17- bis 20-jährige Studierende sinnvoll in unseren Fachkliniken einzusetzen. Im Masterstudium sind sie mit vielleicht 21 bis 23 Jahren schon etwas reifer. Nach unseren bisherigen Erfahrungen sind neue Mitarbeiter:innen i.d.R. mit PT1- u. PT2-Erfahrungen deutlich sicherer im Patientenkontakt als noch Studierende und können insofern auch eher selbstständig mit Patient:innen arbeiten. Das bedeutet, dass künftige studentische Praktikant:innen stärker hilfs- oder begleitende Tätigkeiten ausüben werden. Für die Sinnhaftigkeit der Praktika wird es außerdem darauf ankommen, wie lange die Studierenden „am Stück“ in den Kliniken tätig sein werden. Das Fachkrankenhaus Hansenbarg der Alida Schmidt-Stiftung hat bereits eine Kooperation mit einer Hochschule für Praktika im Masterstudium vereinbart. Hierbei sollen die Studierenden die gesamte Praktikumszeit von dreieinhalb Monaten in unserer Fachklinik ableisten. In ländlicher Idylle gelegen, haben wir vorsorglich eine Wohnung im Nachbarort für eine potentielle Studierenden-WG angemietet und möbliert, damit das Praktikum nicht schon am täglichen Anfahrtsweg scheitert. Im Übrigen entstehen offenbar keine Kosten für den Praktikumsgeber. Der Aufwand beschränkt sich auf die Erstellung eines Einsatzkonzepts und die Betreuung der Praktikant:innen.
Wir gehen davon aus, dass die Psychotherapeut:innen nach der neuen Systematik direkt nach der Approbation in unseren Reha-Kliniken der Suchthilfe eingesetzt und voll auf den Stellenplan angerechnet werden können. Diese Fachkräfte könnten für unser Arbeitsfeld langfristig gebunden werden, wenn sie sich mit der Ausbildung bestehend aus Studium und praktischen Einsätzen ausreichend qualifiziert fühlen und keine langjährige Fach-Weiterbildung anstreben.
Ambivalent betrachten wir eine Beteiligung unserer Einrichtungen als Weiterbildungsstätte im Rahmen der Weiterbildung zum/zur Fachpsychotherapeuten bzw. Fachpsychotherapeutin. In der Bewertung fällt positiv ins Gewicht, dass für die Anerkennung als Weiterbildungsstätte bundesweit einheitliche Kriterien bestehen und die Anerkennung zwar nach Landesrecht durchgeführt wird, aber bundesweit gelten soll. Bisher leiden wir nämlich unter einem uneinheitlichen Vorgehen der Länder und sind mit unserer Fachklinik z. B. in Niedersachsen für die Weiterbildung zugelassen, nicht jedoch in Hamburg. Für eine Beteiligung an der Weiterbildung spricht auch, dass die Weiterbildung nicht nur in den Reha-Kliniken, sondern auch in unseren Einrichtungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Suchterkrankungen durchgeführt werden kann. So können die angehenden Fachpsychotherapeut:innen das gesamte Spektrum der Behandlung und Betreuung von Suchtpatient:innen kennenlernen. Und nicht zuletzt: Falls die PiW (Psychotherapeut:innen in Weiterbildung) während ihrer Weiterbildung von Anfang an auf den Stellenplan angerechnet werden können, entstehen auch hier keine zusätzlichen Personalkosten.
Allerdings erscheinen die Anforderungen an die Weiterbildungsstätten auf den ersten Blick sehr anspruchsvoll zu sein. Hier braucht es innerhalb der Klinik eine verantwortliche Person als Weiterbildungsbefugte:n, die für die Antragstellung, die Kooperation mit den Weiterbildungsinstituten, die Qualifizierung der PiW, die Erstellung des Weiterbildungsplans, die Dokumentation, die Fallbesprechungen und die Qualitätssicherung zuständig ist. Dies quasi nebenbei den – ohnehin nicht in der Personalbemessung der DRV enthaltenen – therapeutischen Leitungen aufzubürden, erscheint schwierig. Fraglich ist auch, welche langfristige berufliche Tätigkeit die Fachpsychotherapeut:innen nach Abschluss ihrer Weiterbildung ausüben wollen. Wird eine Zulassung zur ambulanten psychotherapeutischen Versorgung im System der gesetzlichen Krankenversicherung angestrebt, so werden diese Fachkräfte nach ihrer bei uns absolvierten Weiterbildungszeit von zwei bis drei Jahren wieder aus unseren Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe ausscheiden. Wir machen bereits jetzt die Erfahrung, dass die meisten PiAs (Psychotherapeut:innen in Ausbildung nach dem herkömmlichen System) nach Approbation in andere Tätigkeitsbereiche abwandern. Die ohnehin hohe personelle Fluktuation und die damit verbundenen organisatorischen Diskontinuitäten und Erfahrungsverluste werden sich damit weiter erhöhen.
Möglicherweise schotten wir uns jedoch ungewollt von einem großen Personalpool ab, wenn wir den Aufwand für die Weiterbildung scheuen. Denn bisher ist nicht absehbar, wie viele Masterpsychotherapeut:innen in ihrer beruflichen Laufbahn auf die Fach-Weiterbildung verzichten werden.
Gerne beteiligen wir uns weiterhin an einem Meinungs- und Erfahrungsaustausch im Rahmen des bus. e. V., um bei diesen Zukunftsfragen eine fundierte Entscheidung zu treffen.
Mathias Schuch
Mathias Schuch. Foto: Alex Habermehl
Dipl.-Psych., ehem. Leiter der Therapeutischen Einrichtung „Auf der Lenzwiese“, Höchst-Hassenroth/Odw., seit 2000 als Psychologischer Psychotherapeut / Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in eigener Praxis tätig (Psychotherapeutische Praxisgemeinschaft Buchhügel, Offenbach), seit 2020 Geschäftsführer der Main PVZ Offenbach gGmbH
Als Geschäftsführer des Psychotherapeutischen Versorgungszentrums Offenbach ist Mathias Schuch selbst in der Psychotherapie-Ausbildung tätig. Das folgende Statement ist die Zusammenfassung eines Telefon-Interviews mit KONTUREN online.
Mit der neuen universitären Ausbildung zum / zur Psychotherapeut:in, die mit der 1. Approbation abgeschlossen wird, werden die Absolvent:innen jünger und sie bringen mehr Praxiserfahrung aus dem Studium mit. Fraglich ist aber, wie die Universitäten diese Ausbildung werden leisten können. Das bisherige Lehrpersonal kann diese praktischen Kenntnisse kaum vermitteln. Auch werden gewisse Theorieinhalte des bisherigen Grundlagenstudiums außen vor bleiben. Gleichzeitig vergrößert sich der Gestaltungsspielraum der Universitäten im Sinne einer Art Monopolisierung. Sie können mehr Einfluss darauf nehmen, zu bestimmen, was Psychotherapie ist.
Positiv an der neuen Ausbildung ist eine Vereinheitlichung des klinisch ausgerichteten Studiums, problematisch ist, dass sich die Studierenden direkt zu Beginn ihres Studiums, also im Alter von ca. 19 Jahren, für die Fachrichtung Psychotherapie entscheiden müssen.
Die Verlagerung von mehr Praxisausbildung in die Studienzeit wird Auswirkungen auf die Ausbildungsinstitute haben. Davon gibt es momentan um die 200. Sie werden in Zukunft nur noch Angebote für die Weiterbildung durchführen können, nicht mehr für die Ausbildung. Da die approbierten Psychotherapeut:innen nach der neuen gesetzlichen Regelung für ihre Tätigkeit am Ausbildungsinstitut fest angestellt und voll bezahlt werden müssen, werden kleinere Institute möglicherweise Probleme mit der Kostenstruktur bekommen oder sogar schließen müssen. Somit könnten sich die Anzahl und die Kapazitäten der Weiterbildungsinstitute als Flaschenhals entwickeln und zu einer geringeren Anzahl an Fachpsychotherpeut:innen führen.
Sehr zu begrüßen ist, dass die approbierten Psychotherapeut:innen einen arbeits- und sozialrechtlich gesicherten Status haben, der dem von Assistenzärzt:innen bzw. von Fachärzten entspricht. Damit einher geht der Anspruch auf eine angemessene Vergütung einer Kliniktätigkeit. Allerdings ist eine entsprechende Finanzierung durch die Krankenkassen und Kostenträger bis zum heutigen Tage noch nicht gegeben. Zu erwarten ist aber, dass dadurch weniger Psychotherapeutenstellen besetzt werden. Psychotherapeut:innen mit der 1. Approbation können zwar schon vielfältig in den Kliniken eingesetzt werden, es ist aber anzunehmen, dass die DRV für bestimmte Tätigkeiten wie die Erstellung von Behandlungsplänen und Gutachten Psychotherapeut:innen mit Fachkundenachweis, also mit der 2. Approbation, fordert.
Fachpsychotherapeut:innen werden teuer, wenn sie in einer Suchtrehaklinik bleiben sollen. Im ambulanten Bereich können sie ihre Arbeitszeiten flexibler gestalten, haben ein breiteres Spektrum an zu behandelnden Diagnosen und verdienen sehr gut. Ein Vorteil der neuen Aus- und Weiterbildung für die Suchthilfe ist die Öffnung für Präventionsangebote.
Eine positive Vision für die Zukunft ist die enge Kooperation – z. B. in Form von Joint Ventures – zwischen stationären Einrichtungen und den Weiterbildungsinstituten, die Verschränkung zwischen dem stationären und ambulanten Bereich. Eine Schlüsselrolle spielen hierbei die Weiterbildungsbefugten. Für die Kliniken ist es sinnvoll, schon die Praktika während der Studienzeit zu nutzen, um potenzielle Weiterbildungskandidat:innen mit der Einrichtung vertraut und diese als Weiterbildungsstätte attraktiv zu machen.
Um für die Zukunft ihr psychotherapeutisches Fachpersonal zu sichern, müssen die Kliniken flexibel sein und sich für die Zusammenarbeit mit ambulanten Zentren und Praxen öffnen. Es geht nur im Netzwerk und mit Kooperation. Und: Raus aus der Glasglocke!
Seitdem durch den Bundesverband Suchthilfe (bus.) ausführliche Informationen über die neue Weiterbildungsordnung und auch zu den damit verbundenen Möglichkeiten für Rehabilitationseinrichtungen weitergeben wurden, beschäftigen wir uns intensiv mit dem Thema und wollen die Voraussetzungen für die Durchführung der Weiterbildung in unseren Rehabilitationseinrichtungen schaffen.
Aktuell sehen wir die neue Weiterbildung der Psychotherapeut:innen als große Chance, zumindest in dieser Berufsgruppe frühzeitig Fachkräfte als Bezugstherapeuten für die Arbeit in der Rehabilitation und mit Abhängigkeitserkrankungen zu gewinnen. Wir können die Weiterbildung stärker mitgestalten. Durch die Anerkennung der Master-Absolventen mit Approbation haben wir diese als Bezugstherapeuten für mindestens zwei Jahre im Rahmen ihrer Weiterbildung auszubilden und auch im Rahmen des Sollstellenplans zu beschäftigen. Das wertet den Tätigkeitsbereich Rehabilitation sehr auf, und wir können langfristig junge Fachkräfte für dieses Arbeitsgebiet gewinnen. Darin sehen wir nicht nur eine Chance, sondern vielleicht sogar eine „Rettung“ für einige Rehabilitationseinrichtungen, die besonders unter dem Fachkräftemangel leiden.
Auch dass wir uns fachlich mehr in die Weiterbildung einbringen können, ist gut, weil damit die Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen mehr Gewicht in der Weiterbildung zum / zur Fachpsychotherapeut:in bekommen könnte. Die Aufwertung der Psychotherapeut:innen, als Weiterbildungsbefugte benannt werden zu können, kann man sehr positiv sehen, weil sie auch die Rolle und Expertise der Psychotherapeuti:innen in der Rehabilitation stärkt.
Risiken sehen wir aber gleichzeitig in der Grundstruktur und Umsetzung. Wir bekommen als Weiterbildungsstätte die Verantwortung für die Erfüllung aller Anforderungen der Weiterbildungsordnung, was nicht nur personelle, sondern auch inhaltliche und finanzielle Aspekte umfasst. Dazu gehören dann auch die Theorievermittlung, Selbsterfahrung und Supervision. Es ist aus unserer Sicht nicht ausreichend geklärt, wie dies neben einer entsprechenden Vergütung der Tätigkeit zusätzlich finanziert und organisiert werden soll. Darunter könnte die Qualität der Ausbildung leiden. Arbeitgeber könnten sich entscheiden, zunächst auf die bereits ausgebildeten Psychotherapeut:innen zurückzugreifen, weil sie mit den neuen Regelungen überfordert sein könnten.
Aber auch hier besteht durch den Zusammenschluss von Rehabilitationseinrichtungen gemeinsam mit dem bus. eine Chance, die Umsetzung der Weiterbildung zu organisieren und damit wiederum eine gute Basis zu schaffen und sich noch mehr zu vernetzen.
In allen unseren Rehabilitationseinrichtungen wollen wir die Vorbereitungen treffen, um uns als Weiterbildungsstätte anerkennen zu lassen. Wir werden Weiterbildungsbefugte benennen, um Psychotherapeut:innen in Weiterbildung anstellen zu können. Ebenso haben wir schon einen Kooperationsvertrag mit einer Universität geschlossen, wollen dies mit weiteren Hochschulen erweitern, um bereits während des Masterstudiums Praktika anzubieten und die angehenden Psychotherapeut:innen mit unserem Arbeitsbereich vertraut zu machen.
Dr. phil. Clemens Veltrup
Dr. Clemens Veltrup
Dipl.-Psych., Leitender Therapeut der Fachklinik Freudenholm-Ruhleben, Schellhorn, Geschäftsbereichsleiter „Suchthilfe“ im Landesverein für Innere Mission in Schleswig-Holstein
Chancen: Endlich! Durch das neue Psychotherapeutengesetzt wird es den approbierten Psychotherapeut:innen möglich sein, die komplette stationäre Weiterbildungsphase in der stationären medizinischen Rehabilitation für Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen („Suchtrehabilitation“) zu absolvieren. Bei den Suchthilfeträgern, die auch über ambulante Einrichtungen (z. B. Suchtberatung,) verfügen, können die psychotherapeutischen Kolleg:innen zusätzlich weitere zwölf Monate für ihre Weiterbildung anrechnen lassen.
Die Rentenversicherungsträger werden die „neuen“ Psychotherapeut:innen in vollem Umfang für die psychotherapeutische Arbeit in den Rehabilitationskliniken anerkennen, so dass die Finanzierung der Personalstellen grundlegend gesichert ist. Die neuen Kolleg:innen können u. a. durch ihr aktuelles Fachwissen zur Verbesserung der psychotherapeutischen Arbeit in der Suchthilfe beitragen.
Damit kann es gelingen, dem zunehmenden Fachkräftemangel im psychotherapeutischen Bereich in den nächsten Jahren erfolgreich zu begegnen. Die bisher mit Psychotherapeut:innen in Ausbildung besetzten Stellen werden ja nur unter Auflagen von den Rentenversicherungsträgern anerkannt, die Approbation als Psychotherapeut:innen ist bisher für die stationäre und ambulante Suchtrehabilitation zwingend. Die Psychotherapeut:innen in Weiterbildung (PtW) können helfen, das Angebot der ambulanten Suchtrehabilitation aufrechtzuerhalten bzw. auszubauen.
Auch in der Eingliederungshilfe können die PtW im Rahmen der interdisziplinären Zusammenarbeit zu einer „wirksameren“ Hilfe für die Klient:innen beitragen.
Risiken: In den nächsten Jahren ist damit zu rechnen, dass es mehr Bewerber:innen als Weiterbildungsstellen gibt. Vor dem Hintergrund des erkennbaren zunehmenden Mangels an Suchttherapeut:innen besteht dann die Gefahr, dass die bewährte interdisziplinäre Zusammenarbeit sich verändert und Suchttherapeut:innenstellen mit Psychotherapeut:innen besetzt werden. Damit würde ein tragendes Element einer erfolgreichen Suchtrehabilitation geschwächt werden.
Somit gilt es, engagierte Sozialabeiter:innen/ Sozialpädagog:innen zu finden, die die Weiterbildung zum / zur Suchttherapeut:in beginnen. Auch hier müssen die Rentenversicherungsträger die bisherigen Auflagen für die Anerkennung kritisch überdenken und „bedarfsgerecht“ modifizieren.
Auch die Möglichkeiten von Ärzt:innen in Weiterbildung in der Suchtrehabilitation sollten deutlich verbessert werden. Es ist zu prüfen, ob nicht auch hier (mindestens) zwei Jahre Weiterbildungszeit für verschiedene Fachärzt:innengruppen anerkannt werden könnten (z. B. Fachärzt:in für Innere Medizin, Fachärzt:in für Allgemeinmedizin, Fachärzt:in für Psychiatrie und Psychotherapie).
Herausforderungen: Die Vermittlung von Theorie, Selbsterfahrung und die kontinuierliche Supervision müssen in den Kliniken neu organisiert werden. Es bietet sich aber die Möglichkeit und Chance an, dies z. B. über den bus. bundesweit zu organisieren.
Es gilt, Weiterbildungsbefugte für die PtW zu finden und ihre Tätigkeit entsprechend zu vergüten. Erfahrene approbierte Psychotherapeut:innen können diese Aufgabe grundsätzlich übernehmen.
Die Organisation der Weiterbildung für Psychotherapeut:innen bringt es mit sich, dass diese entweder nach Beendigung der Weiterbildungsphase die Klinik verlassen oder (nach Erhalt der Fachpsychotherapeut:innen-Qualifikation) eine Niederlassung in eigener Praxis anstreben. Diese Personalfluktuation muss im Rahmen der Personalplanung der Klinik angemessen berücksichtigt werden. Es gilt auch, angemessene Positionen für Fachpsychotherapeut:innen zu schaffen, z. B. als Leitende Psychotherapeut:innen für Abteilungen in der Klinik oder als Mitglied der Klinikleitung. Die neue Bereichsweiterbildung für „Sozialmedizin“ eröffnet den Fachpsychotherapeut:innen erweiterte Gestaltungsmöglichkeiten in der medizinischen Rehabilitation.
Vorgehen: So bald wie möglich werden wir die Anerkennung als Weiterbildungsstätte beantragen. Erfahrene Kolleg:innen werden wir motivieren, sich als Weiterbildungsbefugte bei der Psychotherapeutenkammer akkreditieren zu lassen. Und schon kann es losgehen!
Der Fachdiskurs der Sozialen Arbeit beschäftigt sich zunehmend mit dem Einsatz wirkungsorientierter Instrumente. Im folgenden Text plädieren wir dafür – trotz mitunter vorgetragener methodischer Bedenken –, mittels praktikabler Verfahren in die wirkungsorientierte Praxisforschung einzusteigen. Dabei wird auf den Vorzug teilhabe- und lebensqualitätsorientierter Instrumente im Kontext der Wirkungsanalyse verwiesen. Am Beispiel der Suchthilfe wird deutlich: Es geht um Beeinträchtigungen und Ressourcen in der gesamten Lebenswelt, in der auch die Soziale Arbeit mehrdimensional ansetzt.
Auf Basis der Erfahrungen mit der Personal Outcomes Scale, einem teilhabeorientierten Interviewverfahren, wird deutlich, dass Wirkungsorientierung realistisch ist und das Interview als Instrument sich besonders dazu eignet, klienten- und organisationsbezogene Informationen zu erheben und auszuwerten. Die Träger Jugendberatung und Jugendhilfe e.V. in Frankfurt und das Sozialwerk St. Georg in Gelsenkirchen haben in den vergangenen Jahren mehrere Tausend Menschen in unterschiedlichen Betreuungssettings – wie der Eingliederungshilfe oder dem stationären Wohnen – zu ihrer Lebensqualität interviewt. Ausgewählte Ergebnisse werden im Folgenden vorgestellt.
Wirkungsorientierung als Chance
Spätestens seit der Einführung des BTHG wird in der Eingliederungshilfe verstärkt über die Wirkung von Hilfeleistungen gesprochen. Aber nicht nur dort, sondern in der gesamten Sozialen Arbeit ist die Wirkungsorientierung seit Jahren ein mitunter kontrovers diskutiertes Thema. In der Praxis geht es allerdings oft schleppend voran. Die Gründe für eine stärkere Orientierung an der Wirkung sind bei alledem evident: Zunächst geht es um die Verpflichtung gegenüber interessierten Parteien wie den Leistungsträgern oder der öffentlichen Hand. Die Qualität der Angebote hat sich daran zu messen, ob die Angebote nachweislich die gesellschaftliche Teilhabe der Klientinnen und Klienten erhalten bzw. fördern. Eine evidenzbasierte Evaluation der Maßnahmen und Betreuungsformen dient aber auch der eigenen Positionsbestimmung und liefert Hinweise auf Veränderungs- und Verbesserungspotentiale der angebotenen Leistungen (Sozial.de, 2020). Ebenso sollte die Erfassung und Interpretation von Veränderungen seitens der Klientel hinsichtlich ihrer Lebenswelt und Lebensqualität als Gradmesser für die Wirkung Sozialer Arbeit fungieren.
Neben dem professionseigenen Anspruch der Sozialen Arbeit, wirksame Arbeit zu leisten, wird Wirkungsorientierung auch im Zusammenhang mit dem Bundesteilhabegesetz und den Landesrahmenverträgen gefordert. Dennoch erfolgte bislang keine abschließende Definition der Begriffe Wirkung und Wirksamkeit und auch keine Benennung von Verfahren und Instrumenten, mit denen die Wirkungsanalyse bzw. Wirksamkeitsmessung seitens der Leistungserbringer durchgeführt werden könnte. Vielmehr finden sich bei der Durchsicht der Landesrahmenverträge unterschiedliche Begriffsinterpretationen und Ansätze (Deutscher Verein 2022, S. 6 ff.). Dass sich hier noch keine routinierte oder gar einheitliche Handhabung durchgesetzt hat, dürfte auch damit zusammenhängen, dass in der Eingliederungshilfe Erfahrungen mit dem Nachweis von Wirkung fehlen. Die Bunderegierung stellte im Dezember 2022 fest: „(…) knapp sechs Jahre nach der Verabschiedung des BTHG ist die angestrebte Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe (…) noch nicht vollständig in der Praxis umgesetzt.“ (Deutscher Bundestag 2022, S. 18) Diese Unschärfe verschafft den Leistungserbringern allerdings auch Gestaltungsspielräume, um eigene Positionen zur Wirkungsorientierung erfahrungs- und evidenzbasiert zu entwickeln.
Wie lässt sich „Wirkung“ in der Eingliederungshilfe feststellen und beurteilen?
Heute zweifelt niemand mehr daran, dass die Ergebnisse der Sozialen Arbeit messbar und die Prozesse steuerbar sind. Gestritten wird lediglich darüber, welche Verfahren angewandt werden und wie wissenschaftlich anerkannt diese sind. Es gibt gute Gründe für experimentelle Designs zum Nachweis kausaler Effekte: Randomisierte kontrollierte Studien und Metaanalysen gelten als Goldstandard der evidenzbasierten Forschung. Sie gelten als die sicherste Methode, Nutzen und Risiken von Therapien zu bewerten. Hier kann von „Wirkungsmessung“ gesprochen werden.
Studien, die ohne Theoriebildung, Formulierung von Hypothesen, experimentelle Variation von Bedingungen, Kontrollgruppe und Randomisierung durchgeführt werden, sollten indes nicht von „Wirkungsmessung“ sprechen, denn dies suggeriert, dass bestimmte Effekte unmittelbar auf diese oder jene Intervention zurückzuführen sind. „Wirkungen in der sozialen Arbeit sind allerdings komplexer und lassen sich oft nicht im Sinne der korrelativen Rückführbarkeit auf einzelne Interventionen ‚messen‘“, heißt es im „Kursbuch Wirkung“ (Kurz & Kubek, 2013, S. 49 f.). Deshalb wird dort der Begriff „Wirkungsanalyse“ als der passendere vorgeschlagen.
In diese Richtung argumentieren auch Ottmann, König und Gander (2021). Sie schlagen eine theoriebasierte „Wirkungsplausibilisierung“ vor. „Die Realisierung von klassisch experimentellen Studien erscheint innerhalb der Sozialen Arbeit und der Eingliederungshilfe meist als schwierig und ethisch bedenklich, da bei diesen nur der Zufall entscheiden kann, ob einer bestimmten Person eine bestimmte Maßnahme, also Hilfe, zugeteilt wird oder nicht.“
Mit teilhabeorientierten Instrumenten Veränderungen darlegen
Wirkungsorientiert, wirkungsanalytisch oder mit dem Ziel der Wirkungsplausibilisierung in der Eingliederungshilfe der Suchthilfe zu arbeiten, heißt, auf der Basis von Fall-, Text- und Dokumentanalysen sowie von klientenbezogenen Verlaufsbetrachtungen eine Einschätzung zu gewinnen, „ob und in welchem Umfang gefundene Effekte, also beobachtbare Veränderungen oder Stabilisierungen, auf die Angebotsformen oder Formen der Leistungserbringung (Art, Inhalt, Umfang) auch tatsächlich zurückgehen“ (Ottmann et al., 2021).
Eine so verstandene Wirkungsorientierung wird dann ein erfolgreiches und nachhaltiges Projekt, wenn es gelingt, ein realistisches, sinnhaftes und vor allem auch praxiskompatibles Verfahren einzusetzen, um die Entwicklung der Lebensqualität der Klientinnen und Klienten zu dokumentieren und zu evaluieren. In diesem Sinn plädieren wir für eine im Dienst der Qualitätsentwicklung stehende Praxisforschung, die Veränderungen erfasst und plausibel macht, in welchem Verhältnis diese zu bestimmten Angeboten oder Settings stehen.
Experimentelle Studien und qualitativ ausgerichtete Praxisforschung sollten nicht als Gegensätze verstanden werden. Im Gegenteil: Den Dialog zwischen Praxis und Wissenschaft gilt es zu intensivieren, wozu beispielsweise auch seitens der Politik nachdrücklich aufgerufen wurde (Deutscher Suchtkongress, 2022). Zwingende Voraussetzung für die Praxisforschung in der Sozialen Arbeit sind Instrumente und Methoden, die darauf zielen, die psychosoziale Komplexität eines Falles sowie seine soziale bzw. gesellschaftliche Dimension zu erfassen. Teilhabeorientierte Instrumente bieten sich hierbei als Klammer für die Zusammenarbeit verschiedener Einrichtungen und Systeme in der Sozialen Arbeit an. Sie ermöglichen zudem Datenvergleiche zwischen Ländern, Disziplinen im Gesundheitswesen, Gesundheitsdiensten sowie im Zeitverlauf.
Eine pragmatische wirkungsorientierte Arbeit muss in der Lage sein, Veränderungen plausibel und nachvollziehbar darzulegen. Dafür braucht es gut begründete theoretische Annahmen darüber, welche Wirkungen die jeweiligen Angebote in den Einrichtungen zur Folge haben sollten. Diese Annahmen können dann mit empirischem Material, das aus Verlaufsmessungen resultiert, abgeglichen werden.
Wie werden diese Verlaufsmessungen durchgeführt? Ein geeignetes Instrument ist das Interview. Es ermöglicht die Erhebung und Auswertung subjektiver Deutungen und orientiert sich an individuellen und lebensweltlichen Besonderheiten. So kann qualitative Sozialforschung Lebensrealitäten erfassen, Problemlagen erkennen und Veränderungen anregen. Sie ermöglicht ferner Flexibilität ihren Gegenständen und Aufgaben gegenüber (Flick, 2012). Im Vergleich zu klassischen Fragebogen-Befragungen bieten Interviews den Vorteil, dass facettenreichere Aussagen gemacht werden. Die interviewende Person kann zudem flexibel nachhaken. Das Interview bietet die Möglichkeit, subjektive Deutungsmuster spezifisch zu thematisieren. Es existieren Vorannahmen und thematische Eingrenzungen, die aber gleichwohl die Möglichkeit offenlassen, im Interview Relevantes zu vertiefen. „Eigentliches Ziel des Interviews sind die subjektiven Erfahrungen der Personen, die sich in der vorweg analysierten Situation befinden.“ (Merton, 1979)
Lebensqualität als Maßstab von Veränderung – die Personal Outcomes Scale (POS)
In der Eingliederungshilfe werden die Kosten der Betreuung an die Ziele und Maßnahmen von Hilfeplänen geknüpft. Diese strikte Ableitung der Kosten von den Maßnahmen zur Zielerreichung führt in einem prospektiven System zwangsläufig zu Unschärfen, da sich die Bedarfe oft im Lauf der Unterstützung ändern. Das Erfahren von Teilhabe als Ausdruck von Wirkung ist nicht zwangsläufig gleichzusetzen mit der Erreichung von Zielen in einem Hilfeplan. Daher müssen sich Instrumente zur Messung von Teilhabequalität auch nicht ausschließlich mit der Frage auseinandersetzen, wie der Grad der Zielerreichung gewesen ist. Vielmehr gilt hier das subjektive Teilhabeempfinden als Indikator für eine wirksame Eingliederungshilfe. Aber wie kann Teilhabe gemessen werden, wenn diese doch eine grundlegende subjektive Komponente hat? Dies funktioniert auf der Basis evidenzbasierter Interviewverfahren.
Im Rahmen der Sozialen Arbeit spricht vieles für einen personen- und teilhabezentrierten Ansatz, bei dem die individuelle Verbesserung der Qualität des Lebens derjenigen Person, bei der Assistenz geleistet wird, das übergeordnete und primäre Wirkziel ist. Die Messung der individuellen Qualität des Lebens erfolgt mit dem Instrument der Personal Outcomes Scale (POS), einem wissenschaftlich fundierten, validen und reliablen und gleichzeitig praxistauglichen Messinstrument, welches im Rahmen eines iterativen Prozesses unter der Einbeziehung von Menschen mit Assistenzbedarf im Forschungskontext der belgischen Universität Gent entwickelt wurde (Claes et al., 2010).
Qualität des Lebens ist dabei im Sinne von Robert L. Schalock und Miguel A. Verdugo als mehrdimensionales Phänomen zu verstehen, das sich aus Kernbereichen zusammensetzt, die von persönlichen Merkmalen, Werten und Umweltfaktoren beeinflusst werden. Im Rahmen von internationalen Forschungsarbeiten wurden acht Lebensbereiche, die sogenannten Domänen, identifiziert, welche die individuelle Qualität des Lebens einer Person ausmachen. Die acht Domänen (Schalock & Verdugo, 2019) sind in Tabelle 1 dargestellt.
Tab. 1: Die acht Domänen der Qualität des Lebens. Quelle: Sozialwerk St. Georg (2021-2023)
Die POS basiert auf den acht Domänen der Qualität des Lebens und beinhaltet insgesamt 48 Fragen, jeweils sechs pro Domäne. Seit der Veröffentlichung der POS im Jahr 2008 wurde das Instrument in zwölf Sprachen übersetzt – darunter auch ins Deutsche (vgl. DGQ, 2019, S. 15) – und findet international aktuell in elf Ländern Anwendung (van Loon et al., 2012).
Die Qualität des Lebens wird im Rahmen eines von qualifizierten Interviewerinnen und Interviewern geführten Gesprächs mit der Person mit Assistenzbedarf erhoben. Hierfür stehen zur Unterstützung auch Piktogramme sowie eine Version des Fragebogens in Leichter Sprache zur Verfügung. Neben der subjektiven Selbsteinschätzung, der eine zentrale Bedeutung beigemessen wird, ist auch eine ergänzende fachliche Erhebung im Rahmen eines Interviews mit einer Person aus dem Unterstützungsnetzwerk möglich. Sollte ein POS-Interview nicht mit der Person selbst durchgeführt werden können, kann alternativ ein sogenanntes Report-by-Others-Interview durchgeführt werden. Hierbei handelt es sich um ein moderiertes Konsensgespräch zweier Vertrauenspersonen, die die eigentlich zu interviewende Person gut kennen, z. B. eine mitarbeitende Person (professionelles Netzwerk) und ein Familienmitglied (soziales Netzwerk).
Wichtig für die Erhebung der Qualität des Lebens mittels der POS ist die Qualifizierung der Interviewerinnen und Interviewer. Dazu wurde ein Schulungskonzept entwickelt, welches zu einem international gültigen Zertifikat führt. Im Rahmen einer Grundlagenschulung wird den Interviewerinnen und Interviewern das Konzept der Qualität des Lebens vermittelt sowie der Einsatz und der Aufbau des Fragebogens mit den Indikatoren und den Antwortmöglichkeiten verdeutlicht. Darüber hinaus werden die Themen Interviewführung, Gesprächsablauf und Haltung besprochen. Die Interviewer:innen sollen befähigt werden, die Fragen methodisch so zu kommunizieren, dass sie von den Befragten inhaltlich verstanden werden und die Antworten den zur Verfügung stehenden Antwortmöglichkeiten zutreffend zugeordnet werden können. Ergänzt wird die Schulung durch begleitete Erst-Interviews.
Voraussetzung dafür, dass die Qualität des Lebens erfolgreich erhoben und ausgewertet werden kann, ist, den gesamten Prozess der Einführung und Durchführung der POS in das Qualitätsmanagement zu integrieren. Der Einsatz der POS muss systematisch und kontinuierlich verfolgt werden. Darin eingebunden sind neben den Interviewerinnen und Interviewern die Prozessverantwortlichen ebenso wie das Analysenetzwerk, in dem die Ergebnisse aufbereitet und ausgewertet werden.
Die Antworten zu den 48 Indikatoren werden mit Punktwerten von 1 bis 3 (3er Likert-Skala) hinterlegt. Aufsummiert ergeben sie einen POS-Wert zwischen 48 und 144 Punkten, der die individuelle Qualität des Lebens auf der Personal Outcomes Scale angibt. Tabelle 2 zeigt POS-Ergebnisse für zwei verschiedene Angebote des Sozialwerks St. Georg aus dem Jahr 2022. Um festzustellen, ob den vorhandenen Unterschieden eine Bedeutung beigemessen werden kann oder ob sie zufällig entstanden sind, wurden mittels des Statistikprogramms SPSS t-tests für unabhängige Stichproben bzw. bei gleichen Personen t-tests für verbundene Stichproben durchgeführt. Das Signifikanzniveau ist auf p < 0.05 festgelegt. Dies entspricht einer maximalen Irrtumswahrscheinlichkeit von fünf Prozent.
Tab. 2: POS-Ergebnisse zweier Angebote im Vergleich; *=signifikant. Quelle: Sozialwerk St. Georg, POS-Bericht (2023)
Darüber hinaus besteht im Rahmen der POS-Interviews die Möglichkeit, über qualitative Kommentare herauszustellen, welche Themen den Befragten besonders wichtig sind, welche Ziele und Wünsche (vgl. Tabelle 3) sie im Hinblick auf die Verbesserung ihrer Qualität des Lebens haben und welche Unterstützung sie dahingehend noch benötigen.
Tab. 3: Themenfelder der am häufigsten genannten Wünsche der Klientinnen und Klienten im Jahr 2022. Quelle: Sozialwerk St. Georg, POS-Bericht (2023)
Nicht zuletzt besteht die Möglichkeit, über den Vergleich der POS-Interviews der gleichen Befragten über mehrere Jahre hinweg Entwicklungsverläufe und Veränderungen in der Qualität des Lebens zwischen verschiedenen Zeitpunkten nachzuweisen, sowohl für die einzelne befragte Person als auch aggregiert für ganze Einrichtungen oder Organisationen. Tabelle 4 zeigt die Zeitverlaufsanalyse 2020/2022 mit 298 Klientinnen und Klienten im Sozialwerk St. Georg.
Tab. 4: Zeitverlaufsanalyse 2020/2022 mit 298 Klientinnen und Klienten; MW = Mittelwert; *=signifikant. Quelle: Sozialwerk St. Georg, POS-Bericht (2023)
Den Einzelfall in den Blick nehmen
In soziologischen Schriften zur Enttraditionalisierung und Flexibilisierung von gesellschaftlichen Lebensverhältnissen wird überzeugend argumentiert, dass Veränderungen der Lebensbedingungen auch Veränderungen der individuellen Wahrnehmung zur Folge haben (vgl. Menke, 2010; Honneth et al., 2005; Rosa, H., 2005; Busch, 2001; Beck 1986).
Die immer individuelleren Lebensentwürfe der modernen Gesellschaft führen dazu, dass die Sozialforscher mit klassischen Kategorienbildungen die Dimensionen des Einzelfalls nicht mehr hinreichend erfassen. Daraus haben Vertreter der qualitativen Sozialforschung die Konsequenz gezogen, die lokalen und lebensweltlichen Besonderheiten des einzelnen „Falls“ verstärkt in den Blick zu nehmen, anstatt mittels standardisierter Verfahren davon zu abstrahieren. Dort, wo es um die realistische Unterstützung von Menschen geht, ist die Fokussierung auf konkrete subjektiv erlebte Teilhabebeeinträchtigungen besonders wichtig, sonst entstehen schnell Überforderung und Belastung.
Die im Sozialwerk St. Georg durchgeführte Studie mit den POS-Interviews ist nicht als randomisierte kontrollierte Studie nach „Goldstandard“ konzipiert. Das POS-Verfahren begreifen wir als wirkungsorientierte Evaluation der Lebensqualität von Menschen mit Assistenzbedarf in der Eingliederungshilfe. Eine randomisierte Verteilung auf Interventions- und Kontrollgruppe ist hier praktisch ebenso wenig durchführbar wie eine Kontrollbedingung, bei der Abhängige nicht oder später behandelt werden (Warte-Kontroll-Bedingung). Die Aussagekraft der Studie wird dadurch begrenzt. Die Ergebnisse sind nicht generalisierbar, ebenso wenig behaupten wir kausale Nachweise im Sinne eines Ursache-Wirkungszusammenhangs (Treischl & Wolbring, 2020).
Von der Veränderungsfeststellung zur Plausibilisierung
Wirkung muss nachvollziehbar beschrieben werden (Weiland, 2019). Die systematische Messung der individuellen Qualität des Lebens gibt Aufschluss darüber, ob gewünschte Veränderungen erreicht werden konnten oder ob negative Entwicklungen eingetreten sind, die nicht intendiert waren. Zudem kann beurteilt werden, ob ein stabiler Zustand positiv, wie geplant, gehalten wurde oder ob sich die Lebensqualität verschlechtert hat. Die systematische Auseinandersetzung mit den erhobenen Daten ist Bedingung für eine Plausibilisierung von Veränderungen.
Die plausibilisierte Beschreibung des Zustandekommens des Outputs – und seiner Bedeutung für die Person (persönliches Outcome) – ist wesentlich für die Messung der individuellen Qualität des Lebens. Dieses Wissen führt, sofern es reflektiert und genutzt wird, auch zur Erweiterung der Handlungskompetenz und stärkt die Selbstwirksamkeit. Der/die Betreffende lernt aus dem Prozess und ist für die Zukunft besser gewappnet. Somit entsteht ein langfristiger Nutzen.
Auch für Einrichtungen und die Prozessbeteiligten ist es sinnvoll, Wirkungsorientierung zu etablieren. Es ist zu definieren, aufgrund welcher Faktoren sich Effekte manifestieren. Hier sind die Organisationen aufgefordert, herauszuarbeiten und zu gewichten, in welchen Kontexten sich Wirkung darstellt. Wirkung kann in drei Dimensionen festgestellt werden: auf der individuellen Ebene (Deutscher Verein, 2022, S. 9 u. 12), im Bereich des Sozialraums sowie innerhalb der Organisationskultur. Welchen Einfluss haben z. B. Fachkräftemangel und ÖPNV-Situation? Ferner wären Klientenbeiräte zu bilden, die sich an Fokusgruppen zur Auswertung beteiligen. Schließlich sind Managementteams gefragt, die die Ergebnisse der betrieblichen Planungsprozesse im Hinblick auf ökonomische, rechtliche, inhaltliche, aber auch organisationskulturelle Wirkfaktoren auswerten. Wie ist der Stand beim Thema „gelebtes Leitbild“, gibt es eine Organisationskultur, die Mitarbeitende einbezieht?
Der Königsweg könnte also ein innerbetrieblicher Reflexionsprozess sein, der die wichtigsten und dringendsten Wirkannahmen herausarbeitet. Diese Annahmen sollten mit denjenigen empirischen Informationen abgeglichen werden, die man aus den POS-Interviews ziehen kann. Wo taucht z. B. Corona, Sozialraum, ÖPNV auf, welche Auswirkung hat dies individuell? Und auch mit 100 Interviews pro Jahr lässt sich eine Querschnittsanalyse erstellen, mit der die Organisation arbeiten kann, um einen Wirksamkeitsnachweis zu erhalten. (Die drei deutschen POS-Anwenderorganisation haben 2022 insgesamt 1.049 POS-Interviews durchgeführt.)
Mut zur Wirkungsanalyse
In der Praxis wird deutlich, dass die POS auf drei Ebenen ihre Wirkung entfaltet. Auf der Mikroebene liefert sie Ergebnisse über die individuelle Qualität des Lebens einer Person und ermöglicht es somit, konkrete Rückschlüsse auf die direkte Klientelarbeit zu ziehen. Aus den Einschätzungen und Aussagen der Klientel können Impulse für die Unterstützung, die Angebote und das Setting gewonnen werden. Diese Ebene betrifft die unmittelbare Zusammenarbeit zwischen Klient:innen und Assistenz und dient dazu, die gewonnenen Informationen in die Klientelarbeit im Sinne eines individuellen Unterstützungsplans zu überführen und Veränderungen im Laufe der Jahre zu verstehen. Dabei sind insbesondere auch die qualitativen Anmerkungen von Bedeutung, die während des POS-Interviews zusätzlich zur Eintragung in die Skalen festgehalten werden.
Im Hinblick auf die Organisationsentwicklung sollen die gewonnenen POS-Ergebnisse in Kombination mit anderen Evaluationsergebnissen zur Weiterentwicklung und Verbesserung der Angebote beitragen. Diesen Prozess gilt es konzeptionell zu planen und zu steuern. Er ermöglicht die passgenaue Ausrichtung von Strukturen und Prozessen auf die Teilhabewünsche und Teilhabeerfordernisse der Klientinnen und Klienten. Dabei verfolgen wir das Ziel, mithilfe von Fach- und Analyseteams Wirkfaktoren zu ermitteln, mit denen Veränderungen hinsichtlich der Lebensqualität der Klientel – empiriegestützt (vgl. z. B. die Corona-Studie von Sozialwerk St. Georg/XIT, 2021) und theoretisch plausibel – erklärt werden können. Zu diesen Wirkfaktoren gehören beispielweise Personalprobleme, die zu mehr Fremdarbeitseinsatz führen, oder die Kontinuität von Leitungen und Teams, die zu mehr oder weniger stabiler Teilhabearbeit führt, oder die Organisation der BTHG-Umsetzung, die Einfluss auf Ziele und Wirkungen hat.
Im nächsten Entwicklungsschritt werden aggregierte Interviewergebnisse über mehrere Jahre hinweg erfasst, evaluiert und zur operativen und strategischen Entwicklung nutzbar gemacht.
Ferner können auch die aggregierten, visualisierten qualitativen Kommentare zur Rückkopplung der Ergebnisse genutzt werden. Die Trends aus den Interviews können gemeinsam mit der Klientel (in Gruppensitzungen oder in Arbeitskreisen) konkretisiert und für die Assistenz fruchtbar gemacht werden.
Auf der Makroebene geht es um das Benchmarking von gleichen oder unterschiedlichen Einrichtungstypen, um Erkenntnisse darüber, wie Einrichtungstypen sich auf die Teilhabequalität der Klientel auswirken und welchen Einfluss bestimmte (auch externe) Faktoren haben. Diese Informationen sind zunächst losgelöst von der praktischen Einrichtungsebene und können nach Auswertung wieder in die Einrichtungen zurückgeführt werden. Zudem können die gewonnenen Erkenntnisse Eingang in den sozialpolitischen Diskurs finden (Kurz & Kubek, 2013).
Letztlich geht es darum, die gewonnenen Erkenntnisse für die Betreuungssituation nutzbar zu machen. Wenn keine kausalen Wirkungsnachweise erbracht werden können, ist die Darstellung von Wirkungsplausibilität das Mittel der Wahl. Ein teilhabeorientiertes Interview weist in diesem Kontext im Vergleich zu Fremdratings oder anderen Verfahren deutliche Vorteile auf, vor allem ist die Durchführung der POS-Interviews im Arbeitsalltag wesentlich unaufwändiger als eine andere im wissenschaftlichen Setting durchgeführte Untersuchung. Interviews liefern außerdem zusätzlich Anamnesedaten und Erkenntnisse über Bedarfe.
Mit der POS steht ein Instrument zur Verfügung, welches Aussagen zur Teilhabe und Wirkungsorientierung liefert. Dieses Instrument gilt es nun in der Kombination von Wissenschaft und Praxis zum Wohle der Klientel nutzbar zu machen, damit wir uns endlich über Ergebnisse austauschen, nicht bloß über Annahmen.
Kontakt und Angaben zu denAutor:innen
Frank Löbler
Sozialwerk St. Georg e.V.
Ressortleiter Qualität/Qualitätsmanagementbeauftragter
Master Trainer POS-Deutschland
Uechtingstraße 87, 45881 Gelsenkirchen
Telefon: 0209 7004 320 f.loebler@sozialwerk-st-georg.de
Sandra Schneider Sozialwerk St. Georg e.V.
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Ressort Qualität
Telefon: 0209 7004 322 S.Schneider@sozialwerk-st-georg.de
David Schneider, Dipl.-Soziologe
Jugendberatung und Jugendhilfe e.V.
Evaluation & Bildungskoordination
Gutleutstraße 160-164, 60327 Frankfurt
Telefon: 069 743480 13 david.schneider@jj-ev.de
Konstantin Loukas, Dipl.-Soziologe
Jugendberatung und Jugendhilfe e.V.
Fachbereichsleitung Eingliederungshilfe
Telefon: 069 743480-49 konstantin.loukas@jj-ev.de
Literatur:
Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Frankfurt am Main.
Bernshausen, G., Löbler, F. (2019): Innovation personenbezogener Dienstleistungen als Prozess.
Busch, Hans-Joachim (2001): Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft. Weilerswist
Claes, C., Van Hove, G., van Loon, J., Vandevelde, S., & Schalock, R. L. (2010): Quality of life measurement in the field of intellectual disabilities: eight principles for assessing quality of life-related personal outcomes. SOCIAL INDICATORS RESEARCH, 98(1), 61–72. https://doi.org/10.1007/s11205-009-9517-7
DGQ – Deutsche Gesellschaft für Qualität (2019). Wirkung sozialer Dienstleistungen erfassen. Fachkreis QM in der sozialen Dienstleistung. Whitepaper, November 2019.
Deutscher Suchtkongress (2022): Neue Wege in Behandlung, Prävention und Forschung. Programmheft, Lübeck, S. 3 f.
Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (2022): Eckpunkte zu Wirkung und Wirksamkeit in der Eingliederungshilfe (DV26/10), verabschiedet vom Präsidium am 07.12.2022.
Deutscher Bundestag. Unterrichtung durch die Bundesregierung (2022): Bericht zum Stand und zu den Ergebnissen der Maßnahmen nach Artikel 25 Absatz 2 des Bundesteilhabegesetzes. Drucksache 20/5150 vom 23.12.2023.
Flick, U. (2012): Qualitative Sozialforschung (Bd. 5. Auflage). Hamburg, 37.
Honneth, A. (Hg.) 2005): Befreiung aus der Mündigkeit. Frankfurt am Main. 141-159.
Menke, C., Rebentisch, J. (Hg.) (2010): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Frankfurt am Main. 2010.
Merton, R. K., Kendall, L. P. (1979). Das fokussierte Interview. In: Hopf, C., und Weingarten, E. Qualitative Sozialforschung, 171.
Ottmann, S. K., König, J., Gander, C. (2021). Wirkungsmodelle in der Eingliederungshilfe. Zeitschrift für Evaluation, 20. Jahrgang, Heft 2, 319.
Rosa, H., (2005). Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Suhrkamp, Frankfurt am Main.
Schalock R. L., Miguel A. Verdugo M. A., (2012). Handbook on Quality of Life for Human Service Practioners. Washington.
Schalock, R.L., Keith, K., Verdugo, M.A. & Gomez, L.E. (2010). Quality of Life Model Development and Use in the Field of Intellectual Disability. In: R. Kober (Hrsg.), Enhancing the Quality of Life of People with Intellectual Disabilities (S. 17-32). Dordrecht, Heidelberg, London, New York, 2012.
Sozialwerk St. Georg e.V. (2023): Bericht 2022. Qualität des Lebens/Personal Outcomes Scale. Broschüre, Gelsenkirchen.
Sozialwerk St. Georg e.V./Xit (2021): Qualität des Lebens von Menschen mit Assistenzbedarf – trotz Corona-Krise. Empirische Analyse der Auswirkungen der Corona-Pandemie in der Eingliederungshilfe: Messung der Qualität des Lebens im Sozialwerk St. Georg mit der personal Outcomes Scale. Nürnberg/Gelsenkirchen.
Treischl, E., Tobias Wolbring, T. (2020): Wirkungsevaluation, Juventa 2020, 55.
van Loon, J. B., Bernshausen, G., Löbler, F., Buchenau M. (2012): POS Personal Outcomes Scale. Individuelle Qualität des Lebens messen. Gelsenkirchen. BoD.
Bei Menschen mit einer Substanzkonsumstörung oder einer verhaltensbezogenen Störung findet sich häufig eine „Multiproblemlage“ (z. B. Giersberg et al. 2015). Diese Konstellation erfordert es, Hilfe in verschiedenen Hilfekontexten anzubieten. Dafür stehen in einem konkreten regionalen Sozialraum in der Regel verschiedene Angebote bereit, die in der Lage sind bzw. extra dafür eingerichtet wurden, Menschen mit süchtigem Substanzkonsum oder einer Verhaltenssucht zu unterstützen (s. Abb. 1).
Abb. 1: Suchthilfebezogene Angebote im kommunalen Raum (eigene Darstellung)
Die in Abb. 1 genannten Unterstützungsangebote sind eine idealtypische Beschreibung. Sie agieren in Bezug auf die oben angesprochenen „Multiproblemlagen“ als (Sucht-)Hilfenetzwerk, zu dem auch die Angebote der Suchtselbsthilfe gehören. Die Fokussierung auf die Substanzkonsumstörung ist dabei mehr oder weniger explizit.
Häufig stellen Angebote mit verschiedenen sozialrechtlichen Kontexten in einem regionalen Suchthilfesystem eine Sonderform für Menschen mit Suchterfahrungen – gemeint sind Menschen mit substanz- und verhaltensbezogenen Störungen und Beeinträchtigungen sowie ihr soziales Umfeld – dar. Zu den unterschiedlichen sozialrechtlichen Kontexten gehören z. B. der versicherungsrechtliche Leistungsanspruch, Eingliederungshilfe, Jugendhilfe oder Jobcenter. Diese Vielfalt führt dazu, dass je nach sozialrechtlichem Hintergrund die Logiken und Ressourcen, mit denen Menschen mit Substanzkonsumstörung erreicht werden sollen, recht unterschiedlich sind und dass häufig erstmal ein gemeinsames Fallverständnis konstruiert werden muss, um Unterstützungsleistungen tatsächlich, und nicht nur prinzipiell, zu ermöglichen (vgl. Blankenburg und Hansjürgens 2022) (dies gilt auch für andere Personengruppen mit interprofessionellem Unterstützungsbedarf, z. B. Krebspatient:innen). So besteht z. B. im sozialversicherungsrechtlichen Kontext der medizinisch orientierten Suchthilfe seit 1968 ein Rechtsanspruch auf Behandlung explizit für Personen mit einer Substanzkonsumstörung. Dies gilt jedoch nicht in allen Bereichen. So ist z. B. im Kontext der Eingliederungshilfe, insbesondere nach der Neuordnung durch das BTHG, der Status von suchterfahrenen Menschen noch nicht in allen Bereichen geklärt und bringt für die unterstützende Organisation, z. B. beim Stellen notwendiger Anträge für die Leistungsgewährung, Unsicherheiten. Der Leistungsanspruch muss hier über ein spezifisches Konstrukt, z. B. Behinderung, begründet werden (vgl. Tranel und Hansjürgens 2022).
Darüber hinaus gibt es weitere professionelle Hilfeangebote, für die zwar kein Antrag nötig ist, deren Mitarbeitende aber Menschen mit süchtigem Substanzkonsum oder einer Verhaltenssucht nicht immer ohne Misstrauen begegnen (z. B. Jugendhilfe, komplementäre Hilfen, Jobcenter etc.). Nicht zu vergessen sind die Angebote der Selbsthilfe, die einer weiteren Logik folgen, nämlich der der Peer-Unterstützung und Genesungsbegleitung. Hier sind häufig informelle Zugänge und Logiken des Zugangs zu beachten.
Funktion Suchtberatung als zentrale Schnittstelle für Vermittlung
Um in dieser Komplexität eine passgenaue Hilfe für Betroffene und ihr soziales Umfeld zu ermöglichen, fungiert die Suchtberatung als sektorenübergreifende Schnittstelle. Darin hat sie sich bis heute als unverzichtbar erwiesen (Hansjürgens und Schulte-Derne 2021). Eine ihrer in diesem Zusammenhang als zentral angesehenen Tätigkeiten ist die „Vermittlung“. Diese Vermittlung soll einerseits dazu dienen, passende Hilfeangebote für Personen zu finden bzw. Fehlallokationen (= falsche Zuordnungen) zu vermeiden (Gatekeeperfunktion), andererseits soll sie – bei einer grundsätzlich angenommenen Ambivalenz zur Annahme von Hilfen – die Motivation zur Annahme von Hilfen, insbesondere im medizinischen Kontext (Entzug und medizinische Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen), herstellen (Brückenfunktion und Motivierung) (Hansjürgens 2018).
Dass dieses Unterfangen nicht trivial zu sein scheint, zeigt sich in bisher gescheiterten Versuchen, diese „Vermittlung“ aus administrativer Sicht weniger aufwendig zu gestalten, indem sogenannte bürokratische Hürden gesenkt wurden. Konzipiert wurde ein Verfahren mit der Bezeichnung „Direkt- oder Nahtlosvermittlungen“ aus dem medizinischen Sektor (z. B. Arztpraxen oder Krankenhäuser) in die medizinische Rehabilitation. Empirisch untersucht wurde der Versuch, Hausärzt:innen mit Hilfe evidenzbasierter Screening- und Kurzinterventionsverfahren und der Möglichkeit einer Direktvermittlung in stationäre Rehabilitation zu ermutigen, hier aktiver vorzugehen und einen neuen Behandlungspfad zu etablieren (Fankhänel et al. 2014). Dieser Versuch wurde im Rahmen der Studie als grundlegend gescheitert beurteilt (ebd.).
Darüber hinaus zeigt die Deutsche Suchthilfestatistik, dass über alle Substanzen hinweg nur ein Prozent der Vermittlungen in stationäre Rehabilitation aus ärztlichen und psychotherapeutischen Praxen erfolgt, und 16,8 Prozent erfolgen aus psychiatrischen Krankenhäusern (möglicherweise aus dem Entzug) (IFT Institut für Therapieforschung 2022b, Tab. 2.11). Demgegenüber wurden aus Einrichtungen der ambulanten Suchtberatung 54,3 Prozent der Personen, die eine Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen antraten, vermittelt (ebd.).
Diese Datenlage gibt Anlass zu fragen, welche Plausibilitäten die gute Funktionalität der Leistung „Vermittlung“ der Suchtberatung gegenüber anderen Instanzen erklären können. Da Vermittlung in diesem Kontext zu einem weit überwiegenden Teil innerhalb der Leistung „Sucht- und Drogenberatung“ (IFT Institut für Therapieforschung 2022a, Tab. E 6) durch Fachkräfte der Sozialen Arbeit angeboten wird, soll für den nachfolgenden Plausibilisierungsversuch die handlungstheoretische Perspektive Sozialer Arbeit eingenommen werden.
Vermittlung als sozialarbeiterische Tätigkeit im Kontext von Suchtberatung
Aus der Perspektive von Leistungsträgern wird Vermittlung häufig als formaler administrativer Akt verstanden, bei dem Klient:innen sowohl über prinzipiell zur Verfügung stehende Hilfeangebote informiert werden als auch handlungspraktische Unterstützung beim Erstellen der dafür notwendigen Anträge erhalten. Aus dieser Perspektive ist Vermittlung eine Art „Clearing- und Durchgangsstation“ mit vorbereitendem bzw. zuarbeitendem Charakter auf dem Weg zu einer „eigentlichen Leistung“. Die oben dargestellte empirische Datenlage zeigt jedoch, dass sich die Performanz von Vermittlung in der Suchtberatung allein über diese Sichtweise nicht plausibilisieren lässt. Um etwas handlungstheoretisches Licht in diese Blackbox zu bringen, soll hier eine Perspektivenerweiterung aus sozialarbeiterischer Sicht vorgenommen werden.
Will man die oben beschriebene empirisch sichtbare Performanz von Suchtberatung in Bezug auf Vermittlung in stationäre Rehabilitation besser verstehen – was zu einer Erklärung des Erfolges durch die fachliche Leistung Sozialarbeitender führt –, kommen neben der administrativen Dimension mindestens noch drei weitere Dimensionen dazu (s. Abb. 2):
Abb. 2: Multiperspektivischer Blick auf Vermittlung (eigene Darstellung)
Suchtberatung zeichnet sich demnach durch folgende vier Dimensionen aus:
die administrative Perspektive: Information über bestehende Hilfeangebote, Unterstützung bei Antragstellung
die inhaltliche Perspektive: Themen, die zum Inhalt gemacht und verhandelt werden
die Beziehungsperspektive: das Geschehen zwischen den Akteur:innen (Klient:in und Sozialarbeiter:in)
die theoretische Perspektive: die Frage, wie sich das Geschehen im Rahmen der Vermittlung aus system- bzw. sozialarbeitstheoretischer Sicht erklären lässt
Weiter ist zu fragen, in welchen Wechselwirkungen diese Perspektiven zueinanderstehen und was dies für die Handlungsebene (Inhalt und Interaktion) einer sozialarbeiterischen Fachkraft bedeuten kann.
Vermittlung als inhaltliches Geschehen
Betrachtet man Vermittlung aus einer inhaltlichen Perspektive, stellt sich die Frage, welche Themen mit welcher Priorisierung verhandelt werden. Zunächst einmal wäre hier – mit Blick auf empirische Rekonstruktionen in der Suchtberatung (Hansjürgens 2014, 2018) und eine darauf Bezug nehmende handlungstheoretische Konzeptionalisierung – die sozialarbeiterische Fallkonstruktion (Hansjürgens 2022) zu nennen. Kernelement dieser Konstruktion ist, dass Klient:innen Raum gegeben wird bzw. gegeben werden sollte, sich und ihre aktuelle Situation klarer wahrzunehmen, zu verstehen und darüber sprechen zu können. Dadurch soll Klient:innen die Erfahrung ermöglicht werden, dass sie sich verständlich machen können und gehört werden. Dies hat häufig den Effekt, dass Klient:innen in einer möglicherweise für sie unübersichtlich gewordenen Situation wieder selbstwirksam agieren und das Gefühl von Kontrolle über Geschehnisse zurückbekommen und sich für Reflexionen öffnen können.
Gleichzeitig werden in diesem erstmal primär auf die Darstellungen der Klient:innen ausgerichteten und manchmal wenig formal geordneten Verständigungsprozess häufig wichtige Detailinformationen gegeben (z. B. in Bezug auf die berufliche Situation, die familiäre Situation, die Wohnsituation). Diese Details mögen zwar in einem als administrativ verstandenen Vermittlungsprozess eine untergeordnete Rolle spielen, sind aber für die Klient:innen persönlich von hoher Bedeutung. Nicht selten geben diese Details wichtige Hinweise darauf, wie ein Angebot gestaltet sein müsste, damit es für den oder die spezifische:n Klient:in annehmbar ist. Darüber hinaus können diese Informationen Erklärungen für eine möglicherweise bisher ambivalente Haltung gegenüber der Inanspruchnahme von Hilfen liefern. Eine ambivalente Haltung beruht nicht selten auf der oben erwähnten Multiproblemlage (existenzbedrohende materielle und soziale Umstände) und eher weniger darauf, dass der/die Klient:in die Hilfe nicht annehmen will.
Diese prekäre Multiproblemlage drückt sich auch dadurch aus, dass die Klient:innen häufig nur (noch) wenig Wahlmöglichkeiten in Bezug auf ihre soziale Situation haben (z. B. Partner:in droht mit Verlassen; Jugendamt, Jobcenter oder Gericht haben eine Suchthilfemaßnahme zur Auflage gemacht; Vermieter:in droht mit Kündigung usw.). Diese sehr eingeschränkten Wahlmöglichkeiten in Bezug auf die eigene soziale Situation deuten neuere Konzeptionen als Mangel an Teilhabe (Bartelheimer et al. 2022, S. 26). Der Konsum psychoaktiver Substanzen wirkt in dieser Situation (genau wie bei psychischen Komorbiditäten) als kurzfristige Entlastung. Mittel- bzw. langfristig jedoch verstärkt sich die mangelnde Teilhabe durch das Konsumverhalten und es entwickelt sich eine Sucht.
Diese Deutung und die Anerkennung, dass die soziale Situation als Belastung und akute Bedrohung erlebt wird, ermöglichen es, eine ambivalente oder ablehnende Haltung als Ausdruck der mangelnden Teilhabe zu verstehen, und nicht als Teil der Krankheit Sucht. Dies verändert die Perspektive auf den Fall insofern, als nicht die Substanzkonsumstörung oder Verhaltenssucht zuerst behandelt werden muss, um Teilhabe zu ermöglichen. Vielmehr kann durch die Erarbeitung von Wahloptionen im Rahmen des Vermittlungsprozesses, die sich auf verschiedene Bereiche und nicht nur auf ein Mitspracherecht bei der Einrichtungswahl beziehen können, erst ein Zugang zu subjektiv bedeutsamen Zielebenen in Bezug auf soziale Teilhabe geschaffen werden. Dies geht über eine Entwicklung von smarten Therapiezielen weit hinaus.
Der Fokus auf die Selbstwahrnehmungen und Priorisierungen der Klient:innen ermöglicht es, die Situation des/der Klient:in noch genauer zu verstehen und im Dialog zu verdeutlichen, welche professionelle Unterstützung (z. B. durch eine Rehabilitation oder eine andere Maßnahme) Teilhabe wieder ermöglichen kann (vgl. Abb. 3). Hier ist es besonders wichtig, keine falschen Versprechungen zu machen, sondern eine realistische subjektiv bedeutsame Zukunftsvision zu entwickeln, die mit Hilfe professioneller Unterstützung realisiert werden könnte. Empirische Untersuchen zeigen, dass diese Zukunftsvision im Rahmen eines professionellen Prozessbogens Sozialer Arbeit eine zentrale Grundlage für „Motivation“ darstellt (Sommerfeld et al. 2018, S. 79).
Abb. 3: Perspektive auf den Fall aus Sicht Sozialer Arbeit in der Suchtberatung (eigene Darstellung)
Ein weiteres wichtiges Thema auf der inhaltlichen Ebene, das entscheidend ist für eine Passung von Bedarfen, Wünschen und Angebot, ist die Synchronisation von bisheriger Lebensführung und Veränderung. Die Lebensführung von Klient:innen zeigt sich aufgrund der Multiproblemlage und der daraus entstandenen mangelnden Teilhabe oft ressourcenarm und damit wenig flexibel. Klient:innen haben sich an diese häufig lang andauernde Situation gewöhnt und deshalb nicht selten eine wenig flexible, eigensinnig wirkende Haltung entwickelt, die als Widerstand gegen Veränderung oder auch als Überforderung gedeutet werden könnte. Durch die Erzählung des/der Klient:in können sich wichtige Hinweise auf eine für ihn/sie als angemessen erlebte Synchronisation (Timing) ergeben.
Synchronisation bedeutet hier, das richtige Zeitfenster für mögliche Veränderungen zu finden bzw. nicht zu verpassen – nicht nur in Bezug auf das Antrittsdatum einer weiterführenden Maßnahme, sondern auch in Bezug auf Veränderungen in der Lebensführung (z. B. Verlust des Arbeitsplatzes, Auszug des/der Partner:in, andere bedeutsame Ereignisse im Leben des/der Klient:in). Synchronisation bedeutet, achtsam zu sein und jedes Mal im Vermittlungsprozess gemeinsam zu überlegen, was die mögliche Veränderung für die Annahme einer weiterführenden Hilfe bedeuten könnte. Grundsätzliche Optionen könnten sein, eine Beschleunigung oder eine Verlangsamung anzuregen oder ein passives Zuwarten auszuhalten, aber den /die Klient:in im Prozess zu halten. Dies erfordert eine achtsame, verstehensorientierte und geduldige Haltung der beratenden Person und bietet gleichzeitig für Klient:innen die erforderliche Sicherheit, in einer unsicheren Situation nicht aus dem Kontakt zu gehen.
Aus der inhaltlichen Perspektive betrachtet entsteht die Motivierung bzw. die Ermutigung zum Wahrnehmen einer professionellen Unterstützung, z. B. einer Behandlung, dann, wenn für Klient:innen deutlich wird, dass sie in ihrer ganz persönlichen Situation gesehen werden, sich verständlich machen können, eine konkrete, für sie wahrnehmbare Unterstützung in der Bewältigung der aus ihrer Perspektive bedeutsamen Probleme erfahren und tatsächliche Wahlmöglichkeiten erhalten. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass die Diskussion einer gemeinsam getroffenen Auswahl von Handlungsoptionen, die aus der Perspektive der Klient:innen machbar erscheinen, wozu auch Bemühungen um ein gutes Timing (Synchronisation) gehören, eine (manchmal sehr langsam) wachsende Zuversicht stärken kann. Dieses Vorgehen sorgt zugleich dafür, dass Teilhabe ermöglicht und erfahren werden kann.
Ein solches partizipatives, dialogisches Vorgehen verlangsamt den Vorgang einer Vermittlung mit zwei Zielen. Das erste Ziel besteht in der Stabilisierung und Selbstvergewisserung des/der Klient:in bezüglich einer häufig unter äußerem Druck getroffenen Entscheidung. Das zweite Ziel besteht darin, dass der/die Klient:in genug Zeit bekommt, um eine selbstverantwortete gute Wahl in Bezug auf Zeit und Ort einer weiterführenden Hilfe zu treffen. Letzteres erhöht die intrinsische Motivation, weil die eigene bewusst getroffene Entscheidung im Vordergrund steht, und nicht die Erfahrung des Getriebenseins. Zudem schränkt es die Gefahr einer Fehlallokation ein.
Vermittlung als beziehungsorientiertes Geschehen
Wie im vorausgehenden Abschnitt schon angedeutet, geht es im Rahmen von Vermittlung neben inhaltlichen Aspekten auch um Beziehungsaspekte, denn diese lassen sich nur analytisch, aber nicht in der Realität voneinander trennen. Eine Beziehung entwickelt sich immer, unabhängig davon, ob wir bewusst darauf Einfluss nehmen (wollen) oder nicht. Eine Erfahrung des Scheiterns oder des „Nicht-Funktionierens“ einer Beziehung ist verbunden mit der Entwicklung von Misstrauen. Dies gilt ebenso für Erfahrungen des Überprüft-Werdens (z. B. in der Frage, ob eine Person für eine bestimmte Maßnahme geeignet scheint), denn Menschen mit einer Substanzkonsumstörung waren solchen Erfahrungen in der Vergangenheit häufig ausgesetzt. Ob dies seine Berechtigung hatte oder nicht, spielt keine Rolle, denn die Erfahrung und Bewertung einer Situation ist davon unabhängig.
Hinzu kommt, wie die Stigma-Forschung aus dem medizinischen und alltagsweltlichen Kontext zeigt, dass Menschen mit einer Substanzkonsumstörung mit Misstrauen und Ablehnung begegnet wird (Schmidt et al. 2022; Schomerus 2011; Schomerus et al. 2010). Auch im Kontext von Familien- und Jugendberatung konnte gezeigt werden, dass die Kommunikation im Zusammenhang mit einem als süchtig konnotierten Verhalten von Jugendlichen durch eine „Hermeneutik des Misstrauens“ (Cleppien 2012) geprägt ist. Das bedeutet, dass Schilderungen von Personen mit substanzbezogenen Störungen nicht selten als nicht wahrheitsgemäß oder verlässlich gedeutet werden.
Für den Kontext von Vermittlung als beziehungsorientiertem Geschehen bedeutet dies, dass davon auszugehen ist, dass Klient:innen eher nicht mit einem generalisierten Vertrauen oder mit einer neutralen Einstellung in die vermittelnde Institution, z. B. die Suchtberatung, kommen, sondern eher mit der Erfahrung des Misstrauens – es sei denn, sie hätten z. B. im Rahmen der Organisation oder Institution von Suchthilfe schon einmal vertrauensfördernde Erfahrungen gemacht. Eine misstrauisch bewertete Beziehung hat jedoch die Tendenz, dass sich das Misstrauen der Beteiligten gegenseitig verstärkt, wenn nicht aktiv dagegen gearbeitet wird. Misstrauen in der Beziehung hat Auswirkungen auf die Qualität der inhaltlichen Aussagen. Dabei geht es nicht darum, dass Klient:innen bewusst falsche oder unzureichende Angaben machen, sondern darum, dass eine mit Vertrauen bewertete Beziehung sich darin zeigt, dass Klient:innen proaktiv mitarbeiten und benötigte Informationen auch geben (sich öffnen) und nicht zurückhalten oder sich gehemmt fühlen, sie zu geben, wie Arnold (2009, S. 182 f.) in einer Studie im Rahmen von stationärer Jugendhilfe herausgearbeitet hat. Vertrauen oder Misstrauen stellt sich nicht explizit, sondern eher subtil, als „interpersonelle Atmosphäre“ oder „wechselseitige leibliche Resonanz und Affektabstimmung“ her (Fuchs 2015, S. 104). Vertrauen kann also nicht erzwungen oder rationalisiert werden, sondern muss in der Interaktion erfahren werden, sozusagen als Gegenerfahrung zu bisher Erlebtem. Erschwerend kommt hinzu, dass Klient:innen mit einer Substanzkonsumstörung nicht selten unter zusätzlichen Störungen wie z. B. einer komplexen Traumatisierung, einer Borderlinestörung, einer Depression oder Angststörung leiden. Auch dieser Umstand wirkt sich aus, und es kann sich eine eher misstrauische als eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung entwickeln.
So wird plausibel, dass der Akt der Vermittlung nicht nur ein rationaler Prozess, ausgehend von objektivierbaren Bedarfen und Hemmnissen, ist, sondern auch zentraler Dreh- und Angelpunkt der Entwicklung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung (Hansjürgens 2019). Die Unterstützung der Entwicklung in Richtung Vertrauen vor dem Hintergrund einer eher misstrauischen Alltags- und medizinischen/sozialen Fachwelt sowie einer psychischen Beeinträchtigung, die sich ebenfalls auswirkt, kann daher als explizit fachliche Leistung von Sozialarbeitenden beschrieben werden.
Gelingt es den Fachkräften in den Beratungsstellen nicht, das bei den suchterfahrenen Personen in ihrer Vorgeschichte entstandene Misstrauen durch die sog. Beziehungsarbeit im Rahmen von Vermittlung zu wandeln, und entwickelt sich eine eher misstrauische Arbeitsbeziehung, führt dies zur gegenseitigen Ausübung von Macht. Klient:innen üben z. B. Macht aus, indem sie nicht die benötigten Informationen geben, sich nicht motiviert verhalten und letztlich nicht kooperieren, indem sie z. B. nicht zu Terminen erscheinen oder den Kontakt abbrechen. Dieses Verhalten wiederum bestärkt Fachkräfte in ihrer ebenfalls misstrauischen Einstellung gegenüber Klient:innen, sodass letztlich ein gegenseitiges Misstrauen entsteht.
Folglich ist die oben angesprochene Teilhabe (siehe „Vermittlung als inhaltliches Geschehen“) kein ausschließlich normativer Aspekt, der sich administrativ auf ein „Wunsch- und Wahlrecht“ reduzieren ließe, sondern ein funktionaler: Teilhabe (in Form von ermöglichten und reflektierten Wahloptionen) stärkt Vertrauen, Vertrauen fördert Vermittlung. Vertrauensfördernd wirkt, wenn sich Klient:innen und Berater:innen verständigen zu können, wenn sie realistische Möglichkeiten miteinander erarbeiten, wenn ein transparenter Umgang mit administrativen Herausforderungen herrscht, wenn Klient:innen konkrete Unterstützung, Zeit, emotionalen Rückhalt und Sicherheit in Krisenphasen erfahren, wenn ein „Ankommen“ zunächst in der vermittelnden Organisation und dann in der Organisation, in die vermittelt wurde, möglich wird. Misstrauen wird erzeugt durch für Klient:innen intransparente administrative Überprüfungen, personellen Wechsel, unklare Verständigungsprozesse, die Erwartung einer einseitigen Anpassung und durch Versprechungen, die (gefühlt) nicht eingehalten werden. Organisationsinterne Abläufe im Kontext von Vermittlung sollten diesbezüglich reflektiert werden.
Die Entwicklung gegenseitigen Vertrauens vor dem Hintergrund der häufig durch Misstrauen geprägten Erfahrungen der Klient:innen ist eine wichtige Prämisse dafür, dass sich Klient:innen auf unbekanntes Terrain begeben, dass sie sich für professionelle Unterstützung entscheiden und der Übergang in eine andere oder erweiterte Hilfeform gelingen kann.
Vermittlung aus system- und sozialarbeitstheoretischer Perspektive
In einer empirischen Untersuchung beschreiben Sommerfeld et al. (2011) die Integration von Klient:innen in eine stationäre (psychiatrische) Einrichtung und auch das Heraustreten aus dieser zurück in das „normale“ Leben aus einer systemtheoretischen Perspektive als „Phasenübergang“ zwischen zwei sozialen Ordnungen. Weiter konzipieren sie aus einer sozialarbeitstheoretischen Perspektive die Rolle Sozialer Arbeit in diesem Kontext als Begleitung und Unterstützung eines solchen Phasenübergangs. Sie konnten empirisch zeigen, dass in Fällen, in denen es gelingt, diese Übergänge gut durch eine Fachkraft zu begleiten, Veränderungsprozesse von Klient:innen stabilisiert werden und daher besser gelingen können. Dieser Effekt erklärt sich dadurch, dass Phasenübergänge viel Energie benötigen und die Menschen im Vorfeld und auch noch einige Zeit nach dem erfolgten Übergang besonders krisenanfällig sind. Die Krisenanfälligkeit nach dem Übergang kann dazu führen, dass Menschen in alte Verhaltensweisen „zurückfallen“, was gerade im Kontext einer Suchterkrankung ein bekanntes Phänomen nicht nur in Bezug auf den Konsum darstellt.
Weiter konnten die Forschenden beobachten, dass sich Krisen im Zusammenhang mit Phasenübergängen ankündigen und auch noch nach dem erfolgten Übergang, den sie als „Sprung“ bezeichnen, eine Weile beobachtbar sind, z. B. durch stärkere Unruhe und Erregungszustand der Patient:innen. Gerade in der Phase des Übergangs entscheidet sich, ob die anvisierten Veränderungen auch unter anderen Kontextbedingungen aufrechterhalten werden können. Dieses Phänomen des Phasenübergangs ist aus posttherapeutischen Kontexten bekannt und wird in Suchtberatungsstellen strukturell durch z. B. Nachsorge aufgefangen. Neu wäre, diese theoretischen Erkenntnisse auch für eine prätherapeutische oder sonst wie geartete Veränderung im Rahmen von Vermittlung zu nutzen und konzeptionell einzubinden.
Aus sozialarbeitstheoretischer Perspektive kann Vermittlung als Ermöglichung von Teilhabe an professionellen Hilfen betrachtet werden (Sommerfeld et al. 2016), die spezifische Voraussetzungen benötigen, um ihre Wirkung entfalten zu können. Erst dadurch, dass Klient:innen in einer für sie schwierigen Lage zunächst stabilisiert werden, um weitere Eskalationen zu verhindern, und dann auf eine Neujustierung ihrer psychosozialen und manchmal auch biologischen Situation (falls schon irreparable Schäden eingetreten sind) vorbereitet werden, können suchttherapeutische Hilfen wirken. Hierfür muss es gelingen, dass Klient:innen wieder Vertrauen in die Hilfe, aber auch in sich selbst, gewinnen und eine Idee davon entwickelt haben, was die Zukunft für sie bereithalten könnte, wenn sie sich auf das Angebot einlassen. Bei Menschen mit noch starken Ressourcen gelingt dies einfacher. Menschen, deren Teilhabe am sozialen Leben schon sehr eingeschränkt ist, brauchen dafür mehr und intensivere Unterstützung durch Sozialarbeitende in der Suchtberatung.
Konzeptionelle und praktische Implikationen
Phasenübergänge sind eine krisenanfällig Zeit und erfordern bei den Klient:innen viel Energie, um den „Sprung“ in eine neue soziale Ordnung zu vollziehen und diese auch aufrechtzuerhalten. Daher sollten diese Übergänge schon im Vorfeld engmaschig beobachtet und so lange begleitet werden, bis sich ein neues Ordnungsmuster (z. B. in einer suchtbezogenen Hilfe ankommen und diese nutzen) stabil etabliert hat. Vermittelt werden kann in verschiedenste professionelle Unterstützungsangebote und in Selbsthilfe. Damit Vermittlung erfolgreich ist, kann es notwendig werden, Klient:innen im Vorfeld der Nutzung weitergehender Unterstützungsmaßnahmen zu stabilisieren und auch ggf. Verhaltensänderungen zu erarbeiten, die notwendig sind, um dort „ankommen“ zu können (z. B. Termine verlässlich wahrnehmen, Konsum kontrollieren / Abstinenz einhalten). Die beidseitige Entwicklung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung spielt dabei eine wichtige Rolle. Darüber hinaus werden im Rahmen von Vermittlung zentrale inhaltliche Daten generiert, die es erst ermöglichen, dass eine weitergehende Maßnahme personenzentriert dialogisch mit dem / der Klient:in ausgewählt werden kann und somit Fehlallokationen mindestens eingeschränkt werden können.
Auf der inhaltlichen Verfahrensebene bieten Instrumente sozialer Diagnostik erste Möglichkeiten eines angeleiteten (selbst-)reflexiven Umgangs mit der Situation (Hansjürgens 2020). Die in diesem Zusammenhang gemeinsam erhobenen Daten liefern wichtige Informationen für Therapieplanung und können auch in die administrativ vorgegebenen Formulare eingespeist werden. Mit diesen Informationen kann eine Übergangssituation so gestaltet werden, dass Klient:innen in weiterführenden Hilfen „ankommen“ können: Sie erfahren, dass dort inhaltlich an bereits Berichtetes angeknüpft wird und nicht „alles von vorn“ beginnt. Zentral ist auch hier, Klient:innen echte Wahlmöglichkeiten in Bezug auf Form und Ort der Behandlung zu lassen, ohne dass ihre Entscheidung von Leistungsträgern aufgrund ökonomischer Aspekte in Frage gestellt werden kann.
Sollten sich die äußeren Umstände so gestalten, dass tatsächlich Eile bei der Vermittlung in Rehabilitation geboten ist, z. B. aufgrund drohender Wohnungslosigkeit oder drohender Entlassung aus dem geschützten Setting eines Entzugs in eine unklare Situation, kann der Sozialbericht und die gezielte Nutzung seiner Kategorien eine Strukturhilfe für die Umsetzung der inhaltlichen Perspektive darstellen und den oben beschriebenen Prozess beschleunigen. Gleichzeitig werden so die formal-administrativen Anforderungen erfüllt, da der Bericht eine Voraussetzung für die Hilfegewährung ist.
Bedeutsam ist aber auch hier, dass der Sozialbericht nicht ausschließlich als Formular zu begreifen ist, sondern auch unter Druck versucht werden sollte, die Beziehungs- und Reflexionspotenziale der dort angegebenen Kategorien im Gespräch zu nutzen. In der Praxis hat es sich darüber hinaus als hilfreich erwiesen, im Rahmen fallübergreifender Netzwerkarbeit im sozialen Raum „kurze Wege“ zu schaffen, um im Krisenmodus agieren zu können und Klient:innen die (erneute) Erfahrung eines Scheiterns an strukturellen Barrieren zu ersparen.
Vermittlung sollte als fachliche, qualitativ aufwendige, beziehungsorientierte Tätigkeit Sozialarbeitender innerhalb der Funktion Suchtberatung betrachtet werden und nicht als vorrangig administratives Geschehen. Dies sollte in den Ressourcenplanungen und im Erfolgscontrolling mitberücksichtigt werden. Darüber hinaus sollte implizites Wissen der Fachkräfte zu der erfolgreichen Vermittlungsarbeit wissenschaftlich gebündelt und systematisiert werden. Dabei können für komplexe Vermittlungsprozesse auch bereits erprobte Mittel wie z. B. ein instrumentengesteuertes, digital unterstütztes Realtime Monitoring, wie es im benannten Forschungsprojekt (Sommerfeld et al. 2011), aber auch im Kontext sozialer Diagnostik, zum Einsatz gekommen ist (Calzaferri 2020), eingesetzt werden. Entsprechende Infrastruktur und ein entsprechendes fachliches Können im Kontext Sozialer Arbeit in der Suchtberatung wären aufzubauen.
Anmerkung der Autorin: Für wichtige inhaltliche Hinweise danke ich Katrin Blankenburg sehr herzlich.
Kontakt:
Prof. Dr. Rita Hansjürgens
Alice Salomon-Hochschule Berlin
hansjuergens(at)ash-berlin.eu
Angaben zur Autorin:
Prof. Dr. Rita Hansjürgens ist Inhaberin der Professur für Handlungstheorien und Methoden Sozialer Arbeit und Allgemeiner Pädagogik an der Alice Salomon-Hochschule in Berlin.
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Der Beitrag von Daniel Zeis über die Zukunft der Suchtberatung, der auf KONTUREN online am 7. Februar 2023 publiziert wurde, greift ein sehr wichtiges Thema auf. Grundsätzlich kann man den Kernaussagen des Textes nicht widersprechen: Suchtberatung ist eine sehr wichtige Aufgabe im Rahmen der kommunalen Daseinsvorsorge und als solche muss diese Leistung angemessen finanziert werden. Dass die Wirklichkeit in vielen Städten und Landkreisen anders aussieht und dass die Lage nicht besser wird, braucht nicht diskutiert zu werden. Aus meiner Sicht hat das Vergabebrecht für die Suchtberatung aber nicht nur negative Auswirkungen bzw. eine Verschärfung der Probleme zur Folge. Es bedarf einer differenzierteren Analyse, um sinnvolle Handlungsoptionen für die Absicherung der Suchtberatung in den kommenden Jahren entwickeln zu können.
Leistungsanbieter haben meistens die schlechtere Verhandlungsposition
Im Netzwerk des Therapiehilfeverbundes arbeiten in vier norddeutschen Bundesländern rund 30 Suchtberatungsstellen, und wir haben im Hinblick auf die Finanzierung dieser Leistungsangebote in den letzten Jahren viele und teilweise sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Vertragsverhandlungen und Ausschreibungsverfahren gemacht. Dabei ist selbstverständlich zu berücksichtigen, dass die „Gesetzte des Quasi-Marktes“ im Bereich sozialer Dienstleistungen für uns als Leistungsanbieter meistens nicht einfach sind und wir einem Monopolisten oder einem „Nachfrage-Oligopol“ gegenüberstehen. Das ist aber nicht nur bei der Suchtberatung so, auch in der medizinischen Reha, in der Akutbehandlung, in der Eingliederungshilfe oder in der Kinder- und Jugendhilfe sind wir in einem ähnlichen Abhängigkeitsverhältnis. Dabei spielt es i. d. R. keine Rolle, ob der Leistungsanbieter frei-gemeinnützig oder privatwirtschaftlich organisiert ist, die Zuwendungsgeber bzw. Kosten- und Leistungsträger haben eigentlich immer die stärkere Verhandlungsposition. Es gibt zwar vereinzelt normative Rahmenbedingungen, die so etwas wie „Augenhöhe“ bei Verhandlungen schaffen sollen (bspw. die Möglichkeit der Einschaltung von Schiedsstellen), aber mit Blick auf die Machtverteilung und Abhängigkeiten muss es wohlüberlegt sein, ob man solche Möglichkeiten nutzen will.
Diesen Zustand kann man beklagen, und es ist auf jeden Fall sinnvoll, an Verbesserungen der Rahmenbedingungen zu arbeiten. Die laufenden Verhandlungen der Reha-Verbände mit der Deutschen Rentenversicherung im Zusammenhang mit der notwendigen Neuregelung des „Reha-Marktes“ zeigen, dass das sehr mühsam ist und viel Geduld erfordert. Aber wenn man in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft unternehmerisch verantwortlich ist, dann muss man sich über die Spielregeln im Klaren sein. Auch wenn unser Verhandlungsspielraum nicht sehr groß ist, so gibt es doch viele Möglichkeiten, ihn intelligent nutzen.
Rahmenbedingungen haben sich deutlich verändert
Im Bereich der Suchtberatung und niedrigschwelligen Suchtarbeit ist es in der Tat so, dass sich die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren deutlich verändert haben. Langfristige oder gar unbefristete Verträge sind selten geworden und die Finanzmittel für die kommunale Förderung bzw. Zuwendung sind knapper geworden. Das führt zu Veränderungsdruck bei den Leistungserbringern, den spüren wir auch in den Suchtberatungsstellen des Therapiehilfeverbundes. Der Hintergrund für diese Entwicklungen ist auch allgemein bekannt:
Zum einen wird die Finanzlage der Kommunen insgesamt schwieriger, wenn auch mit teilweise deutlichen regionalen Unterschieden. Dass Suchthilfe eher nach Kassenlage und nicht nach den Bedarfen organisiert und finanziert wird, ist ungeheuerlich, und wir bemühen uns über die Suchtverbände um Einflussnahme auf die entsprechenden sozial- und finanzpolitischen Entscheidungen.
Zum anderen werden in nahezu allen öffentlichen Bereichen die staatlichen Auftraggeber dazu aufgefordert, wirtschaftlich mit Steuergeldern und Sozialversicherungsbeiträgen umzugehen. Das kann aus meiner Sicht nur begrüßt werden, denn Deutschland steht leider nicht ganz so gut da im Ranking von „Transparency International“ (2021 auf Platz 10). Öffentliche Vergabeverfahren sollen so transparent wie möglich sein, und dabei sind Ausschreibungen eine von mehreren Optionen.
Diskussion der Umfrageergebnisse
Ein Ergebnis der Umfrage von Daniel Zeis ist, dass 17,5 Prozent der Beratungsstellen, die geantwortet haben, sich bereits an Ausschreibungen beteiligt haben. Das ist eine interessante Zahl, ich hätte einen deutlich höheren Anteil erwartet, denn der o. g. Handlungsdruck im Hinblick auf Transparenz und Wirtschaftlichkeit ist nach meiner Erfahrung hoch. Ich finde nicht, dass man hier von einem quantitativ großen Problem sprechen kann. Im Übrigen würde mich interessieren, wie viele der über 1.000 Suchtberatungsstellen in Deutschland an der Umfrage teilgenommen haben.
Außerdem finde ich es schwierig, eine qualitative Bewertung zu diesem Thema vorzunehmen, indem man nur eine beteiligte Seite befragt. Ich fühle mich ein wenig an den Spruch erinnert „Wenn man den Sumpf austrocknen will, sollte man nicht die Frösche fragen“. Aber bleiben wir sachlich: Dass Ausschreibungsverfahren für alle Beteiligten aufwendig sind und nicht automatisch zu den besten Ergebnissen führen, kann als gesichert angesehen werden. Aber die von Daniel Zeis aufgeführten Gründe, warum Ausschreibungen grundsätzlich ungeeignet für den Bereich der Suchtberatung sein sollen, sind aus meiner Sicht nicht zwingend. Wie so oft ist die Welt nicht schwarz oder weiß, sondern es gibt Graubereich, die man sich genauer anschauen sollte, wenn man gute Lösungen finden will.
Dazu möchte ich nur einige Aspekte exemplarisch aufführen:
In den mir bekannten Ausschreibungen waren Merkmale wie „bestehende regionale Vernetzung“ oder „nachgewiesene Erfahrungen mit den Zielgruppen“ wesentliche Bewertungskriterien, d. h., neue Bewerber ohne diese qualitativen Merkmale haben weniger Erfolgschancen als etablierte Leistungsanbieter.
Für diese etablierten Leistungsanbieter entsteht aber die Notwendigkeit, das eigene Leistungsspektrum und die Finanzstruktur im Rahmen des Bewerbungsverfahrens zu hinterfragen. Das kann durchaus zu positiven konzeptionellen Entwicklungen, der Nutzung von Wirtschaftlichkeitsreserven und der Veränderung von ineffizienten Organisationsstrukturen führen.
Eingespielte Kooperationsstrukturen bei der Erbringung von Leistungen der Suchthilfe in einer Region könnten sicherlich Vorteile haben. Institutionen und Personen sind einander bekannt, Vertrauen und Verlässlichkeit können über Jahre wachsen, und das erleichtert i. d. R. die Zusammenarbeit. Doch gleichzeitig kann dabei auch eine gewisse Bequemlichkeit entstehen, die die Innovationsfähigkeit im Hinblick auf fachliche Entwicklungen oder Strukturen und Prozesse behindert.
Man wird im Rahmen des Ausschreibungsverfahrens versuchen, Kontakt zu potenziellen Mitbewerbern aufzunehmen. Ich finde es eher förderlich, sich mal anzuschauen, „wie es andere machen würden“, das kann man auch als sportliche Herausforderung sehen. Ich glaube fest daran, dass Wettbewerb jedes Geschäft belebt, auch das soziale!
Auch wenn es eigentlich nicht sein soll: Man wird auch versuchen, beim Auftraggeber mehr über Hintergründe zu erfahren, die nicht in den Ausschreibungsunterlagen zu finden sind. Dadurch kann eine sinnvolle Neuausrichtung und Klärung von Kooperationsbeziehungen erfolgen.
Die Ausschreibungen, an denen wir uns bisher beteiligt haben, führten nicht zu „Preisdumping“. Im Gegenteil wurde von uns i. d. R. gefordert, dass wir Tarifgehälter zahlen oder angelehnte Vergütungssysteme nachweisen können, und es waren seriöse Sachkostenkalkulationen vorzulegen. Den Zuschlag soll ja das wirtschaftlichste und nicht das billigste Angebot bekommen.
Entscheidender Faktor ist die Laufzeit der Leistungsvereinbarung
Letztlich ist es bei diesem Thema wie bei vielen anderen auch: Es geht nicht nur um das „ob“, sondern vor allem um das „wie“! Wenn Ausschreibungen sachgerecht durchgeführt werden, dann können sie ein sinnvolles Instrument sein, die Leistungserbringung in der Suchtberatung innovativ und leistungsorientiert zu gestalten. Ein entscheidender Faktor ist dabei die Laufzeit der ausgeschriebenen Leistung, denn die Arbeitsverträge mit dem erforderlichen Fachpersonal hängen natürlich eng mit den Zuwendungsverträgen zusammen. Es ist kaum noch möglich, Stellen für zwei oder drei Jahre befristet zu besetzen, und es ist den Trägern der Suchtberatung nicht zuzumuten, unbefristete Arbeitsverträge auf eigenes Risiko abzuschließen. Aus meiner Sicht sollte die Laufzeit von Zuwendungsverträgen mindestens fünf Jahre umfassen, um die Personalstruktur und den Leistungsumfang einigermaßen seriös planen zu können. Sinnvoll wären auch transparente Kriterien und Regelungen für die Verlängerung der Vereinbarungen. Um die möglichen positiven Effekte von Ausschreibungen wirksam werden zu lassen, ist es aus meiner Sicht ausreichend, erst nach acht bis zehn Jahren ein neues Verfahren einzuleiten.
Nachweis für Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit der Leistungen
Wir werden uns in der Suchtberatung wie in nahezu allen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesen immer mehr mit der Forderung auseinandersetzen müssen, einen Nachweis für die Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit unserer Leistungen erbringen zu müssen. Ich halte es für nicht zielführend, solche Anforderungen abzulehnen und auf die Besonderheiten unserer Arbeit und unserer Zielgruppen zu verweisen. Das ist der üblicherweise nicht fachkundigen Öffentlichkeit bzw. Politik kaum vermittelbar. Ich bin ganz im Gegenteil der Meinung, dass wir offensiv darstellen sollten, welchen ethischen und ökonomischen Nutzen unsere Arbeit bringt. Die aktuell diskutierten Überlegungen und Berechnungen zum „Social Return on Investment“ (SROI) sind eine ausgezeichnete Basis dafür.
Abschließend und um der Transparenz willen noch einige Angaben zu meinen möglichen Interessenkonflikten: Dieser Beitrag wurde weder in Abstimmung noch im Auftrag oder gar mit finanzieller Förderung der öffentlichen Vertragspartner verfasst, mit denen der Therapiehilfeverbund im Bereich der Suchtberatung zusammenarbeitet. Natürlich verhandeln wir mit Zuwendungsgebern so hart wie möglich, letztlich muss auch bei uns als gemeinnützigem Unternehmen eine schwarze Null im Jahresabschluss stehen. Wir bemühen uns dabei einerseits um Fairness und Offenheit und versuchen andererseits, unsere Spielräume bei Verhandlungen und bei der Ausgestaltung der Leistungserbringung konsequent zu nutzen.
Angaben zum Autor:
Prof. Dr. Andreas Koch ist seit rund 20 Jahren in der Suchthilfe tätig. Er ist Geschäftsführer des Therapiehilfeverbundes Hamburg/Bremen und Vorsitzender der Hamburgischen Landesstelle für Suchtfragen e. V. An der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Hennef, hat er eine Honorarprofessur im Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung.
Neben der aktuell größten Herausforderung der Menschheit, der Klimakrise mit all ihren Folgen, ist die Situation der Suchtberatungsstellen in Deutschland sicher ein marginales Problem. Dennoch müssen wir auch die Themen im Blick behalten, die mit einem kleineren Wirkungskreis für ein gutes Zusammenleben wichtig sind. Dazu gehört eine ausreichende Ausstattung der kommunalen Daseinsvorsorge.
Die Ausgangslage
Suchtberatungsstellen sind unzureichend ausgestattet. Es mangelt an langfristigen Verträgen, dynamisierter Finanzierung und einer grundsätzlich verlässlichen, durch Gesetze abgesicherten Grundstruktur (DHS, 2019). Der seit 2020 jährlich stattfindende „Aktionstag Suchtberatung“, organisiert von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), dient dazu, auf den Stellenwert der Suchtberatungsstellen und Defizite in der Ausstattung aufmerksam zu machen. Ein Aspekt, der stark zur unsicheren Situation der Suchtberatungsstellen beiträgt, ist die mögliche Anwendung von Vergaberecht. Suchtberatungsstellen in Deutschland können aktuell von öffentlichen – teilweise europaweiten – Ausschreibungen betroffen sein, was die Erbringung der Leistung für alle Beteiligten erschwert.
Als Leiter einer Suchtberatungsstelle der AWO und Sprecher der AG Suchtberatungsstellen beim AWO Bundesverband hat der Autor mit diesen Verfahren umfassende Erfahrungen gemacht und diese in seiner Masterarbeit „Anwendung des Vergaberechts im Bereich ambulanter Suchtberatungsstellen – Versuch einer Bestandsaufnahme“ (Zeis, 2022) beschrieben und ausgewertet. Die folgenden Ausführungen basieren auf dieser Masterarbeit.
Öffentliche Ausschreibungen gehen an Wesen und Aufgabe der Suchtberatung vorbei
Im Zuge der EU-Vergaberechtsreform von 2016 kam es zu zahlreichen Veränderungen (vgl. Rock et al., 2019). Rechtsunsicherheiten entstanden, diese mussten und müssen neu ausgefochten werden. So gilt beispielsweise für die Rettungsdienste in der Notfallrettung mittlerweile eine sogenannte Bereichsausnahme. Leistungen können also unter bestimmten Bedingungen auch ohne europaweite Ausschreibungen an gemeinnützige Träger vergeben werden. Diese vom Europäischen Gerichtshof am 21.03.2019 geschaffene Rechtssicherheit gibt es für den Bereich der Suchtberatung oder anderer Beratungsdienste nicht. Es liegen zwar mittlerweile zahlreiche Zivilgerichtsurteile vor, die Ausnahmen im Vergaberecht zulassen, z. B. entschied das OLG Düsseldorf 2018, dass öffentlich geförderte Dienstleistungen nicht ausschreibungspflichtig sind (11.07.2018, VII-Verg 1/18). Von Sozial- und Verwaltungsgerichten stehen solche Urteile leider noch aus.
Schnell wurde allen Sozialverbänden klar, dass öffentliche Ausschreibungen von sozialen Dienstleistungen der benötigten und gewünschten Leistung nicht gerecht werden (vgl. Positionspapiere der DHS, der BAGFW, der LIGA der freien Wohlfahrtspflege und viele weitere), und zwar aus mindestens drei triftigen Gründen, die als Grundprämissen angenommen werden können:
Soziale Dienstleistungen haben besondere Merkmale, die sie von anderen Produkten am Markt unterscheiden. Hier sind u. a. die grundsätzliche Immaterialität, das Uno-actu-Prinzip (Produktion und Konsum der Leistung fallen zeitlich zusammen), die Ko-Produktion durch und mit der jeweiligen Nutzer:innengruppe, eine hohe Individualität und eine eingeschränkte Möglichkeit der Rationalisierung zu nennen (vgl. Dahme & Wohlfahrt, 2013; Arnold, 2014).
Soziale Dienstleistungen werden auf einem „Quasi-Markt“ angeboten. Auf diesem Quasi-Markt tritt der jeweilige Leistungsträger – im Falle von Suchtberatungsstellen meist die Kommune – als Monopolist auf. Er allein vergibt die Leistung, er allein nimmt die Leistung letztlich ab. Die Leistungserbringer befinden sich daher in voller Abhängigkeit zum Leistungsträger (vgl. Seithe, 2010; Wohlfahrt, 2012; Hagn, 2012).
Suchtberatungsstellen gehören mit ihren Funktionen zur kommunalen Daseinsvorsorge. Dies wird oft bestritten, lässt sich aber belegen. Der vom Staatsrechtler Ernst Forsthoff beschriebene Begriff der Daseinsvorsorge wird bis heute immer dann genutzt, wenn es um öffentliche Leistungen und Güter geht, ohne die ein vernünftiges Zusammenleben einer Gemeinschaft nur schwer möglich ist (vgl. Neu, 2009). Leistungen der Daseinsvorsorge sind elementare, sinnvolle, sogenannte meritorische und neuerdings sicherlich auch „systemrelevante“ Güter, die der einzelnen Person und der Allgemeinheit zugutekommen (vgl. Bachert, 2018). Dass Suchtberatungsstellen zur kommunalen Daseinsvorsorge gehören, davon zeugen die Ergebnisse der jährlichen Suchthilfestatistik oder aktuelle Studien zum Social Return on Investment (SROI). Menschen, die ihre Konsum- und Verhaltensweisen verändern, reduzieren gesellschaftliche Kosten, verringern die Risiken für Folgeerkrankungen aller Art und stabilisieren sich und ihr soziales Umfeld (vgl. Bayerisches Landesamt, 2022).
Als weiteres Merkmal kommt hinzu: Suchtberatungsstellen sind nicht, wie viele andere öffentliche Dienstleistungen, durch ein sogenanntes sozialstaatliches Dreiecksverhältnis abgesichert (Anspruch des Hilfeberechtigten auf Leistung gegenüber dem Leistungsträger, Erbringung der Leistung durch den Leistungserbringer unter vertraglicher Vereinbarung mit dem Leistungsträger). Sie sind allein vom politischen Willen bzw. vom Handeln der kommunalen Verwaltung (= Leistungsträger) abhängig. Die Gesundheitsdienstgesetze als gesetzliche Grundlage schaffen hier keine verlässliche Struktur, da sie lediglich den Kommunen auftragen, sich um die jeweiligen Bereiche, also beispielsweise auch um suchtgefährdete oder suchtkranke Menschen, im Rahmen von Fürsorge zu kümmern. Wie sie das tun, ist regional höchst unterschiedlich (vgl. Deutscher Bundestag, 2015).
Zahlreiche Stellungnahmen und Positionspapiere sind seit der EU-Vergaberechtsreform geschrieben worden. Alle sprechen sich ausnahmslos gegen öffentliche, also wettbewerbsorientierte, Ausschreibungen von sozialen Dienstleistungen aus. Hauptargument ist u. a. der enge regionale Bezug dieser Leistungen. Dies trifft auch auf Suchtberatungsstellen zu. Diese werden zum größten Teil von gemeinnützigen Sozialverbänden betrieben, sind zumeist in einer Stadt oder in einem Landkreis aktiv und dort über Jahrzehnte gewachsen, sie sind gut vernetzt und an der Gestaltung des regionalen Sozialraums beteiligt. Sie leisten essenzielle (Überlebens-)Hilfen und entfalten neben einem enormen Output auch eine messbare Wirkung (Outcome, Impact), beispielsweise in der Reduzierung von Folgekosten (vgl. Bayerisches Landesamt, 2022). Im Bundestagswahlkampf 2021 hatten sich auch die politischen Parteien in ihren Wahlprogrammen des Vergaberechts angenommen. Bündnis 90/Die Grünen waren hier am deutlichsten und wollten eine Ausnahme für soziale Dienstleistungen schaffen. Leider hat es diese Forderung nicht in den Koalitionsvertrag der Ampel geschafft.
Trotz dieser Voraussetzungen werden wettbewerbsorientierte Vergabeverfahren für soziale Dienstleistungen bis heute immer wieder vereinzelt angewendet, nicht nur im Bereich der Suchtberatung, sondern auch in anderen Feldern der Beratung, so beispielsweise bei der Schuldnerberatung, bei Kontaktstellen für psychisch erkrankte Menschen, in der Migrationsberatung oder bei Integrationsfachdiensten.
Das Vergaberecht missachtet dabei
die wesentlichen und historisch gewachsenen Prinzipien der Subsidiarität,
Es verkennt die Bedeutung der zu Beginn des Artikels genannten Grundprämissen wie
die besonderen Merkmale von sozialen Dienstleistungen auf einem Quasi-Markt,
die Grundsätze der kommunalen Daseinsvorsorge und der Regionalität sowie
die jeweiligen Pfadabhängigkeiten.
Umfrage zur aktuellen Relevanz von Ausschreibungen
Die Ergebnisse einer im Rahmen der vorne genannten Masterarbeit durchgeführten Online-Umfrage unter Suchtberatungsstellen in Deutschland zeigen, dass bei einem Anteil von 17,5 Prozent die Leistung bereits einmal oder mehrfach öffentlich ausgeschrieben wurde (Zeis, 2022).
Öffentliche Ausschreibungen sind Vergabeverfahren, die einen klaren Wettbewerbscharakter haben. Das heißt, jede Institution, jeder Verein, jede Gesellschaft, ob gewinnorientiert oder nicht, kann sich bewerben. Liegt der zu vergebende Auftrag über dem EU-Schwellenwert von 750.000 Euro für soziale Dienstleistungen, muss sogar europaweit ausgeschrieben werden. Dies sieht das EU-Vergaberecht so vor. Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) forciert den Wettbewerbsgedanken auf Bundesebene, und nach zahlreichen Gesprächen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene ist die Forderung nach Wettbewerb in den Haushaltsressorts der Länder die eindeutige, verabredete Maßgabe, egal in welchem Bereich. Die Rechnungshöfe oder Innenrevisionen machen hier zusätzlich Druck auf die beteiligten Leistungsträger, indem sie Vergabeverfahren anmahnen und auch einfordern.
Die Umfrage ergab auch, dass sich zum Zeitpunkt der Befragung rund ein Fünftel der Suchtberatungsstellen in Neuverhandlungen befand (Zeis, 2022). Zum größten Teil lag das darin begründet, dass der alte Vertrag auslief. In vielen Fällen wurden die Neuverhandlungen aber auch direkt durch Politik oder Verwaltung ausgelöst und die Leistung öffentlich ausgeschrieben. Vor diesem Hintergrund ist es wahrscheinlich, dass auch in Zukunft Aufträge im Bereich der ambulanten Suchtberatung öffentlich ausgeschrieben werden.
Die Umfrage zeigt deutlich die Nachteile von öffentlichen Vergaben (Zeis, 2022). Neben der Feststellung des hohen Aufwands an Zeit und Kosten werden vor allem Preisdumping und die Auflösung von gewachsenen Netzwerken befürchtet. Weitere in der Umfrage genannte negative Aspekte zu den Auswirkungen von Ausschreibungen sind:
hoher Ökonomisierungsdruck
Unsicherheit darüber, ob man die Vergabe „gewinnt“
Externalisierung von Risiken an die Träger
hohe Komplexität der Vergabeverfahren und damit hoher Zeitaufwand für alle Beteiligten (und damit weniger Zeit für Innovation)
Missachtung des Subsidiaritätsprinzips
Mehrarbeit durch die Unerfahrenheit der Vergabestellen
kaum und schwierig zu erfassende Berücksichtigung regionaler gewachsener Strukturen und die Beschädigung dieser Netzwerke (samt Betriebskultur)
Misstrauen
(Wett-)Streit und Vertrauensverlust durch die Konkurrenzsituation
Vernachlässigung von Nachhaltigkeitsaspekten
befristete und am Lohnminimum angesetzte Arbeitsverträge und damit in der Folge auch Fachkräftemangel
Verunsicherung von Nutzer:innen und Abbrüche von Beratungsprozessen
Weitere negative Auswirkungen liegen auf der Hand: Vergabeverfahren sind kostspielig, es gibt, wenn überhaupt, nur wenige weitere Wettbewerber (es findet also kein Wettbewerb statt), seitens der Kommune sind Überforderung und fehlende Kundennähe derzeit die Regel, die Verfahren unterliegen einer Rechtsunsicherheit und sind unflexibel und praxisfern, es entsteht keine Korrelation von Liberalisierungsgrad und der erwarteten Qualität, langfristige Planung wird reduziert, es kommt zu Sozialdumping, ein Aufbau von Kooperation und Beziehung ist kaum möglich, da regelmäßig erneut (europaweit) ausgeschrieben wird, sämtliche Risiken liegen beim Leistungserbringer, und etablierte Beziehungen werden aufgelöst (vgl. Zeis, 2022).
In Summe kann man also sagen: Öffentliche Ausschreibungen sind in höchstem Maße ineffizient und letztlich überflüssig! Ein Zitat von Moldaschl & Högelsberger (2016) bringt dies deutlich auf den Punkt:
„Es mag kurios klingen, aber: Je besser, fairer und sozialer eine Ausschreibung gestaltet ist, desto unnötiger wird sie. Dadurch werden nämlich immer mehr Parameter fixiert, die dann bei Ausschreibungen nicht mehr variabel sein können. Es bleiben dadurch kaum Aspekte übrig, bei denen es zu einem Wettbewerb kommen kann.“
Was muss geschehen?
Glücklicherweise mehren sich mittlerweile die Stimmen, die sich gegen öffentliche Ausschreibungen richten. Die Kommunen haben ebenfalls Erfahrungen gesammelt und entscheiden sich teilweise bewusst gegen diese Art der Vergabe. Dennoch sind die Rahmenbedingungen (EU-Vergaberecht, GWB, Druck zum Wettbewerb) unverändert, und es ist nur eine Frage des Zufalls, in welcher Kommune, in welchem Landkreis demnächst ein Vergabeverfahren mit Wettbewerbscharakter ausgelöst wird. Wurde einmal ein Vergabeverfahren durchgeführt, ist die Kommune im Übrigen mehr oder weniger gezwungen, das Vergabeverfahren immer wieder durchzuführen. Dieser Automatismus ist nur schwer zu durchbrechen und erfordert Mut und Überzeugungskraft bei den kommunal Handelnden gegenüber Innenrevisionen, Haushaltsressorts oder Rechnungshöfen.
Es braucht daher zum einen eine bundesweite Aufklärungskampagne über die Nachteile solcher Vergabeverfahren, zum anderen sollte sich der Bundesgesetzgeber mit diesem Thema befassen und eine Bereichsausnahme für soziale Dienstleistungen schaffen. Das EU-Vergaberecht lässt, gut begründet, Ausnahmen zu. Soziale Dienstleistungen haben eben besondere Merkmale, die sie auf einem Quasi-Markt anbieten. Es geht hier nicht um Produkte, die produziert werden und skalierbar sind. Es geht um die Beratung und Begleitung von Menschen im Rahmen der kommunalen Daseinsvorsorge, es geht um Menschen, die aus vielfältigen Gründen Hilfe und Unterstützung benötigen, sei es aufgrund von problematischen Konsum- und Verhaltensweisen, Überschuldung, psychischen Erkrankungen, Flucht oder anderen Belastungen.
Weitere Maßnahmen, die eine Alternative zu Vergabeverfahren darstellen und insgesamt zu einer Verbesserung der Situation von Suchtberatungsstellen führen können, sind:
eine gesicherte Finanzierung und solide Vertragsgrundlagen für Suchtberatungsstellen schaffen, z. B. im Rahmen der Gesundheitsdienstgesetze der Länder
Interessenbekundungsverfahren oder ähnliche Alternativen nutzen, die Träger in die Gestaltung des regionalen Sozialraums mit einbeziehen
sachliche Begründungen für den Ausstieg aus Vergabespiralen liefern
Subsidiaritätsprinzip stärken
regionalen Bezug der Dienstleistung stärker beachten
Landesstellen für Suchtfragen stärken
Wirkungsforschung (Outcome, Impact, Public Value, SROI etc.) stärker nutzen und die Ergebnisse in Bewertungen mit aufnehmen
Expertise zu all den hier genannten Themen in den Kommunen und bei den Trägern erhöhen
Anerkennung gestiegener Anforderungen durch Reduktion bzw. Streichung von Eigenanteilen
eine gemeinsame Sprache finden, um damit Vertrauen zwischen Beratungsstellen und Kommunen wiederherzustellen und zu verfestigen
Unabhängig von diesen Maßnahmen gilt es, die hier beschriebenen Vergabeverfahren zu vermeiden. Sonst gehen eingespielte Strukturen vor Ort, Kontinuität in der Betreuungsqualität und somit das Vertrauen der Nutzer:innen unnötig verloren (vgl. Wintermann, 2021).
In der Klimapolitik werden wissenschaftliche Erkenntnisse nur mühsam in politische Kompromisse gegossen, obwohl wir genau wissen, dass wir besser früher als später aus den fossilen Energieträgern aussteigen müssen, um eine weitere Erderwärmung mit all ihren Folgen zu stoppen.
Im Bereich der öffentlichen Ausschreibungen für soziale Dienstleistungen ist ebenfalls klar, was zu tun wäre, und dieses Wissen ließe sich sicherlich um ein Vielfaches einfacher, schneller und reibungsloser umsetzen. Wieso noch einen Tag länger diese ineffizienten und überflüssigen Verfahren im Bereich der Suchtberatung (und ähnlicher Beratungs- und Fachdienste) anwenden? Haben wir den Mut, sagen wir Nein, steigen wir aus, bleiben wir kreativ, suchen wir nach neuen Lösungen und bleiben wir vor allem im Gespräch miteinander! Hierzu braucht es alle Beteiligte in den Kommunen und der Sozialwirtschaft mit Unterstützung des Bundes und der Länder und eine Rechtsprechung, die die genannten Aspekte berücksichtigt.
Kontakt:
Daniel Zeis
Ambulante Beratungs- und Behandlungsstelle für Suchtkranke und Suchtgefährdete
Großbeerenstr. 187
14482 Potsdam
daniel.zeis(at)awo-potsdam.de
Tel. 0331 73040740 www.awo-potsdam.de
Angaben zum Autor:
Daniel Zeis ist Einrichtungsleiter der ambulanten Beratungs- und Behandlungsstelle für Suchtkranke und Suchgefährdete des AWO Bezirksverbandes Potsdam. Nach dem Studium der Sozialen Arbeit (Diplom) absolvierte er die Weiterbildung zum Sozialtherapeut Sucht (DRV/GKV-anerkannt) und schloss 2022 sein Masterstudium (Sozialmanagement) erfolgreich ab. Er ist seit 16 Jahren in der Suchthilfe tätig.
Literatur:
Arnold, Ulli; Grunwald, Klaus; Maelicke, Bernd (Hg.) (2014): Lehrbuch der Sozialwirtschaft. Unter Mitarbeit von Holger Backhaus-Maul, Benjamin Benz und Karl-Heinz Boeßenecker. 4. erweiterte Auflage. Baden-Baden: Nomos.
Bachert, Robert; Dreizler, Andrea (Hg.) (2018): Finanzierung von Sozialunternehmen. Theorie, Praxis, Anwendung. 2., aktualisierte Auflage. Freiburg im Breisgau: Lambertus (Sozialmanagement).
Dahme, Heinz-Jürgen; Wohlfahrt, Norbert (2013): Lehrbuch Kommunale Sozialverwaltung und Soziale Dienste. Grundlagen, aktuelle Praxis und Entwicklungsperspektiven. 2. Auflage. Weinheim: Beltz Verlagsgruppe.
Deutscher Bundestag (2015): Ausarbeitung – Die Gesundheitsdienstgesetze der Länder. Wissenschaftliche Dienste. Aktenzeichen: WD 9 – 3000 – 027/14. Fachbereich: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Hagn, Julia (2012): Ergebnisse und (Neben-) Wirkungen des Neuen Steuerungsmodells für die Soziale Arbeit. In: Hagn, Julia; Hammerschmidt, Peter; Sagebiel, Juliane Beate (Hg.): Modernisierung der kommunalen Sozialverwaltung. Soziale Arbeit unter Reformdruck? Schriftenreihe Soziale Arbeit der Hochschule München.
Moldaschl, Thomas; Högelsberger, Heinz (2016): Die vielen Nachteile von Ausschreibungen. A&W Blog, Blog zum Magazin Arbeit & Wirtschaft, 07.03.2016. https://awblog.at/die-vielen-nachteile-von-ausschreibungen/, letzter Zugriff 30.01.2023.
Neu, Claudia (2009): Daseinsvorsorge: Eine gesellschaftswissenschaftliche Annäherung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Rock, Joachim; Steinke, Roß (2019): Die Zukunft des Sozialen – in Europa? Soziale Dienste und die europäische Herausforderung. 1. Auflage. Baden-Baden: Nomos.
Seithe, Mechthild (2010): Schwarzbuch Soziale Arbeit. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft.
Wohlfahrt, Norbert (2012): Auswirkungen der Neuen Steuerungsmodelle auf die Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse der Sozialen Arbeit. In: Hagn, Julia; Hammerschmidt, Peter; Sagebiel, Juliane Beate (Hg.): Modernisierung der kommunalen Sozialverwaltung. Soziale Arbeit unter Reformdruck? Schriftenreihe Soziale Arbeit der Hochschule München.
Zeis, Daniel (2022): Von der Anwendung des Vergaberechts im Bereich ambulanter Suchtberatungsstellen – Versuch einer Bestandsaufnahme. Alice-Salomon-Hochschule. Online verfügbar unter: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:kobv:b1533-opus-4994; letzter Zugriff 30.01.2023.
Kinder mit einem psychisch oder suchtkranken Elternteil sind vielfältigen, oft chronischen Belastungen und kumulierenden Risikofaktoren ausgesetzt. Sie gelten als Hochrisikogruppe für die Entstehung einer eigenen psychischen und/oder Suchterkrankung und tragen ein großes Risiko, vernachlässigt oder misshandelt zu werden. Hierbei bilden die Kinder, die bereits durch Exposition von Alkohol oder anderen Substanzen in der Schwangerschaft pränatal geschädigt wurden, eine vulnerable Gruppe mit besonderer Gefährdung. Die Vermittlung von Hilfen sowie der Schutz von Kindern in sogenannten Hochrisikofamilien stellen für die beteiligten Systeme eine besondere Herausforderung dar. Bei hoher Komorbidität von Sucht- und psychischen Erkrankungen – bei 40 bis 50 Prozent der Suchterkrankten bestehen zusätzlich psychische Erkrankungen (Jacobi et al., 2010) – und aufgrund fehlender Möglichkeiten, alle Betroffenen zu erfassen, gehen konservative Schätzungen von ca. fünf Millionen Kindern mit einem psychisch oder suchtkranken Elternteil in Deutschland aus (Lenz & Wiegand-Grefe, 2017). Es ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen.
Fachkräfte im Gesundheitssystem orientieren sich bei ihrer täglichen Arbeit an Empfehlungen von Leitlinien. Im Folgenden stellen wir die für die Thematik relevanten Leitlinien kurz vor und werden auf den Leitfaden „Präventiver Kinderschutz bei Kindern psychisch und suchtkranker Eltern“ der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) gezielt eingehen.
Übersicht aktueller Leitlinien
Im Februar 2019 wurde unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) die AWMF S3+ Leitlinie Kindesmisshandlung, -missbrauch und -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinienbüro, 2019), kurz AWMF S3+ Kinderschutzleitlinie veröffentlicht. Sie beruht auf höchstem wissenschaftlichem Niveau, und alle Empfehlungen wurden durch ein repräsentatives Gremium aus 82 Fachgesellschaften und Organisationen aus Medizin, Psychologie, Sozialer Arbeit und Pädagogik erstellt und verabschiedet.
Die Kinderschutzleitlinie soll Fachkräfte im Gesundheitssystem dabei unterstützen, eine Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und einen sexuellen Missbrauch frühzeitig zu erkennen, festzustellen und mit den erkannten Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung fachgerecht und kompetent umzugehen. Außerdem soll die Leitlinie Fachkräften aus anderen Versorgungsbereichen wie z. B. der Kinder- und Jugendhilfe die Arbeit im Gesundheitssystem transparent darstellen. Alle Informationen und Veröffentlichungen zur Kinderschutzleitlinie sind abrufbar auf den Homepages der AWMF oder DGKiM.
Eine der Handlungsempfehlungen der Kinderschutzleitlinie besagt, dass bei allen Erwachsenen, die aufgrund einer Intoxikation, eines (versuchten) Suizids oder einer akuten psychischen Dekompensation in der Notaufnahme behandelt werden, danach gefragt werden soll, ob diese Erwachsenen für Minderjährige verantwortlich sind. Wenn diese Frage bejaht wird, soll der Sozialdienst der Klinik informiert werden, um in Erfahrung zu bringen, inwieweit es einen Hilfebedarf in der Familie gibt.
Weitere aktuelle Leitlinien:
AWMF S3-Leitlinie Metamphetamin-bezogene Störungen (Drogenbeauftragte der Bundesregierung et al., 2017)
Fokus: DGKiM-Leitfaden „Präventiver Kinderschutz bei Kindern psychisch und suchtkranker Eltern“
ezüglich der Thematik Kinder psychisch und suchtkranker Eltern veröffentlichte der Arbeitskreis Prävention der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin im Dezember 2020 einen Leitfaden für Präventiven Kinderschutz bei Kindern psychisch und suchtkranker Eltern. Dieser Leitfaden informiert Fachkräfte im Gesundheitssystem über Prävention und Intervention bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen. Er beruht auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen in Anlehnung an die AWMF S3+ Kinderschutzleitlinie und auf in der Praxis bewährten Vorgehensweisen. Nach einer Einführung in die Thematik werden Empfehlungen für präventives Handeln bezogen auf die unterschiedlichen Entwicklungsstufen der Kinder gegeben.
Auswirkungen der elterlichen Erkrankung auf das Fürsorgeverhalten und das familiäre System
Nicht jede psychische Störung oder Suchterkrankung eines Elternteils führt zwangsläufig zu einer eingeschränkten Erziehungskompetenz oder einer Gefährdung des Kindeswohls. Eine zentrale Rolle bei der Beurteilung der elterlichen Erziehungsfähigkeit spielen die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung und die Kompetenz der Eltern, einfühlsam die Bedürfnisse der Kinder wahrzunehmen und diese angemessen zu befriedigen (Plattner, 2017). Psychisch oder suchterkrankte Eltern zeigen jedoch in erhöhtem Maße eine eingeschränkte emotionale Bindungs- und Empathiefähigkeit. Die Auswirkungen auf die Co-Regulation und die Eltern-Kind-Interaktion verdeutlicht Abbildung 1.
Abbildung 1: Entstehung von Risikokonstellationen – frühe Hinweise bei den Eltern und Auswirkungen auf elterliche Co-Regulation und Interaktion
Häufig ist der Familienalltag wenig strukturiert und bietet unzureichende kognitive und soziale Anregung, Explorationsmöglichkeiten und Regulationshilfen für die Kinder. Diese erleben ihre Eltern immer wieder als instabil und schlecht berechenbar. Weitere Problemfelder sind die häufige soziale Isolation sowie das hohe Risiko, dass die Eltern sich durch die Kinder persönlich eingeschränkt fühlen und den Kindern negative Emotionen (Ärger, Feindseligkeit, Wut, Hass) entgegenbringen. Betroffene Eltern zweifeln häufig an der eigenen elterlichen Kompetenz mit daraus folgenden Gefühlen von Enttäuschung, Unzulänglichkeit, Versagen und Hilflosigkeit.
Außerdem zeigt sich eine erhöhte Prävalenz von familiärer Disharmonie (Trennung/ Scheidung), Arbeitslosigkeit, finanziellen Problemen, problematischen Wohnverhältnissen und kritischen Lebensereignissen (z. B. schwere Erkrankung oder Tod eines Elternteils, Krankenhausaufenthalte, Polizeieinsätze, Inhaftierung). Das Risiko für Unfälle und Verletzungen ist erhöht. In manchen Familien herrscht eine Atmosphäre ständiger Angst und Unsicherheit. Häusliche Gewalt sowie Vernachlässigung und Misshandlung treten häufiger auf und bedeuten damit ein hohes Entwicklungsrisiko für die Kinder (Klein, 2008).
Direkte altersbezogene Folgen für die Kinder
Eine Gefährdung der kindlichen Entwicklung kann bereits durch eine intrauterine Substanzexposition – sowohl von legalen (Nikotin, Alkohol, Medikamente) als auch illegalen Substanzen (häufig auch in Kombination) – und durch pränatale Stressbelastung der Mutter entstehen. Neurobiologische Forschungen zeigen Zusammenhänge zwischen dem Belastungserleben der Schwangeren und Veränderungen der Hirnmorphologie und Neuroendokrinologie des ungeborenen Kindes. Die stressbezogenen Umwelteinflüsse ab dem frühen Kindesalter stellen einen Hauptrisikofaktor für die Entstehung späterer psychopathologischer Erkrankungen dar (Albermann et al., 2019).
Zum breiten Spektrum potenzieller Komplikationen und Erkrankungen des Kindes in der Neonatalzeit nach intrauteriner Substanzexposition gehören u. a. Frühgeburtlichkeit, intrauterine Wachstumsretardierung, Mikrozephalie (deutlich zu kleiner Kopfumfang), Fehlbildungen, Hyperexzitabilität (Übererregbarkeit des Zentralen Nervensystems), Trink- und Ernährungsschwierigkeiten sowie zerebrale Erkrankungen mit z. T. langfristigen Konsequenzen und erheblichen kognitiven Einschränkungen.
Nach der Geburt manifestieren sich bei ca. 50 bis 90 Prozent der Neugeborenen nach (legalem oder illegalem) Substanzkonsum in der Schwangerschaft (auch nach Substitution) Entzugssymptome, die unter dem Begriff Neugeborenen-Abstinenz-Syndrom (NAS) zusammengefasst werden. Klinische Symptome zeigen sich in der Regel innerhalb der ersten 24 bis 36 Lebensstunden, allerdings bei mütterlichem Zusatzkonsum von Benzodiazepinen häufig auch zeitverzögert (nach sieben Tagen bis zu vier Wochen). Deshalb sollten neben Geburtshelfern, Neonatologen, medizinischem Pflegepersonal und Hebammen auch Kinder- und Jugendärzt:innen mit der Symptomatik vertraut sein (Rohrmeister & Weninger, 2006).
Zumindest in den USA haben sowohl die Inzidenz als auch die Behandlungsdauer für das NAS in den letzten Jahren zugenommen. Aus Europa liegen keine systematisch erhobenen Daten vor (Gortner & Dudenhausen, 2017). Nach Schätzungen werden jährlich bundesweit ca. 2.000 Kinder drogenabhängiger Mütter geboren. Das entspricht einer Inzidenz von 1:3000 (Hüsemann, Nagel & Obladen, 2008). Prävalenzdaten zum Konsum illegaler Substanzen in der Schwangerschaft sind nicht verfügbar. Auch eine annähernde Schätzung des illegalen Substanzkonsums ist aufgrund häufiger Verschweigungstendenzen und geringerer Inanspruchnahme von vor- und nachgeburtlichen Hilfen betroffener Schwangerer sehr schwierig.
Aufgrund des häufigen Mischkonsums von illegalen und legalen Drogen können direkte substanzbezogene Langzeiteffekte auf die Kinder (z. B. auf Regulationsfähigkeit, Lernverhalten und Gedächtnisleistungen) nur eingeschränkt wissenschaftlich belegt werden. Aussagen über Wirkungseffekte, die auf eine einzelne Substanz zurückgeführt werden können, sind bei der derzeitigen Forschungslage nicht möglich. Insbesondere werden jedoch nach wie vor die Langzeitschädigungen durch Nikotin und Cannabinoide erheblich unterschätzt. Generell steigt das Risiko für das Ungeborene mit der Häufigkeit der Einnahme, der Dosis und der Vielfalt der konsumierten Substanzen.
Exkurs: Fetale Alkoholspektrum-Störungen (FASD)
Eine zahlenmäßig sehr bedeutsame Gruppe sind die Kinder, die durch mütterlichen Alkoholkonsum in der Schwangerschaft geschädigt wurden. Die im Zusammenhang mit intrauteriner Alkoholexposition auftretenden kindlichen Folgeschädigungen, Entwicklungsstörungen und Behinderungen werden unter dem Oberbegriff Fetale Alkoholspektrum-Störungen (FASD/Fetal alcohol spectrum disorder) zusammengefasst. Bundesweit trinken ca. 28 Prozent der Schwangeren Alkohol in der Schwangerschaft, ca. 16 Prozent zeigen ein binge-drinking-Verhalten (mind. fünf Getränke zu einer Gelegenheit) (Landgraf & Hoff, 2018).
Nach jetzigem Kenntnisstand muss davon ausgegangen werden, dass jeglicher Alkoholkonsum in der Schwangerschaft den Embryo gefährden kann. Statistische Schätzungen von Kraus et. al, die die Häufigkeit von mütterlichem Alkoholkonsum während der Schwangerschaft und das Risiko für eine FASD bei intrauteriner Alkoholexposition mit einbeziehen, zeigen eine Inzidenz der FASD von 1,77 Prozent in Deutschland. Eine zuverlässige Prävalenzstudie zu FASD existiert in Deutschland bisher nicht (Kraus et al., 2019). Die aktuell vorliegenden Daten beruhen auf Hochrechnungen oder Schätzungen. Expertenschätzungen gehen von einer einprozentigen FASD-Prävalenz der Gesamtbevölkerung aus. Bezogen auf Deutschland wären somit ca. 0,8 Millionen Menschen, davon 130.000 Kinder, von FASD betroffen (Landgraf & Heinen, 2016; Landgraf & Hoff, 2018).
Die routinemäßige Erfassung des Alkohol- und Drogenkonsums gehört in Deutschland zum Standard in der Schwangerenvorsorgeuntersuchung. Allerdings wird eine offene Ansprache des Konsums oft vermieden bzw. aufgrund struktureller und zeitlicher Belastungen nur unzureichend nachgefragt (Landgraf & Heinen, 2016; Nagel & Siedentopf, 2017). Hinzu kommt, dass die Frauen die tatsächliche Konsummenge möglicherweise nicht angeben bzw. aus Scham und Angst vor sozialer Stigmatisierung häufig alkoholverneinende Angaben machen. Aufgrund dessen ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Daher sollte bei Screening-Verfahren in der Schwangerschaft auf jeglichen Alkoholkonsum und nicht nur auf riskante Konsummuster geachtet werden. Angestrebtes Ziel der Aufklärung und Beratung sollte die Prävention einer Alkohol-exponierten Schwangerschaft sein.
Mögliche Folgen der teratogenen und neurotoxischen Wirkungen bei Alkoholexposition in der Schwangerschaft sind Wachstumsstörungen, typische Gesichtsdysmorphien, Hirnschädigungen und Beeinträchtigungen der geistigen und seelischen Entwicklung, Verhaltensauffälligkeiten sowie Funktions- und Alltagsbeeinträchtigungen des Kindes, die bis ins Erwachsenenalter persistieren. Die Störungen können in unterschiedlicher Ausprägung auftreten (Vollbild Fetales Alkoholsyndrom = FAS; nur einzelne Bereiche betreffend = partielles FAS/pFAS; auf entwicklungs-neurologische Störungen beschränkt = Alkoholbedingte Entwicklungsneurologische Störung/ARND), was aber nicht gleichzeitig eine geringere Schwere der Erkrankung impliziert. Für die Diagnostik der FASD steht seit 2016 eine evidenz- und konsensbasierte S3-Leitlinie zur Verfügung (Landgraf & Heinen, 2016). Empfohlen wird eine vernetzte, multimodale, interdisziplinäre Diagnostik und Therapie, wie sie in einigen wenigen spezialisierten Zentren bundesweit oder in sozialpädiatrischen Zentren vorgehalten wird. Dabei sollen die individuelle Problemlage und Alltagseinschränkungen des Kindes immer im Fokus stehen (Landgraf & Hoff, 2018).
Neben biologischen und (epi)genetischen Faktoren müssen auch die Umgebungs- und Sozialisationsbedingungen, unter denen die Kinder nach intrauteriner Substanzexposition aufwachsen, berücksichtigt werden. Das Aufwachsen mit suchtkranken Eltern stellt für die Kinder und Jugendlichen eine enorme Belastung dar. Sie fühlen sich nicht gesehen und erfahren häufig nur unzureichende elterliche emotionale und erzieherische Unterstützung und Fürsorge. Damit sind sie einem entwicklungsgefährdenden, dysfunktionalen elterlichen Verhalten ausgesetzt, in kritischen Fällen auch dem Risiko von Vernachlässigung und Misshandlung. Die Folgen für die Kinder sind umso gravierender, je früher und länger sie mit der elterlichen psychischen und Suchterkrankung konfrontiert sind, je schwerer ausgeprägt die Erkrankung ist und je mehr zusätzliche familiäre Belastungen vorliegen, die nicht durch vorhandene Schutzfaktoren kompensiert werden können. Ein weiteres Problem stellt die „Parentifizierung“, d. h. die Sorge um die Eltern, die Fürsorge für jüngere Geschwister, die Erledigung des Haushalts und das Wahren der Fassade durch die betroffenen Kinder, dar.
Empfehlungen für präventives Handeln
Bei Unterstützungsmaßnahmen für Kinder psychisch und suchtkranker Eltern spielen neben der Beratung und Unterstützung der Eltern insbesondere Angebote für die Kinder und Jugendlichen selbst entlang ihrer Entwicklungsphasen eine wichtige Rolle. Diese sollten möglichst frühzeitig erfolgen. Wichtig ist die Ermöglichung eigener Zugangswege für Kinder, die es ihnen erlauben, im Bedarfsfall auch eigenständig und ohne Einverständnis der Eltern nach Hilfe zu fragen, insbesondere bei mangelnder oder fehlender Krankheitseinsicht der Eltern. Diese Empfehlung, die die Arbeitsgruppe Kinder psychisch und suchtkranker Eltern in ihrem Abschlussbericht formuliert (Arbeitsgruppe Kinder psychisch und suchtkranker Eltern, 2019, Empfehlung Nr. 2; siehe auch Artikel auf KONTUREN online), wurde inzwischen im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz berücksichtigt. In § 8 SGB VIII wurde das Vorliegen einer „Not- und Konfliktlage“ als Voraussetzung für einen Beratungsanspruch gestrichen. Somit haben Kinder und Jugendliche nun auch ohne ihre Eltern einen uneingeschränkten eigenen Anspruch auf Beratung durch die Kinder- und Jugendhilfe. Die Beratung kann auch durch einen Träger der freien Jugendhilfe erbracht werden (Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen – Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG, 2021).
Ein zentrales Thema stellt die Psychoedukation der Kinder dar. Folgende Informationen und Botschaften sollten Kindern psychisch und suchtkranker Eltern gegeben werden (Moesgen et al., 2017):
Sucht ist eine psychische Erkrankung und somit eine Krankheit.
Die Eltern sind wegen ihrer psychischen Erkrankung keine schlechten Menschen.
Das Kind hat keine Schuld an psychischen und Suchtproblemen von Vater oder Mutter.
Es kann den Eltern nicht helfen und es ist auch nicht seine Aufgabe, deren Sucht zu kontrollieren oder die Erkrankung zu heilen.
Das Kind hat trotz der Krankheit im Elternhaus das Recht, Kind zu sein, zu spielen, die Welt zu entdecken, Freundschaften zu entwickeln, die eigenen Fähigkeiten zu erproben und sich selbst zu lieben und zu achten.
Präventiver Kinderschutz in Familien mit einem psychisch oder suchtkranken Elternteil bedeutet oft eine Gratwanderung. Es gilt, gefährdete Kinder frühzeitig zu identifizieren und ihnen und den Eltern angemessene Unterstützung anzubieten, dabei gleichzeitig die elterliche Autonomie zu respektieren und schließlich Gefährdungssituationen deutlich abzugrenzen und ggf. geeignete Kinderschutzmaßnahmen einzuleiten (Albermann et al., 2019). Bei Hinweisen auf eine Gefährdung des Wohles oder der Entwicklung des Kindes bei fehlender Mitwirkung der Eltern sollten immer Maßnahmen unter Berücksichtigung des § 4 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) Anwendung finden (Kinderschutzleitlinienbüro, 2019). Wichtig sind in multidisziplinären und multiinstitutionellen Settings ein regelmäßiger (auch fallbezogener) Austausch, z. B. in Netzwerktreffen, Qualitätszirkeln, Helferkonferenzen usw., sowie eine eindeutige Festlegung der Verantwortlichkeiten der einzelnen Akteure.
Exkurs: Gesetzliche Grundlage zum Vorgehen bei Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung (§ 4 KKG)
Das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) regelt im § 4 die Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger an das zuständige Jugendamt beim Auftreten von Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung. Unter dem Begriff Geheimnisträger:in sind verschiedene Berufsgruppen aufgeführt, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Fachkräfte des Gesundheitssystems sind dabei explizit benannt.
Werden diesen Berufsgruppen im Rahmen ihrer Tätigkeit Hinweise für eine Kindeswohlgefährdung bekannt, so ist ein stufenweises Vorgehen geregelt (s. Abbildung 2).
Abbildung 2: Vorgehen bei Bekanntwerden von gewichtigen Anhaltspunkten für Kindeswohlgefährdung (Material entnommen aus Kinderschutzleitlinie 2021)
Präkonzeptionelle Prävention
Unter dem Aspekt des präventiven Kinderschutzes ist im Kontext der Betreuung von psychisch und suchtkranken Frauen die Frage zu klären, ob ein aktueller oder zukünftiger Kinderwunsch besteht. Ebenso bedeutsam ist die Berücksichtigung des Risikos einer ungeplanten Schwangerschaft. Diesbezüglich ist eine frühe Anbindung an eine gynäkologische Praxis sowie eine psychiatrische, ggf. suchtmedizinische, Betreuung der Frauen notwendig. Im Rahmen der medizinischen Betreuung sind mögliche Risiken einer Schwangerschaft aufgrund der Schwere der Erkrankung, der Medikation oder eines Substanzkonsums zu prüfen. Ebenso muss die psychopharmakologische Medikation bezüglich eines erhöhten Fehlbildungsrisikos (Embryotoxizität) überprüft werden. Im Bedarfsfall sollte eine Umstellung der Medikation erwogen werden (Kittel-Schneider, 2019).
Als Leitlinien liegen die AWMF S3-Leitlinien für Unipolare Depression (BÄK, KBV, AWMF, no date), Bipolare Störungen (DGBS & DGPPN, 2019) und Schizophrenie (DGPPN, no date) vor. Im Rahmen der ärztlichen Aufklärung/Psychoedukation über die jeweilige Erkrankung sollten psychisch und suchtkranke Frauen auch über die Auswirkungen einer möglichen Schwangerschaft auf die Erkrankung informiert werden.
Schwangerschaft
Schwangerschaften von psychisch und suchtkranken Frauen gelten als Risikoschwangerschaften. Viele dieser Schwangerschaften sind ungeplant, bei suchtkranken Frauen ca. 85 Prozent. Sie werden oft spät bemerkt oder sich spät eingestanden. Kontakte mit Gynäkolog:innen finden oft erst weit nach dem ersten Trimenon statt. Ängste, Schuld- und Schamgefühle hindern viele Frauen daran, Vorsorge- und Unterstützungsangebote in Anspruch zu nehmen. Es bestehen oft multikomplexe Problemlagen. Diese aggravierenden Begleitfaktoren erklären das breite Spektrum potenzieller Komplikationen und Erkrankungen des Kindes in der Neonatalzeit und die mögliche Beeinträchtigung nach der Geburt. Zudem ist die körperliche Situation von suchtkranken schwangeren Frauen oft von Mangel- und Fehlernährung und von Begleiterkrankungen wie Hepatitiden und HIV-Infektionen gekennzeichnet. Häufig wird ein zurückliegender oder aktueller Konsum gegenüber Gynäkolog:innen, Kliniken, Hebammen oder Beratungsstellen verheimlicht, wodurch erforderliche Vorbereitungen auf die Geburt und eine fachlich kompetente Betreuung unterbleiben (Tödte & Bernhard, 2016).
Die bedarfsgerechte Substitutionstherapie mit langwirksamen Opiaten oder Opioiden stellt die Standardtherapie von opiatabhängigen Schwangeren dar (Bundesärztekammer, 2017). Die suchtmedizinische Behandlung ist eine notwendige Initialmaßnahme, der weitere Behandlungen und Interventionsmaßnahmen folgen müssen, um die Risiken für das Kind zu senken. In Kooperation mit weiteren Fachdisziplinen, u. a. der Psychosozialen Betreuung (PSB) und optimalerweise der Jugendhilfe, sollte der umfassende medizinische Behandlungsprozess begleitet und abgesichert werden (Nagel & Siedentopf, 2017). Dies beinhaltet eine frühzeitige Zusammenarbeit von Sozialen Diensten, Kinder- und Jugendheilkunde, Gynäkologie und Suchtmedizin. Die Standards in der Betreuung suchtkranker Schwangerer zeigt Abbildung 3.
Abbildung 3: Standards in der Betreuung suchtgefährdeter und suchtkranker schwangerer Frauen, modifiziert nach Nagel & Siedentopf 2017; Landgraf & Hoff 2018
Geburt und frühe Kindheit
Im Gegensatz zu der vor- und nachgeburtlichen Phase werden in der Geburtsklinik in einem begrenzten Zeitraum (ein bis drei Tage) nahezu alle entbindenden Frauen (98 Prozent) mit ihren Kindern, darunter auch Mütter mit psychosozialen und gesundheitlichen Belastungen, erreicht. Die Mütter sind insbesondere am Tag nach der Entbindung offen für Gespräche. Sie nehmen während der kurzzeitigen stationären Behandlung in der Geburtsklinik Unterstützungsangebote leichter an als später.
Aufgrund der Häufigkeit von Entzugssymptomen bei Neugeborenen nach mütterlichem Substanzkonsum in der Schwangerschaft (Neugeborenen-Abstinenz-Syndrom, NAS) sollten Geburtshelfer, Neonatolog:innen, medizinisches Pflegepersonal, Hebammen und Kinder- und Jugendärzt:innen mit der Symptomatik vertraut sein. Entwickelt das Neugeborene Entzugssymptome, wird nach der aktuellen AWMF-S3-Leitlinie Kinderschutz (Kinderschutzleitlinienbüro, 2019) eine Verlegung in eine neonatologische Abteilung empfohlen, die ein strukturiertes Vorgehen zur Erkennung, Überwachung und Behandlung eines NAS vorhält und anwendet. Die Behandlung sollte auch ein strukturiertes Besuchs- und Interaktionsprotokoll und ein multiprofessionelles Vorgehen, einschließlich einer Fallkonferenz mit den Eltern und den unterstützenden Helfersystemen, beinhalten, um möglichst bereits vor der Entlassung erforderliche Unterstützungsmaßnahmen einleiten zu können. Optimalerweise sollte die stationäre Versorgung in enger Kooperation mit der klinikinternen Kinderschutzgruppe erfolgen.
Vorrangige Ziele sind die Förderung einer sicheren Eltern-Kind-Bindung, die Gewährleistung einer zuverlässigen und stabilen sozialen Umwelt, die Vermeidung traumatisierender familiärer Beziehungsmuster und die Sicherung der sozialen und wirtschaftlichen Situation. Für die Kinder sollten routinemäßig folgende Leistungen durchgeführt werden:
eine engmaschige Entwicklungsbeobachtung – oft auch über die regelhaften Vorsorgeuntersuchungen hinaus,
die Initiierung von erforderlichen therapeutischen, sozial- und heilpädagogischen oder rehabilitativen Maßnahmen und
eine kontinuierliche Betreuung bis ins Adoleszenten-Alter. Dies ist zum Beispiel durch die Anbindung an ein Sozialpädiatrisches Zentrum möglich.
Vorschulkinder (3–6 Jahre)
Nur ein prozentual sehr kleiner Anteil der betroffenen Kinder findet den Weg in spezielle präventive Angebote, von denen allerdings bundesweit (noch) viel zu wenige existieren. Ein sehr viel größerer Teil der Kinder – insbesondere bei mangelnder oder fehlender Krankheitseinsicht der Eltern – ist ausschließlich in den Settings zu erreichen, in denen sich Kinder und Jugendliche sowieso aufhalten: in Kindertagesstätten, Schulen und Horteinrichtungen sowie in ärztlichen oder therapeutischen Praxen oder in Kliniken. Damit die dortigen Mitarbeitenden mögliche Anzeichen einer familiären Suchterkrankung besser erkennen und adäquat darauf reagieren können, sollten entsprechende Inhalte in die pädagogischen, psychologischen und medizinischen Ausbildungen aufgenommen werden. Kinder- und Jugendärzt:innen nehmen in den ersten fünf Lebensjahren eines Kindes eine zentrale Stellung ein. Sie sehen nahezu alle Kinder zu den gesetzlich vorgesehenen Früherkennungsuntersuchungen U2/U3 bis U9 (1. Lebenswoche bis 64. Lebensmonat) und führen bei ihnen regelmäßig Untersuchungen zur Gesundheit und zur kindlichen Entwicklung durch. In Arztpraxen sollten Materialien zum Thema Suchthilfe und Suchtprävention sowie zu psychisch kranken Eltern zur Verfügung stehen. Bei allen Mitarbeitenden sollten Kenntnisse über lokal verfügbare Unterstützungs- und Beratungsangebote sowie die jeweiligen Zugangswege vorhanden sein.
Auffälligkeiten im kindlichen Verhalten sowie in der Eltern-Kind-Interaktion und relevante soziale Risikofaktoren sollen im Rahmen der Früherkennungsuntersuchungen im Früherkennungsheft sowie in der Patientenakte dokumentiert werden. Das Vorsorgeheft stellt sowohl für die behandelnden Ärzt:innen als auch für Bildungseinrichtungen und den Öffentlichen Gesundheitsdienst – mit Einverständnis der Eltern – eine wichtige Informationsquelle über den Entwicklungsverlauf des Kindes, stattgehabte schwere Erkrankungen und psychosoziale Risiken dar.
Der Öffentliche Gesundheitsdienst führt spätestens im sechsten Lebensjahr vor der Einschulung die Schuleingangsuntersuchung durch. In diesem Rahmen sollten alle Kinder eines Jahrgangs gesehen werden. Außerdem finden in vielen Kommunen weitere (freiwillige) Untersuchungen der Kindergartenkinder durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst und kinder- und jugendzahnärztliche Untersuchungen statt.
Der Besuch von Kindertageseinrichtungen und anderen Bildungsinstitutionen ist ein wichtiger Schutzfaktor für die Entwicklung von Kindern, die mit psychisch oder suchtkranken Eltern aufwachsen. Die Kinder erfahren dort: klare, transparente und konsistente Regeln und Strukturen, wertschätzendes Klima (Wärme, Respekt und Akzeptanz gegenüber dem Kind), positive Verstärkung der Leistungen und Anstrengungsbereitschaft des Kindes, positive Peerkontakte/Freundschaftsbeziehungen, Förderung von Selbstwahrnehmung, Selbstwirksamkeit, Selbststeuerung und sozialer Kompetenz, Förderung im Umgang mit Stress und von Problemlösefähigkeiten usw. (Schaich, 2017). Dies bedeutet natürlich auch, dass in ausreichendender Zahl entsprechend ausgebildetes Personal zur Verfügung stehen muss.
Entwicklungs- oder verhaltensauffällige Kinder im Kindergartenalter bedürfen einer differenzierten fachlichen Diagnostik und Therapie. Hierbei müssen auch bei belasteten familiären Bedingungen mögliche Differentialdiagnosen wie genetisch bedingte Entwicklungsstörungen, umschriebene Entwicklungsstörungen, Störungen aus dem Autismus-Spektrum oder somatische Erkrankungen ausgeschlossen werden. Somit ist in vielen Fällen die Anbindung an eine interdisziplinäre Frühförderstelle, ein Sozialpädiatrisches Zentrum oder eine Praxis/Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie sinnvoll.
Schulkinder (6–12 Jahre)
Durch die psychische und Suchterkrankung der Eltern können bei Schulkindern und Jugendlichen Schulleistungsstörungen bzw. Verhaltensauffälligkeiten auftreten, wobei die Schwierigkeiten im schulischen Alltag besonders sichtbar werden. Hier ist eine enge Vernetzung von Lehrer:innen, Schulsozialarbeitenden, Schulpsycholog:innen, Kinder- und Jugendärzt:innen und dem Kinder- und Jugendärztlichen Dienst notwendig. Besteht der Verdacht, dass das Kind belastet ist, oder stehen Schulprobleme im Vordergrund, ist eine ausführliche Diagnostik zu empfehlen, z. B. in Schulberatungsstellen/im Schulpsychologischen Dienst, in kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen oder Sozialpädiatrischen Zentren. Je nach Diagnose bzw. Ursachen der Problematik können verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten wie Hilfen zur Erziehung, schulische Förderung, Lerntherapien oder psychotherapeutische Interventionen initiiert werden.
Für Schulkinder kann auch der Besuch einer Gruppe speziell für Kinder psychisch und suchtkranker Eltern sehr hilfreich sein. Ein Ziel in diesen Gruppen ist es, das Krankheitsverständnis und die Problemlösekompetenz der Kinder im Umgang mit alltäglichen Belastungssituationen zu fördern. Insbesondere der Kontakt mit gleichaltrigen Betroffenen ist für viele Kinder eine wichtige Erfahrung, die ihnen zeigt, in ihrer Situation nicht alleine zu sein (Jungbauer, 2019).
Adoleszente (ab 12 Jahren)
Da zu den Hauptrisiken von Kindern psychisch und suchtkranker Eltern die Entwicklung einer eigenen psychischen oder Abhängigkeitserkrankung gehört, ist eine Hauptanlaufstelle im Gesundheitssystem in diesem Alter die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Circa 50 Prozent der dort behandelten Patient:innen haben psychisch und suchtkranke Eltern. Das Angebot der Kinder- und Jugendpsychiatrie reicht von ambulanten Terminen über eine tagesklinische Diagnostik und Therapie bis zur vollstationären Behandlung, ggf. auch geschlossen bei stark fremd- und eigengefährdendem Verhalten. Beratung und Hilfen für Jugendliche bieten bei Fragen zu Sucht und Abhängigkeitserkrankungen auch Drogenberatungsstellen vor Ort an. In der Regel ist aber eine Behandlung ohne längerfristig angelegte Jugendhilfemaßnahmen mit Hilfen zur Erziehung (z. B. Familienhilfe, Erziehungsbeistandschaft, teil- oder vollstationäre Unterbringung) oder Eingliederungshilfe (z. B. Integrationshilfe, Lerntherapie) nicht ausreichend. Eine enge Vernetzung von Gesundheitssystem, Suchthilfe und Jugendhilfe ist daher unabdingbar.
Die Peer-Group und die Beziehung zu Gleichaltrigen nehmen einen immer größeren Stellenwert ein. Wünschenswert wäre daher neben der Aufklärung der Lehrer:innen auch die Aufklärung der Jugendlichen durch Akteure des Gesundheitssystems (z. B. im Biologie-Unterricht oder im Rahmen der Jugendsprechstunde) über Auswirkungen psychischer und Suchterkrankungen und Unterstützungsmöglichkeiten mit Bekanntmachung örtlicher und bundesweiter Anlaufstellen.
Verstärkt sollten für Jugendliche auch digitale Beratungsformate (z. B. anonyme Onlineberatung, Foren, Gruppenchats usw.) genutzt werden, da die Nutzung des Internets ein selbstverständlicher Bestandteil jugendlicher Lebenswelten ist und einen niedrigschwelligen Zugang ermöglicht (Jungbauer, 2019). Diese Angebote und Formate haben sich auch in der Corona-Pandemie als hilfreich erwiesen.
Vernetzung, Kooperation und Fallverantwortung
Die psychische und Suchterkrankung eines oder beider Elternteile hat Auswirkungen auf die gesamte Familie. Von daher müssen die Unterstützungs- und Hilfeangebote auch das gesamte Familiensystem in den Blick nehmen. In die adäquate und umfassende familienorientierte und individuelle Versorgung ist eine Vielzahl von Institutionen und Fachkräften mit unterschiedlichen Aufträgen, Herangehensweisen und Möglichkeiten eingebunden. Dazu gehören Einrichtungen des Gesundheitssystems, der Jugendhilfe, der Suchthilfe u.a.m., deren Leistungen in unterschiedlichen Sozialgesetzbüchern verankert sind. Dies beinhaltet u. a. eine unterschiedliche Finanzierung der für die Familie vorgesehenen Leistungen. Betroffen sind neben dem SGB VIII und dem SGB V auch Leistungen aus anderen Sozialgesetzbüchern wie dem SGB II, dem SGB IX oder dem SGB XII. Von daher müssen die Hilfen interprofessionell entwickelt, gesteuert und miteinander abgestimmt umgesetzt werden.
Bestehende Angebote können nur dann genutzt werden, wenn sie den Familien und Fachkräften bekannt sind. Dieses setzt eine Vernetzung der beteiligten Institutionen und Professionen auch Einzelfall übergreifend voraus. Erforderlich sind Kenntnisse über Aufgaben und Aufträge der einzelnen Anbieter, über Angebotsprofile, Zuständigkeiten und Handlungsmöglichkeiten, interne Organisationsabläufe und Arbeitsgrundlagen der jeweiligen Institutionen. Dadurch können falsche Erwartungen abgebaut, gegenseitige Wertschätzung und Akzeptanz aufgebaut und eine realistische Basis für Kooperation geschaffen werden. Raum dazu bieten regelmäßige interprofessionelle Arbeitskreise, Netzwerktreffen, Qualitätszirkel oder Runde Tische. Bei diesen kommunikativen Verständigungsprozessen auf Expertenebene dürfen allerdings die Bedürfnisse der Familien nicht aus dem Blick geraten (Lenz, 2020).
Bei der fallbezogenen Zusammenarbeit sind Fachkräfte unterschiedlicher Berufsgruppen, Institutionen und Versorgungssektoren beteiligt. Das Fallmanagement beinhaltet Absprachen sowie Regelungen bezüglich der gemeinsamen Verantwortung für die Familie und der eigenen Zuständigkeit für zu übernehmende Aufgaben sowie die Festlegung der Fallverantwortung.
Zusammenfassung
Kinder aus psychisch oder suchtbelasteten Familien tragen ein großes Risiko für Entwicklungs- und gesundheitliche Gefährdungen. Sie gelten als Hochrisikogruppe für eine eigene psychische und/oder Suchterkrankung sowie für Misshandlung und Vernachlässigung.
Präventiver Kinderschutz muss früh einsetzen – idealerweise bereits vor der Schwangerschaft. Belastungen und Gefährdungen bei Kindern und ihren Familien können im Gesundheitssystem erkannt werden, von daher stellt dieses einen wichtigen Zugangsweg dar. Entsprechende Hilfen können anhand der vorhandenen Ressourcen angeboten und vermittelt werden. Notwendig sind frühzeitig zur Verfügung stehende individuell angepasste Hilfen bis hin zu differenzierten Versorgungsangeboten bei hohem Unterstützungsbedarf. Adäquate Hilfen erfordern einen ganzheitlichen Blick auf das gesamte Familiensystem und eine engmaschige Beobachtung der Entwicklung des Kindes. Damit kann wesentlich zu einer Verbesserung der kindlichen Entwicklungsbedingungen, der Lebensqualität der Kinder und zu einer Reduktion späterer körperlicher und psychischer Störungen beigetragen werden.
Wirksame Prävention, Unterstützung und Schutz der betroffenen Kinder und ihrer psychisch und suchtkranken Eltern sind nur interdisziplinär in Kooperation mit anderen Professionen und Systemen fachlich adäquat und erfolgreich zu bewältigen. Notwendige Voraussetzungen sind entsprechendes Fachwissen, geeignete Screening-Instrumente, systematisches und strukturiertes Vorgehen, verbindliche Absprachen, gemeinsame Verantwortungsübernahme mit einer eindeutig definierten Fallverantwortung sowie eine ausreichende personelle und finanzielle Ausstattung.
Interessenkonflikt Die Autor:innen erklären, dass bei der Erstellung des Beitrags kein Interessenkonflikt im Sinne der Empfehlung des International Committee of Medical Journal Editors bestand.
Kontakt:
Dr. med. Lieselotte Simon-Stolz
Kinder- und Jugendärztin
Zertifizierte Kinderschutzmedizinerin (DGKiM)
Leiterin des DGKiM Arbeitskreises Prävention
E-Mail: info@dgkim.de https://www.dgkim.de/
Angaben zu den Autor:innen:
Dr. med. Lieselotte Simon-Stolz, Kinder- und Jugendärztin, Zertifizierte Kinderschutzmedizinerin (DGKiM), Leiterin des DGKiM Arbeitskreises Prävention Dr. med. Hauke Duckwitz, Kinder- und Jugendarzt, Schwerpunkt Neuropädiatrie, Zertifizierter Kinderschutzmediziner (DGKiM), Sana Krankenhaus Gerresheim Frauke Schwier, Kinderchirurgin, Zertifizierte Kinderschutzmedizinerin (DGKiM), Geschäftsführerin Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin
Literatur:
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„Cannabis ist die am häufigsten konsumierte illegale Droge in Deutschland.“ Mit diesem Satz beginnen zahlreiche journalistische Artikel zu Cannabis, um die gesamtgesellschaftliche Bedeutung dieser Substanz zu unterstreichen. Wird THC-haltiges Cannabis, wie derzeit von der Bundesregierung geplant, legal und kontrolliert abgegeben, könnte Cannabis in Zukunft realistischer eingeordnet werden. „Cannabis ist die am dritthäufigsten konsumierte legale Substanz nach Alkohol und Tabak und verursacht im Vergleich zu den beiden letzteren nur einen Bruchteil der gesellschaftlichen Probleme, Gesundheitsschäden und Todesfälle“, könnte es dann heißen.
Gründe für eine kontrollierte Abgabe an Erwachsene zu Genusszwecken
Das Ziel, die Verfügbarkeit und den Konsum von Cannabis durch ein Verbot mit strafrechtlicher Verfolgung zu unterbinden, ist fehlgeschlagen.
Etwa 225.000 der 360.000 Rauschgiftdelikte des Jahres 2019 (64 Prozent) waren durch Cannabis verursacht. Bezogen auf die gesamte Rauschgiftkriminalität waren etwa 80 Prozent konsumnahe Delikte wie der Besitz kleiner Mengen zum Eigengebrauch (Bundeskriminalamt 2019). Nachdem in den Jahren 2006 bis 2012 jährlich 125.000 bis 150.000 Cannabisdelikte verfolgt wurden, kam es seit 2013 zu einem Anstieg um ca. 50 Prozent auf 225.000 Fälle.
Die deutliche Steigerung der Strafverfolgung hat nicht zu einem Rückgang des Cannabiskonsums geführt. Trotz des Verbotes von Cannabis ist die 12-Monats-Prävalenz des Cannabiskonsums bei Männern von 6,7 Prozent (2012) auf 10,3 Prozent (2018) und bei Frauen von 3,4 Prozent (2012) auf 6,2 Prozent (2018) gestiegen (Seitz et al. 2019). Auch das Ziel, durch Strafverfolgung die Verfügbarkeit von Cannabis zu reduzieren, ist fehlgeschlagen. 57 Prozent der 15- bis 24-Jährigen geben an, Cannabis leicht innerhalb von 24 Stunden besorgen zu können (Eurobarometer 2014). Entsprechende Zahlen für andere Drogen liegen deutlich niedriger (Heroin zehn Prozent, Kokain 18 Prozent, Ecstasy 19 Prozent). Die strafrechtliche Verfolgung von konsumnahen Cannabisdelikten bindet einen großen Anteil der Arbeit von Polizei, Gerichten und Justizvollzugsanstalten, die an anderer Stelle fehlt. Durch das Verbot von Cannabis wandern hohe Summen in den Schwarzmarkt und ermöglichen Verkäufer:innen und der mit ihnen verbundenen organisierten Kriminalität Investitionen in anderen kriminellen Bereichen.
Das Verbot von Cannabis erhöht die gesundheitlichen Risiken von Cannabiskonsum.
Aufgrund des Verbotes von Cannabis erfolgt keine Qualitätskontrolle der Cannabisprodukte. Sie können Pestizide, Düngemittel, Blei (Busse et al. 2008) oder synthetische Cannabinoide enthalten, die zu Gesundheitsschäden führen. Der Wirkstoff Tetrahydrocannabinol (THC) ist berauschend und verantwortlich für cannabis-induzierte Gesundheitsschäden, während Cannabidiol (CBD) nicht berauschend wirkt und die gesundheitsschädliche Wirkung von THC reduziert. Daher wäre es aus gesundheitlicher Sicht besser, wenn der THC-Gehalt niedrig und der CBD-Gehalt hoch wäre. In Folge des Cannabisverbotes hat sich in den USA der THC-Gehalt von etwa vier Prozent im Jahr 1995 auf etwa zwölf Prozent im Jahr 2012 erhöht (Volkow et al. 2014). In Deutschland betrug er 2019 16,7 Prozent für Haschisch (Reitox Bericht 2019) und 13,1 Prozent für Cannabisblüten (Reitox Bericht 2018). CBD wurde aus neueren Cannabissorten herausgezüchtet. Sie enthalten nur noch geringe CBD-Konzentrationen unter einem Prozent (Chandra et al. 2019).
Ein weiteres Problem stellen Räuchermischungen mit synthetischen Cannabinoiden („Spice“) dar, die eine bis zu 100-fach stärkere Wirkung als THC aufweisen, mit stärkeren Gesundheitsschäden als bei THC verbunden sind und zu Todesfällen geführt haben. Synthetische Cannabinoide werden vor allem dann konsumiert, wenn der Konsum wegen der Illegalität von Cannabis nicht entdeckt werden soll, also in Justizvollzugsanstalten und im Straßenverkehr. Daher können das Aufkommen und der Erfolg von synthetischen Cannabinoiden als direkte Folgen des Verbotes von Cannabis angesehen werden.
Die gesundheitlichen Risiken von Cannabis sind bekannt (siehe CaPRis-Studie) und deutlich geringer als die von Alkohol und Tabak.
Die gesundheitlichen Risiken von Cannabis wurden in der CaPRis-Analyse 2018 im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums gut zusammengefasst. Die Risiken von Cannabiskonsum beinhalten psychische Störungen wie vorübergehende neuropsychologische Defizite, das Auftreten von Angststörungen (erhöht um Faktor 1,3 bis 1,7), Depressivität (erhöht um Faktor 1,3 bis 1,6), Psychosen (bei leichtem Konsum um Faktor 1,4 bis 2,0 erhöht, bei hohem Konsum um Faktor 2,0 bis 3,4) und eine Abhängigkeit von Cannabis (bei ca. neun Prozent der Konsumenten). Körperliche Folgen betreffen das Atemsystem und ein erhöhtes Hodenkrebsrisiko. Die Datenlage bzgl. kardiovaskulärer Effekte und anderer Krebserkrankungen war teils widersprüchlich, von schlechter Qualität oder nicht ausreichend, um chronische Schäden durch Cannabis nachzuweisen.
Durch akuten Cannabiskonsum erhöht sich das Verkehrsunfallrisiko um den Faktor 1,25 bis 2,66 (zum Vergleich: durch Alkohol um den Faktor 6 bis 15). Wenn in jungem Alter mit dem Cannabiskonsum begonnen wird, ist Cannabiskonsum mit einem geringeren Bildungserfolg assoziiert (für eine ausführliche Darstellung vgl. Hermann 2015).
Jugendliche sind durch Drogenkonsum besonders gefährdet und müssen besonders geschützt werden.
Das Gehirn wird während der Pubertät neurobiologisch umgebaut, neuronale Netzwerke werden verändert und Hirnzentren neu verknüpft. Das wird durch körpereigene Cannabinoide (Endocannabinoide) gesteuert. Wenn in dieser Zeit Cannabis konsumiert wird, können diese fein abgestimmten Umbauprozesse nicht mehr korrekt ablaufen. Das führt zu lebenslangen Veränderungen der neuronalen Verknüpfungen, die eine geringere Intelligenz und ein erhöhtes Risiko für psychische und Suchterkrankungen begünstigen können (Jacobus et al. 2019, Salmanzadeh et al. 2020). Allerdings verhindert das Verbot von Cannabis den Konsum durch Jugendliche nicht. Der Anteil der 12- bis 17-Jährigen, die mindestens schon einmal Cannabis konsumiert haben, ist von 8,3 Prozent (2016) auf 9,6 Prozent (2018) gestiegen. Der Schwarzmarkt fragt nicht nach dem Alter. Leider hat Cannabis das Image einer Jugenddroge – dieses Image muss dringend verändert werden. Hierzu müssen Prävention, Jugendschutz, Suchtberatung und Behandlungsangebote erweitert, intensiviert, besser koordiniert und finanziert werden. Fachkräfte der Suchthilfe können besser zu einer Verhaltensänderung bzgl. des Drogenkonsums motivieren als das Strafrecht bzw. Polizei und Justiz.
Die aktuell wichtigste Frage: Wie soll ein kontrollierter, legaler Verkauf von Cannabis für Erwachsene ausgestaltet werden?
Nachdem klar ist, dass die im Jahr 2021 eingesetzte Bundesregierung eine kontrollierte, legale Abgabe von Cannabis an Erwachsene einführen möchte, muss geklärt werden, mit welchen Zielen, unter welchen Bedingungen und mit welchen Kontrollmechanismen die Cannabislegalisierung organisiert werden soll.
Je nachdem, welche Ziele verfolgt werden, zeigen sich große Unterschiede in der Praxis. Die unterschiedlichen Auswirkungen können in Ländern beobachtet werden, die den Cannabisverkauf bereits legalisiert haben. In den Niederlanden können aktuell Erwachsene ab 18 Jahren bis fünf Gramm Cannabis in Coffeeshops erwerben und dort oder im privaten Raum konsumieren. Es gibt aber keine legale Möglichkeit, Cannabis in den Niederlanden anzubauen und zu produzieren – die Coffeeshops kaufen daher Cannabis auf dem Schwarzmarkt. Dadurch werden systematisch hohe finanzielle Mittel in kriminelle Bereiche geleitet. In den Bundesstaaten der USA, die Cannabis legalisiert haben, stehen neben Themen des Gesundheitsschutzes vor allem wirtschaftliche Interessen von teilweise börsennotierten Unternehmen im Vordergrund. Entsprechend soll Cannabis ein positives Image erhalten und der Konsum bequem und in ansprechendem Umfeld ermöglicht werden. Im Rahmen der wirtschaftlichen Interessen wird ein Wachstum des Cannabismarktes angestrebt. Die Verkaufsmenge wird durch Werbung, Produktdifferenzierung (Cannabis in Getränken oder Süßigkeiten) und eine Ausweitung des Marktes auf mehr Konsument:innen gesteigert. Die Kund:innen sollen häufiger und in größeren Mengen konsumieren.
Das steht im Konflikt zu den Interessen des Gesundheitsschutzes, der gefährdete Personen wie Jugendliche, Schwangere und an Psychosen Erkrankte vom Konsum ausschließen und nicht zum Konsum motivieren möchte. Eine am Gesundheitsschutz orientierte Cannabislegalisierung begrenzt gefährliche Konsumformen wie häufigen, hochdosierten Konsum und beinhaltet eine Informationspflicht über Risiken. Diese Maßnahmen verfolgen das Ziel, den Konsum möglichst gering zu halten und nicht auszuweiten. Es soll zwar ein legaler Konsum ermöglicht werden, dieser soll aber gesundheitsorientierte Einschränkungen bzgl. der Verfügbarkeit von Cannabis und öffentlicher Konsummöglichkeiten sowie Informationspflichten und Verbraucherschutz beinhalten.
In Deutschland haben sich die Regierungsparteien im Koalitionsvertrag 2021 auf folgende Formulierung geeinigt: „Wir führen die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften ein. Dadurch wird die Qualität kontrolliert, die Weitergabe verunreinigter Substanzen verhindert und der Jugendschutz gewährleistet. Das Gesetz evaluieren wir nach vier Jahren auf gesellschaftliche Auswirkungen. Modelle zum Drugchecking und Maßnahmen der Schadensminderung ermöglichen und bauen wir aus.“ (Koalitionsvertrag, S. 68) Das heißt, dass Verbraucher:innenschutz und Jugendschutz im Vordergrund stehen und Einschränkungen in der Verfügbarkeit vorgesehen sind. In einem strukturierten Konsultationsprozess wurden zentrale Fragestellungen in diesem Zusammenhang unter Leitung des Sucht- und Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Burkhard Blienert, erörtert. Als Ziel wurde genannt, noch im Jahr 2022 einen ersten Gesetzentwurf vorzulegen.
Das Eckpunktepapier der Bundesregierung zur Einführung einer kontrollierten Abgabe von Cannabis
Am 26.10.2022 hat die Bundesregierung ein Eckpunktepapier zur Einführung einer kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken veröffentlicht. Die wichtigsten Inhalte werden im Folgenden vorgestellt. Zu beachten ist, dass es sich hierbei nicht um einen Gesetzentwurf handelt, sondern um eine so genannte Interpretationserklärung gegenüber der EU-Kommission, um den völker- und europarechtlichen Rahmen des Gesetzesvorhabens zu berücksichtigen (Bundesgesundheitsministerium 2022).
Als Ziele der kontrollierten Abgabe von Cannabis werden ein verbesserter Jugendschutz und Gesundheitsschutz und eine Eindämmung des Schwarzmarktes genannt. Cannabis und Tetrahydrocannabinol (THC) sollen künftig rechtlich nicht mehr als Betäubungsmittel eingestuft werden. Die Produktion, Lieferung und der Vertrieb von Genusscannabis sollen zukünftig durch Lizenzen staatlich kontrolliert werden. Der Erwerb und Besitz von 20 bis 30 Gramm Cannabis zum Eigenkonsum im privaten und öffentlichen Raum soll ab 18 Jahren straffrei sein unabhängig vom THC-Gehalt des Cannabis. Ein privater Eigenanbau von drei weiblichen blühenden Pflanzen pro erwachsener Person soll erlaubt werden mit einigen Auflagen zum Kinder- und Jugendschutz. Laufende Strafverfahren und Ermittlungsverfahren zu dann nicht mehr strafbaren Handlungen werden beendet, wenn das Gesetz in Kraft tritt.
Genusscannabis soll in lizenzierten Fachgeschäften und gegebenenfalls Apotheken abgegeben werden. Bei jedem Betreten eines Cannabisfachgeschäftes soll eine Alterskontrolle erfolgen, da das Mindestalter für die Abgabe 18 Jahre betragen soll. In den Fachgeschäften darf nur Cannabis verkauft werden, keine anderen Produkte und insbesondere kein Tabak und Alkohol. Die Betreiber:innen und das Verkaufspersonal müssen Sachkundenachweise zu Beratungs- und Präventionskenntnissen erbringen. Zusätzlich muss es pro Verkaufsstelle eine Ansprechperson für den Jugendschutz geben. Zudem soll bei jedem Verkauf ein Beratungsgespräch angeboten werden mit aufklärenden Informationen über Cannabis, Konsumrisiken, risikoarmen Konsum sowie Hinweisen auf Suchtberatungsstellen. Im Bereich von Schulen, Kitas, auf Spielplätzen, in öffentlichen Parks sowie an weiteren Orten, an denen sich Kinder und Jugendliche regelmäßig aufhalten wie z. B. Fußgängerzonen bis 20 Uhr, wird der öffentliche Konsum von Cannabis verboten. Es werden strenge Vorgaben für die Umverpackung von Cannabis gemacht. Qualität und Reinheit des Cannabis werden kontrolliert.
Werbung für Cannabis-Produkte soll generell untersagt werden, ebenso der Verkauf von synthetisch hergestellten Cannabinoiden. Die Abgabe von Cannabis soll normal der Umsatzsteuer unterliegen; ob eine zusätzliche „Cannabissteuer“ erhoben wird, ist noch in Prüfung. Denn der Preis soll nahe dem aktuellen Schwarzmarktpreis liegen, um Konsument:innen ein Umsteigen auf legales Cannabis zu erleichtern. Handel treiben und in Verkehr bringen ohne Lizenz oder das Überschreiten der Höchstmenge sollen weiterhin strafbar bleiben. Es sollen Cannabisprodukte zum Rauchen, Inhalieren und für nasale oder orale Aufnahme zugelassen werden, z. B. Kapseln, Sprays und Tropfen, und das Bundesnichtraucherschutzgesetz soll auch bezüglich des Rauchens von Cannabis gelten. Eine Erweiterung auf „Edibles“ (Cannabis in Lebensmitteln oder Getränken, z. B. THC-haltige Gummibärchen) soll nach spätestens vier Jahren geprüft werden.
Zusätzlich soll eine Plattform mit Informationen zu Cannabis und zum Gesetz eingerichtet werden, in der auch Informationen zu Angeboten für Prävention, Beratung, Behandlung sowie zu Wirkung, Risiken und Safer Use zur Verfügung gestellt werden. Die Aufklärungs- und Präventionsarbeit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung soll verstärkt werden, ebenso die cannabisbezogene Forschung. Auch ist eine mediale und kommunikative Begleitung der kontrollierten Ausgabe von Cannabis durch die Bundesregierung geplant. Die cannabisbezogene Aufklärungs- und Präventionsarbeit sowie zielgruppenspezifische Beratungs- und Behandlungsangebote werden weiterentwickelt.
Für Minderjährige soll also der Anbau, Erwerb und Besitz von Cannabis weiterhin verwaltungsrechtlich verboten bleiben. Verstöße werden durch Bußgelder geahndet. Für konsumierende Jugendliche sollen aber niedrigschwellige und flächendeckende Frühinterventionsprogramme zur Konsumreflektion eingeführt werden. Behörden wie z. B. das Jugendamt können Minderjährige bei Konsum oder Besitz von Cannabis zu einer Teilnahme an einem Frühinterventions- oder Präventionsprogramm verpflichten. Die universelle, selektive und indizierte Prävention in den Lebenswelten soll entsprechend ausgebaut werden, vor allem in Schulen, Berufsschulen, im Internet und in den sozialen Medien, in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen, in Einrichtungen, die mit kognitiv eingeschränkten Personen arbeiten, in Sportvereinen und der Arbeitswelt. Und natürlich sollen auch Informations-, Präventions- und Fortbildungsangebote für Erwachsene mit verschiedenen Zielgruppenschwerpunkten ausgebaut werden, z. B. für konsumunerfahrene Personen sowie Vielkonsumierende, aber auch für deren soziales Umfeld.
Die wissenschaftlichen „Lower-Risk Cannabis Use Guidelines”
Im Jahr 2011 hat eine Gruppe internationaler Wissenschaftler:innen erstmals evidenzbasierte Empfehlungen herausgegeben, um die Risiken des Cannabiskonsums zu reduzieren. Die Empfehlungen wurden 2017 und 2021 anhand neuer wissenschaftlicher Literatur aktualisiert (Fischer et al. 2022). Die Evidenz wurde anhand einer fünfstufigen Skala eingeschätzt (sehr hoch, hoch, mittel, gering, sehr gering). Durch das streng wissenschaftliche Vorgehen wird vermieden, dass politisch motivierte Meinungen oder allgemeine Mythen Einzug in die Empfehlungen halten. Auch die Einflussnahme von Lobbyisten und Lobbyistinnen, die eine Deregulierung der Verfügbarkeit bzw. des Konsums anstreben (z. B. Vertreter:innen der Cannabisindustrie), wird reduziert. Die Empfehlungen der „Lower-Risk Cannabis Use Guidelines” eignen sich gut als Grundlage für Informationskampagnen und Beratungsgespräche in den für Deutschland geplanten Cannabisfachgeschäften. An dieser Stelle sei auf die Original-Veröffentlichung in englischer Sprache verwiesen, die zum Download verfügbar ist.
Diskussion
Chancen
Das Verbot von Cannabis hat den Cannabiskonsum in den letzten Jahrzehnten nicht reduziert, es fördert gesundheitsschädliche Konsumformen und erscheint im Vergleich zu dem viel schädlicheren Alkohol unangemessen. Durch die strafrechtliche Verfolgung werden Polizei und Justiz belastet, und es fließen hohe finanzielle Mittel in den Schwarzmarkt. Erfahrungen mit einer Cannabislegalisierung aus anderen Ländern zeigen, dass der Cannabiskonsum unter Erwachsenen nicht oder nur moderat ansteigt und bei Jugendlichen weitgehend unverändert bleibt. Diese Erfahrungen zeigen auch, dass es maßgeblich von der Ausgestaltung der Legalisierung abhängt, ob es zu negativen Effekten kommt.
Die aktuelle Bundesregierung hat ein Eckpunktepapier vorgelegt, in dem Jugend- und Gesundheitsschutz an erster Stelle stehen. Detailreich werden alle Fragen von Anbau über Verkauf und Prävention geregelt. Das Ziel, den Cannabiskonsum nicht zu fördern, aber für diejenigen, die nicht darauf verzichten wollen, so wenig schädlich wie möglich zu gestalten, ist in diesem Papier aus suchtmedizinischer Perspektive gut gelungen. Besonders wichtig sind Prävention und Information, die langfristig dazu beitragen können, verantwortungsvoll mit Cannabis umzugehen und das Image von Cannabis als „Jugenddroge“ zu revidieren.
Mit der Fokussierung auf den Gesundheitsschutz treten andere Ziele in den Hintergrund, die aber auf sekundärer Ebene sowie in der laufenden Diskussion eine Rolle spielen. Beispielsweise werden immer wieder justizielle Ziele wie die Reduktion des Schwarzmarktes und die Entlastung der Strafverfolgung genannt. Auch wenn diese Ziele weitere gute Gründe darstellen, die für eine Legalisierung sprechen, muss hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung ein Schwerpunkt gesetzt werden. International wird eine am Gesundheitsschutz orientierte Cannabislegalisierung als der beste Weg gesehen, Chancen und Risiken auszubalancieren und zu einer Weiterentwicklung der Suchtpolitik im Sinne der öffentlichen Gesundheit beizutragen. Ohne Schwerpunktsetzung droht ein bürokratisches Chaos mit der Folge einer legalen Abgabe, die alle Ziele verfehlt, da sie sowohl an der Zielgruppe als auch an einer realistischen Umsetzung vorbei agiert. Gegner:innen der Freigabe könnten dann argumentieren, dass sie mit ihrer These, durch die Freigabe würde sich die Situation nicht verbessern, recht behalten hätten.
Das Eckpunktepapier der Bundesregierung zur Cannabislegalisierung gibt einen soliden Rahmen für eine staatliche Kontrolle bzgl. Anbau, Produktion, Vertrieb und Konsum vor. Negative Auswirkungen, die in anderen Ländern beobachtet wurden, z. B. das Verbot der Produktion von Cannabis, das in den Niederlanden den Schwarzmarkt aufrechterhält, oder die Förderung des Cannabiskonsums durch Werbung und Produktdiversifikation aus wirtschaftlichen Gründen, wie in einigen US-Bundesstaaten, sollen vermieden werden. In dem aktuellen Gesetzgestaltungsprozess wurden und werden Erfahrungen aus anderen Ländern systematisch aufgearbeitet. Dabei werden wichtige Fragen wie der Preis, Prävention, Informationspflichten, wo konsumiert werden darf, wie mit konsumierenden Minderjährigen umgegangen werden soll und die Höhe der Steuer diskutiert. Dies eröffnet die große Chance, einen angemessenen gesellschaftlichen Umgang mit Cannabis zu finden und Fehler, die im Umgang mit Alkohol und Tabak in der Vergangenheit gemacht wurden, nicht zu wiederholen. Wichtig zu erwähnen ist, dass mit einer kontrollierten Freigabe der Umgang mit Cannabis nicht für alle Zeit geregelt ist. Die Diskussion wird uns anders als zu Verbotszeiten weiterhin auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen begleiten – und das ist gut!
Bedenken der Suchthilfe
Über die genannten politischen Ziele hinaus beschäftigen die Suchthilfe noch andere Aspekte. An vielen Stellen wird ein Informations- bzw. Kommunikationsdefizit deutlich. Ein Großteil der Fachkräfte in der Suchthilfe hat über viele Jahre hinweg – u. a. aus Gründen der Gefahr der justiziellen Verfolgung – seine Klient:innen eher selten im Sinn eines akzeptanzorientierten Ansatzes beraten oder behandelt, obwohl wissenschaftliche Harm reduction-Ansätze wie die Lower-Risk Cannabis Use Guidelines verfügbar sind. Teilweise sind die Klient:innen auch erst im Rahmen der Strafverfolgung zu den Fachkräften gekommen. Zudem kennen viele Fachkräfte in erster Linie diejenigen Konsument:innen, die mit Cannabis nicht gut umgehen können und einen schädlichen Gebrauch bzw. eine Suchterkrankung entwickelt haben. Befürchtungen, es werde mit einer kontrollierten Freigabe von Cannabis zu einem Anwachsen jener Behandlungsfälle kommen, sind aus dieser Perspektive also nur verständlich. Empirisch sind sie jedoch nicht eindeutig bestätigt. Auch die horrenden gesellschaftlichen Auswirkungen der hohen Verfügbarkeit von Alkohol bei gleichzeitig hohem Schadenspotenzial lassen viele Fachkräfte zurückschrecken, wenn sie sie auf die geplante Freigabe von Cannabis übertragen. Umso wichtiger ist es, jene Erfahrungen und Erwartungen ernst zu nehmen und in einen breiten Kommunikations- und Beteiligungsprozess überzuleiten.
Auf der anderen Seite darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Deutschland als erstes europäisches Land den Weg einer „echten“ Legalisierung von Cannabis einschlägt und damit nach einer jahrelangen Stagnation in der Drogenpolitik viel Bewegung in den Suchthilfebereich kommt. Dieser politische Schritt kommt einem suchtpolitischen Pfadbruch (vgl. Werle 2007) gleich, der einerseits Unsicherheiten, andererseits aber auch ein hohes Innovationspotenzial in sich trägt. Die Bearbeitung vieler stockender Fragen in der Suchthilfe wie die Entstigmatisierung von Konsument:innen, ein Neustart der Präventionspolitik, eine auskömmliche Finanzierung und die gesetzliche Fixierung von Suchtberatung als Teil der psychosozialen Daseinsvorsorge oder auch eine Neubewertung von Rausch in unserer Gesellschaft rückt in greifbare Nähe. Lassen wir uns diese Gelegenheit nicht entgehen!
Die hier vertretenen Auffassungen geben die Meinung der Verfasser wieder und entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion.
Kontakt:
Prof. Dr. Derik Hermann, Dr. Dirk Kratz
Therapieverbund Ludwigsmühle gGmbH
Paul-von-Denis-Str. 13
76829 Landau
Derik.Hermann(at)ludwigsmuehle.de, Dirk.Kratz(at)ludwigsmuehle.de
Tel. 06341 / 5202 100 www.ludwigsmuehle.de
Angaben zu den Autoren:
Prof. (apl) Dr. med. Derik Hermann, Chefarzt Therapieverbund Ludwigsmühle, Facharzt Psychiatrie und Psychotherapie Dr. phil. Dirk Kratz, Diplom-Pädagoge, Geschäftsführer Therapieverbund Ludwigsmühle gGmbH, stv. Vorsitzender fdr+ Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V.
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