Kategorie: Fachbeiträge

  • Cannabislegalisierung in Kanada seit 2018

    Cannabislegalisierung in Kanada seit 2018

    Dr. Dirk Kratz
    Prof. Dr. Derik Hermann

    In Kanada wurde am 17. Oktober 2018 Cannabis legalisiert, dabei orientierte sich die Gesetzgebung am Jugend- und Gesundheitsschutz. Jetzt besteht die Gelegenheit, Daten und Erfahrungen aus den ersten drei Jahren der Cannabislegalisierung in Kanada zu analysieren und Schlüsse für den legalen und kontrollierten Verkauf von Cannabis in Deutschland zu ziehen. Die Umsetzung in Kanada kann als Modellprojekt angesehen werden, das dabei hilft, realistische Vorstellungen von den Folgen einer Cannabislegalisierung zu entwickeln.

    Steigt der Cannabiskonsum? Wenn ja, in welchen Bevölkerungsgruppen? Geht der Schwarzmarkt zurück oder weicht er auf andere kriminelle Bereiche aus? Reduziert sich die Arbeitsbelastung von Polizei und Gerichten? Steigt die Behandlungsnachfrage wegen einer Cannabisabhängigkeit oder Psychosen? Reduziert sich der Alkoholkonsum, weil viele auf Cannabis umsteigen? Ändert sich die Partykultur? Fühlen sich Bürger:innen von öffentlichem Cannabiskonsum belästigt? – Diese Fragen können auch nach drei Jahren Erfahrung in Kanada nicht abschließend beantwortet werden. Dennoch bietet sich die Möglichkeit, Trends abzulesen und unerwartete Effekte der kanadischen Cannabislegalisierung für die Umsetzung in Deutschland zu berücksichtigen.

    Das kanadische Cannabisgesetz 2018 (Cannabis Act Canada)

    Als Ziele der Legalisierung von Cannabis werden im kanadischen Cannabisgesetz (cannabis act) Jugendschutz, Reduktion illegaler Aktivitäten, Entlastung des Rechtssystems, eine qualitätsgesicherte Versorgung mit Cannabis und eine verbesserte Wahrnehmung der Gesundheitsrisiken von Cannabis genannt. Seit dem 17. Oktober 2018 dürfen in Kanada Personen über 18 Jahre bis 30 Gramm getrocknetes Cannabis besitzen und mit anderen Erwachsene teilen (weitergeben), aber nicht verkaufen. Bis zu vier Cannabispflanzen je Haushalt (nicht pro Person) sind im privaten Raum erlaubt, dürfen aber nur an andere Personen weitergegeben werden, solange sie nicht blühen. Cannabis aus illegalen Quellen bleibt verboten. Der Besitz und die Weitergabe von mehr als fünf Gramm getrocknetem Cannabis stellt für Jugendliche im Alter von zwölf bis 18 Jahren eine Straftat dar mit höheren Strafen als vor dem Cannabisgesetz.

    Cannabis darf in legalen Fachgeschäften an Erwachsene verkauft werden. Das Alter muss kontrolliert werden. Die Versorgung mit Cannabis erfolgt über staatliche Lizenzen zur Produktion und zum Verkauf in Fachgeschäften. Für die Cannabis-Fachgeschäfte wurden enge Regeln definiert bzgl. Verpackung und Auszeichnung, z. B. darf Cannabis nicht attraktiv für Minderjährige verpackt sein, es darf nicht mit anderen Substanzen vermischt werden, Selbstbedienung ist verboten, und es besteht eine Informationspflicht gegenüber Bürger:innen und Behörden.

    Da Kanada bereits 2001 Cannabis als Arzneimittel legalisiert hat, bestand zum Start der Legalisierung zum Freizeitgebrauch eine ausreichende Produktions-Infrastruktur mit mehr als 60 Firmen, die Cannabis anbauen. Lizenzen für Cannabis-Fachgeschäfte werden verweigert, wenn dadurch das Risiko entsteht, die öffentliche Gesundheit (public health) oder die öffentliche Sicherheit zu gefährden oder dass Cannabis in illegale Kanäle geleitet wird. Lizenzen werden auch nicht vergeben an Ausländer, Jugendliche oder Personen, bei denen bestimmte Gesetzesverstöße in den letzten zehn Jahren vorlagen.

    Meist darf Cannabis dort konsumiert werden, wo auch Tabakrauchen erlaubt ist. Allerdings haben sechs der 13 kanadischen Provinzen den Cannabiskonsum nur im privaten Raum erlaubt. Alles, was den illegalen Anbau oder Verkauf von Cannabis ermöglicht, ist verboten. Bei Verstößen gegen das kanadische Cannabisgesetz drohen bis zu 14 Jahre Haft. Werbung für Cannabis ist weitgehend verboten, das Verbot beinhaltet auch ausländische Medien und Sponsoring, z. B. Werbung auf Sporttrikots, kostenlose Cannabisproben oder Cannabis als Gewinn bei Spielen oder Verlosungen. Nur Personen, die eine Lizenz zum Anbau oder Verkauf von Cannabis besitzen, dürfen Informationen weitergeben und markenbezogene Werbung machen, sofern sichergestellt ist, dass unter 18-Jährige dadurch nicht erreicht werden. Falsche oder missverständliche Informationen dürfen nicht gegeben werden. Darstellungen bzgl. Cannabis in Kunst, Musik, Filmen, Literatur und zu pädagogischen und wissenschaftlichen Zwecken sind jedoch erlaubt.

    Das kanadische Cannabisgesetz sieht Bußgelder von 200 Dollar für geringfügige Verstöße vor (Besitz von 30 bis 50 Gramm getrocknetem Cannabis oder fünf bis sechs Cannabispflanzen). Es soll ein tracking system etabliert werden, um zu verhindern, dass legal produziertes Cannabis in den Schwarzmarkt gelangt oder illegales Cannabis in legalen Cannabis-Fachgeschäften verkauft wird. Zur Überwachung des Cannabisgesetzes werde Inspektor:innen eingesetzt. Weitere Details wie Öffnungszeiten der Cannabis-Fachgeschäfte, ein lizensierter Online-Verkauf oder ein Verbot von Cannabiskonsum an bestimmten öffentlichen Orten können die kanadischen Provinzen selbst regeln.

    Erfahrungen aus Kanada

    Nach der Legalisierung war legales Cannabis nicht ab dem ersten Tag überall verfügbar.

    Im ersten Monat betrug der Anteil des legalen Cannabis nur 7,8 Prozent der geschätzten Verkaufsmenge (Armstrong 2021). Dieser Anteil stieg innerhalb eines Jahres auf 23,7 Prozent und bis 2021 auf 72 Prozent. Davon wurden 53 Prozent in Cannabis-Fachgeschäften, elf Prozent in Onlineshops und acht Prozent über einen Selbstanbau umgesetzt (Canadian Cannabis Survey).

    In den ersten sieben Monaten der Legalisierung blieb die verkaufte Menge Cannabis mit Einnahmen von 524 Millionen Kanadische Dollars (CAD) deutlich hinter den Erwartungen von CAD 4,34 Milliarden zurück. Die Gründe waren die geringe Anzahl an Verkaufsstellen und höhere Preise im Vergleich zum Schwarzmarkt.

    Der unerwartet niedrige Anteil von legalem Cannabis machte deutlich, dass Cannabiskonsument:innen nicht zu jeder Bedingung von illegalem Cannabis auf legales Cannabis umsteigen. In Kanada hatten sich über Jahrzehnte ein blühender Schwarzmarkt und ausgeprägte Versorgungsstrukturen für medizinisches Cannabis etabliert. Die Versorgungsstrukturen waren schlecht kontrolliert und wurden auch oft zur Abgabe von Cannabis ohne medizinische Indikation genutzt (Fischer 2017). Zugleich erleichterte die Existenz von mehr als 60 Unternehmen, die medizinisches Cannabis produzieren, eine schnelle Versorgung mit Cannabis für den Freizeitgebrauch (Fischer 2017). Im Canadian Cannabis Survey wurden Preis, Versorgungssicherheit und Qualität als wichtigste Faktoren dafür identifiziert, aus welcher Quelle Cannabis bezogen wird. Nur fünf bis zehn Prozent der Konsumenten gaben an, dass die Legalität zu den wichtigsten drei Gründen zählt, wo sie Cannabis kaufen.

    Innerhalb der ersten zwei Jahre nach der Legalisierung eröffneten 1.183 Cannabis-Shops in Kanada, das entspricht 3,7 Cannabis-Shops pro 100.000 Einwohner:innen >15 Jahre (Myran et al. 2022). In kanadischen Bundesländern, die neben staatlichen auch privatwirtschaftliche Cannabis-Shops zuließen, wurden mehr Cannabis-Shops eröffnet (4,8 versus 1,0 pro 100.000 Einwohner:innen) mit längeren Öffnungszeiten (80 versus 69 Stunden pro Woche).

    Der Canadian Cannabis Survey erhebt seit 2017 jährlich Daten zu Themen rund um Cannabis.

    Der Anteil der Personen, die im letzten Jahr Cannabis konsumiert haben, erhöhte sich von 22 Prozent im Jahr 2018 auf 27 Prozent im Jahr 2020 und hat sich im Jahr 2021 auf 25 Prozent verringert. Dieser Wert beinhaltet auch Probierkonsument:innen, die nur einmal im letzten Jahr Cannabis konsumiert haben. In den letzten 30 Tagen hatten 2018 15 Prozent der Befragten Cannabis konsumiert und 2021 17 Prozent. Täglichen oder fast täglichen Konsum gab etwa ein Viertel der Konsument:innen an, die im letzten Jahr Cannabis konsumiert haben, also etwa 6,3 Prozent der Bevölkerung. Dieser Wert blieb von 2018 bis 2021 weitgehend unverändert, weil unter den neuen Konsument:innen viele Probierkonsument:innen waren, die nur selten Cannabis konsumieren.

    Der Cannabiskonsum von Schüler:innen der 7. bis 12. Klasse hat sich im Jahr nach der Legalisierung nicht erhöht (18 Prozent mit Konsum im letzten Jahr; Canadian Student Tobacco Alcohol and Drug Use Survey). Ein systematisches Review und Metaanalyse von acht Studien zur Cannabislegalisierung international (nicht nur Kanada) ergab eine geringe Erhöhung des Konsums von Jugendlichen und jungen Erwachsenen um drei Prozentpunkte (standardised mean difference von 0.03, 95% CI −0.01 bis 0.07; Melchior et al. 2019).

    Charakteristika des legalen Cannabiskonsums seit 2018

    Cannabis wurde häufiger konsumiert, wenn die körperliche Gesundheit als schlecht oder sehr schlecht eingeschätzt wurde, in dieser Gruppe gaben 30 Prozent Konsum im letzten Jahr an. Noch mehr Personen konsumierten Cannabis, wenn die psychische Gesundheit als schlecht (44 Prozent) oder sehr schlecht (51 Prozent) eingeschätzt wurde. Cannabis wurde also häufig zur Selbstbehandlung von körperlichen oder psychischen Beschwerden eingesetzt.

    Das Alter beim ersten Cannabiskonsum erhöhte sich von 18,9 Jahren 2018 auf 20,4 Jahre 2021. Durchschnittlich wurden 2021 1,1 Gramm Cannabis pro Konsumtag konsumiert. Der Preis betrug CAD 9,78 (ca. € 7) pro Gramm getrockneter Cannabisblüten. Nur 16 Prozent der Personen mit Cannabiskonsum im letzten Jahr konsumierten Cannabis immer mit Tabak, und 69 Prozent gaben an, dies nie zu tun. Etwa 3,75 Prozent der Bevölkerung (15 Prozent derer mit Konsum im letzten Jahr) bauten 2021 durchschnittlich 3,6 Cannabispflanzen an. Das gesundheitsschädliche Rauchen von Cannabis reduzierte sich von 89 Prozent der Konsumenten 2018 auf 74 Prozent 2021, parallel dazu wurde Cannabis häufiger gegessen oder getrunken (von 43 Prozent 2018 auf 57 Prozent 2021). Verdampfen (vaping) blieb unverändert bei 33 Prozent.

    Informationskampagnen erhöhen den Kenntnisstand zu Risiken.

    Ein Ziel der Legalisierung war, den Informationsstand der Bevölkerung über spezifische Risiken zu erhöhen. Hierfür wurden verschiedene Kampagnen in unterschiedliche Medien geschaltet. 76 Prozent der Bevölkerung schätzten 2021 Cannabis als schädlich ein, 65 Prozent stimmten zu, dass (fast) täglicher Konsum das Risiko für psychische Erkrankungen erhöht, und 82 Prozent stimmten zu, dass Teenager ein höheres Risiko für Schäden haben als Erwachsene.

    Die Einschätzung unter Cannabiskonsument:innen, dass das Rauchen von Cannabis mit einem mittleren bis hohen Risiko verbunden ist, erhöhte sich von 40 Prozent 2018 auf 50 Prozent 2021, die Zustimmung zu einem mit dem Essen von Cannabis verbundenen Risiko erhöhte sich von 34 Prozent auf 40 Prozent und zu einem mit Dampfen (vaping) verbundenen Risiko von 38 Prozent auf 55 Prozent. Die Einschätzung von Cannabiskonsument:innen, dass Cannabiskonsum die Verkehrstüchtigkeit einschränkt, erhöhte sich von 61 Prozent 2018 auf 78 Prozent 2021. Autofahren unter Cannabiseinfluss reduzierte sich von 27 Prozent 2018 auf 16 Prozent 2021. Als Beifahrer:innen fuhren 2018 noch 13 Prozent bei Personen mit, die kürzlich Cannabis konsumiert haben. 2021 gaben dies nur noch sieben Prozent an.

    In der Bevölkerung stimmten 87 Prozent zu, dass während Schwangerschaft und Stillzeit kein Cannabis konsumiert werden sollte, unter den Cannabiskonsumenten stimmten 83 Prozent zu. Während einer beruflichen Tätigkeit unter akutem Cannabiseinfluss zu stehen, ist mit einer schlechteren Leistung und einer erhöhten Unfallgefahr verbunden. Nur ein Prozent der Bevölkerung gab an, mindestens einmal wöchentlich Cannabis vor der Arbeit zu konsumieren. Bei Schüler:innen und Studierenden gaben 1,75 Prozent an, mindestens einmal wöchentlich vor dem Schul- bzw. Universitätsbesuch Cannabis zu konsumieren.

    Diese Zahlen zeigen den Erfolg der Informationskampagnen zu Cannabis. In den ersten drei Jahren nach der Cannabislegalisierung wurde eine deutliche Zunahme des Wissens über die Risiken von Cannabis erreicht, und das Verhalten wurde entsprechend angepasst. Dieser Erfolg ist beachtlich und motiviert zur Fortsetzung der Informationskampagnen.

    Die Cannabiskonsument:innen selbst sahen ihren Konsum unproblematischer als Nichtkonsument:innen und stuften die Risiken etwas geringer ein. Nur drei bis zehn Prozent der Cannabiskonsument:innen gaben die Selbsteinschätzung ab, dass Cannabis ihre Gesundheit, das soziale Leben, Partnerschaft, Lebensqualität oder Leistungsfähigkeit im Beruf beeinträchtige. 42 bis 80 Prozent sahen keinen Einfluss von Cannabis auf diese Lebensbereiche. Etwa die Hälfte gab an, dass Cannabis ihre psychische Gesundheit und Lebensqualität verbessere. Nur zwei Prozent der Konsument:innen benötigten irgendwann professionelle Hilfe wegen ihres Cannabiskonsums.

    Die Akzeptanz in der Bevölkerung von regelmäßigem Konsum war für Alkohol am höchsten (62 Prozent), gefolgt von Cannabis (49 Prozent) und dem niedrigsten Wert für Tabak (35 Prozent). Dass regelmäßiger Konsum mit einem Risiko verbunden ist, gaben in der Bevölkerung 75 Prozent für Alkohol an, 95 Prozent gaben dies für Tabakrauchen und 73 Prozent für das Rauchen von Cannabis an. Cannabiskonsument:innen schätzen die Risiken von Alkohol und Tabak ähnlich ein, aber nur 50 Prozent sahen ein Risiko für Cannabis.

    Diskussion: Was können wir aus den Erfahrungen mit der Cannabislegalisierung in Kanada lernen?

    Verfügbarkeit und Preisgestaltung

    Der Umstieg vom Schwarzmarkt auf legale Cannabis-Fachgeschäfte verlief nur schleppend. Die Konsument:innen blieben anfangs Kund:innen bei ihren Dealer:innen. Drei Jahre nach der Legalisierung besorgen sich immer noch 28 Prozent ihr Cannabis aus illegalen Quellen. Preis, Versorgungssicherheit und Qualität wurden als wichtigste Faktoren dafür identifiziert, aus welcher Quelle Cannabis bezogen wird. Die Legalität spielt nur eine untergeordnete Rolle. In Deutschland sollte daher nicht erwartet werden, dass der Umstieg auf einen legalen Verkauf gelingt, wenn die Bedingungen zu restriktiv gestaltet werden. Das muss bei der Festlegung eines maximal erlaubten THC-Gehaltes, der Preisgestaltung und der Auswahl verschiedener Cannabissorten berücksichtigt werden.

    Der Preis für legales Cannabis sollte anfangs etwa auf dem Niveau des Schwarzmarktes liegen. Es ist zu erwarten, dass der Schwarzmarktpreis durch die legale Konkurrenz zurückgeht – parallel sollte dann auch der Preis für legales Cannabis sinken, um den Schwarzmarkt möglichst weitgehend zu reduzieren. Wenn zu einem späteren Zeitpunkt Cannabis-Fachgeschäfte etabliert sind und der Schwarzmarkt keine große Rolle mehr spielt, können die Preise wieder angehoben werden. Das ist aus gesundheitlichen Gründen sinnvoll, weil wissenschaftlich klar nachgewiesen ist, dass der Konsum bei höheren Preisen zurückgeht (Manthey 2022).

    Wenn Cannabis legalisiert wird, aber noch nicht ausreichend legales Cannabis aus Cannabis-Fachgeschäften verfügbar ist, wird dadurch der unkontrollierte Konsum aus illegalen Quellen gefördert. Das sollte in Deutschland unbedingt vermieden werden. Sinnvoll wäre, die gesetzliche Legalisierung für Konsument:innen erst einzuführen, wenn zuvor genügend Zeit für den Aufbau von Produktionsstätten (oder den Abschluss von Importverträgen) und eines Vertriebsnetzes mit Cannabis-Fachgeschäften gegeben wurde. Mitarbeiter:innen von Cannabis-Fachgeschäften müssen erst gefunden und geschult werden. Es wird ein Präventionskonzept benötigt. Anträge auf Lizenzen für Cannabis-Anbau und Produktion oder die Eröffnung eines Cannabis-Fachgeschäftes müssen gestellt und bearbeitet werden. Entsprechende Investoren brauchen Planungssicherheit. Daher spielt der zeitliche Ablauf der Legalisierung eine große Rolle.

    Information und Prävention

    Gut gelungen ist in Kanada, den Informationsstand und die Risikoeinschätzung bzgl. Cannabis in der Bevölkerung zu verbessern, wie der Canadian Cannabis Survey zeigt. Hierzu wurde in verschiedenen Medien in Informations- und Präventionsangebote mit realistischen und wissenschaftlich-neutralen Inhalten und Darstellungen investiert. Natürlich wird dadurch nicht sofort die gesamte Bevölkerung erreicht, aber die kanadischen Erfolge der ersten drei Jahre sind beeindruckend. Besonders wichtig sind ein guter Informationsstand und eine realistische Risikoeinschätzung, um das Verbot von Cannabis für Minderjährige zu vermitteln, obwohl Cannabis für Erwachsene erlaubt ist. Eine die Legalisierung begleitende Prävention in Deutschland muss das Ziel haben, dass eine große Mehrheit weiß, dass Cannabis für Minderjährige schädlich ist, weil es die Hirnentwicklung schädigt. Wer mit dem Cannabiskonsum bis zum Alter von 18 Jahren wartet, verhindert eine potenziell dauerhafte Beeinträchtigung der Intelligenz und anderer Hirnfunktionen. Dieses Wissen muss weit verbreitet werden, um das Image von Cannabis als Jugenddroge abzulösen.

    In den letzten 20 Jahren wurde die Häufigkeit von Cannabiskonsum unter Jugendlichen vor allem durch das Image beeinflusst, das Cannabis bei Jugendlichen hatte. Wenn Cannabis als cool galt und beliebte Musiker:innen Cannabis propagierten, stieg der Konsum an, und wenn Rauchen verpönt und sportliche Aktivität „in“ war, sank der Cannabiskonsum. Hier muss man ansetzen. Das Ziel muss sein, dass Jugendliche Cannabis „uncool“ finden. Die Präventionsmaßnahme „Alkohol – Kenn dein Limit!“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) kann dazu als Beispiel dienen. Dort werden zielgruppenspezifische Botschaften zum Alkoholkonsum mit für sich gesehen positiven Situationen verknüpft, z. B. Party-Fotos mit dem Spruch „Flirten oder Abstürzen“, ein Foto zum Autofahren mit dem Text „In die Zukunft oder Endstation“ oder ein Sportmotiv mit dem Text „Nichts kann uns bremsen, außer Alkohol“.

    Cannabis weist genauso wie Alkohol spezifische Nachteile auf, die für die Prävention genutzt werden können. Cannabiskonsum passt nicht zum Aktivsein, zu Sport, Lernen und dem Knüpfen sozialer Kontakte, zu Erfolg und Spaß mit anderen, sondern ist eher mit Zuschreibungen assoziiert wie: träge, hängt nur rum, bleibt immer auf dem Sofa, redet nicht viel, lebt in seiner eigenen Welt, vergesslich, verwirrt, unsportlich, Einzelgängertum und Paranoia. Das Image einer Droge und die Einschätzung der Risiken sind in der Regel über lange Zeit konstant und nur schwer veränderbar. Trotzdem ist es in Kanada innerhalb von drei Jahren gelungen, die Risikowahrnehmung zu differenzieren und zu verbessern. Das stellt nun auch für Deutschland eine herausfordernde Aufgabe dar.

    Jugend- und Gesundheitsschutz vor kommerziellen Interessen

    Kanada weist die weltweit größte Industrie für Cannabisanbau bzw. Cannabisproduktion auf. Nachdem die finanziellen Erwartungen nach der Legalisierung 2018 nicht erfüllt wurden, baute die Cannabisindustrie Druck auf die Politik auf, den Umgang mit Cannabis zu kommerzialisieren. Ein Jahr nach der Legalisierung, im Oktober 2019, wurden daher auch Cannabis-Edibles (z. B. THC-haltige Schokolade, max. zehn Milligramm THC pro Packung), Cannabis-Extrakte (zum Rauchen oder Essen, max. zehn Milligramm THC pro Konsumeinheit, max. 1.000 Milligramm THC pro Packung) und Cannabis-Topicals (zum Auftragen auf die Haut, max. 1.000 Milligramm THC pro Packung) zugelassen. Leider hat Kanada damit den Weg einer am Jugend- und Gesundheitsschutz orientierten Cannabislegalisierung teilweise verlassen. Allerdings ist es dadurch gelungen, den Schwarzmarkt weiter zurückzudrängen.

    In Deutschland haben Alkohol- und Tabakindustrie über Jahrzehnte die Politik und die Bevölkerung mit falschen Informationen versorgt. Hinsichtlich Cannabis gilt es deswegen, wachsam zu sein und dem kommerziellen Druck der Industrie Stand zu halten. Durch die jahrelange Diskussion über den Umgang mit Cannabis sowie mehr und bessere wissenschaftliche Daten und Informationen aus anderen Ländern mit Cannabislegalisierung besteht aber nun die Hoffnung, in Deutschland einen verantwortungsvollen Umgang mit Cannabis zu finden, der sich eindeutig am Jugend- und Gesundheitsschutz orientiert.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Derik Hermann, Dr. Dirk Kratz
    Therapieverbund Ludwigsmühle gGmbH
    Paul-von-Denis-Str. 13
    76829 Landau
    Derik.Hermann(at)ludwigsmuehle.de, Dirk.Kratz(at)ludwigsmuehle.de
    Tel. 06341 / 5202 0
    www.ludwigsmuehle.de

    Angaben zu den Autoren:

    Prof. (apl) Dr. med. Derik Hermann, Chefarzt Therapieverbund Ludwigsmühle, Facharzt Psychiatrie und Psychotherapie
    Dr. phil. Dirk Kratz, Diplom-Pädagoge, Geschäftsführer Therapieverbund Ludwigsmühle gGmbH, stv. Vorsitzender fdr+ Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V.

    Literatur
    • Armstrong MJ: Legal cannabis market shares during Canada’s first year of recreational legalisation. Int J Drug Policy. 2021 Feb;88:103028. doi: 10.1016/j.drugpo.2020.103028. Epub 2020 Nov 19. PMID: 33221614.
    • Barata PC, Ferreira F, Oliveira C: Non-medical cannabis use: international policies and outcomes overview. An outline for Portugal. Trends Psychiatry Psychother. 2022 May 27;44:e20210239. doi: 10.47626/2237-6089-2021-0239. PMID: 34898143.
    • Canadian Cannabis Survey, Data blog: https://health-infobase.canada.ca/cannabis/ Letzter Zugriff 09.07.2022
    • Canadian Cannabis Survey: https://www.canada.ca/en/health-canada/services/drugs-medication/cannabis/research-data/canadian-cannabis-survey-2021-summary.html#a2.2 Letzter Zugriff 09.07.2022
    • Canadian Student Tobacco, Alcohol and Drugs Survey. https://www.canada.ca/en/health-canada/services/canadian-student-tobacco-alcohol-drugs-survey.html
    • Fischer B: Legalisation of non-medical cannabis in Canada: will supply regulations effectively serve public health? Lancet Public Health. 2017 Dec;2(12):e536-e537. doi: 10.1016/S2468-2667(17)30213-X. Epub 2017 Dec 5. PMID: 29253435.
    • Isorna M, Pascual F, Aso E, Arias F: Impact of the legalisation of recreational cannabis use. Adicciones. 2022 Apr 20;0(0):1694. English, Spanish. doi: 10.20882/adicciones.1694. Epub ahead of print. PMID: 35472157.
    • Manthey, J: Legalisierung von Cannabis: Preise spielen eine zentrale Rolle.Dtsch Arztebl 2022; 119 (13): A 562–6
    • Melchior, M., Nakamura, A., Bolze, C., Hausfater, F., El Khoury, F., Mary-Krause, M., & Da Silva, M. A. (2019): Does liberalisation of cannabis policy influence levels of use in adolescents and young adults? A systematic review and meta-analysis. BMJ Open, 9(7), e025880.
    • Myran DT, Staykov E, Cantor N, Taljaard M, Quach BI, Hawken S, Tanuseputro P: How has access to legal cannabis changed over time? An analysis of the cannabis retail market in Canada 2 years following the legalisation of recreational cannabis. Drug Alcohol Rev. 2022 Feb;41(2):377-385. doi: 10.1111/dar.13351.
  • Substanzkonsum geflüchteter Menschen

    Substanzkonsum geflüchteter Menschen

    Dr. Simone Penka
    Panagiotis Stylianopoulos
    Laura Hertner

    Dass geflüchtete Menschen Suchtmittel konsumieren, ist anzunehmen. Dennoch wissen wir wenig über die Art der konsumierten Substanzen, über Konsummuster oder -motivationen. Insgesamt gibt es international wenig Daten zum Substanzkonsum von geflüchteten Menschen. Studien, wie beispielsweise zusammengefasst in dem systematischen Review von Horyniak et al. (2016) oder Lo et al. (2017), weisen jedoch auf eine erhebliche Heterogenität in den Mustern sowie Prävalenzraten des Suchtmittelkonsums hin.

    Eine bisher häufige Annahme ist, dass geflüchtete Menschen aus Abstinenz-orientierten Herkunftsregionen aufgrund kultureller und religiöser Faktoren weniger Substanzen konsumieren als die europäische Bevölkerung, die u. a. einen sehr liberalen Umgang mit Alkohol pflegt (z. B. Salas-Wright & Schwartz, 2019). Im Kontrast hierzu steht die Annahme, dass eine – durch zahlreiche Studien erwiesene – erhöhte Prävalenz von Traumafolgestörungen bei geflüchteten Menschen auch eine erhöhte Prävalenz von Suchterkrankungen als komorbide psychische Erkrankung bedingt (Horyniak et al., 2016; Vaughn et al., 2015; Weaver & Roberts, 2010; Lindert et al., 2021). Letztere Annahme bildet sich allerdings in der Praxis nicht in der Inanspruchnahme von Einrichtungen der Suchthilfe ab. Aus der Wissenschaft wissen wir, dass geflüchtete Menschen, aber auch Menschen mit Migrationshintergrund, aufgrund kultureller, ökonomischer und rechtlicher Gründe als schwer erreichbar für suchtspezifische Versorgungsangebote zu betrachten sind (Penka et al., 2008). Verschiedene Studien deuten darauf hin, dass Menschen mit Migrationshintergrund deshalb in Einrichtungen der Suchthilfe unterrepräsentiert sind (Kimil, 2016; Rommel & Köppen, 2014; Schwarzkopf et al., 2021). Für geflüchtete Menschen im Spezifischen liegen hierzu bislang keine Daten vor.

    Um Suchthilfeangebote und Prävention für geflüchtete Menschen zu gestalten und bedarfsadäquat auszurichten, scheint vor allem ein tiefgreifendes Verständnis für Konsummotive und Faktoren, die den Substanzkonsum beeinflussen, notwendig. Das Teilprojekt „Erfassung des Substanzkonsums und Prinzipien guter Praxis bei Hilfsangeboten“ des durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsverbundes PREPARE (Prevention and Treatment of Substance Use Disorders in Refugees)* liefert nach drei Jahren Laufzeit hierzu Anknüpfungspunkte. Dieser Artikel präsentiert aus dem Teilprojekt „Erfassung des Substanzkonsums und Prinzipien guter Praxis bei Hilfsangeboten“ gewonnene Erkenntnisse zum Substanzkonsum geflüchteter Menschen und zu einer passgenaueren Versorgung durch das Suchthilfesystem. Die Ergebnisse geben Aufschluss über die von geflüchteten Menschen konsumierten Substanzen, über Konsummuster sowie Substanzkonsum fördernde Faktoren. Darüber hinaus werden 39 Strategien „Guter Praxis“ skizziert, mit deren Hilfe Einrichtungen der Suchthilfe für geflüchtete Menschen zugänglicher werden können und eine gute Versorgung gewährleistet werden kann.

    Wer konsumiert welche Substanzen?

    Im Rahmen von PREPARE wurden zwischen 2019 und 2021 an acht Standorten – Berlin, Bremen, Frankfurt (Main), Hamburg, Hannover, Köln, Leipzig und München – 108 semistrukturierte Interviews sowie 218 strukturierte Befragungen mit Schlüsselpersonen der lokalen Sucht- und Geflüchtetenhilfe sowie weiteren Personen durchgeführt. Die gesammelten Erkenntnisse wurden anschließend in zehn Fokusgruppen diskutiert. Leitfragen der Interviews und Befragungen waren: Wer konsumiert Substanzen in besonders auffälliger Art und Weise? Welche Substanzen werden konsumiert? Welche Probleme treten im Zusammenhang bzw. in Folge von Substanzgebrauch auf? Welche Faktoren beeinflussen den Substanzgebrauch? Die Schlüsselpersonen waren aufgefordert, sich vor allem auf geflüchtete Menschen zu beziehen, die seit 2015 in Deutschland angekommen waren. Im entsprechenden Zeitraum waren in Summe Syrien, Afghanistan und Irak die Hauptherkunftsländer von Menschen, die einen Erstantrag auf Asyl in Deutschland gestellt hatten (bpb, 2022).

    Es zeigte sich deutlich, dass es vor allem geflüchtete junge Männer sind, die in puncto Substanzkonsum auffallen. Dies muss vor dem Hintergrund interpretiert werden, dass junge Männer gemäß den Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in den Jahren 2015 bis 2020 die größte Gruppe unter den Asylantragstellenden in Deutschland ausmachten (bpb, 2022). Über den Substanzkonsum von Frauen wurde vergleichsweise wenig berichtet. Es bleibt unklar, ob und in welchem Ausmaß der Suchtmittelkonsum von geflüchteten Frauen ungesehen bleibt, z. B. aufgrund der konsumierten Substanzen oder der gesellschaftlichen Rollenbilder. Schlüsselpersonen betonen in ihren Berichten häufig, dass der Konsum geflüchteter Frauen landläufig weit unterschätzt wird.

    Interessanterweise zeigen unsere Daten, dass geflüchtete Menschen nicht auf einzelne bestimmte Substanzen zurückgreifen, die ihnen beispielsweise aus den Herkunftsländern vertraut sind, sondern dass die lokale Verfügbarkeit bzw. die Verfügbarkeit innerhalb der eigenen Peergroup die Art der konsumierten Substanz(en) bzw. die Konsummuster bedingt. Somit sind Alkohol und Cannabis den Befragungen zufolge die am häufigsten konsumierten Substanzen. Aber auch Medikamente, Heroin und – v. a. in Leipzig und dem Umland – Amphetamine werden konsumiert.

    Häufig wird die Frage gestellt, ob geflüchtete Menschen bereits in den Herkunftsländern Suchtmittel konsumiert haben und der aktuelle Substanzkonsum eine Kontinuität bereits bestehender Abhängigkeiten darstellt. Viele Fachkräfte konnten hierzu keine Angaben machen. Da viele geflüchtete Menschen sehr jung in Europa ankommen, ist neben der Betrachtung der individuellen Konsumbiografie die Betrachtung der substanz- bzw. konsumbezogenen Normen im Herkunftskontext überaus zentral. Selbst wenn, z. B. aufgrund des jungen Alters, in den Herkunftsländern noch nicht selbst konsumiert wurde, sind die dortigen gesellschaftlichen Haltungen rund um Suchterkrankungen, Substanzkonsum und Suchtmittel prägend. Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Haltungen im hiesigen und dem Herkunftskontext bedingen Konsequenzen, beispielsweise für die individuelle Konsumkompetenz.

    So verdient gerade der Alkoholkonsum geflüchteter Menschen als ein Beispiel dieses Zusammenspiels eine intensivere Betrachtung: Die hohe Verfügbarkeit, Erschwinglichkeit und die ausgeprägte gesellschaftlicher Akzeptanz von Alkohol in Deutschland kann bei Menschen, die in Bezug auf Alkohol in restriktiven Kontexten sozialisiert wurden, den Anschein von Harmlosigkeit erwecken. Extrem riskanter Alkoholkonsum ist die Folge.

    Welche Faktoren fördern den Substanzkonsum geflüchteter Menschen?

    Das mit Abstand am häufigste benannte Konsummotiv geflüchteter Menschen ist Selbstregulierung bei psychischen Belastungen – sich zu betäuben, zu vergessen, sich davon abzulenken, einfach mal abzuschalten. Diese psychischen Belastungen sind häufig bedingt durch migrationsbezogene Faktoren. Auf einige besonders relevante Faktoren, die den Substanzkonsum geflüchteter Menschen fördern, werden wir im Folgenden eingehen.

    Es zeichnet sich in unseren Daten deutlich ab, dass ein Leben in Deutschland ohne Familie, Partner:in und/oder Kinder konsumfördernd wirkt. Dabei ist ein zweiteiliger Mechanismus zu beobachten: Erstens stellen die Einsamkeit und das Vermissen der zurückgelassenen geliebten Menschen sowie die Sorge um deren (Über)Leben eine besondere psychische Belastung dar, die durch Substanzkonsum vermeintlich aushaltbarer wird. Zweitens bietet das Fehlen „sozialer Kontrolle“, von Struktur und Verantwortung innerhalb von Familienverbünden ein Einfallstor dafür, Verhaltensweisen, die im Herkunftsland nicht zu rechtfertigen gewesen wären, auszuprobieren bzw. im schlimmsten Fall die Kontrolle darüber zu verlieren. Gerade bei geflüchteten Frauen scheint sich dieser Effekt stark auf die Art der konsumierten Substanz und die Maßlosigkeit des Konsums auszuwirken: Frauen mit Kindern konsumieren den befragten Schlüsselpersonen zufolge in der Regel ausschließlich und oftmals unauffällig Medikamente, wohingegen Frauen (inklusive Transfrauen) ohne Familien bzw. Kinder durch exzessiven Alkohol-, Cannabis- und Kokainkonsum auffallen.

    Ähnlich wie bei anderen Personengruppen bietet Substanzkonsum auch geflüchteten Menschen eine Möglichkeit, sich mit einer sozialen Gruppe zu identifizieren und ein Gefühl erlebter Zugehörigkeit zu schaffen. Den Berichten der Schlüsselpersonen zufolge scheint bei geflüchteten Menschen dieser Aspekt von besonderer Relevanz zu sein, da zum einen soziale Beziehungen durch die Fluchtmigration erschüttert werden, zum anderen das Leben in Deutschland allzu häufig ein Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit, des sozialen Ausschlusses und diskriminierender Erfahrungen mit sich bringt. Somit ist es wenig überraschend, dass sich beispielsweise geflüchtete Jugendliche den alterstypischen Konsummustern anschließen und Alkohol und Cannabis konsumieren.

    Auch die Wohnsituation bzw. das sozial-räumliche Wohnumfeld geflüchteter Menschen scheint ein Suchmittelkonsum fördernder Faktor zu sein. Neben allseits bekannten Stressoren des Lebens in Gemeinschaftsunterkünften – in erster Linie wenig Privatsphäre sowie Autonomie –, die vermeintlich über Substanzkonsum reguliert werden können, ist von einer hohen Verfügbarkeit von Suchtmitteln innerhalb dieser Unterkünfte auszugehen. Vielfach wurde von befragten Schlüsselpersonen berichtet, dass gerade unter Mitbewohner:innen Konsumempfehlungen im Sinne von Erfahrungsberichten ausgesprochen werden: „Du bist ja so traurig, du hast ja so Stress. Komm rauch mal!“ (Originalzitat)

    Weitere zentrale Faktoren, die sich fördernd auf den Substanzkonsum auswirken, scheinen fehlende Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten zu sein. Für viele bedeutet die Ankunft in Deutschland weniger ein Ankommen als ein Warten, ein Bangen um den Aufenthaltsstatus und letztlich oftmals eine erlebte Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit. Die hieraus resultierende induzierte psychische Belastung, Überforderung und Enttäuschung über die Situation in Deutschland scheinen maßgeblich Substanzkonsum zu fördern.

    In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich Perspektiven und Möglichkeiten geflüchteter Menschen in Deutschland je nach Herkunftsland unterscheiden. Der Effekt von herkunftsabhängigen Perspektiven in Deutschland führt scheinbar zu einem schädlicheren Konsum von Suchtmitteln in manchen Subgruppen im Vergleich zu anderen. Eine mangelnde Arbeitserlaubnis bzw. etwaige Barrieren des Arbeitsmarktes resultieren in nur wenigen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Beschäftigung. Mögliche Folgen sind Langeweile und – da Substanzkonsum u. a. das Erleben von Zeit verändert – in der Konsequenz der Konsum von Suchtmitteln. Hierzu ein zusammenfassendes Zitat: „Also die wissen, das [Substanzkonsum] ist dreckig, aber dreckiger als die Situation, in der sie sich befinden, ist das gar nicht.

    Strategien „Guter Praxis“ zum Erreichen und Versorgen geflüchteter Menschen

    Im Rahmen unserer Erhebungen wurde deutlich, dass Einrichtungen der Suchthilfe selten, und insbesondere in ländlichen Regionen kaum Kontakt zu geflüchteten Menschen haben. Mitarbeitende von Suchthilfeeinrichtungen lehnten Interviewanfragen sehr häufig ab, da sie über zu wenig Kontakt und Wissen zu der Zielgruppe verfügten. In der Folge gab der Großteil der interviewten Schlüsselpersonen an, im Bereich der Geflüchtetenhilfe zu arbeiten. Diese berichteten von gescheiterten Bemühungen, Konsument:innen in die lokalen Suchthilfeeinrichtungen zu vermitteln. Hierbei wurden Barrieren benannt, die aus der Literatur über Zugangsbarrieren in Bezug auf verschiedene psychosoziale, psychotherapeutische und psychiatrische Einrichtungen bereits bekannt sind, wie beispielsweise Sprachbarrieren oder die Angst vor Stigmatisierung (z. B. Byrow et al., 2020; Straßmayr et al., 2012). Beim Konsums illegalisierter Substanzen kommen Ängste vor rechtlichen und im schlimmsten Fall aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen hinzu (Greene et al., 2021). Um die suchtspezifische Versorgungssituation von geflüchteten Menschen systematisch zu verbessern, wurden im Rahmen der Studie Lösungsansätze identifiziert. Ein Delphi-Prozess mit 22 Expert:innen resultierte in 39 Strategien „Guter Praxis“. Eine Handreichung, die alle Strategien umfasst, aufgeteilt auf neun Themenfelder, steht online zur Verfügung (Hertner, Panagiotis & Penka, 2022).

    Die Handreichung enthält Strategien, die auf die benannten strukturellen Aspekte und migrationsbezogenen Stressoren sowie auf Rechte zur Inanspruchnahme verschiedener Gesundheitsdienste Bezug nehmen (z. B. Reduktion strukturell suchtfördernder bzw. aufrechterhaltender Faktoren). Daneben werden einige grundlegende Ansprüche an das Versorgungssystem der Suchthilfe adressiert, wie z. B. die Gewährleistung einer Beständigkeit von Angeboten vor allem durch dauerhafte Finanzierung. Diese Strategien sind im Sinne der strukturorientierten Verhältnisprävention zwar wichtig, liegen aber außerhalb des direkten Einflussbereiches der Einrichtungen. Politische Schritte hierfür sind gefragt. 33 der 39 Strategien bieten hingegen konkrete Anknüpfungspunkte für Einrichtungen der Suchthilfe. Exemplarisch werden einige Strategien an dieser Stelle angeführt.

    Eine Vielzahl an Strategien fokussiert auf Ansätze zur Überwindung von Sprachbarrieren. Die hohe Sprachenvielfalt unter geflüchteten Menschen lässt sich nicht über muttersprachliches Personal alleine abdecken. Daher bietet sich der Einsatz von Sprachmittler:innen an. Damit die Versorgung mit Sprachmittler:innen gelingt, sollten folgende Faktoren erfüllt sein:

    a) Gewährleistung der Finanzierung, z. B. durch Berücksichtigung etwaiger Kosten in Förderungsanträgen und Budgets,
    b) niedrigschwellige und schnelle Verfügbarkeit, z. B. auch durch sprachmittelnde Telefon- oder Videodienstleistende, sowie
    c) Professionalität, die gerade im Suchtbereich gewährleistet, dass korrekt und ohne persönliche Wertung übersetzt wird.

    Leicht umzusetzen ist die mehrsprachige Übersetzung von schriftlichen Dokumenten in den Einrichtungen, z. B. Datenschutzerklärungen, Behandlungsvereinbarungen.

    Als Grundvoraussetzung für eine bedarfsadäquate Versorgung geflüchteter Menschen zeichnet sich in den Strategien das gemeinsame Handeln von Sucht- und Geflüchtetenhilfe ab. Es finden sich in der Handreichung einige Strategien „Guter Praxis“ zur zielgerichteten Netzwerkarbeit dieser beiden Arbeitsbereiche.

    Darüber hinaus ist auch ein Wissensaustausch zwischen den beiden Bereichen zu implementieren. Einerseits gilt es, Akteure der Geflüchtetenhilfe für Suchtthemen zu sensibilisieren, Unsicherheiten im Umgang mit Substanzen und Sucht abzubauen und eine eigene reflektierte Haltung gegenüber Konsum und Konsumierenden zu entwickeln. Dadurch können Mitarbeitende der Geflüchtetenhilfe frühzeitig problematischen Suchtmittelkonsum erkennen und mit dem Wissen über verfügbare Angebote der Suchthilfe dorthin vermitteln. Vice versa sollten auch Fachkräfte der Suchthilfe zur Lebenssituation geflüchteter Menschen und deren sozio-politischen Rahmenbedingungen informiert und regelmäßig geschult werden, z. B. in Bezug auf asyl- und aufenthaltsrechtliche Aspekte, Familiennachzug, Regelungen zu Kostenübernahmen und Zuständigkeiten von Kostenträgern. Keinesfalls geht es dabei darum, dass Fachkräfte die Aufgaben des jeweils anderen Arbeitsbereichs übernehmen sollen, sondern lediglich um eine Sensibilisierung für eine spezielle Lebenssituation und die Kenntnis von adäquaten Unterstützungsangeboten. Im Rahmen des Forschungsprojektes wurde mehr als deutlich, dass der Grad der Vernetzung zwischen Sucht- und Geflüchtetenhilfe ausschlaggebend ist für die Versorgungssituation geflüchteter Menschen vor Ort.

    Neben der sprachlichen Verständigung und der Netzwerkarbeit kommt auch der Haltung von Suchthilfe-Mitarbeitenden eine große Bedeutung zu. Ideal ist eine transkulturelle Kompetenz im Sinne von diskriminierungsfreier Haltung und Selbstreflexion im Umgang mit geflüchteten Klient:innen. Wichtig ist es, geflüchteten Menschen mit einer offenen, neugierigen und fragenden Haltung auf Augenhöhe, anstatt mit Vorurteilen und Wertung, zu begegnen.

    Darüber hinaus sollten geflüchtete Menschen für Themen rund um Substanzkonsum und Suchterkrankungen sensibilisiert und über die ausdifferenzierten Unterstützungsangebote in ihrer Region informiert werden. Die Strategien „Guter Praxis“ schlagen diesbezüglich vor, Präventions- und Aufklärungsangebote an Orten durchzuführen, an denen sich geflüchtete Menschen aufhalten. Damit sind nicht nur interaktive, mehrsprachige Infoveranstaltungen in Gemeinschaftsunterkünften gemeint, sondern auch das Einbringen von Themen rund um Substanzen und Suchterkrankungen in z. B. Deutsch- und Integrationskursen, Selbsthilfegruppen oder sozialen Medien. Zum Informieren und Aufklären über Substanzen und deren Risiken liegen bereits viele Materialien in diversen Sprachen vor, die hierfür genutzt werden können (z. B. von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen).

    Beispielhaft haben wir einige Einrichtungen der Suchthilfe zusammengestellt, die verschiedene Strategien „Guter Praxis“ bereits umsetzen und geflüchtete Menschen gut erreichen und versorgen. Die Kollektion der Projektsteckbriefe, die als Inspiration für andere Einrichtungen dienen kann, kann hier heruntergeladen werden.

    Ausblick

    Die dargestellten Ergebnisse unseres Teilprojektes des PREPARE-Forschungsverbundes zeigen deutlich, dass bisherige Ansätze der Suchtprävention, die im Sinne einer Verhaltensprävention auf Individuen, deren Wissen rund um die Themen Konsum und Sucht sowie auf Versorgungsstrukturen der Suchhilfe fokussieren, unzulänglich sind. Eine Erweiterung um Ansätze strukturorientierter Verhältnisprävention ist wichtig, um den Einfluss von Faktoren, die die Vulnerabilität strukturell erhöhen, einzudämmen. Dabei sind insbesondere die Themenfelder Unterbringung, Ungewissheit über Bleibeperspektiven, Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit sowie Nutzungsrechte von Gesundheitsdiensten von Relevanz.

    Zudem zeigen die Ergebnisse, dass Angebote der Suchthilfe vielerorts nicht genügend auf die speziellen Bedürfnisse geflüchteter Menschen (z. B. Sprachmittlung, Niedrigschwelligkeit) zugeschnitten sind und geflüchtete Konsument:innen häufig nicht in Einrichtungen der Suchthilfe ankommen bzw. dort nicht dauerhaft angebunden werden. Oftmals sind die Mitarbeitenden der Unterkünfte somit die einzigen Fachkräfte, zu denen längerfristiger Kontakt besteht.

    Das Thema Substanzkonsum unter geflüchteten Menschen sollte bundesweit Berücksichtigung finden. Unter anderem deshalb bewerten wir es als vorbildlich, wie im Rahmen aktueller Fluchtbewegungen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine für bestimmte Personenkreise von aus der Ukraine geflüchteten Menschen unbürokratisch aufenthaltsrechtliche und auch arbeitsrechtliche Ausnahmeregelungen geschaffen wurden (vgl. BAMF, 2022). Es ist davon auszugehen, dass sich diese Rahmenbedingungen auch auf die psychische Gesundheit positiv auswirken und damit eine Anfälligkeit für problematischen Substanzkonsum geringer ausfallen könnte als bei geflüchteten Menschen aus anderen Herkunftsländern wie beispielsweise Afghanistan, Irak oder auch Syrien.

    Ebenfalls zeigt das dynamische Migrationsgeschehen, wie wichtig es ist, bestehende Angebote der Suchthilfe für alle Menschen zu öffnen. Insbesondere der Einsatz von Sprachmittler:innen ermöglicht es, flexibel mit Menschen unterschiedlichster Sprachkompetenzen umzugehen. Auch der Ansatz von transkultureller Kompetenz als selbstreflexive und fragende Haltung trägt zu einer Offenheit für alle zugewanderten Menschen bei – mehr als das Erlernen vermeintlichen Wissens über Herkunftsregionen und deren „Kultur“ (Steinhäuser et al., 2021).

    Darüber hinaus sind Vernetzungen zwischen Sucht- und Geflüchtetenhilfe sowie ein stetiger Wissensaustausch zwischen diesen Arbeitsbereichen unabdingbar, um für geflüchtete Konsument:innen einen Zugang zu Hilfen und eine bedarfsadäquate Versorgung zu gewährleisten. Die Strategien „Guter Praxis“ sowie die Kollektion „Praxisbeispiele“ bieten Fachkräften der Suchthilfe sowie Einrichtungsleitungen Inspiration, wie eine gute Vernetzung und interdisziplinäres Arbeiten mit dieser Zielgruppe gut gelingen können.

     *) Der Forschungsverbund PREPARE besteht insgesamt aus vier Teilprojekten. So wurde in einem Teilprojekt eine App (BePrepared) entwickelt, die im Rahmen einer Kurzintervention problematischen Alkohol- und Cannabiskonsum reduzieren soll. Ein anderes Teilprojekt bietet an verschiedenen Standorten auch derzeit weiterlaufend Affektregulations-Trainings in Gruppen für geflüchtete Menschen mit riskantem Suchtmittelkonsum oder einer Suchterkrankung an. Weitere Informationen:

    https://www.sucht-und-flucht.de/forschung/prepare-forschungsverbund

    https://www.mentalhealth4refugees.de/de/prepare

    Kontakt:

    Laura Hertner
    AG transkulturelle Psychiatrie, Charité Universitätsmedizin Berlin
    laura.hertner(at)charite.de

    Angaben zu den Autor:innen:

    Laura Hertner ist Psychologin und promoviert an der Charité – Universitätsmedizin Berlin zum Thema Substanzkonsum geflüchteter Menschen.
    Panagiotis Stylianopoulos befindet sich in der Ausbildung zum psychologischen Psychotherapeuten und promoviert ebenfalls an der Charité.
    Dr. Simone Penka leitet als Ethnologin und Erziehungswissenschaftlerin in Berlin TransVer –Ressourcen-Netzwerk zur interkulturellen Öffnung (www.transver-berlin.de).

    Literatur:
    • Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) (2022). FAQ zur Einreise aus der Ukraine und dem Aufenthalt in Deutschland. Verfügbar unter https://www.bamf.de/DE/Themen/AsylFluechtlingsschutz/ResettlementRelocation/InformationenEinreiseUkraine/_documents/ukraine-faq-de.html
    • Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) (2022). Demografie von Asylsuchenden in Deutschland. Verfügbar unter https://www.bpb.de/themen/migration-integration/zahlen-zu-asyl/265710/demografie-von-asylsuchenden-in-deutschland/
    • Byrow, Y., Pajak, R., Specker, P. & Nickerson, A. (2020). Perceptions of mental health and perceived barriers to mental health help-seeking amongst refugees: A systematic review. Clinical Psychology Review, 75, 101812.
    • Greene, M.C., Haddad, S., Busse, A., Ezard, N., Ventevogel, P., Demis, L., et al. (2021). Priorities for addressing substance use disorder in humanitarian settings. Conflict and Health, 15(1), 1-10.
    • Hertner, L., Stylianopoulos, P. & Penka, S. (2022). PREPARE – Teilprojekt 1: Kollektion „Praxisbeispiele“ der Versorgung geflüchteter Menschen in der Suchthilfe. Verfügbar unter www.sucht-und-flucht.de
    • Hertner, L., Stylianopoulos, P. & Penka, S. (2022). PREPARE – Teilprojekt 1: Handreichung Strategien „guter Praxis“ in der Suchthilfe – Erreichen und Versorgen Geflüchteter Menschen. Verfügbar unter www.sucht-und-flucht.de
    • Horyniak, D., Melo, J. S., Farrell, R. M., Ojeda, V. D. & Strathdee, S. A. (2016). Epidemiology of substance use among forced migrants: a global systematic review. PLoS one, 11(7), e0159134.
    • Kimil, A. (2016). Sucht und Migration – Ausgangslage, Herausforderungen und Anregungen für die Suchthilfe in Deutschland. Suchthilfe in kultureller Vielfalt (Vol. Infodienst 01/16, pp. 7–11). Berlin: Fachverband der Diakonie Deutschland.
    • Lindert, J., Neuendorf, U., Natan, M. & Schäfer, I. (2021). Escaping the past and living in the present: a qualitative exploration of substance use among Syrian male refugees in Germany. Conflict and Health, 15, 1-11.
    • Lo, J., Patel, P., Shultz, J.M., Ezard, N. & Roberts, B. (2017). A systematic review on harmful alcohol use among civilian populations affected by armed conflict in low- and middle-income countries. Substance Use and Misuse, 52(11), 1494–510.
    • Penka, S. et al. (2008) Explanatory models of addictive behaviour among native German, Russian-German and Turkish youth. European Psychiatry, 23 Suppl 1,36-42
    • Rommel, A. & Köppen, J. (2014). Migration und Suchthilfe – Inanspruchnahme von Leistungen durch Menschen mit Migrationshintergrund. Psychiatrische Praxis, Epub Oct 27.
    • Salas-Wright, C.P. & Schwartz, S.J. (2019). The study and prevention of alcohol and other drug misuse among migrants: Toward a transnational theory of cultural stress. International Journal of Mental Health and Addiction, 17(2), 346–69.
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    • Steinhäuser, T., von Agris, A. S., Büssemeier, C., Schödwell, S., & Auckenthaler, A. (2021). Transkulturelle Kompetenz: Spezialkompetenz oder psychotherapeutische Kernkompetenz? Psychotherapeut, 66(1), 46-53.
    • Straßmayr, C. et al. (2012). Mental health care for irregular migrants in Europe: Barriers and how they are overcome. BMC Public Health, 12, 367.
    • Vaughn, M., Salas-Wright, C., Qian, Z., & Wang, J. (2015). Evidence of a ‘refugee paradox’ for antisocial behavior and violence in the United States. The Journal of Forensic Psychiatry and Psychology, pp. 624-631.
    • Weaver, H. & Roberts, B. (2010). Drinking and displacement: A systematic review of the influence of forced displacement on harmful alcohol use. Substance Use Misuse, 45, 2340-55.
  • Bundesweite Plattformlösungen für die Digitalisierung der Suchtberatung

    Bundesweite Plattformlösungen für die Digitalisierung der Suchtberatung

    Die Digitalisierung der Suchtberatung wird derzeit durch den parallelen Aufbau von zwei Beratungsplattformen vorangetrieben, die bundesweit und trägerübergreifend genutzt werden können. Dabei handelt es sich um die Umsetzung des Konzeptes DigiSucht, das die delphi GmbH entwickelt hat, und den Aufbau der Sozialplattform durch das Land Nordrhein-Westfalen im Rahmen des Onlinezugangsgesetzes. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), in der die allermeisten Verbände der Suchthilfe zusammengeschlossen sind, hat den Entwicklungsprozess der beiden Projekte verfolgt und in Teilbereichen aktiv mitgestaltet. Dr. Peter Raiser, Geschäftsführer der DHS, stellt den aktuellen Umsetzungsstand der beiden Plattformen dar und erläutert Ziele und Hintergründe.

    Weiterentwicklung, Sicherung der Qualität und flächendeckendes Angebot

    Dr. Peter Raiser

    Die zentrale Frage bei der Digitalisierung der Suchtberatung ist, wie die inhaltliche Arbeit durch Anwendung digitaler Instrumente und computergestützter Prozesse begleitet, unterstützt, vereinfacht und verbessert werden kann und dabei die fachlichen Standards und die Qualität der Leistung gesichert bleiben. Neben dieser fachlichen Weiterentwicklung muss geklärt werden, wie Angebote digitalisierter Suchtberatung flächendeckend zur Verfügung gestellt werden können.

    Nun ist die Inanspruchnahme digitaler Angebote erst einmal nicht örtlich beschränkt. Der Sitz des Angebotes und der Standort des Servers sind für Hilfesuchende quer durch Deutschland unerheblich – sofern man von einem rein digitalen Angebot ausgeht. Dann wäre ein zentralisiertes Angebot flächendeckend ausreichend, wenn es alle Qualitätskriterien erfüllen und alle Hilfebedarfe abdecken kann und die entsprechende Kapazität hat. Gegen ein zentralisiertes Angebot rein digitaler Suchtberatung sprechen aber inhaltliche und strukturelle Gründe, die in der Angebotslandschaft der nicht digitalen Suchtberatung liegen.

    Verknüpfung von digitalem und Face-to-Face-Kontakt

    Das so genannte blended counselling zeigt sich gegenüber rein digitalen Angeboten in Beratungsprozessen überlegen (vgl. z. B. Hörrmann et al. 2019). Blended counselling bedeutet, dass Anteile der zu erbringenden Beratungsleistung und Kontakte zwischen Hilfesuchenden und Beratenden auch in nicht digitaler Umgebung stattfinden. Der Face-to-Face-Kontakt wird meist sowohl von Hilfesuchenden wie auch Beratenden gewünscht. Idealerweise werden die Vorteile der Begegnung in realen Beratungssituationen mit den Möglichkeiten digitaler Instrumente ergänzend miteinander verbunden. Das bedingt nun aber auch, dass neben der Inanspruchnahme einer digitalen Beratung die Möglichkeit gegeben sein muss, eine physische Einrichtung aufzusuchen. Neben der digitalen Infrastruktur benötigt blended councelling also auch eine physische Einrichtungsstruktur, die ebenfalls flächendeckend vorhanden ist.

    Blended councelling nicht als Einzellösungen umsetzbar

    Die Angebotsstruktur der Suchtberatung erfüllt dieses Kriterium mit ihren über 1.200 Einrichtungen bundesweit. Doch angesichts der prekären bis höchst gefährdeten finanziellen Ausstattung von Einrichtungen, Vereinen und sogar Verbänden ist es unrealistisch, dass Angebote des blended councelling jeweils als Einzellösungen unabhängig voneinander entwickelt werden. Aufgrund dieser Ausgangslage bietet sich eine Plattformlösung an. Dabei wird die digitale Infrastruktur von zentraler Stelle entwickelt und bereitgestellt. Einrichtungen können sich als Anbieter registrieren und ihr Angebot vor Ort und im digitalen Raum zur Verfügung stellen.

    Entwicklung bundesweiter Plattformen

    Es besteht also ein großer Wunsch, in der Digitalisierung auch jene mitzunehmen, die nicht in der Lage sind, eigene Angebote zu entwickeln, die nicht über die personellen und finanziellen Ressourcen verfügen, eigene Innovationen umzusetzen, auch wenn es nicht an Ideen mangelt. Naheliegend ist daher, Strukturen und Zugänge übergeordnet bereitzustellen und über Plattformen auch diesen Einrichtungen ein digitales Beratungsangebot zu ermöglichen.

    Qualitative und fachliche Standards sowie wirtschaftliche Vorteile

    Plattformlösungen haben Vor- und Nachteile. Zu den Vorteilen zählt neben der genannten Bereitstellung der technischen Infrastruktur eine Einheitlichkeit der Angebote, was z. B. die Qualitätssicherung und Anwendung fachlicher Standards betrifft. Diese Zentralisierung ist auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten relevant, weil Entwicklungsprozesse nicht in jedem einzelnen Angebot durchgeführt werden müssen. Dasselbe gilt für die Errichtung der technischen Infrastruktur. Einheitlichkeit und gesicherte Qualität sind auch für Hilfesuchende allerorts ein Vorteil bei Plattformlösungen. Menschen, die eine digitale Beratung aufsuchen, müssen sich nicht mit einem möglicherweise frustrierenden Vergleich unterschiedlicher Angebote befassen, sondern können schnell und verlässlich Hilfe finden, die nachweislich wirksam ist.

    „One size fits all“-Lösung wird nicht allen gerecht

    Sicherlich gehört es zu den Nachteilen, dass Plattformen all jene Projekte und Innovationen etwas zurückhalten, die besser sind als eine „one size fits all“-Lösung. Und gerade all jene Verbände, Vereine, Träger und Einrichtungen, die mit viel Aufwand und Einsatz bereits eigene Angebote und Strukturen entwickelt haben, dürften nicht begeistert von der Idee sein, diese zugunsten eines Plattform-Angebotes zurückzustellen. Es ist also eine Herausforderung bei der Entwicklung von Plattformen, zu berücksichtigen, dass bestehende Angebote parallel genutzt oder noch besser integriert werden können.

    Ende des Jahres 2020 begannen zwei größere und bundesweite Vorhaben, Plattformen für die digitale Suchtberatung zu entwickeln und aufzubauen, auf denen Beratungsstellen mit vergleichsweise wenig eigenem Aufwand ein digitales Angebot der Suchtberatung bereitstellen können. Im Rahmen des Onlinezugangsgesetzes (OZG) wird der Aufbau einer Sozialplattform vorgenommen, die auch das Angebot der Suchtberatung umfassen soll. Parallel wurde das Konzept DigiSucht von der delphi GmbH im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) entwickelt und veröffentlicht, welches als Projekt zunächst die konzeptionelle Vorlage für eine Plattform, nicht aber die Errichtung derselben, beinhaltete.

    Die folgenden Abschnitte sollen nun die parallele Entwicklung beider Vorhaben nachzeichnen und über den aktuellen Stand im August 2022 informieren.

    Hintergrund des OZG – Auftrag und Beginn der Umsetzung der Sozialplattform

    Das Onlinezugangsgesetz trat im Jahr 2017 in Kraft und sieht in gemeinschaftlicher Arbeit von Bund und Ländern die Digitalisierung von bzw. den digitalen Zugang zu über 500 Verwaltungsleistungen vor. Diese Verwaltungsleistungen wurden in Themenfelder gegliedert, und einzelne Länder bzw. Landesministerien wurden beauftragt, für bestimmte Themenfelder nach dem „Einer für Alle“-Prinzip eine Umsetzung zu erarbeiten und allen Ländern zur Verfügung zu stellen. Das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (MAGS NRW) übernahm die Federführung für den Bereich Arbeit und Ruhestand. In den dort verorteten Sozialleistungen finden sich neben zahlreichen Antragsleistungen der Verwaltung auch Beratungsleistungen wie die Schuldner- und die Suchtberatung. Mit der Errichtung einer Sozialplattform (https://sozialplattform.de/) sollen diese Leistungen gebündelt zur Verfügung gestellt werden.

    Spezifik der Beratungsangebote

    Die Leistungen im Bereich der Beratungsangebote unterscheiden sich von den Antragsleistungen nicht nur in ihrer Art der Durchführung, sondern auch wesentlich durch die Leistungserbringer, die in der Regel keine kommunalen Verwaltungsstellen sind. Im Bereich der Suchtberatung sind es zumeist Beratungsstellen aus dem Spektrum der Suchthilfe in Deutschland, z. B. in Trägerschaft von Vereinen und Verbänden der freien Wohlfahrtspflege, kirchlicher und unabhängiger Träger. Insofern entstanden Ende 2020 Kontakte zwischen dem MAGS NRW und u. a. der DHS, in der die allermeisten Verbände der Suchthilfe zusammengeschlossen sind. Zudem wurde zwischen dem MAGS NRW und dem BMG ein Kontakt aufgebaut, um zu erörtern, ob und wie das im Projekt DigiSucht erarbeitete Konzept der digitalen Suchtberatung in die Sozialplattform des OZG eingefügt werden kann.

    Keine Integration von DigiSucht

    Da sich im Jahr 2021 herausstellte, dass die Umsetzung des Konzeptes DigiSucht nicht über die Sozialplattform realisiert werden kann, begann die parallele Entwicklung dieser beiden bundesweiten Plattformen. Die Sozialplattform hat grundsätzlich einen sehr viel breiter angelegten Auftrag zu erfüllen und, wie beschrieben, den digitalen Zugang zu etlichen Verwaltungsleistungen umzusetzen. In den Beratungsleistungen der Sozialplattform konnte den Forderungen der einbezogenen Vertreter:innen aus Einrichtungen, Forschung, Verbänden, Landessstellen und, unter weiteren Institutionen, auch der DHS nicht entsprochen werden, und die Funktionalität der digitalisierten Beratung wird auf wenige Anwendungen beschränkt bleiben. Registrierten Einrichtungen werden über die Plattform eine Terminmanagementfunktion sowie Möglichkeiten der text- und videobasierten Kommunikation zur Verfügung stehen. Ein Beratungsstellenfinder hilft bei der Suche nach einem passenden Angebot – sowohl digital als auch vor Ort. Die Beratungsstellensuche soll dabei die tatsächliche Angebotslandschaft abbilden und nicht nur auf registrierte Einrichtungen beschränkt sein. Hilfesuchende sollen die Möglichkeit erhalten, auch solche Einrichtungen zu kontaktieren, die die Kommunikationstools der Sozialplattform nicht nutzen.

    Im Sommer des Jahres 2022 befindet sich die Sozialplattform noch im Aufbau, eine Beta-Version ist bereits online nutzbar. Die Funktionalitäten der Suchtberatung sollen bis zum Jahresende umgesetzt werden.

     DigiSucht – vom Konzept zum Aufbau einer digitalen Suchtberatungsplattform

    In der zweiten Jahreshälfte 2020 erarbeitete die delphi GmbH im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums das Konzept für eine trägerübergreifende Plattform der digitalen Suchtberatung. Die Projektnehmerin entwickelte das Konzept DigiSucht in Kooperation mit Landesstellen und Einrichtungen der Suchtberatung. Neben einer Bestandsaufnahme wurden Bedarfe ermittelt und Instrumente für die Durchführung eines blended counselling beschrieben (z. B. zur individuellen Bedarfserfassung und Zieldefinition, zu Risikominderung und Motivierung und zur Kommunikation zwischen Einrichtung und Klient:in). Zudem erfolgten Überlegungen zur Integration der Plattform in die komplexe Versorgungsstruktur.

    Kooperation der delphi GmbH mit der Versorgungslandschaft

    Im Zuge der Verhandlungen über eine Integration des Konzeptes in die Sozialplattform des OZG wurde die Kooperation der delphi GmbH mit der Versorgungslandschaft ausgeweitet, und weitere Verbände wurden über die DHS in Beratungen einbezogen. Die so erweiterte Arbeitsgruppe DigiSucht formulierte Mindestanforderungen, die bei der Implementierung zu berücksichtigen seien. Neben fachlichen Standards wurden auch Forderungen nach einer Klärung der Finanzierungsfragen aufgestellt. Einrichtungen, die sich an einer digitalen Beratungsplattform beteiligen, müssten sowohl über technische Sachmittel als auch über qualifiziertes Beratungspersonal verfügen, um die Leistungen auch anbieten zu können.

    Finanzierungsfragen

    Die Finanzierung der Suchtberatung erfolgt überwiegend über kommunale Mittel sowie Zuwendungen der Bundesländer. Dadurch ergibt sich ein enorm heterogenes Feld bezüglich der Ausstattung und Ressourcen der Einrichtungen mit großen Unterschieden in den Bundesländern und Kommunen. Nur wenige Einrichtungen können über eine komfortable Ausstattung verfügen. Die Bewältigung zusätzlicher Aufgaben, der Personaleinsatz und Investitionen sind für die allermeisten Beratungsstellen schlicht nicht leistbar. Auf die finanzielle Notlage von Beratungsstellen machten die DHS und ihre Mitgliedsverbände im Jahr 2019 in zwei Veröffentlichungen aufmerksam: „Notruf Suchtberatung“ und „DHS Forderungen zur Suchtberatung“.

    Trotzdem mangelt es in den Einrichtungen und Verbänden der Suchthilfe nicht am Willen und der Bereitschaft, sich den Herausforderungen der Digitalisierung und Weiterentwicklung der Suchtberatung zu stellen, sodass es dringend erforderlich war und ist, neben Landesstellen auch Vertreter:innen der Landesbehörden in die Planungen bundesweiter Lösungen einzubinden. Die Einrichtung von Landeskoordinierungsstellen ermöglicht die Begleitung der Umsetzung unter Gesichtspunkten der Finanzierung, aber auch der Organisation und der Koordinierung sich beteiligender Einrichtungen in den Ländern.

    Umsetzung des DigiSucht-Konzeptes

    Da im Rahmen der Umsetzung der Sozialplattform eine Integration des DigiSucht-Konzeptes nicht möglich war (siehe Abschnitt zum OZG weiter oben), entschied sich das BMG, den Aufbau einer trägerübergreifenden Plattform der Suchtberatung zu fördern. Das ebenfalls von delphi koordinierte Projekt mit dem Ziel der Umsetzung des DigiSucht-Konzeptes konnte daher an die Vorarbeiten anknüpfen und auch bestehende Strukturen der Arbeitsgruppen (Beteiligung von vielfältigen Akteur:innen der Länder, Landesstellen, Verbände und Einrichtungen) fortsetzen. Die Implementierung begann in der zweiten Jahreshälfte 2021 mit der Ausschreibung des technischen Aufbaus einer Plattform unter Berücksichtigung der Vorgaben des Konzeptes. Ein Beispiel für eine zentrale Vorgabe ist, dass bestehende open-source-Lösungen, die in Verbänden bereits großflächig angewandt werden, in die technische Struktur der Plattform integriert werden.

    Die im Sommer 2022 laufende technische Umsetzung der Funktionalitäten wird von einer frühzeitig begonnenen Testphase mit Pilot-Beratungsstellen begleitet. Die Einbindung von Beratungsstellen soll die Anwendbarkeit und Praktikabilität der Funktionen sichern und noch im Aufbauprozess mögliche Schwachstellen identifizieren und eine Ausbesserung ermöglichen.

    Ausblick: Nachhaltiger Betrieb der Plattform statt Modellprojekt mit befristeter Laufzeit

    Aus Sicht der Hilfesuchenden besteht sicherlich ein großer Mehrwert darin, neben den vorhandenen Strukturen der Hilfen auch digitale Angebote nutzen zu können. Insbesondere bei einem ersten Schritt der Kontaktaufnahme kann dieser zusätzliche Weg beim Abbau von Hürden und Hemmnissen helfen.

    Im weiteren Verlauf ist ein hybrides Angebot und blended councelling vorgesehen. Dies erfordert die Anbindung an eine ortsnahe Einrichtung und ist nicht unerheblich für die Strukturen der Versorgung. Denn im System müssen neben einem nur in der Theorie zentralen Angebot digitaler Beratung flächendeckende physische Strukturen vorgehalten werden, und die digitalen Erstkontakte müssen einen Prozess der Zuordnung zu den ortsnahen Einrichtungen durchlaufen, sodass spätere physische Kontakte mit einer Kontinuität im Beratungsprozess möglich sind.

    Das ist nicht nur eine koordinatorische Herausforderung in der Phase der Plattformerrichtung. Der Personal- und Finanzbedarf für den kontinuierlichen Betrieb der Plattform sowie der Bedarf an technischer und inhaltlicher Weiterentwicklung machen deutlich, dass die Umsetzung nicht als Projekt mit Modellcharakter nach befristeter Laufzeit beendet sein kann. Neben den fortlaufenden Kosten eines digitalen Beratungsangebotes in Einrichtungen verursacht auch der Betrieb einer bundesweiten und trägerübergreifenden Plattform der Suchtberatung nach dem Aufbau fortwährend Kosten. Um die Funktionalität der Beratungsplattform nachhaltig abzusichern, ist ein entsprechendes Commitment der Länder und des Bundes erforderlich.

    Kontakt und Angaben zum Autor:

    Dr. Peter Raiser
    Geschäftsführung und Referat Grundsatzfragen
    Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen
    Westenwall 4, 59065 Hamm
    Tel. 02381 / 9015-0
    Raiser(at)dhs.de
    www.dhs.de

    Literatur:
  • Digitalisierung in der Suchtberatung

    Digitalisierung in der Suchtberatung

    Andrea Hardeling

    Die Notwendigkeit, digitale Angebote für suchtkranke Menschen zu entwickeln, wurde bereits vor einigen Jahren erkannt. Beratungsangebote per Mail und per Chat wurden von einzelnen Verbänden und Trägern der Suchthilfe konzipiert und umgesetzt. Im Januar 2020  verabschiedeten Fachkräfte aus unterschiedlichen Bereichen der Suchthilfe (Verwaltung, Träger, Verbände, Fachverbände) gemeinsam die Essener Leitgedanken zur digitalen Transformation in der Suchthilfe.

    Nur wenige Wochen später hat die Corona-Pandemie die Herstellung eines Bewusstseins für einen Bedarf an digitalen Angeboten ungeahnt beschleunigt. Der Lockdown sorgte dafür, dass in Suchtberatungsstellen großer Träger zunehmend digitale Beratungsangebote per Mail oder Chat eingerichtet und erprobt wurden, während kleine Träger weder auf Ressourcen noch auf Know-how zur Einführung von Onlineangeboten zurückgreifen konnten.

    Ambulante Suchtberatung – das Verhältnis von regional und digital

    Ist Suchtberatung entweder regional oder digital? Bisher ist beides zusammen nur in wenigen Regionen Deutschlands möglich. Ratsuchende finden gerade im ländlichen Raum keine Suchtberatungsstellen in der Nähe, die sowohl Online- als auch persönliche Gespräche anbieten. Stattdessen sind – neben einigen bundesweiten digitalen Suchtberatungsangeboten großer Verbände – immer noch kostenpflichtige Beratungsangebote im Ergebnis der Suchmaschinenrecherche sehr prominent sichtbar. Engagierte selbständige Berater:innen, entweder ausgebildete Fachkräfte mit einem einschlägigen Studium oder Betroffene mit eigenen Erfahrungen, bieten auf ansprechend programmierten Webseiten kostenpflichtige Beratung an. Die Terminvereinbarung für telefonische oder Videoberatung kann z. T. gleich digital erfolgen, ebenso die Online-Bezahlung der Beratungsleistung.

    Damit bieten die privaten Dienstleister in der Regel sehr viel einfacher eine Onlineberatung (als Dienstleistung) an, als das bei den gemeinnützigen Trägern zu finden ist. Private Dienstleister werben damit, ohne Wartezeit, sicher und anonym Beratung durchführen zu können. Attraktiv gestaltete Webseiten präsentieren, zum Teil mit schönen Bildern, wer berät und welche Leistungen buchbar sind.

    Die Webseiten gemeinnütziger Träger der Suchthilfe bieten in der Regel keine sofortige Terminvereinbarung an, eine Onlineberatung, die wohnortnah mit der regionalen Suchtberatungsstelle verknüpft ist, wird in der Regel nicht in der einfachen Suchtmaschinenrecherche angezeigt.

    DigiSucht – bundesweit, digital und regional

    Mit Start des Bundesmodellprojektes DigiSucht wurde von der delphi GmbH ab August 2020 mit Finanzierung durch das Bundesgesundheitsministerium die Konzeption einer trägerübergreifenden digitalen Beratungsplattform für die kommunale Suchtberatung entwickelt. Die Konzeptentwicklung wurde von Verbänden, Landesstellen und regionalen Suchtberatungsstellen unterstützt und begleitet.

    Ab September 2022 werden erste Beratungsstellen die neu entwickelte Plattform im Modellbetrieb testen, bevor sie im ersten Quartal 2023 für alle Bürger:innen zugänglich gemacht wird. Ziel ist es, Ratsuchenden damit bundesweit Online-Suchtberatung anbieten zu können – verbunden mit der Möglichkeit des blended counceling, d. h., die Onlineberatung wird mit persönlichen Gesprächen in der Suchtberatungsstelle vor Ort und weiteren Onlinetools (wie z. B. Konsumtagebuch) kombiniert.

    Gleichzeitig soll die Plattform bundesweit alle gemeinnützigen Suchtberatungsstellen in die Lage versetzen, datenschutzkonform, qualitätsgestützt und vernetzt mit den vorhandenen Klienten-Dokumentationssystemen Onlineberatung anbieten zu können. Gerade kleine Träger im ländlichen Raum waren bisher nicht in der Lage, eigene Onlineangebote zu entwickeln.

    Mit der Inbetriebnahme der Plattform wäre dann ein großer Schritt in Richtung einer sozialraumorientierten digitalen Beratung getan. Gerade im ländlichen Raum kann dieses Onlineangebot die Möglichkeit bieten, wesentlich einfacher eine Suchtberatung zu erhalten. Weite Wege zur nächsten Beratungsstelle, fehlender ÖPNV und steigende Spritkosten sind dann keine Hürden mehr, die eine frühzeitige Beratung verhindern würden.

    Digitalisierung = Organisations- & Personalentwicklung

    Doch digitale Transformation bedeutet mehr als das Zur-Verfügung-Stellen von Plattformen. Digitalisierung gerade in kleinen sozialen, gemeinnützigen Organisationen geht einher mit einem kulturellen Wandel. Wo Ratsuchende mittels digitaler Angebote niedrigschwelliger als bisher erreicht werden sollen, sind besondere Herausforderungen für die Einrichtungen und die Mitarbeitenden der Suchthilfeträger zu bewältigen.

    Kaum ein Träger der Suchthilfe hat in den letzten Jahren eine Digitalisierungsstrategie entwickelt. Themen wie Datenschutz und IT-Sicherheit sind in der Regel unbeliebt und die Möglichkeiten, die jeweils aktuelle technische Ausstattung (finanziell) zu gewährleisten, gering. Der digitale Wandel geht im besten Fall einher mit Organisationsentwicklungsprozessen und Personalentwicklung. Die Digitalisierung wesentlicher Prozesse in Organisationen bedeutet zunächst eine Veränderung bekannter Prozesse und Abläufe – das bedeutet sowohl Unsicherheiten bei Mitarbeitenden als auch ein Infragestellen der bisherigen Gewissheiten. Serverbasiertes Arbeiten, digitale Terminvereinbarung und digitale Klientendokumentation wurden in den letzten Jahren in vielen Eirichtungen eingeführt.

    Während der coronabedingten Lockdowns mussten neue Regelungen zu Themen wie Homeoffice und der Abrechenbarkeit digitaler Leistungen getroffen werden. Gleichzeitig wurden, zum Teil sehr innovativ und trotzdem im Sinne der Klient:innen, bekannte Wege verlassen und neue Erfahrungen in der digitalen Kommunikation mit Ratsuchenden gemacht. Was in der Krise sehr kreativ (und manchmal noch provisorisch) entwickelt wurde, gilt es nun zu professionalisieren und weiterzuentwickeln. Führungskräfte stehen vor der Herausforderung, einen Changemanagement-Prozess zu gestalten, der die Organisationen und die Mitarbeitenden in die Lage versetzt, die Anforderungen der Digitalisierung und den damit einhergehenden kulturellen Wandel zu bewältigen.

    Gleichzeitig ist es dringend notwendig, die Finanzierungsstruktur der digitalen Angebote abzusichern. Anders als in vielen anderen Arbeitsfeldern bedeutet die Digitalisierung in der Suchthilfe nicht, dass Fachkräfte eingespart werden können und die Leistungen dadurch preiswerter werden. Um mittels digitaler Angebote mehr Menschen möglichst früh und niedrigschwellig zu erreichen, wie es der originäre Auftrag der Suchtberatungsstellen ist, werden sowohl die finanzielle als auch die fachliche und politische Unterstützung der Kostenträger sowie der kommunalen Auftraggeber benötigt. Der in der Pandemie begonnene erfolgreiche Weg, Menschen digital zu erreichen, sollte auch nach der Krisensituation fortgesetzt werden. Damit würden die in der Suchthilfe altbekannten Prinzipien der Niedrigschwelligkeit bzw. der aufsuchenden Arbeit im digitalen Raum durch nutzerfreundliche digitale Angebote weiterentwickelt.

    New Work in der Suchthilfe – Neue Methoden erfordern neue Kompetenzen und bieten neue Chancen

    Der Wunsch nach direkter Arbeit mit Menschen ist in der Regel eine wesentliche Motivation, um in der Suchthilfe zu arbeiten. Digitale Kompetenzen waren bisher kein Bestandteil der Ausbildung von Fachkräften im Sozial- und Gesundheitswesen. Mit der Einführung von digitalen Tools werden von den Fachkräften in der Suchthilfe zusätzliche Qualifikationen gefordert, die bisher keine Rolle spielten. Der für einige Fachkräfte ungewohnte digitale Raum stellt bisher bekannte und eingeübte Methoden in Frage. Beratung im Chat und per Video erfordert andere Kommunikationsstrategien als die gewohnte (und erlernte) Gesprächsführung „in Präsenz“. Auch die Fähigkeit, digitale Anwendungen sicher zu bedienen, war bisher nicht grundlegender Bestandteil des Anforderungsprofils von Fachkräften in der Suchthilfe. Dieses methodische „Neuland“ muss erarbeitet werden. Dafür benötigen sowohl die Fachkräfte als auch die Träger qualitätsgesicherte Fortbildungsangebote. Führungskräfte stehen vor der Herausforderung, diesen grundlegenden kulturellen Wandel zu gestalten.

    Die Hochschulen befinden sich aktuell in einem Prozess der Weiterentwicklung in diese Richtung. Erste Studiengänge im Themenfeld Digitalisierung sozialer Arbeit sind gestartet und beabsichtigen, dass die Vermittlung digitaler Kompetenzen als Grundlage in die Fachkräfteausbildung aufgenommen wird.

    Der Fachkräftemangel führt schon jetzt dazu, dass ausgeschriebene Stellen in der Suchthilfe über längere Zeit nicht besetzt werden können. Während die erste Generation der Suchtberater:innen sich in den Ruhestand verbschiedet, kann die jetzt nachfolgende Generation der Fachkräfte sich ihren Arbeitsplatz danach auswählen, welcher Arbeitgeber die besten Rahmenbedingungen bietet. Hier stehen die Träger vor der Herausforderung, das Arbeitsfeld Suchthilfe so attraktiv wie möglich zu gestalten. Durch Online-Beratung könnte das Arbeitsfeld der Suchtberatung für Fachkräfte attraktiver gestaltet werden. Mobiles Arbeiten/Homeoffice und flexiblere Arbeitszeiten werden möglich – gute Angebote, um damit Fachkräfte zu gewinnen. Außerdem könnte das verstärkte Agieren mit digitalen Mitteln den Bereich der Suchthilfe zusätzlich für eine neue Gruppe an Fachkräften interessant machen.

    Was nützt die Digitalisierung in der Suchthilfe den Ratsuchenden / Klient:innen?

    Digitale Teilhabe heißt, dass jede Bürgerin/ jeder Bürger Zugang zu digitalen Entwicklungen hat, um an der Gesellschaft teilzunehmen. Suchtberatung als Bestandteil der kommunalen Daseinsvorsorge sollte diesen Auftrag annehmen und suchterkrankten Menschen einen digitalen Zugang zu Beratung schwellenarm und qualitätsgestützt zu bieten.

    Die Attraktivität des Angebotes hängt auch davon ab, wie einfach der Zugang ist. Wenn das Ziel der ambulanten Suchthilfe heißt, Ratsuchende so früh wie möglich zu erreichen, sollten die Onlineangebote gesellschaftlich sehr breit und über entsprechende (Online-)Kanäle beworben werden. Gleichzeitig sollten die Onlineangebote attraktiv gestaltet und einfach zu bedienen sein.

    Ausblick: Herausforderung und Chance

    Digitalisierung in der Suchthilfe stellt ein großes Potenzial an Verbesserungsmöglichkeiten dar. Onlineangebote sollten dazu führen, dass Ratsuchende früher erreicht werden. Ideal ist die Verknüpfung von digitaler und regionaler Verfügbarkeit: Suchtberatung als Teil der Daseinsvorsorge muss wohnortnah und digital zugänglich sein. Onlineberatung könnte das Arbeitsfeld der Suchtberatung für Fachkräfte attraktiver machen und ein Vorteil bei der Gewinnung von Mitarbeitenden sein. Durch digitale Angebote werden keine Fachkräfte eingespart, sondern im besten Fall werden Menschen früher erreicht und es können größere gesundheitliche und soziale Schäden vermieden werden. Für eine erfolgreiche digitale Transformation benötigen die Träger der Suchthilfe fachliche, politische und finanzielle Unterstützung, um notwendige Organisationsentwicklungsprozesse zu implementieren.

    Kontakt:

    Andrea Hardeling
    Geschäftsführerin
    Brandenburgische Landesstelle für Suchtfragen e.V.
    Behlertstr. 3A, Haus H1
    14467 Potsdam
    andrea.hardeling(at)blsev.de
    www.blsev.de

    Angaben zur Autorin:

    Andrea Hardeling ist seit 2010 Geschäftsführerin der Brandenburgischen Landestelle für Suchtfragen e.V. Sie ist Diplom-Sozialarbeiterin mit Weiterbildungen in Systemischer Beratung, Sozialmanagement und Organisationsentwicklung.

  • Die Kinder mitnehmen

    Die Kinder mitnehmen

    Nathalie Susdorf
    Gotthard Lehner

    In Hutschdorf bei Thurnau (Landkreis Kulmbach – Oberfranken – Bayern) gibt es zukünftig zwei Einrichtungen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen: suchtmittelabhängige Frauen und deren Kinder auf ihrem Weg in eine suchtfreie Zukunft nachhaltig zu unterstützen. Das ist zum einen die DGD Fachklinik Haus Immanuel, eine Rehabilitationseinrichtung zur Behandlung suchtmittelabhängiger Frauen, sowie das derzeit noch im Bau befindliche DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“, das voraussichtlich Ende des Jahres fertiggestellt wird. Den beiden Institutionen angeschlossen ist die Kindertagesstätte „Kindernest“, die sich ebenfalls auf dem Gelände in Hutschdorf befindet.

    Die DGD Fachklinik Haus Immanuel – Mit dem Aufhören anfangen

    DGD Fachklinik Haus Immanuel

    In idyllischer Lage nahe der oberfränkischen Städte Kulmbach, Bayreuth und Bamberg liegt innerhalb eines parkähnlichen Areals die DGD Fachklinik Haus Immanuel. Das Haus behandelt seit 1907 alkoholabhängige Menschen, seit 1961 ausschließlich suchtmittelabhängige Frauen. Heute zählt die Klinik zu den modernsten Suchtkliniken Bayerns. In den letzten Jahren rückten die Mitbetreuung und Förderung von Kindern immer stärker in den Fokus. So wurde 2012 eine heilpädagogische Kindertagesstätte, das Kindernest, eröffnet. Die DGD Fachklinik Haus Immanuel gehört ebenso wie das neue Mutter-Kind-Zentrum zur DGD-Stiftung (DGD steht für Deutscher Gemeinschafts-Diakonieverband) in Marburg. Pro Jahr werden etwa 250 suchtkranke Frauen und ca. 50 Kinder aufgenommen, die ihre Mütter während der Therapie begleiten. Für viele Rehabilitandinnen ist dies ein wichtiger Schritt für die Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft mit ihrem Kind bzw. ihren Kindern.

    Wohnen im Haus Immanuel

    Der familiäre Charakter der Klinik ist eine ideale Grundlage, um Rehabilitandinnen auf ihrem Weg in eine suchtfreie Zukunft zu unterstützen und nachhaltige Therapieerfolge bei alkohol- und medikamentenabhängigen Frauen zu erreichen.

    Der Klinikkomplex verfügt über 60 Therapieplätze für Frauen zwischen 18 und 75 Jahren. Zudem bietet die DGD Fachklinik Haus Immanuel eine gemeinsame Mutter-Kind-Therapie an. Bis zu 12 Kinder können ihre Mütter zur Behandlung nach Hutschdorf begleiten und werden im klinikeigenen Kindernest betreut. Jeder Mensch hat Anspruch auf Privatsphäre, deshalb bewohnen die Rehabilitandinnen moderne Einzelzimmer, die zu Wohngruppen mit max. zwölf Personen gehören. Die Mütter wohnen mit ihren Kindern jeweils in zwei zusammenhängenden Zimmern.

    Gemeinsame Mahlzeiten, kreatives Arbeiten, Begegnungen mit anderen, aktive oder stille Entspannung sind wichtige Komponenten einer erfolgreichen Therapie. Für Entspannung und therapeutische Anwendungen stehen zudem ein hauseigenes Schwimmbad, eine Sporthalle mit Kletterwand, ein Beachvolleyballfeld sowie eine Minigolfanlage zur Verfügung. Auch Spaziergänge und Ausflüge gehören zum Programm. Der soziale Gedanke, sich gegenseitig zu helfen und zu stärken, unterstützt nicht nur den Therapieerfolg, sondern hilft auch dabei, wieder auf Menschen zugehen zu können.

    Während ihrer Therapie werden die Rehabilitandinnen von einem multiprofessionellen Team aus etwa 70 Kolleg:innen aus verschiedenen Fachbereichen betreut. Die Mitarbeitenden aus den Bereichen Medizin, Sucht- und Psychotherapie, Arbeits- und Ergotherapie, Sporttherapie sowie Pädagogik, Sozialarbeit und Seelsorge begleiten die Frauen während ihres 15-wöchigen Aufenthalts im Haus Immanuel. Dabei werden die suchtkranken Frauen nach einem ganzheitlichen Ansatz behandelt. Neben medizinischen und therapeutischen Maßnahmen wird besonderer Wert auf ein Umfeld gelegt, das Körper und Seele guttut.

    Die Behandlung gliedert sich in drei Phasen:

    • Besinnungsphase
    • Intensivphase
    • Belastungsphase

    In allen Phasen wird auf die spezifischen Bedürfnisse der Frauen eingegangen. Jede Rehabilitandin wird bereits ab der ersten Woche einem/einer Bezugstherapeut:in zugeordnet. Neben Einzel- und Gruppentherapie werden verschiedene indikative Gruppen sowie eine integrierte Traumatherapie angeboten.

    Behandlungsangebot der DGD Fachklinik Haus Immanuel

    Medizinische Versorgung

    Die medizinische Versorgung der Rehabilitandinnen wird durch erfahrene Ärzt:innen gewährleistet. Zu Beginn der Behandlung wird ein individuelles Behandlungskonzept festgelegt. In diesem Rahmen wird auch der Umfang der begleitenden Maßnahmen wie Schwimmen im Hallenbad, Kneippen, Waldlauf und Gymnastik bestimmt. Zur Linderung des Suchtdrucks wird auch Akupunktur angeboten.

    Psycho-/Sozialtherapie

    Der/die Bezugstherapeut:in ist Ansprechpartner: in für alle Belange, Fragen und Krisen der Rehabilitandinnen. Eine wesentliche Hilfe bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Vorgeschichte ist die wöchentliche psychotherapeutische Einzeltherapie. In der Gruppentherapie, die dreimal wöchentlich stattfindet, erarbeiten die Rehabilitandinnen gemeinsam ein Verständnis für ihre Abhängigkeitserkrankung und suchen nach Lösungsmöglichkeiten für einen Ausstieg aus der Sucht.

    Arbeits- und Ergotherapie

    Ein Aufenthalt im Haus Immanuel soll Rehabilitandinnen wieder an einen geregelten Tagesablauf gewöhnen. Ziel ist die Wiedereingliederung in das Erwerbsleben. Hierfür stehen die arbeitstherapeutischen Bereiche Büro, Handwerk, Garten, Hauswirtschaft und Küche zur Verfügung. Bei Bedarf erhalten arbeitssuchende Rehabilitandinnen auch PC- und Bewerbungstraining. Bei der Ergotherapie sollen kreative Fähigkeiten (wieder)entdeckt und gefördert werden. Dies vermittelt Erfolgserlebnisse und stärkt das Selbstwertgefühl.

    Physiotherapie

    Bewegung und Entspannung sind wichtig, um ein Gefühl für den eigenen Körper und seine Leistungsfähigkeit zu bekommen. Angeboten werden z. B. Lauftraining, Nordic Walking, Rückenschule, Fahrrad fahren, Massagen und Wassergymnastik. Die Physiotherapeut:innen der Klinik entwickeln für jede Frau einen passenden Therapieplan. Darüber hinaus wurde die Behandlung der Rehabilitandinnen um das Angebot des therapeutischen Kletterns erweitert.

    Mutter-Kind-Therapie

    Es wird oft vergessen, dass Kinder besonders unter der Suchterkrankung eines Elternteils leiden. Die Mutter-Kind-Einrichtung in der DGD Fachklinik Haus Immanuel kümmert sich darum, die oftmals gestörte Mutter-Kind-Beziehung zu verbessern und den Kindern wieder eine tragfähige Beziehung zur Mutter zu ermöglichen. Die Mütter bilden eine eigene Therapiegruppe im Haus, das Programm ist auf ihre spezielle Situation abgestimmt.

    Traumatherapie

    Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) tritt bei alkohol- oder medikamentenabhängigen Frauen etwa dreimal häufiger auf als bei männlichen Rehabilitanden. Die PTBS-Therapie ist deshalb ein wesentlicher Baustein einer ganzheitlichen und nachhaltigen Behandlung suchtkranker Frauen und damit fester Bestandteil des Therapieangebots. Ziel ist es, dass die Frauen lernen, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten, um so die Heilungschancen für die Suchterkrankung langfristig zu verbessern.

    Seelsorge

    Auch die Seelsorge wird im Haus Immanuel großgeschrieben. Unabhängig davon, wie die Rehabilitandinnen zur Kirche stehen, nimmt sich eine Seelsorgerin gerne Zeit für sie. Für die persönliche Ruhe steht ein „Raum der Stille“ zur Verfügung, der jederzeit genutzt werden kann. Die Rehabilitandinnen sind auch herzlich zur wöchentlichen Andacht eingeladen. Hier wird gemeinsam gesungen, gebetet oder sich zu einem biblischen Thema ausgetauscht.

    Mütter und Kinder profitieren gemeinsam

    Die neue Kita „Kindernest“, die im Zuge des Neubaus des Mutter-Kind-Zentrums erweitert wird

    In Deutschland leben knapp drei Millionen Kinder mit abhängigkeitskranken Müttern und/oder Vätern zusammen. Dadurch laufen sie ganz besonders Gefahr, in ihrem späteren Leben ebenfalls von Alkoholmissbrauch und psychischen Folgeerkrankungen betroffen zu sein. In der DGD Fachklinik Haus Immanuel können bis zu zwölf Begleitkinder betreut werden, während die Mütter ihre Therapie absolvieren: Säuglinge und Kleinkinder im klinikeigenen Kindernest, die Schulkinder besuchen Bildungseinrichtungen in der Region. Auch schwangere Frauen sind in der DGD Fachklinik Haus Immanuel herzlich willkommen.

    Die freundlich und kindgerecht gestalteten Wohn- und Spielbereiche werden Kindern aller Altersgruppen gerecht. Auch die Außenbereiche bieten ideale Bedingungen für eine abwechslungsreiche Gestaltung des Tages. Trampolin, Minigolf, Spielplätze und Kletteranlagen stehen zur Verfügung. Vor allem der neu angelegte Waldspielplatz bietet hervorragende Möglichkeiten für die Kinder, die (häufig wenig bekannte) Natur zu erkunden. Die Kinder spielen vorwiegend mit den Dingen, die sie im Wald oder auf dem Feld vorfinden. Daneben können sie ihren eigenen Garten bepflanzen und bewirtschaften. Und bei schlechtem Wetter bietet der liebevoll gestaltete Bauwagen Unterschlupf zum Geschichten erzählen, Malen, Basteln und Essen.

    Wenn Tiere der Seele guttun – tiergestützte Therapie

    Neu hinzukommen wird ein Therapieangebot mit Ponys und Alpakas. Dies soll die individuelle Entwicklung der Frauen und Kinder fördern. Durch die tiergestützte Therapie wird z. B. die Sinneswahrnehmung geschärft, das Selbstbewusstsein und die (soziale) Verantwortung werden gestärkt. Gerade Kindern fällt es leichter, über die Betreuung eines Tieres in die Therapie einzusteigen (das Tier als Eisbrecher) oder auch mögliche Einsamkeit zu überwinden (das Tier als Freund). Darüber hinaus werden auf dem weitläufigen Gelände der DGD Fachklinik Haus Immanuel mehrere Bienenvölker angesiedelt. Die Therapeut:innen pflegen gemeinsam mit den Müttern und Kindern die Bienenstöcke, schleudern Honig und ziehen Kerzen, die in der Region vermarktet werden sollen.

    Trotzt aller Bemühungen und Therapiemöglichkeiten kann nicht in jedem Behandlungsfall eine positive Prognose gestellt werden. Die Rückfallrate von suchtkranken, rehabilitierten Frauen liegt immerhin bei 50 Prozent. Immer wieder sucht das Haus Immanuel nach Nachsorgeeinrichtungen für Mütter mit ihren Kindern, die es aber leider in der Form nicht gibt. Um den Rehabilitandinnen und ihren Kindern gerecht zu werden, reifte der Entschluss, selbst ein neues Mutter-Kind-Zentrum zu bauen, das derzeit in direkter Nachbarschaft zur DGD Fachklinik Haus Immanuel fertiggestellt wird.

    Neues DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ – Zurück in ein eigenverantwortliches Leben

    In Deutschland leben knapp drei Millionen Kinder in einem Haushalt mit alkoholmissbrauchenden oder -abhängigen Eltern. Das bedeutet, ca. jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in einer suchtbelasteten Familie auf. Über das Thema Abhängigkeit wird im Allgemeinen nur selten gesprochen, und wenn doch, zumeist nur sehr abwertend. Die Frauen, die in der Fachklinik Haus Immanuel behandelt werden, kommen aus allen Schichten der Gesellschaft. Traumatische Erlebnisse, gestörte Beziehungen oder auch finanzielle Probleme führten in ihre Abhängigkeitserkrankung. Darunter leiden nicht nur die Frauen selbst. Auch Freunde und Familie tragen die Last mit. Besonders schwer haben es die Kinder.

    Neues DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“

    Die ständige Sorge und Ungewissheit beeinflussen ihre Entwicklung oft negativ und haben langfristige Auswirkungen. So ist das Risiko dieser Kinder, selbst suchtkrank zu werden, im Vergleich zu Kindern aus nicht suchtbelasteten Familien bis zu sechsmal höher. Mit dem Bau des neuen DGD Mutter-Kind-Zentrums „Rückenwind“, an das auch die Kita Kindernest angeschlossen sein wird, sollen vor allem die Kinder unterstützt werden. Sie werden gemeinsam mit ihren meist noch jungen Müttern betreut und begleitet. An oberster Stelle steht dabei das Kindeswohl.

    Die neue Einrichtung bietet Platz für zwölf Mütter, die eine Entwöhnungsbehandlung in einer Suchtrehabilitationseinrichtung abgeschlossen haben, und bis zu 16 Kinder. Es sind insgesamt zwölf Wohnungen mit zwei bis vier Zimmern geplant. Durch vielfältige Vernetzungen zu anderen professionellen Hilfswerken (z. B. zur Sprachförderung, Spezialisten für FASD, Sonderschulpädagogik) soll die Rückkehr zur Teilhabe an der Gesellschaft vereinfacht werden. Grundlegend ist hier die Gewöhnung an realitätsnahe und gelingende Alltagsstrukturen, sowohl für die Mütter als auch für die Kinder. Mütter und Kinder sollen auf dem Weg in ein eigenverantwortliches Leben unterstützt werden. Auch die soziale Verantwortung gegenüber unserer Gesellschaft wird gefördert. Mütter und auch Kinder finden wieder ihren Platz im sozialen Umfeld. Im Idealfall gehen Mütter (wieder) einer beruflichen Tätigkeit nach, Kinder können ihre schulischen Leistungen verbessern und weiterführende Schulen besuchen.

    Wer wird im Mutter-Kind-Zentrum aufgenommen?

    Das Angebot der Mutter-Kind Einrichtung richtet sich an ehemals abhängigkeitskranke Frauen mit Kindern, die nach § 19 SGB VIII einen Hilfebedarf haben. Eine Altersbegrenzung der Mutter ist nicht gegeben. Die Mutter sollte im Regelfall eine Entwöhnungsbehandlung erfolgreich abgeschlossen haben, und die Kinder sollten sie als sog. Begleitkinder in der Therapie begleitet haben. Es sollen auch Mütter aufgenommen werden, die aufgrund einer richterlichen Anordnung die Weisung haben, eine Mutter-Kind-Einrichtung aufzusuchen, da ihnen ansonsten die elterliche Sorge entzogen wird. Nach §§ 113 ff. und 123 ff. SGB IX wird Eingliederungshilfe und Hilfe in besonderen Lebenslagen geleistet. Durch das Hilfsangebot für ehemals abhängigkeitskranke Mütter und Schwangere sollen aktuelle Krisen- und Notfallsituationen im Schutze einer stationären Unterbringung überwunden werden. Bei den Kindern wird der Förderbedarf durch das Jugendamt festgestellt.

    Die Problematik FASD

    Man kann davon ausgehen, dass mindestens 1/3 der Kinder, die zukünftig im DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ aufgenommen werden, unter dem Syndrom FASD (Fetal Alcohol Spectrum Disorder) leiden. Nach Schätzungen der ehemaligen Bundesdrogenbeauftragten Marlene Mortler werden jedes Jahr in Deutschland ca. 10.000 Kinder mit dieser Behinderung geboren (Mortler, 2018). Diese Beeinträchtigung entsteht, wenn Frauen während der Schwangerschaft Alkohol konsumieren und damit das Kind schädigen.

    Kinder mit FASD weisen erhebliche Störungen auf. So kann mütterlicher Alkoholkonsum in der Schwangerschaft zu Wachstumsauffälligkeiten des Kindes führen. Typischerweise sind die Kinder mit FASD bereits bei der Geburt klein und leicht. Sie bleiben dystroph bis mindestens im Grundschulalter. Darüber hinaus führt eine Alkoholschädigung im Mutterleib zu schwerwiegenden und lebenslang andauernden Defiziten im kognitiven Bereich. Kinder mit FASD können eine globale Intelligenzminderung (IQ < 70) haben. Viele Betroffene weisen ein sehr heterogenes Profil mit Stärken in den sprachgebundenen Intelligenzleistungen und deutlichen Schwächen im logischen Denken, in der Arbeitsgeschwindigkeit, der Konzentration und in zahlengebundenen Aufgaben auf.

    Viele Kinder mit FASD haben eine auditive und/oder visuelle Gedächtnisstörung. Dadurch müssen Lerninhalte sehr häufig wiederholt werden – unabhängig davon, ob es sich um Alltags- oder Schulaufgaben handelt. Die Geduld und die Resilienz der Bezugsperson werden sehr stark beansprucht.

    Die häufigste Begleitstörung bei Kindern mit FASD ist jedoch eine Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Davon betroffene Kinder benötigen eine ständige Begleitung und/oder Unterstützung.

    Zu den psychosozialen Entwicklungsrisiken von Kindern mit FASD zählen langfristig frustrierende Lebenserfahrungen wie Schulabbrüche, soziale Isolation, Stigmatisierung, Obdachlosigkeit und ein fehlendes soziales Netz. Laut einer Studie von Spohr & Steinhausen (2008) hatten nur 13 Prozent der untersuchten jungen Erwachsenen wenigstens einmal einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt. 27 Prozent der von FASD betroffenen Erwachsenen lebten in Institutionen, 35 Prozent im betreuten Wohnen, 8 Prozent bei den Eltern, 14 Prozent unabhängig, 8 Prozent mit einem Partner und 8 Prozent mit einer eigenen Familie.

    Das Hilfsangebot im Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“

    Das individuelle Hilfsangebot richtet sich nach den Stärken bzw. Schwächen der Frau sowie dem Förderbedarf des Kindes. Im interdisziplinären Team werden die verschiedenen Aspekte der Behandlung besprochen, und es wird eine zeitliche Perspektive der Förderung von Mutter und Kind festgelegt.

    Beziehungsarbeit

    Eine tragfähige und vertrauensvolle professionelle Beziehung zwischen der Mutter und der Bezugstherapeutin bildet die Basis, auf der alle sozialpädagogischen und therapeutischen Interventionen aufbauen.

    Soziale Einzelfallhilfe

    In der Einzelfallhilfe wird die geplante Maßnahme mit der Mutter besprochen. Dabei werden ihre Vorstellungen berücksichtigt, und es erfolgt die konkrete Umsetzung. Die Einzelfallhilfe beinhaltet:

    • Krisenintervention
    • Beratungs- und Informationsgespräche
    • Planungs-, Organisations- und Strukturierungshilfen (Wochenplan, Haushaltsplan)
    • Abstinenzsicherung
    • Motivationsarbeit
    • Anleitung (bei Bedarf für Versorgung des Kindes, hauswirtschaftliche Tätigkeiten …)
    • Erweiterung der Erfahrungen und des Lebensraums (Freizeitaktivitäten …)
    • Reflexion des Erziehungsverhaltens – ggfs. zusammen mit dem Kind/den Kindern
    Pädagogische Arbeit mit dem Kind

    Die pädagogische Arbeit mit dem Kind findet zu einem großen Teil in der hauseigenen Kita Kindernest mit zwei heilpädagogischen Gruppen statt. Dabei sollen je nach Alter der Kinder folgende Programme durchgeführt werden:

    • Papilio U3
    • Papilio (3.–6. Lebensjahr)
    • Trampolin (6.–12. Lebensjahr)

    Papilio ist ein Programm zur Förderung der psychosozialen Gesundheit und zur Prävention von Verhaltensproblemen für Kinder in Kindertagesstätten und Kindergärten. Die Arbeit der Erzieherinnen/Heilpädagoginnen beinhaltet dabei u. a. die Entwicklungsbeobachtung und -förderung, die Sicherstellung der materiellen und der emotionalen Bedürfnisse des Kindes, die Freizeitgestaltung sowie das Netzwerken mit Frühfördereinrichtungen.

    Sozialpädagogische Arbeit mit den Müttern

    Um die Erziehungskompetenz der Mutter zu fördern, werden folgende Maßnahmen angeboten:

    • Mutter-Kind-Gruppe
    • Elterncoaching
    • Anleitung im Umgang mit dem Kind
    • Einbeziehung der Kinder in den Alltag
    • Reflexion der Mutter-Kind-Beziehung
    Soziale Gruppenarbeit

    Die Gruppe bildet ein lebensnahes Umfeld, in dem sich die Mütter in schwierigen Situationen gegenseitig Hilfestellung geben können, sich in der Kinderbetreuung unterstützen und auch soziale Fähigkeiten ausbauen können. Folgende Gruppenaktivitäten werden in neuen DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ angeboten:

    • Freizeitgestaltung, Ausflüge
    • Organisation und Feiern von Festen (private und religiöse)
    • Gemeinsame Projekte
    • Sport
    • Kochen
    • Entspannungsübungen (Jacobson, Autogenes Training, Akupunktur …)
    • Jahresfeste
    • Kreative Beschäftigungen für Mütter und Kinder wie Malen, Basteln, Töpfern
    Sozialpädagogische Arbeit mit dem Umfeld

    Das soziale Umfeld der Frauen kann Ressourcen und Unterstützung bereithalten. Dies gilt es zu nutzen. Ebenso können aber auch Konflikte durch die Partner, die Kindsväter oder die Herkunftsfamilie bestehen. Die eigene Biografie zu verstehen, in eine Unabhängigkeit hineinzuwachsen und Beziehungen zu klären, sind Ziele in diesem Bereich. Hierfür besteht folgendes Angebot:

    • Einbeziehung der Väter und/oder der Partner: Paargespräche, Besuchskontakte
    • Arbeit mit der Herkunftsfamilie: Angehörigengespräche, Besuchskontakte
    • Arbeit mit dem Freundeskreis: Klärung von Beziehungen, Abbau von Gefährdungen, Stärkung von Ressourcen, Aufbau von stabilisierenden Sozialkontakten
    • Psychoedukation: Wie kann ich meine Krankheit besser verstehen und bewältigen?
    • Umgang mit Depressionen
    • Vermeidung von Rückfällen
    Kooperation mit externen Stellen

    Die Zusammenarbeit mit externen Einrichtungen ist wichtig, um den Frauen eine umfassende Nutzung des medizinischen und sozialen Hilfespektrums zu ermöglichen. Mit folgenden Einrichtungen kooperiert das Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“:

    • Jugendamt
    • Kinderärzt:innen
    • Ärzt:innen aller Fachrichtungen, Kliniken
    • Frühfördereinrichtungen
    • Schulen, Beratungs- und Förderzentrum (BFZ), Ausbildungs- und Arbeitsstellen
    • Psychotherapeut:innen
    • Beratungsstellen
    • Ämter, Behörden, Polizei, Opferhilfe Oberfranken (Weißer Ring)
    • Mutter-Kind-Gruppen
    • Arbeitskreise
    • DGD Fachklinik Haus Immanuel

    Darüber hinaus findet Vernetzungsarbeit mit anderen Mutter-Kind-Einrichtungen und den verschiedenen Einrichtungen der Jugendhilfe statt.

    Insgesamt steht den Müttern und ihren Kindern ein breit gefächertes Angebot pädagogischer, medizinischer, therapeutischer und psychologischer Hilfen zur Verfügung. Das DGD Mutter-Kind-Zentrum „Rückenwind“ wird an 365 Tagen im Jahr geöffnet sein. Die Präsenz einer pädagogischen Fachkraft ist rund um die Uhr gewährleistet. Die Kita Kindernest mit ihren zwei heilpädagogischen Gruppen für Kinder und Jugendliche im Alter von 0–18 Jahren hat an allen Werktagen im Jahr geöffnet. Die offizielle Eröffnung der neuen Einrichtung ist für Anfang 2023 geplant.

    Literatur bei den Autor:innen

    Kontakt und Angaben zu den Autor:innen:

    Gotthard Lehner, Klinikleiter
    Nathalie Susdorf, Öffentlichkeitsarbeit

    DGD Fachklinik Haus Immanuel
    Hutschdorf 46
    95349 Thurnau-Hutschdorf
    Tel. 09228 / 99 68-0
    E-Mail: info(at)haus-immanuel.de

    www.dgd-haus-immanuel.de
    www.dgd-rueckenwind.de
    www.dgd-kliniken.de

  • Hilfe für Kinder psychisch und suchterkrankter Eltern

    Hilfe für Kinder psychisch und suchterkrankter Eltern

    Frauke Gebhardt

    Schätzungsweise 2,65 Millionen Kinder und Jugendliche leben mit mindestens einem alkoholkranken Elternteil unter einem Dach, 40.000 bis 60.000 Kinder wachsen in einem Haushalt auf, in dem illegale Drogen konsumiert werden. Und bis zu 150.000 Kinder haben Väter oder Mütter, die glücksspielsüchtig sind.

    Was bedeutet ein Leben im Schatten der elterlichen Sucht für den Alltag der Kinder? Er ist gekennzeichnet von ständiger Angst und Unsicherheit sowie einem Mangel an emotionaler Zuwendung und Geborgenheit. Häufig erfahren diese Kinder auch Gewalt, Vernachlässigung und Missbrauch. Die gravierenden Belastungen in der Kindheit haben vielfach lebenslange negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Betroffenen sowie auf die schulische Bildung und somit auch auf berufliche Erfolge. Überdies sind Kinder suchtkranker Eltern die größte bekannte Risikogruppe für eine eigene Suchterkrankung und hochanfällig für psychische Erkrankungen und soziale Störungen. Gemessen an der Anzahl der betroffenen Kinder gibt es in Deutschland nur wenig Hilfeangebote. So kommen etwa 15.000 Kinder auf jedes der rund 120 bis 200 existierenden Angebote. Die Hilfelandschaft ist zudem von starken regionalen Unterschieden gekennzeichnet.

    Um die Situation der Kinder und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien zu verbessern, wurde 2014 ein Prozess angestoßen, woraus 2019 insgesamt 19 Empfehlungen hervorgingen. Nun sind zweieinhalb Jahre vergangen, da stellen sich die Fragen „Wo stehen wir jetzt? Und wo wollen und müssen wir noch hin?“

    Einige der Empfehlungen wurden bereits umgesetzt oder mit ihrer Umsetzung wurde begonnen. Aber es fehlen an verschiedenen Stellen noch konkrete Aufträge, um notwendige rechtliche Anpassungen sowohl auf Bundesebene als auch in den Bundesländern durchzusetzen, die Vernetzung voranzutreiben und in der Praxis anwendbare Finanzierungswege zu finden. Ebenso offen ist die Ausgestaltung der bereits umgesetzten Empfehlungen, denn erst in der Anwendung wird sich zeigen, ob die Hilfen wirklich vor Ort bei den Betroffenen ankommen.

    Der Weg vom Antrag zum Auftrag

    Die Einsetzung der „Arbeitsgruppe Kinder psychisch- und suchtkranker Eltern“ (KpkE) war ein Meilenstein. Wie kam es dazu?

    2014 schlossen sich 19 Fachverbände zusammen und stellten beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie dem Bundesministerium für Gesundheit einen Antrag auf die Einrichtung einer Sachverständigenkommission zum Thema „Hilfen für Kinder und Familien mit psychisch kranken Eltern“. Diesem Antrag folgten zahlreiche Gespräche mit Politikern und Anhörungen in verschiedenen Ausschüssen, bis schließlich im Juni 2017 mit der einstimmigen Verabschiedung eines interfraktionellen Entschließungsantrages der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN das erste große Ziel erreicht wurde.

    In dem Antrag forderte der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf, eine zeitlich befristete interdisziplinäre Arbeitsgruppe einzurichten, welche einvernehmlich Vorschläge erarbeiten sollte, um die Situation von Kindern und Jugendlichen aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil psychisch erkrankt ist, zu verbessern. Es sollten Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten sowie rechtliche Rahmenbedingungen geklärt und Handlungsbedarfe zu den vorgegebenen Untersuchungsschwerpunkten identifiziert werden. Weiterhin wurden Aufklärungsmaßnahmen für die Bevölkerung, betroffene Kinder und Familien sowie Fachleute wie Ärzt:innen, Lehrer:innen und weitere Schnittstellenakteur:innen beschlossen. Zudem wurde festgelegt, dass das Thema in der Aus- und Weiterbildung von Professionen, die an der Versorgung von Kindern und deren psychisch erkrankten Eltern beteiligt sind, verankert werden soll.

    Im März 2018 tagte die Arbeitsgruppe unter Federführung des Familienministeriums mit Beteiligung des Bundesministeriums für Gesundheit, des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, der Drogenbeauftragten der Bundesregierung sowie 29 Verbänden, Fachgesellschaften und Interessensvereinigungen, sieben Wissenschaftler:innen und zwei Moderatoren zum ersten Mal. Nach vier weiteren Sitzungen, drei Fachgesprächen sowie drei umfangreichen Expertisen (Recht, Forschung und Gute Praxis), in denen die Ist-Situation erfasst wurde, konnten dem Deutschen Bundestag im Dezember 2019 insgesamt 19 Empfehlungen zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien vorgelegt werden.

    Sieben Empfehlungen (Empfehlung 1 bis 6 und 19) zielen auf eine Verbesserung in den Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe. Weitere sieben Empfehlungen (Empfehlung 7 bis 12) beziehen sich auf die Verbesserung der präventiven Leistungen für Kinder und Jugendliche in Hinblick auf die Umsetzung des Präventionsgesetzes. Die verbleibenden sechs Empfehlungen dienen der verbesserten Zusammenarbeit und stärkeren Verzahnung der Hilfen an den Schnittstellen Suchthilfe, Jugendhilfe und Gesundheitswesen (Empfehlung 13 bis 18).

    Nach der Abschlussveranstaltung im März 2020 hofften die Expert:innen, durchstarten zu können, doch dann kam die Corona-Pandemie und verschärfte sowohl die Lage der Kinder und Jugendlichen als auch die Situation der Hilfeangebote, bremste den frischen Schwung aus und lenkte den politischen Fokus auf andere Themen.

    Von den Empfehlungen zur Umsetzung – Wo stehen wir heute?

    Die 19 Empfehlungen lassen sich vier inhaltlich sehr weit reichenden Kernthesen unterordnen, welche die Ziele zusammenfassen, die zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien erreicht werden müssen:

    • Kernthese I
      Die Leistungen sind sowohl individuell als auch am Bedarf der Familie ausgerichtet flächendeckend auf- und auszubauen und für die betroffenen Kinder über alle Altersgruppen hinweg und ihre Eltern zugänglich zu machen.
    • Kernthese II
      Präventive Leistungen sollten für Kinder und Jugendliche aller Altersgruppen sowie für deren Familien zugänglich sein.
    • Kernthese III
      Um komplexen Bedarfslagen eines oder mehrerer Familienmitglieder gerecht zu werden, müssen die bestehenden Hilfs- und Unterstützungsangebote besser ineinandergreifen.
    • Kernthese IV
      In den örtlichen und regionalen Netzwerken müssen Lotsen die Zugänge zu (weiteren) Hilfen und jeweils bedarfsgerechten Unterstützungsmaßnahmen an den Schnittstellen unterschiedlicher Leistungssysteme erleichtern.

    Trotz der neuen Herausforderungen und Einschränkungen, welche die Pandemie mit sich brachte, blieb das Engagement vieler Akteur:innen, die sich für das Wohl der Kinder aus psychisch und suchtbelasteten Familien einsetzen, weiterhin groß. Deshalb konnten Empfehlungen teilweise schon umgesetzt oder mit ihrer Umsetzung konnte begonnen werden.

    Kernthese I

    Im Rahmen der Kernthese I wird unter anderem empfohlen eine flexible, kontinuierliche und bedarfsgerechte Alltagsunterstützung als Leistung der Kinder- und Jugendhilfe mit einem einklagbaren Rechtsanspruch einzuführen (Empfehlung 1). Der ursprünglich als § 28a SGB VIII vorgeschlagene Gesetzestext wurde im Rahmen der Novellierung des SGB VIII an den § 20 SGB VIII angedockt und stärkt nun den Anspruch der Eltern auf Unterstützung bei der Betreuung des im Haushalt lebenden Kindes. Die fachliche Feststellung von Bedarf und Eignung der Hilfe kann durch die Beratungsstelle erfolgen. Weil nun kein Antrag beim Jugendamt mehr gestellt werden muss, ist der Zugang zum Beratungsangebot deutlich leichter möglich.

    Außerdem empfehlen die Expert:innen der Arbeitsgruppe, die Möglichkeit der Kombination mehrerer Hilfen auszubauen, um das bessere Ineinandergreifen voranzutreiben (Empfehlung 1), einen unmittelbaren und flexiblen Zugang zu Angeboten zu gestalten (Empfehlung 2) sowie die Bedarfsgerechtigkeit und die Qualität von Hilfeangeboten mit niedrigschwelligen Hilfezugängen durch entsprechende Maßnahmen zu sichern (Empfehlung 4). Diese Empfehlungen wurden ebenfalls im neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) berücksichtigt. Allerdings gibt es noch viele offene Fragen zur Umsetzung, der Finanzierung und der Gestaltung des Übergangs. Eine ausführliche Stellungnahme zu Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen des § 20 SGB VIII für die Erziehungsberatung wurde im Mai 2022 von der Landesarbeitsgemeinschaft für Erziehungsberatung Bayern e.V. veröffentlicht.

    Die Empfehlung 3 legt die Sicherstellung flexiblerer Hilfen nahe, die an dem Bedarf der Familie im Einzelfall ausgerichtet sind. In der Hilfeart wird noch häufig das vorherrschende Bild der „Einversorger-Familie“ zugrunde gelegt. Das muss aufgebrochen und an die Lebensverhältnisse der Familien angepasst werden. Wünschenswert wäre, dass hier die Flexibilität weitergedacht wird – nicht nur bezogen auf die Familienverhältnisse, sondern auch auf die Erkrankungen.

    Weiterhin sieht die Arbeitsgemeinschaft großen Handlungsbedarf beim Anspruch auf Beratung von Kindern und Jugendlichen ohne Kenntnis ihrer Eltern (Empfehlung 5). Dies ist besonders relevant, wenn Eltern ihre Krankheit nicht einsehen oder sie noch nicht bereit sind, Unterstützung für ihre Kinder anzunehmen. Bisher hatten Kinder und Jugendliche in diesen Fällen zwar das Recht auf Beratung, allerdings nur, wenn eine Not- und Konfliktlage vorlag, welche in einem ersten Beratungskontext nicht unbedingt offensichtlich ist. Mit dem neuen SGB VIII ist 2021 zumindest die gesetzliche Grundlage geschaffen worden, dass Kinder und Jugendliche auch ohne Not- und Konfliktlage und ohne das Wissen und die Einwilligung der Eltern beraten werden dürfen. Dass dann tatsächlich Kinder den Zugang in die Beratungsstelle finden und wie niedrigschwellig dieser sein kann, sind Herausforderungen für die Praxis.

    In Empfehlung 6 werden der „Ausbau und die Förderung einer bundesweit öffentlichkeitswirksam präsentierten, wissenschaftlich evaluierten und umfassend barrierefreien Online-Plattform“ für Kinder und Jugendliche gefordert. Diese soll die Suche nach wohnortnahen Hilfen durch eine Postleitzahlenrecherche vereinfachen.

    Es gibt bereits zwei erfahrene Anbieter, die Schritte zu einer Umsetzung der Empfehlung 6 gegangen sind. Sowohl KidKit, das Hilfesystem der Kölner Drogenhilfe (www.kidkit.de), als auch NACOA Deutschland e.V. (www.nacoa.de) halten seit 2003 bzw. seit 2014 Online-Plattformen vor, auf denen sich Betroffene anonym Rat suchen können. KidKit richtet sich an Kinder, Jugendliche und junge Erwachsenen zwischen zehn und 21 Jahren und bietet Hilfe zu den Themen Sucht, (sexualisierte) Gewalt und psychische Erkrankungen in der Familie. Bei NACOA Deutschland e.V. liegt der Schwerpunkt auf der Online- und Telefonberatung für Kinder, Jugendliche, junge Erwachsenen, Angehörige und Fachkräfte zu den Themen Sucht und Traumatisierung in der Familie. Mittels Recherche über Postleitzahlen bzw. digitale Landkarten können sich Betroffene auch eingeständig wohnortnahe Beratung suchen.

    Durch ihre unterschiedlichen Arbeitsschwerpunkte ergänzen sich die beiden Angebote. In einer gemeinsamen Initiative streben KidKit und NACOA Deutschland e.V. an, sich zusammenzuschließen und ihre bereits etablierten Angebote im Verbund ausbauen.

    Dies ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Um die Strukturen für die Kinder, Jugendliche, Familien und Fachkräfte nachhaltig zu verbessern und die Empfehlung 6 vollständig und qualitätsgesichert umzusetzen, ist es essenziell, dass entsprechende Angebote nicht nur projektfinanziert existieren, sondern in eine Regelfinanzierung überführt werden. Gerade niedrigschwellige Hilfen für (hochtraumatisierte) Kinder und Jugendliche aus stark belasteten Familien dürfen nicht nach Abschluss eines Projektzeitraums wegbrechen oder wegzubrechen drohen, sondern müssen dauerhaft verankert werden und somit eine verlässliche Adresse in der Hilfelandschaft sein.

    Für Fachkräfte hat NACOA Deutschland im Auftrag des Bundesfamilienministeriums eine Kommunikationsplattform geschaffen, die es ihnen kostenfrei ermöglicht, sich praxisnah über verschiedene Probleme und Herausforderungen auszutauschen, eigene Angebote dazustellen, geplante Veranstaltungen zu bewerben sowie Studien und Fachinformationen abzurufen: https://coakom.de/

    Kernthese II

    Die Empfehlungen unter der Kernthese II beziehen sich auf den Bereich der Prävention. Obwohl auch primärpräventive Angebote von Trägern der freien Kinder- und Jugendhilfe sowie der Suchthilfe und der Gesundheitsförderung einen wesentlichen Beitrag zum gesunden Aufwachsen der Kinder und Jugendlichen aus psychisch und suchtbelasteten Familien leisten, geht es bei diesen Empfehlungen in erster Linie um die Leistungen der Krankenkassen nach SGB V.

    In der Empfehlung 7 der AG KpkE heißt es, dass die Leistungen der Krankenkassen für Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten oder psychisch belasteten Familien an deren spezifischen Bedarfen ausgerichtet werden sollen und dass die Anzahl der entsprechenden Aktivitäten sowie der erreichten Personen gesteigert werden sollen. Aufgrund der Corona-Pandemie lässt sich anhand der verfügbaren Daten aus dem Präventionsbericht 2021 nicht einschätzen, ob die Ziele der Empfehlung erreicht wurden. Jedoch lässt sich an der Anzahl der gestellten Anträge zur Förderung von vulnerablen Zielgruppen im Rahmen des GKV-Bündnisses für Gesundheit ein hoher Bedarf seitens der Kommunen ablesen.

    In Bezug auf das Förderprogramm des GKV-Bündnisses für Gesundheit (ein Zusammenschluss aller Krankenkassen und ihrer Verbände; die Antragsfristen sind mittlerweile abgelaufen) empfahl die Arbeitsgruppe, dass der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen und die BZgA gemeinsam mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden darauf hinwirken, dass Kommunen das Förderprogramm auch in Anspruch nehmen (Empfehlung 8). Anfang 2019, also bereits bevor die Empfehlungen veröffentlicht waren, bewarb der GKV-Spitzenverband den Start des Förderprogramms mit verschiedenen öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen. Aufgrund des komplexen Antragsstellungsprozesses gab es seitens der Nutzer:innen zahlreiche Rückmeldungen und Verbesserungsvorschläge hinsichtlich der Programmorganisation und der Finanzierungslogik. Diese werden in einer externen Evaluation erfasst und fließen in einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess ein. Insgesamt erhalten laut GKV-Spitzenverband mittlerweile 25 Kommunen, die den Schwerpunkt ihres Projektes auf die Zielgruppe Kinder und Jugendliche aus psychisch bzw. suchtbelasteten Familien legen, eine Förderung durch das GKV-Bündnis für Gesundheit.

    Parallel dazu soll gemeinsam mit Akteure:innen aus Kinder- und Jugendhilfe, Suchthilfe und dem Gesundheitswesen ein Qualitätsentwicklungsprozess auf Bundes- und Landesebene angestoßen werden. Dieser soll auch ermitteln, wie der Zugang zu (Gruppen-)Programmen in den Kommunen erleichtert werden kann (Empfehlung 8). Der Prozess wird gegenwärtig auf Bundesebene angegangen, die Länderebene müsste in einem weiteren Schritt noch folgen. Hierfür wurde bereits mit dem Handlungsrahmen für eine Beteiligung der Krankenkassen im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention eine Grundlage geschaffen. Ein Bestandteil des GKV-Handlungsrahmens ist eine Handreichung für die GKV auf Landesebene, in welcher auch die relevanten Handlungsfelder für eine Beteiligung der GKV, einschließlich des in der Empfehlung 8 geforderten Zugangs zu (Gruppen-)Programmen, aufgeführt werden. Wie es in der Praxis tatsächlich flächendeckend gelingt, die bestehenden Projekte aus dem Modus der Projektförderung in den Modus der Regelfinanzierung zu überführen, bleibt jedoch offen. Denn das Bestreben, das Thema Kinder psychisch und suchtbelasteter Eltern in die Präventionsstrategie einzubringen, orientiert sich an den Ergebnissen der Nationalen Präventionskonferenz (NPK), welche erst 2027 finalisiert werden sollen. Bis sich die Strukturen vor Ort ändern und die Hilfe bei den psychisch und suchtbelasteten Familien ankommt, werden wohl noch einige Jahre vergehen.

    Die Träger der nationalen Präventionskonferenz wurden im Rahmen der Empfehlungen aufgerufen, die Zielgruppe Kinder von psychisch und suchtkranken Eltern und deren Familien stärker in den Blick zu nehmen. Das Ziel ist, eine gemeinsame Strategie der Länder, Kommunen, Krankenkassen und Jugendhilfeträger zu Hilfenetzwerken und Gruppenangeboten (Empfehlung 9) zu entwickeln. Im Rahmen des Dialogprozesses brachten Träger und Verbände ihre Positionen und die aus ihrer Sicht erforderlichen Änderungen ein. Ende 2020 beschloss die NPK, die nationale Präventionsstrategie stärker gesamtgesellschaftlich und politikfeldübergreifend auszurichten. Dafür wurden zwei Themen festgelegt, darunter das Thema „Psychische Gesundheit im familiären Kontext“. Eine Gruppe von Verbänden erreichte, dass auch ein Workshop zum Thema Kinder psychisch kranker Eltern durchgeführt werden konnte. Daraus entstand eine Synopse zu Änderungen im SGB V, bezogen auf die psychiatrische Versorgung und Kinder psychisch kranker Eltern, die im Frühjahr 2022 an die Aktion Psychisch Kranke (APK) sowie an Gesundheitspolitiker versendet wurde. Bis heute warten die Verbände gespannt darauf, ob und wie die Änderungsvorschläge angenommen und umgesetzt werden können.

    Die in Empfehlung 10 von der Arbeitsgruppe geforderte Förderung von abgestimmten, koordinierten und vernetzten Vorgehensweisen durch die Sozialversicherungsträger bezieht sich in der Praxis auf die Abstimmungen auf der Landesebene in den Gremien der Landesrahmenvereinbarung. Hier steht die Umsetzung in allen Bundesländern noch am Anfang. Daher wurden auch die Empfehlung 11 „Anpassung und Erweiterung der Landesrahmenvereinbarungen im Sinne der Empfehlung 9“ und die Empfehlung 12 „Weiterentwicklung und Umsetzung der Regelungen und Verfahrensweisen in der Prävention auf Grundlage des Präventionsberichtes“ bisher nicht realisiert.

    Die Empfehlung 13 schlägt eine gesetzliche Klarstellung im SGB V vor, welche die wechselseitige Transparenz zu den Leistungen zwischen GKV und den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe sicherstellen soll. Diese gesetzliche Anpassung ist mittlerweile erfolgt, wenngleich sie in der Praxis noch keine große Rolle spielen dürfte.

    Kernthese III

    Die Empfehlungen unter der Kernthese III zielen auf ein besseres Ineinandergreifen der Hilfs- und Unterstützungsangebote, um den komplexen Bedarfslagen eines oder mehrerer Familienmitglieder gerecht zu werden. Die in Empfehlung 14 geforderte Überwindung der Schnittstellen zwischen Kinder- und Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe, z. B. durch die stärkere Nutzung der Gesamtplankonferenz, ist bereits im Gesetz verankert. Allerdings ist unklar, inwieweit die Praxis die Bestärkung der bestehenden Gesetze durch die Empfehlungen wahrnimmt. Auch die rechtliche und finanzielle Absicherung der Kooperation zwischen Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheitswesen (Empfehlungen 15 und 16) wurde angegangen, jedoch nicht in dem Umfang, den die Expert:innen der Arbeitsgruppe empfehlen, sondern lediglich in Bezug auf die Finanzierung von niedergelassenen Ärzt:innen, die im Rahmen der Gefährdungseinschätzung des Kindeswohls eingesetzt werden (§ 73 c SGB V). Ein guter erster Schritt in die richtige Richtung, der aber noch Luft nach oben lässt, denn wichtige Grundlagen und nächste Umsetzungsschritte fehlen noch. Bis heute sind daher am individuellen Bedarf orientierte, sozialgesetzbuchübergreifende, familienorientierte Hilfen nicht strukturell verortet und kommen bei den Betroffenen auch nicht an.

    Über die in der Empfehlung 17a geforderten Komplexleistungen wird nach wie vor diskutiert. Das Medizinsystem sieht diese ausschließlich innerhalb des SGB V, die AG KpkE meint in ihren Empfehlungen jedoch SGB-übergreifende Komplexleistungen, die den Fokus der bisher vorwiegend individuenzentrierten Behandlung auf das gesamte Familiensystem erweitern. Für die betroffenen Familien ist es äußert mühsam, die verschiedenen Hilfesysteme zu verstehen und die für sie notwendigen Hilfen eigenständig einzufordern. SGB-übergreifende Komplexleistungen würden dies erleichtern und gleichzeitig die Bindungsqualität, die Erziehungskompetenz und die Resilienz von Kindern und Eltern fördern. Und auch für die Fachkräfte in den unterschiedlichen Bereichen würden SGB-übergreifende Komplexleistungen die interdisziplinäre Zusammenarbeit maßgeblich erleichtern, das Entstehen von interdisziplinären Einrichtungen und Diensten für Eltern und ihre Kinder fördern (Empfehlung 17b) und das Nebeneinander-Existieren der Leistungssysteme verhindern.

    Doch bisher ist noch vieles unklar. Es müssen rechtliche Anpassungen in verschiedenen Sozialgesetzbüchern vorgenommen werden, und es braucht eine Regelung der Fallzuständigkeit sowie eine abgestimmte koordinierte Vermittlung zwischen den Systemen. Am wichtigsten scheint aber momentan die Frage: Wer erteilt den rechtlichen Auftrag zur Flexibilisierung der Unterstützung? Im Koalitionsvertrag ist die Hilfe für Kinder psychisch und suchtkranker Eltern im Bereich Familie verortet, im Bereich Gesundheit fehlt dadurch ein klarer Auftrag. Für ein solches Vorhaben (Empfehlungen 17a und b) müssen sich allerdings alle Hilfesysteme, in denen sich die Familien bewegen, an einen Tisch setzen.

    Weiterhin empfiehlt die Arbeitsgruppe, dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern, den Kommunen und den Sozialversicherungsträgern einen Handlungsrahmen für ein kommunales Gesamtkonzept zur Entwicklung, Umsetzung, Evaluation und Verstetigung multiprofessioneller, qualitätsgesicherter und rechtskreisübergreifender Hilfesysteme erstellt (Empfehlung 18). Dies wurde kommunal und in einzelnen Bundesländern bereits aufgegriffen, ein bundespolitischer Auftrag fehlt jedoch noch. Nach Kenntnisstand von NACOA Deutschland e.V. gibt es allerdings gerade politische Bestrebungen, die Umsetzung der Empfehlungen 6 und 18 voranzutreiben, was wir sehr begrüßen. Die kommentierte Übersicht „Modelle guter Praxis für kommunale Gesamtkonzepte zur Verbesserung der Unterstützung von Kindern psychisch und suchterkrankter Eltern“ sowie die Handreichung „Kommunale Gesamtkonzepte zur Verbesserung der Unterstützung von Kindern psychisch und suchterkrankter Eltern“ des Instituts für Sozialpädagogische Forschung Mainz bilden dafür eine wertvolle Grundlage.

    Kernthese IV

    Die letzte Empfehlung (Nr.19) regt die Klarstellung an, dass Hilfe zur Erziehung auch die Unterstützung an den Schnittstellen zu anderen Leistungssystemen umfasst, wenn deren Leistungen erforderlich sind. Die ab 2024 bis 2028 geplanten Verfahrenslotsen (nach § 10b SGB VIII) sind eine Möglichkeit der Umsetzung dieser Empfehlung im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz. Sie sollen sowohl eine unabhängige Unterstützung und Begleitung bei der Antragstellung, Verfolgung und Wahrnehmung der Leistungen der Eingliederungshilfe für Eltern von Kindern mit Behinderung bieten als auch Unterstützung des Jugendamtes bei der Zusammenführung der Leistungen der Eingliederungshilfe. Wie die Umsetzung gelingt und ob die Hilfen auch bei Kindern aus suchtbelasteten Familien ankommen, bleibt zum jetzigen Zeitpunkt noch offen.

    Ausblick

    Alles in allem wird deutlich, dass bereits einige der Empfehlungen aufgegriffen bzw. umgesetzt wurden. Dennoch ist noch viel zu tun: Konkrete Aufträge müssen auf bundes- und landespolitischer Ebene ausgesprochen werden, um notwendige rechtliche Anpassungen durchzusetzen und die Vernetzung voranzutreiben. Für die Praxis und gemeinsam mit den Praktiker:innen müssen praktikable Finanzierungswege und zum Teil kreative Umsetzungswege gefunden werden, damit die Hilfen auch wirklich vor Ort bei den Betroffenen ankommen.

    Um die noch offenen Ziele und Maßnahmen umzusetzen, bedarf es einer stärkeren systematischen, interdisziplinären und politischen Schwerpunktsetzung auf Bundesebene und vor allem einer interministeriellen Begleitung der einzelnen Implementierungsschritte. Deshalb fordert NACOA Deutschland e.V. gemeinsam mit neun anderen Fachverbänden und Organisationen einen abgestimmten Monitoring- und Evaluationsprozess, der system- und rechtsübergreifend sowie unter Berücksichtigung der Länder- und kommunalen Ebene geplant und umgesetzt werden soll. Dabei darf ein klarer Bezug zur Selbsthilfe nicht vergessen werden.

    In Gesprächen mit Politiker:innen, wie z. B. im Rahmen der Podiumsdiskussion zur COA-Aktionswoche 2022, wurde und wird deutlich, dass seitens der Ampel-Koalition weiterhin großes Interesse vorhanden ist, die Situation für suchtbelastete Familien zu verbessern. Durch die Corona-Pandemie, den Cannabis-Legalisierungsprozess, den Ukraine-Krieg und weitere aktuelle Themen, die momentan stark im Vordergrund stehen, ist eine kontinuierlich starke Stimme aus der Fachwelt besonders nötig, um das Thema „Suchtbelastete Familien“ auf der Agenda der Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik zu halten und voranzubringen. Eine eindringliche Empfehlung an alle Fachkräfte, Mitarbeitende an Schnittstellen und Betroffene ist daher: Schließen Sie sich in Netzwerken zusammen, betreiben Sie Lobby- und Advocacyarbeit, sprechen Sie mit Politiker:innen und Entscheidungsträger:innen und werden Sie gemeinsam laut!

    Kontakt:

    Frauke Gebhardt
    NACOA Deutschland – Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien e.V.
    Gierkezeile 39
    10585 Berlin
    gebhardt(at)nacoa.de
    https://nacoa.de/

    Angaben zur Autorin:

    Frauke Gebhardt arbeitet seit August 2020 bei NACOA Deutschland – Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien e.V. Dort leitet sie das Projekt „Bundesweite Vernetzung von Akteuren des Hilfesystems für Kinder suchtkranker Eltern“. Mit diesem Projekt soll aufbauend auf die bestehenden Strukturen ein bundesweites digitales Fachkräfte-Netzwerk geschaffen werden. Des Weiteren ist sie zuständig für Advocacy-Arbeit sowie die COA-Aktionswoche für Kinder aus suchtbelasteten Familien.

    Literatur:
  • Digitaler Wandel in der Suchtprävention

    Digitaler Wandel in der Suchtprävention

    Benjamin Becker

    Digitale Kommunikation ist für die heranwachsende Generation normal. Die Suchtprävention hat hier noch Barrieren zu überwinden. Wie Digitalisierung und Corona-Krise einen Paradigmenwechsel in der Suchtprävention voranbringen könnten, beschreibt dieser Beitrag aus der Fachsicht von blu:prevent, dem Suchtpräventionsangebot des Blauen Kreuzes für Jugendliche.

    Wenn wir uns aktuell auf eine Sache verlassen können, dann ist es der Wandel. Und zwar ein Wandel, der mittlerweile exponentielle Züge annimmt. Befeuert wird dieser Prozess durch die Megatrends Globalisierung, Digitalisierung und Individualisierung. Kommunikation und Mediennutzung der Menschen haben sich so stark verändert, dass bereits von einem Paradigmenwechsel gesprochen wird. Wirtschaft, Politik, Kirchen, Schulen, Jugendarbeit und natürlich auch die Suchthilfe sind herausgefordert, neue Methoden der Wissensvermittlung zu entwickeln, um Jugendliche in ihrer Kommunikations- und Lebenswelt weiterhin erreichen zu können.

    Wir erhalten regelmäßig Anfragen von Fachkräften, Trägern und Landesstellen, die suchtpräventiv mit jungen Menschen arbeiten und nach zeitgemäßen und innovativen Tools suchen. Daher haben wir mit blu:prevent – bereits vor Corona – damit begonnen, neue und unkonventionelle Wege in der Suchtprävention zu gehen, um geeignete digitale Tools für Jugendliche und Multiplikatoren entwickeln zu können.

    Welche Chancen und Herausforderungen beinhalten digitale Angebote in der Suchtprävention?

    Die Chancen und Möglichkeiten der digitalen Suchtprävention sind größer, als viele denken. Über digitale Wege wie Social Media, Apps, Podcasts, Plattformen/Websites, YouTube-Clips, Webinare/Online-Schulungen usw. kann plötzlich eine millionenfache Reichweite generiert werden. So kann es kleinen und bisher unbekannten Projekten oder Personen (selbst mit einem kleinen Budget) gelingen, sich aus dem „Nichts“ mit einer cleveren Idee und einem digitalen Konzept erfolgreich zu positionieren und eine wesentliche Rolle auf dem Markt zu spielen.

    Durch die Verbreitung und Bewerbung (Social Media-Advertising, Google Ads, TV-Wartezimmer, YouTube-Werbung) unserer Tools konnte blu:prevent in wenigen Jahren über acht Millionen Menschen erreichen. Hinzu kommen die Personen, die über unsere Kooperationspartner:innen und Influencer erreicht wurden, die in TV-Sendungen, großen YouTube-Channels und bekannten Podcasts eingeladen waren (1). Dies sind alles Chancen, die erst durch die Digitalisierung möglich geworden sind und unbedingt genutzt werden sollten. Dies erfordert Agilität und einen gewissen Pioniergeist bei den Behörden, Institutionen und Verbänden/Vereinen. Weitere großartige Chancen bestehen darin, dass digitale Tools viele der bisherigen Barrieren nicht kennen: Entfernungen, mangelnde Mobilität, Hemmschwellen, Berührungsängste, schwer zugängliche Milieus usw. Dies bemerken wir bei unserem anonymen Chat-Angebot in der blu:app, mit dem wir milieu- und ortsübergreifend jungen Menschen in Notlagen professionell zur Seite stehen können. Auch bei einem kürzlich durchgeführten Online-Präventions-Event mit über 300 Jugendlichen konnten wir erleben, wie positiv neue Formate angenommen werden (2).

    Neben einer hohen Effizienz, ökonomischen Vorteilen und den hohen Reichweiten gibt es auch Nachteile, die ich aber bewusst „Herausforderungen“ nennen möchte. Hierzu zählt, dass wichtige Elemente des Dialogs und Miteinanders in persönlichen Begegnungen (Gestik, Augenkontakt, Intuition, Übertragungen, Körperkontakt, Emotionalität usw.) durch digitalen Kontakt teilweise nicht zu kompensieren sind. Und: Anonymität kann ein Vor- und Nachteil sein.

    Eine weitere Challenge sind die Barrieren, die wir bei vielen Multiplikator:innen, aber auch eigenen Mitarbeitenden, erleben. Dazu gehören technische Barrieren, Barrieren innerhalb der Organisation (Strukturen, Abläufe, Budgets), Barrieren am Markt (Angebot und Nachfrage, keine Akzeptanz am Markt, Konkurrenzangebote, Markt benötigt etwas anderes) und Akzeptanz-Barrieren. Hier bemerken wir vor allem in den Bereichen „Schule“ und „Suchthilfe“, aber auch in Deutschland insgesamt, viele unterschiedliche Hürden.

    Daher möchten wir mit blu:prevent mutig vorangehen, Pilot- und Best-Practice- (auch Fail-Practice-) Modelle liefern und Menschen und Institutionen für diesen vielversprechenden Weg gewinnen. Denn: Für die heranwachsende und kommende Generation (Digital Natives) wird es „normal“ sein, auf digitale Hilfsangebote zuzugreifen, und es wird „unnormal“ werden, auf analoge Angebote angewiesen zu sein. Wir erleben immer mehr das Phänomen, dass für viele Jugendliche die klassischen Wege zu den Hilfsangeboten mit Barrieren und Vorbehalten verbunden sind. Daher werden hybride Angebote (digital & analog) oder rein digitale Angebote & Tools zukünftig eine bedeutendere Rolle spielen.

    Welche Rolle spielen Influencer:innen in Social Media? 

    Influencer:innen (Beeinflusser:innen) sind meistens Einzelpersonen, die sich im Social Media-Bereich (YouTube, Instagram, TikTok) eine starke Eigenmarke und einen starken eigenen Channel aufgebaut haben und somit zu einer hohen Reichweite gekommen sind. Viele Influencer:innen leben bereits sehr gut von den Einnahmen, die sie von Sponsoren bzw. Firmen, deren Produkte sie bewerben, erhalten.

    Folgende Merkmale werden ihnen von den Usern zugeschrieben: hohes Ansehen, Glaubwürdigkeit, wirken greifbar, geben Orientierung, sind immer da, vertreten Zielgruppe, sind Projektionsfläche für eigene Träume und Vorstellungen. Dadurch üben sie eine hohe Faszination und Überzeugungskraft auf viele Follower aus. Viele Jugendliche suchen die Antworten zu ihren persönlichen Alltagsfragen (Schule, Familie, Pubertät, Stress, Gewalt, Alkohol, Mobbing, Mediennutzung usw.) auf den digitalen Plattformen oder bei „ihren“ Influencer:innen. Das heißt, auch im Bereich Informationsvermittlung, Meinungsbildung, Austausch (Foren) und Hilfestellungen findet ein entsprechender Paradigmenwechsel statt.

    Die „Reiseroute“ von der Fragestellung oder dem Problem der jungen Menschen zum Hilfsangebot hat sich radikal verändert. Nicht mehr die Eltern, Lehrkräfte, Jugendleiter:innen oder Pastor:innen sind die ersten Ansprechpartner:innen, sondern die Influencer:innen ihrer Wahl. Nicht mehr die Lebenserfahrung steht im Vordergrund, sondern das Verhalten der Peergroup, das Maß an Attraktivität und der Reichweite der Influencer:innen und das Entertainment. Daher stellt sich hier die große Frage, wie es den Institutionen gelingen kann, eigene Influencer:innen auf den Weg zu bringen oder neue (unkonventionelle) Kooperationsformen mit etablierten Influencer:innenn einzugehen.

    Was hat die Corona-Krise aufgedeckt und was können wir aus ihr lernen? 

    Aus meiner Sicht hat uns die Corona-Krise einerseits aufgezeigt, wie wichtig die etablierten Anlaufstellen für Jugendliche an den Schulen, in der Jugendarbeit, den Sportvereinen, Kirchen und der Suchthilfe sind und wie Jugendliche – besonders in der Krise – vertraute Bezugspersonen brauchen und suchen. Andererseits hat uns die Corona-Krise aber auch schonungslos aufgezeigt, wie labil das eigentlich gut ausgebaute Hilfesystem in Deutschland sein kann, wenn es zu analog, zu wenig hybrid und somit zu einseitig aufgestellt ist.

    Wir sehen nun sehr klar, wo Entwicklungsmöglichkeiten im Bildungs- und Suchthilfesystem liegen, aber auch, wie wenig sie bisher genutzt wurden. Corona macht zudem deutlich, wie stark dieses System in sich gefangen ist, dass es oft an Agilität und Risikofreudigkeit fehlt und dass zu viel Bürokratie und zu lange Entscheidungswege Entwicklungen lähmen. Viele notwendige Veränderungsprozesse werden seit Jahrzehnten linear-kausal behandelt, und der notwendige Schritt in die Transformation, in den Zustand des „Sich selbst neu Erfindens“, ist offensichtlich noch nicht bewusst genug geworden. Hier scheinen der Leidensdruck oder die erforderliche Expertise (noch) nicht hoch genug zu sein.

    Da hier die Influencer:innen, aber auch die Wirtschaft, um ein Wesentliches agiler agieren, besteht real die Gefahr, dass kommerzielle Plattformen, branchenferne Start-ups oder andere Interessent:innen (und Influencer:innen) wichtige Marktanteile mit ihren Ideen oder Technologien übernehmen (Disruption), und es könnte das Szenario eintreten, dass Google, Facebook, Chatbots (Künstliche Intelligenz) oder Influencer:innen die Aufklärungs- und Beratungstätigkeiten sukzessiv übernehmen. Ob diese Plattformen/Personen die erforderlichen Professionen mitbringen und vernetzt mit dem Suchthilfesystem zusammenarbeiten werden, bleibt fraglich und könnte zu einer enormen Herausforderung bis hin zur Zerreißprobe führen. Noch bietet sich die Chance, gegenzusteuern und auf dem Marktplatz der Player mitzuspielen. Das bedeutet aber, bisherige Denkkategorien, die eigene Komfortzone und festgefahrenen Strukturen zu verlassen und Neuland zu betreten.

    In der Corona-Krise hat es aber auch viele Lichtblicke gegeben: Organisationen haben plötzlich gemerkt, wie schnell Veränderungen und Umstellungen – auch unbürokratisch – an manchen Stellen umgesetzt werden können. Und jede:r einzelne von uns wurde persönlich mit der entscheidenden Frage konfrontiert, ob wir die Krise akzeptieren und als Teil der Wirklichkeit annehmen und an ihr wachsen wollen, oder ob wir stetig gegen sie ankämpfen, Kraft verlieren und gleichzeitig viele Chancen der Neuorientierung und des Wachstums auslassen. 

    Krisen fordern uns oft auf, Dinge/Haltungen/Einstellungen neu zu definieren. Für mich bedeutet das, Traditionen und Werte zu berücksichtigen, bestehende Schätze zu heben und gleichzeitig die Entschlossenheit zur Entwicklung zu zeigen.

    Welche Haltung wird in der Zukunft entscheidend sein? 

    Grundsätzlich wird das Thema „Haltung“ in den nächsten Jahren sehr entscheidend sein! Wir können nicht einfach so weitermachen wie bisher. Genauso, wie es nicht ausreicht, einfach alle bisher analogen Verfahren zu digitalisieren. Fakt ist, dass die Jugendlichen konsequent ihren eigenen Weg gehen werden und wir entweder mit adäquaten Angeboten am Start sind oder nicht. Die – während der Coronazeit – stark besuchten Chat-Angebote, Foren und E-Mail-Beratungen verschiedener Organisationen bestätigen diesen Trend. Es braucht neue Denkweisen (Mindsets) und eine Transformation in vielen Bereichen, damit wir junge Menschen weiterhin gut und nachhaltig erreichen können. Die Haltung „Wer wagt gewinnt“ sollte unsere zukünftige Projektarbeit prägen. Es bedarf einer neuen Form der Risikobereitschaft, Flexibilität und Kreativität.

    Auf Fortbildungen präsentiere ich Thesen, die polarisieren und zum Nachdenken anregen, wie: „Kreativität schlägt Potential!“ oder „Der Rahmen ist wichtiger als der Inhalt!“. Es gilt, „Out of the Box“ zu denken und Neues zu entdecken. Es ist zu beobachten, dass die klassischen Hierarchien, Strukturen und Prozesse oftmals mit den aktuellen Fragestellungen und unterschiedlichen Anspruchsgruppen überfordert sind. Daher sind auch neue Arbeitsformate notwendig. Bekannte Methoden/Formate sind: Think Tanks, Design Thinking, Scrum, Bar Camps, Co-Creation. Eine Anpassung an die Branche bzw. das Projekt ist allerdings immer erforderlich. Der Weg zum Ziel und zu nachhaltigen Lösungen wird immer mehr unter Einbindung des interdisziplinären Teams (multiprofessionelle Kompetenzen) und der Dialoggruppe (Co-Creation) verwirklicht. Vieles wird zukünftig im Prozessverlauf (Work in Progress) gelernt, getestet und neu ausprobiert. Offenheit, Kreativität und die Erlaubnis zum Scheitern sind wichtige Merkmale des zukünftigen Arbeitens.

    Das klingt vielleicht nach großen Hürden, kann aber auch unglaublich viel Spaß machen, da es eine Abenteuerreise ist! Und viele Jugendliche nehmen es mit Begeisterung zur Kenntnis, wenn Hilfsangebote digital sind, ihre Sprache sprechen und in ihre Lebenswelt passen. Das erleben wir in der Praxis bei unserem Chat-Angebot (über 1.300 Anfragen/Jahr), der App (blu:app), den E-Learning-Modulen (blu:interact) und unseren Social-Media-Angeboten (@vollfrei). Für Multiplikatoren bieten wir (Online-)Fortbildungen zu diesem Thema an. Weitere Infos, unsere Tools und unseren Shop (kostenlose Materialen) finden Sie unter www.bluprevent.de

    Anmerkungen:
    (1) Zurzeit kooperieren wir mit Dominik Forster. https://www.youtube.com/channel/UCoMZAJLqlC6WEPV5stind5w

    Mit Samuel Koch haben wir ein gemeinsames Video erstellt.
    https://www.youtube.com/watch?v=TzzENc46PNg

    (2) Suchtpräventionsevent mit Audi und FC Ingolstadt mit dem Namen „Schanzer Pluspunkt“
    https://www.schanzer-pluspunkt.de/

    Der Artikel ist erstmals erschienen in:
    proJugend. Fachzeitschrift der Aktion Jugendschutz Bayern
    Heft 1/2022
    https://projugend.jugendschutz.de/projugend-1-2022/

    Kontakt:

    Benjamin Becker
    blu:prevent
    Blaues Kreuz in Deutschland
    benjamin.becker(at)blaues-kreuz.de

    Angaben zum Autor:

    Benjamin Becker ist Leiter von blu:prevent, Jugend- und Präventionsangebote des Blauen Kreuzes in Deutschland.

  • Substitution und medizinische Reha

    Substitution und medizinische Reha

    Thomas Hempel

    Die Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger ist eine hochwirksame, etablierte und gut evaluierte medikamentöse Standardbehandlung in der Suchtmedizin. Besonders im Zusammenspiel mit einer suffizienten psychosozialen Betreuung (PSB) stellt sie eine wichtige, auf allen Ebenen der ICF wirksame Behandlungsmethode für opiatabhängige Menschen dar. Diese multiprofessionelle Behandlung sollte, wenn möglich, in eine medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker (ambulant, ganztägig ambulant oder stationär) münden. Das Setting der medizinischen Rehabilitation bietet optimale Kontextfaktoren für die Behandlung komplexer Abhängigkeitserkrankungen und der häufig bestehenden komorbiden psychiatrischen, psychosomatischen und somatischen Erkrankungen. Deshalb ist es unbedingt erforderlich, dass rehabilitative Behandlungen unter Substitution grundsätzlich möglich sind! Die Substitutionsbehandlungen in der Reha sollten auf die individuellen Bedarfe und auf die Verbesserung der Teilhabefähigkeit der Rehabilitand:innen ausgerichtet sein. Ein Zwang zur Abdosierung sollte nicht mehr gefordert werden.

    Ausgangslage

    Diese Erkenntnisse schlagen sich aktuell in der Entwicklung der S3-Leitlinie zur Behandlung Opiatabhängiger nieder. Die Entwicklung dieser Leitlinie stellt einen wichtigen Schritt dahingehend dar, dass die substitutionsgestützte Behandlung zunehmend als gängige und normale Behandlungsmethode wahrgenommen wird. Die Bewertung der Wirksamkeit der Substitutionsbehandlung wurde in den letzten Jahrzehnten oft durch ideologisch geprägte Sichtweisen bestimmt. Dies ist auch heute noch häufig der Fall. Die vertretenen Positionen liegen weit auseinander, dazu gehören zum Beispiel: „Ich bin doch nicht der Dealer meiner Patient:innen“, „Nur die abstinente Lebensführung führt zur Linderung der Sucht“, „Reha ist nur unter abstinenten Bedingungen erfolgreich“, „Abdosierung gleich Tod des Substituierten“, „Substitutionsbehandlung ist der Goldstandard in der Behandlung von Opiatabhängigen“ etc.

    Diese Ideologisierung führte zu Schnittstellenproblemen und Behandlungshemmnissen, die die multiprofessionelle und multifaktorielle Planung und Durchführung einer auf die Verbesserung der Teilhabefähigkeit der Betroffenen abzielende Behandlung erheblich erschweren.

    Eine schwierige Schnittstelle ist z. B. der Zugang für Substituierten in die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker. Die Schwierigkeiten liegen unter anderem darin begründet, dass ein Großteil der niedergelassenen substituierenden Ärzt:innen der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker skeptisch gegenübersteht. Sie gehen davon aus, dass es nur wenige Fachkliniken gibt, die Substituierte behandeln, und dass in der Rehabilitation zwangsläufig eine Abdosierung der Substitutionsmedikation erfolgt, die dann mit einer erheblichen Gefährdung ihrer Patient:innen einhergehen würde. Diese Annahmen finden sich auch bei vielen Zuweisenden, insbesondere aus dem niedrigschwelligen und akzeptierenden Bereich.

    Aber auch, wenn eine Reha angestrebt und beantragt wird, entstehen häufig Probleme, da die Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker nur bedingt bekannt sind. Das Bild der medizinischen Rehabilitation ist häufig noch von der Vorstellung einer „therapeutischen Gemeinschaft“ geprägt. Die Vorstellung, dass ein wesentliches Behandlungsziel der Rehabilitation die Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben ist, ist vielen der substituierenden Ärzt:innen und Zuweisenden eher fremd, da Substitutionsbehandlungen primär als Hilfe zum Überleben und unter Harm Reduktion-Aspekten betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund werden häufig medizinische Rehabilitationen für Menschen beantragt, die noch nicht rehabilitationsfähig sind und eigentlich erst einmal z. B. im BTHG-Bereich betreut werden müssten. Es werden medizinische Rehabilitationen für Patient:innen beantragt, die noch nicht über die notwendige Mitwirkungsfähigkeit verfügen und in der Folge an den Anforderungen der Rehabilitationsbehandlung scheitern. Dieses Muster führte dazu, dass sowohl bei den zuständigen Leitungsträgern als auch bei Leistungserbringern der Reha ein negatives Bild der substituierten Rehabilitand:innen tradiert und Substitution während der Reha sehr kritisch gesehen wurde. In Anlage 4 zur „Vereinbarung Abhängigkeitserkrankungen“ von GKV und DRV wurde z. B. formuliert, dass während der Rehabilitation eine Abdosierung zu erfolgen hat.

    bus.-Umfrage: „Substitution in der Rehabilitation abhängigkeitskranker Menschen“

    Vor dem Hintergrund der Entwicklung der S3-Leitlinie zur Behandlung Opiatabhängiger, der oben beispielhaft skizierten Problemlagen und der Zunahme der Anfragen bezüglich einer medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker unter Substitutionsbehandlung sowie mit dem Wissen um die dynamische Entwicklung im Bereich dieses Behandlungsangebotes führte der bus. im September 2021 eine Online-Abfrage unter seinen Mitgliedseinrichtungen durch. Gefragt wurde, welche ambulanten, ganztägig ambulanten und stationären Einrichtungen der Suchthilfe Substitution während der Rehabilitation anbieten und unter welchen Bedingungen dies geschieht (z. B. mit oder ohne Zwang zur Abdosierung, mit welchem Substitutionsmedikament etc.).

    Umfang des Angebots

    Es haben 66 Einrichtungen unterschiedlicher Einrichtungstypen an der Umfrage teilgenommen: Fachkliniken für Alkohol und Medikamente, Drogenfachkliniken, Adaptionen, Tageskliniken und Beratungsstellen. Von insgesamt 3.454 angegebenen Behandlungsplätzen entfallen 301 Plätze auf Substitution. Die Verteilung der Behandlungsplätze ist in den Bundesländern sehr unterschiedlich. Jedem Behandlungsplatz für Substitution stehen auf Bundesebene rund 11 Behandlungsplätze für die reguläre Behandlung von Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung gegenüber. Die größte Dichte an Behandlungsplätzen für Substitution hat Berlin mit 1:2, gefolgt von Rheinland-Pfalz mit 1:3 Behandlungsplätzen. Schleswig-Holstein bietet 1:6 Behandlungsplätze. Die wenigsten Behandlungsplätze für Substitution (relativ zur Gesamtzahl an Behandlungsplätzen) weisen Baden-Württemberg (1:23) und Nordrhein-Westfalen (1:20) auf.

    Überraschend war die hohe Zahl der teilnehmenden Einrichtungen. Diese hohe Zahl lässt die Interpretation zu, dass das Thema „Substitution und Rehabilitation“ eine hohe Aufmerksamkeit erzeugt und viele Einrichtungen sich diesem Behandlungsangebot zugewandt haben.

    Abdosieren oder Weiterführen der Substitution

    Interessant ist, dass 45,5 Prozent der an der Umfrage beteiligten Einrichtungen medizinische Rehabilitation und Substitution anbieten. 26 dieser 30 Einrichtungen führen keine Abdosierung während der Rehabilitation durch (86,7 Prozent). Lediglich drei Einrichtungen dosieren grundsätzlich während der stationären Behandlung ab.

    Diese Ergebnisse können als überraschend positiv bewertet werden, da es deutlich mehr Behandlungsmöglichkeiten für Substituierte gibt als erwartet. Kritisch anzumerken ist die ungleiche Verteilung der Behandlungsangebote auf die zuständigen DRVen und Bundesländer. Hier zeigt sich ein deutliches Missverhältnis.

    Substitutionsmedikamente

    Ein heterogenes Bild zeigt sich bei den eingesetzten Substitutionsmedikamenten. Dies mag zum einen an den persönlichen Erfahrungen in der Substitutionsbehandlung der zuständigen leitenden Ärzt:innen liegen. Zum anderen zeichnet sich auch eine Individualisierung der medikamentösen Behandlung ab. Dies steht mit Sicherheit auch damit im Zusammenhang, dass in den letzten Jahren weitere Medikamente für die Substitutionsbehandlung zugelassen wurden.

    Ausblick

    Zusammenfassend kann man feststellen, dass die medizinische Rehabilitation die Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger als eine wichtige und normale suchtmedizinische Behandlungsmethode wahrnimmt. Es sind in den letzten Jahren mehr Behandlungsangebote entstanden und individualisiert worden.  Diese positive Entwicklung gilt es zu verstetigen. Insbesondere sollte diese Entwicklung bei den Zuweisenden und den substituierenden Ärzt:innen bekannt gemacht werden.

    Kontakt:

    Thomas Hempel
    Therapiehilfe gGmbH
    Geschäftsstelle Hamburg
    Thomas-Hempel(at)therapiehilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Thomas Hempel gehört zur Geschäftsführung der Therapiehilfe gGmbH und ist Ärztlicher Gesamtleiter des Therapiehilfeverbundes. Er ist Mitglied im Vorstand des Bundesverbandes Suchthilfe e. V.

  • Psychotherapie der Zukunft: Studium und Weiterbildung

    Psychotherapie der Zukunft: Studium und Weiterbildung

    Thomas Hempel
    Dr. Clemens Veltrup

    Seit 1999 gibt es in der Bundesrepublik das „Psychotherapeutengesetz (PsychThG)“, welches u. a. die Voraussetzungen für die Approbation als „Psychologische Psychotherapeutin“ bzw. „Psychologischer Psychotherapeut“ regelt. Bisher galt, dass in einer mindestens dreijährigen Ausbildung an einem staatlich anerkannten Institut die Qualifikation zur Ausübung eines Heilberufes mittels eines erlernten wissenschaftlich anerkannten psychotherapeutischen Verfahrens (Verhaltenstherapie, Systemische Psychotherapie, Tiefenpsychologische Psychotherapie, Psychoanalyse) erworben werden konnte. Unter anderem wurde ein praktischer Einsatz in der Psychiatrie oder Psychosomatik im Umfang von insgesamt 1.800 Stunden gefordert, der in der Vergangenheit zumeist nur sehr gering vergütet worden ist. Erst seit 2020 besteht die Verpflichtung der Ausbildungsstätten, 1.000 Euro bei einer Vollzeittätigkeit zu vergüten. Diese Ausbildungsform wird es parallel zur neuen Weiterbildung bis 2032 geben.

    Die neue Weiterbildung der Psychotherapeut:innen

    Am 1. September 2020 ist ein neues Psychotherapeutengesetz in Kraft getreten, welches zu einer grundsätzlich neuen Form der Approbation zur Psychotherapeutin bzw. zum Psychotherapeuten führt und eine Weiterbildung zu Fachpsychotherapeut:innen beinhaltet. Es wird damit eine strukturelle Angleichung an die Weiterbildung der Ärzt:innen realisiert werden.

    Voraussetzung für die Ausbildung zur / zum Fachpsychotherapeut:in ist ein Hochschulabschluss (Master) für alle zukünftigen Psychotherapeut:innen. Das Studium („Klinische Psychologie und Psychotherapie“) ist praxisorientiert, speziell an der psychotherapeutischen Arbeit ausgerichtet und befähigt zur Berufstätigkeit. Die Dauer der Weiterbildung beträgt bei einer Vollzeittätigkeit mindestens fünf Jahre.

    Um für die Weiterbildung zugelassen zu werden, ist das Bestehen der staatlichen Approbationsprüfung notwendig, welche sich nach dem erfolgreichen Masterabschluss anschließt. Die Weiterbildung wird an verschiedenen Weiterbildungsstätten, die aus dem stationären, ambulanten oder institutionellen Bereich psychotherapeutischer Versorgung kommen, durchgeführt.

    Zur ambulanten Versorgung gehören insbesondere Weiterbildungs- und Hochschulambulanzen sowie Praxen. Die stationäre Versorgung umfasst insbesondere (teil-)stationäre Einrichtungen der Psychiatrie, Psychosomatik und Neurologie sowie in vollem Umfang auch stationäre Einrichtungen der medizinischen Suchtrehabilitation. Zum institutionellen Bereich gehören insbesondere Einrichtungen der Jugendhilfe, der somatischen Rehabilitation, des Justiz- und Maßregelvollzugs, der Behindertenhilfe, der Sozialpsychiatrie, der Sozialpädiatrie, der Gemeindepsychiatrie, des öffentlichen Gesundheitsdienstes, der psychosozialen Fachberatungsstellen und -dienste sowie der Suchthilfe.

    Die Weiterbildung findet in hauptberuflicher Beschäftigung statt, somit gehören Theorievermittlung, Supervision und Selbsterfahrung zu dieser hauptberuflichen Tätigkeit und finden während der Arbeitszeit statt. Sie sind deshalb auch vom Arbeit- oder Dienstgeber zu bezahlen.

    In der Weiterbildungsordnung wird zwischen Gebiets- und Bereichsweiterbildung unterschieden.

    • Die Gebietsweiterbildung unterscheidet die Qualifikation zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen einerseits und für die Behandlung von Erwachsenen andererseits. Hinzugekommen ist das Gebiet „Neuropsychologische Psychotherapie“ für alle Altersgruppen.
    • Die Bereichsweiterbildung setzt auf der Gebietsweiterbildung auf und dient der Spezialisierung, bei der eingehende und besondere Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten in einem bestimmten Weiterbildungsbereich gesammelt werden (z. B. „Sozialmedizin“). Weiterbildungsabsolvent:innen erhalten einen so genannten ankündigungsfähigen Titel, auch als Zusatzbezeichnung bekannt, d. h., diese Qualifikation darf z. B. im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit genutzt werden.

    Download der Muster-Weiterbildungsordnung für Psychotherapeut:innen

    Perspektiven für die Suchthilfe

    Im Zusammenhang mit der neuen Weiterbildung ist die Frage der Finanzierung noch weitgehend ungeklärt. Es ist auch spannend, wie sich die Leistungsträger (also die Krankenkassen und Rentenversicherungsträger) zu dieser neuen Form der Weiterbildung stellen werden. Im Rahmen der neuen Personalrichtlinie für die Bereiche der psychiatrischen und psychosomatischen Akutbehandlung im Sinne des SGB V ist die Gruppe der Fachpsychotherapeut:innen schon aufgenommen worden. Im Rahmen der medizinischen Rehabilitation gibt es in den Stellenplänen diese Berufsgruppe noch nicht.

    Auf jeden Fall wird sich die psychotherapeutische Versorgung in der Zukunft deutlich ändern. Aus heutiger Sicht könnte das ein Gewinn für die Suchthilfe werden. Dieser besteht v. a. darin, dass, wie bereits beschrieben, die gesamte stationäre (zweijährige) Weiterbildungsphase in der medizinischen Suchtrehabilitation absolviert werden kann und nicht, wie bislang im Rahmen der Ausbildung als psychologische:r Psychotherapeut:in, nur 600 von insgesamt 2.400 Stunden. Auch können die Weiterbildungskandidat:innen mindestens ein Jahr einer Tätigkeit im Rahmen der Suchthilfe (von der Primär- bis zur Tertiärprävention) anerkannt bekommen. So könnte sich bei entsprechender Zustimmung der regionalen Rentenversicherungsträger die psychotherapeutische Arbeit in der ambulanten und stationären medizinischen Rehabilitation deutlich verbessern. Des Weiteren wird zukünftig durch die Bereichsweiterbildung „Sozialmedizin“ die Bedeutung der Fachpsychotherapeut:innen in der medizinischen Rehabilitation gestärkt. Dieses Curriculum ist quasi identisch mit der jetzigen Weiterbildung, die allerdings nur Ärzt:innen zum Tragen dieser Zusatzbezeichnung berechtigt. Mit der neuropsychologischen Psychotherapie kann zukünftig auch Menschen mit Störungen durch psychotrope Substanzen, bei denen kognitive Beeinträchtigungen entstanden sind, wirkungsvoll geholfen werden.

    Handlungsempfehlungen für die Fachkliniken

    Welche Handlungsempfehlungen lassen sich aus den beschriebenen Neuerungen insbesondere für die Fachkliniken der medizinischen Suchtrehabilitation ableiten?

    1. Die Anerkennung der Fachklinik als Weiterbildungsstätte sollte bei der zuständigen Psychotherapeutenkammer nach Verabschiedung der Weiterbildungsordnungen (vermutlich bis Ende 2022) beantragt werden.
    2. Geeignete psychologische Psychotherapeut:innen sollten ihre Ermächtigung zur Weiterbildung bei der zuständigen Psychotherapeutenkammer beantragen.
    3. Auf der Grundlage der Weiterbildungsordnung sollte ein Weiterbildungscurriculum unter Umständen auch in Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen der Suchtrehabilitation erarbeitet werden.
    4. Es sollten Kooperationsverträge mit den infrage kommenden psychologischen Fachbereichen der Universitäten für Bachelor- und Masterstudierende abgeschlossen werden.
    5. Es sollten Weiterbildungsverträge vorbereitet werden.
    Kontakt:

    Dr. Clemens Veltrup
    veltrup@fachklinik-freudenholm-ruhleben.de

    Angaben zu den Autoren:

    Dr. Clemens Veltrup, Dipl.-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut, ist Leitender Therapeut der Fachklinik Freudenholm-Ruhleben, Schellhorn, und Geschäftsbereichsleiter „Suchthilfe“ im Landesverein für Innere Mission in Schleswig-Holstein. Er ist Präsident der Psychotherapeutenkammer Schleswig-Holstein und Vorstandsmitglied des Bundesverbandes Suchthilfe e. V..
    Thomas Hempel, Facharzt für Psychiatrie, Zusatzbezeichnungen Psychotherapie und Sozialmedizin, ist Geschäftsführer und gesamtärztlicher Leiter der Therapiehilfe gGmbH. Er ist Vorstandsmitglied des Bundesverbandes Suchthilfe e. V.

  • Beratung junger Menschen – ein Arbeitsfeld im Wandel

    Beratung junger Menschen – ein Arbeitsfeld im Wandel

    Beratungsangebote im Kreis Segeberg

    Marius Neuhaus

    Der schleswig-holsteinische Kreis Segeberg ist ein mittelschichtsgeprägter Landkreis im Norden der Metropolregion Hamburg mit einer Einwohnerzahl von rund 278.000. Die örtlichen Beratungsangebote der freien Träger werden durch den Landkreis finanziert und beziehen sich auf verschiedene sozialrechtliche Grundlagen oder werden als freiwillige Leistungen bereitgestellt. Die Therapiehilfe gGmbH ist ein Träger der ambulanten und stationären Suchthilfe im norddeutschen Raum. Ihr Angebotsspektrum umfasst: Beratung, ambulante, ganztägig ambulante und stationäre Therapie, Entgiftung, Rehabilitation, Nachsorge sowie Wiedereingliederung in Schule und Beruf. Außerdem ermöglicht die Therapiehilfe Arbeit und Beschäftigung in trägereigenen Einrichtungen. Im Kreis Segeberg betreibt sie Suchtberatungsstellen und Erziehungs- und Familienberatungsstellen. Zu den weiteren Aufgaben gehört der Betrieb und die Koordination von örtlichen Beratungszentren, in denen verschiedene regional tätige Träger der sozialen Arbeit ihre Angebote unter einem Dach gebündelt vorhalten. Die koordinierende Tätigkeit in den Beratungszentren umfasst u. a. die Durchführung von trägerübergreifenden Projekten, wie der hier beschriebenen Befragung.

    Das Befragungsprojekt

    Im Zeitraum vom 10.05. bis 30.08.2021 wurde eine Online-Befragung junger Menschen durchgeführt. Sie erfolgte unter dem Titel „Sag uns, wie wir dich unterstützen können“. Die befragenden Träger waren die freien Träger der örtlichen Beratungsstellen, die Angebote für junge Menschen vorhalten. Die Befragung erfolgte unter Federführung der Therapiehilfe gGmbH mittels eines Online-Fragebogens und richtete sich an junge Menschen bis 27 Jahre.

    Die Befragung folgte keinem wissenschaftlichen Anspruch, sondern sie diente als Kommunikationsinstrument, um junge Menschen in der Zeit der Pandemie anzusprechen und in einen Prozess der Angebotsentwicklung als Expert:innen in eigener Sache einzubeziehen. Die dreiunddreißig Einzelfragen folgen vier Leitfragen bzw. Auswertungskategorien:

    1. Wer sind die teilnehmenden Personen?
    2. Was beschäftigt die jungen Menschen / sind ihre Themen?
    3. Welche Form der Beratung wünschen sich junge Menschen von den Beratungsstellen?
    4. Wie zufrieden sind die jungen Menschen mit bereits erhaltener Beratung?

    Kategorie 1: Wer sind die teilnehmenden Personen?

    Es haben 380 junge Menschen an der Befragung teilgenommen. 336 vollständige Fragebögen konnten ausgewertet werden. Das Durchschnittsalter der Teilnehmenden lag bei 15,4 Jahren. 82 Prozent waren unter 18 Jahren. Im Alter von 13 bis 17 Jahren waren 69 Prozent. Der Anteil der weiblichen Befragten lag bei 59 Prozent. Männlichen Geschlechts zu sein, gaben 39 Prozent an. Als divers kategorisierten sich 0,6 Prozent, sich der Zuordnung noch nicht sicher waren 1,5 Prozent der jungen Menschen.

    Neun Prozent der jungen Menschen sahen bei sich einen Migrationshintergrund, 13 Prozent machten zu dieser Frage keine Angabe. 78 Prozent der Teilnehmenden verneinten einen Bezug zu Migration. Eigene Kinder hatten 1,2 Prozent der Befragten. Von der Befragung erfahren hatten 15 Prozent durch die eigene Teilnahme an einer Beratung. Die anderen Teilnehmer:innen wurden über Kooperationspartner:innen in Prävention, Schulsozialarbeit, Schule und offener Jugendarbeit gewonnen.

    Bei der Ansprache der teilnehmenden Personen wurden bewusst offene Antworten ermöglicht. Dies bedeutete, dass sich die jungen Menschen im Bereich Migration und sexueller Identität nicht eindeutig zuordnen mussten. Damit konnte sichtbar werden, dass es junge Menschen möglicherweise vorziehen, sich jenseits einer ethnischen Bipolarität oder einer definierten sexuellen Kategorie zu identifizieren.

    Kategorie 2: Was beschäftigt die jungen Menschen / sind ihre Themen?

    In dieser Auswertungskategorie wurden Fragen gestellt, die die allgemeine Lebenszufriedenheit, die relevanten Lebensthemen, das Nutzungsverhalten von Medien sowie die Bereitschaft zur Annahme einer Beratung umfassen. Die Antworten wurden als Zustimmung auf einer Skala von 1 bis 6 angegeben.

    a) In Bezug auf die allgemeine Lebenszufriedenheit gaben die jungen Menschen folgende Zustimmungswerte: Zufriedenheit mit dem eigenen Leben 4,0; Optimismus bzgl. Zukunft 4,0. Verstanden werden durch Erwachsene 3,7; Zufriedenheit mit Spiel- und Freizeitmöglichkeiten 3,3.

    b) Wichtige Lebensthemen sind absteigend nach der Problemhäufigkeit: Leistungs- / Notendruck, Prüfungsangst 3,5; Unzufriedenheit mit eigenem Körper 3,3; Corona 3,3; Stress mit Eltern und Geschwistern 3,2; Tod oder Verlust eines Menschen 3,2 und innere Leere, Gefühl von Sinnlosigkeit 3,0. Weitere Themen sind (mit absteigender Problemhäufigkeit): Essverhalten; Ängste und zwanghafte Gedanken; Perspektivlosigkeit / Zukunftsangst; Einsamkeit / fehlende Kontakte sowie Medienkonsum, der nicht mehr gesteuert werden kann.

    c) Regelmäßig genutzte Medien waren: WhatsApp (94 Prozent); YouTube (78 Prozent); Instagram (71 Prozent); TikTok (64 Prozent) und E-Mail (39 Prozent).

    d) Eine Bereitschaft zur Annahme einer Beratung äußerten 66 Prozent der Befragten.

    Zu a) Die genannten Werte lassen erkennen, dass die befragten jungen Menschen grundsätzlich über gute Ressourcen des Aufwachsens verfügen, insofern sie überwiegend zufrieden mit ihrem Leben sind und optimistisch in die Zukunft blicken. Während das Verstandenwerden durch die Erwachsenen eine mittlere Zustimmung erfährt, stellen die vorhandenen Freizeitmöglichkeiten jedoch kein ausreichend anregendes Angebot für die jungen Menschen dar.

    Zu b) Bei den Lebensthemen scheinen die für den Entwicklungsabschnitt typischen Themen im Vordergrund zu stehen. Ein Höchstwert im Bereich „Leistungs- / Notendruck, Prüfungsangst“ lässt jedoch erkennen, dass Schule eine Ursache chronischen Stresses zu sein scheint. Dies gilt es zu hinterfragen, denn Schule hat einen pädagogischen Auftrag, und es ist nicht hinzunehmen, dass Kinder und Jugendliche dort Angst und Stress erleben.

    Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper ist für junge Menschen, die ihre gesellschaftlichen Orientierungspunkte ganz überwiegend in sozialen Netzwerken finden, nicht mehr nur eine altersspezifische Aufgabe innerhalb ihrer Peergroup, sondern oftmals eine medial vermittelte Überforderung, die den eigenen Körper eher zu einem Anlass des Selbstzweifels als der Selbstvergewisserung werden lässt.

    Auch wenn die Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern sicherlich ein zeitloses Thema darstellt, lohnt es sich, diesem Punkt Aufmerksamkeit zu schenken. So vollzieht sich die Ausdifferenzierung der individuellen und altersspezifischen Lebenswelten der Jugendlichen heute vor dem Hintergrund, dass Familien finanziell und zeitökonomisch immer mehr unter Druck geraten. Die häufige Nennung von „Stress mit Eltern und Geschwistern“ zeigt, dass die Bedeutung von Familie als Rückzugsort und Ort der Selbstwertstärkung in einer immer komplexeren Welt ausgesprochen hoch ist, und es wird die Notwendigkeit deutlich, dass dieser Ort seine basale Funktion der Förderung junger Menschen zu mental gesunden und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten auch unter steigenden gesellschaftlichen Anforderungen erfüllt. Wenig überraschend zeigt sich auch unter dem Stichwort Corona eine hohe Problemhäufigkeit, wobei diese beiden Lebensthemen keine signifikanten Korrelationen zeigen und damit offenbar von den jungen Menschen bisher nicht als ein lebensbestimmendes Problem erlebt werden.

    Eine Herausforderung, wenn nicht Überforderung, stellt der Tod oder Verlust eines Menschen dar (Standardabweichung 1,89; 19 Prozent der Antworten bei Effektstärke 6).  Er löst eine existentielle Verunsicherung aus und stellt die psychosoziale Einbettung in halt- und sinngebende Beziehungen und Wertbezüge auf den Prüfstand. Hier scheint die Erwachsenenwelt keine ausreichend tragende Unterstützung anbieten zu können. Alarmierend ist, dass sich anschließend an die erwähnten Themenbereiche Schule, Körper, Familie und Tod ein Gefühl von Sinnlosigkeit und innerer Leere bei jungen Menschen zeigt (Standardabweichung 1,88), was zumindest eine Teilgruppe als psychisch gefährdet erkennen lässt (16 Prozent der Antworten bei Effektstärke 6). In diesem Sinne können auch die im Weiteren hervortretenden Themen wie eine Reihung emotionaler Nöte und entsprechender Kompensationsstrategien gelesen werden (Essverhalten, Ängste, zwanghafte Gedanken, Perspektivlosigkeit, Einsamkeit, unkontrollierter Medienkonsum).

    Zu c) Überaus deutlich wird, dass Medien im Leben junger Menschen eine große Rolle spielen und sich die sozialen Medien als kommunikations- und vorstellungsprägend in ihrem Leben verankert haben.

    Zu d) Als Bewohner:innen „zweier Welten“, der medialen wie der analogen, zeigen die befragten jungen Menschen jedoch eine hohe Bereitschaft zur Inanspruchnahme von (analoger) Beratung in einer Beratungsstelle.

    Kategorie 3: Welche Form der Beratung wünschen sich junge Menschen von den Beratungsstellen?

    Für die befragten jungen Menschen ist es wichtig, dass Beratung anonym (4,7), ohne Eltern (4,6) und im Einzelkontakt (4,4) stattfindet. Dabei besteht einerseits der Wunsch, dass die Hilfe in der Beratungsstelle stattfindet (4,2), und andererseits, dass sie über Smartphone/PC (4,1) angeboten wird. Jungen Menschen ist es wichtig, dass der/die Berater:in jederzeit kontaktiert werden kann (4,8) bzw. schnell (innerhalb 24h) eine Beratung anbieten kann (4,4). Eine Hilfe in Gruppenform findet den niedrigsten Zustimmungswert (2,9).

    Als bevorzugte Medien werden der Messanger WhatsApp (62 Prozent), das Telefon/Mobiltelefon (55 Prozent) und die Beratung per E-Mail (40 Prozent) genannt. Die Beratungsform soll für 39 Prozent der Befragten eine persönliche Beratung sein. Zwölf Prozent wünschen eine digitale Beratung, und eine Kombination aus beiden bevorzugen 49 Prozent der Befragten.

    Die hohe Bereitschaft zur Inanspruchnahme von Beratung verbindet sich mit klaren Vorstellungen, welche Form diese haben soll. Dabei wird zum einen der Wunsch nach individueller und flexibel verfügbarer Zuwendung durch eine:n kompetente:n Erwachsene:n  sichtbar, und zum anderen wird deutlich, dass das matching davon abhängt, wie gut die Hilfeform zu den Lebensgewohnheiten des jungen Menschen passt (form follows need). Hilfe wird so gewünscht, dass sie einen geschützten Rahmen bietet, in dem der junge Mensch individuell für sich, seinem Bedürfnis und Impuls folgend, Unterstützung findet. Der persönliche Kontakt mit dem/der Berater:in wird durch die Nutzung von Messanger und Mobiltelefonie ergänzt. So entsteht eine Form der beratenden Begleitung und der (elterlich) beschützenden Assistenz zur Bewältigung des Lebens angesichts einer medialen Fragmentierung der Identitäten.

    Kategorie 4: Wie zufrieden sind die jungen Menschen mit bereits erhaltener Beratung?

    Von den 336 jungen Menschen hatten 76 (23 Prozent) bereits an einer Beratung bei einem der drei an der Befragung beteiligten Träger teilgenommen. 67 Prozent dieser Beratungen waren bereits abgeschlossen. Die aufgesuchten Beratungsstellen waren Erziehungs- und Familienberatungsstellen, eine Fachberatungsstelle gegen sexuelle Gewalt sowie Suchtberatungsstellen. 42 Prozent der jungen Menschen wussten nicht mehr, in welcher Beratungsstelle sie gewesen waren. Einzelberatung haben 78 Prozent der Befragten wahrgenommen, mit der Familie kamen 37 Prozent der Ratsuchenden, mit Freunden 13 Prozent. Die Beratung fand zu 84 Prozent in Präsenz statt, zu sieben Prozent digital und zu neun Prozent in gemischter Form als blended counseling.

    Die Öffentlichkeitsarbeit der Beratungsstellen in Form von Flyern, einem Internetauftritt und Infomails fand bei den jungen Menschen keine Resonanz. 80 Prozent der jungen Menschen haben sie nicht wahrgenommen. 20 Prozent haben sich auf diese Weise nicht angesprochen gefühlt.

    Die jungen Menschen haben sich in der Beratung atmosphärisch wohl (4,1), als junge Menschen angenommen (4,7) und gut beraten gefühlt (4,4). Die jungen Ratsuchenden gaben mit einem Zustimmungswert von 4,1 an, dass ihnen die Beratung weitergeholfen hat. Die Frage, ob auch neue Sichtweisen für andere Themen gewonnen wurden, fand einen Zustimmungswert von 3,8. Die jungen Menschen wollen zu 79 Prozent wieder in die Beratung kommen und zu ebenfalls 79 Prozent die jeweilige Beratungsstelle weiterempfehlen.

    Junge Menschen machen in Beratungsstellen gute Erfahrungen. Zwar fühlen sie sich durch jugendunspezifische analoge Kommunikationsformen nicht angesprochen, treffen dort aber vermittelt über Dritte auf kompetente Berater:innen, die ausreichend sensibilisiert sind, damit sich junge Menschen angenommen fühlen. Die hohe fachliche Qualifikation der Mitarbeitenden, getragen vom persönlichen Kontakt, konstituiert ein Setting, das sich als geeignet erweist, junge Menschen in ihrer Lebenskompetenz zu stärken. Auf Grund der positiven Erfahrungen mit Beratung wird sie im Folgenden zu einer persönlichen Ressource des jungen Menschen, die bereits durch die Möglichkeit einer Wiederinanspruchnahme stärkend wirkt.

    Anforderungen an Prävention und Beratung

    Junge Menschen sind stärker als jede andere gesellschaftliche Gruppe der durch Digitalisierung, Medialisierung und Globalisierung bewirkten Transformation der Lebens- und Arbeitsweisen ausgesetzt. Dabei entwickeln sie Fähigkeiten und Lebensformen, die die Erwachsenenwelt in Gestalt von Eltern,  Lehrer:innen und pädagogischen Mitarbeiter:innen kaum nachzuvollziehen in der Lage ist. Die belastenden Aspekte dieser Entwicklung werden durch die im Rahmen der Corona-Krise ergriffenen Maßnahmen noch verschärft, bis hin zu gesundheitsgefährdenden Auswirkungen. Die Herausforderung, die Lebensrealität junger Menschen in ihrer Vielfältigkeit nachzuvollziehen und adäquat zu beantworten, wird damit größer und wichtiger.

    Um die Erwartungen junger Menschen an die Angebotsformen der Träger erfüllen zu können, sind die sozialen Hilfssysteme gefordert, ihre Systemlogik den Bedarfen ihrer (jungen) Nutzer:innen anzupassen. Dafür ist es erforderlich, in eine wechselseitige Kommunikation mit jungen Menschen zu treten und bereit zu sein, von ihnen zu lernen. Diese Nutzer:innenorientierung wird nicht nur zu einer veränderten Form der Öffentlichkeitsarbeit führen, sondern auch ganz neue Angebotsformen hervorbringen.

    Alarmierend ist die Problemhäufigkeit bei „Leistungs- / Notendruck, Prüfungsangst“ (35 Prozent bei Effektstärke 5 und 6). Die starke Leistungsorientierung und den damit einhergehenden Noten- und Normierungsdruck in der Schule erleben viele junge Menschen als Entwertung der eigenen Person. Die Digitalisierung an den Schulen treibt diese Entwicklung voran, ohne dass ausgleichende oder präventive Maßnahmen entwickelt würden. Positiv erlebte und somit gesundheitsfördernde Orte hingegen sind Orte, die sich an den Bedürfnissen junger Menschen ausrichten und eigenverantwortete Selbstbildungsprozesse ermöglichen.  Es ist eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft, solche Orte zu schaffen. Sie wirken in höchstem Maße als Prävention von Sinnlosigkeitserleben und innerer Leere und machen kompensierende Strategien, wie sie jegliche Form von Suchtverhalten und psychischen Ersatzhandlungen darstellt, überflüssig. Ein solcher Selbstbildungsprozess stellt auch die Inanspruchnahme von Beratung dar, die exemplarisch Sinnhaftigkeit und Selbstwerterhöhung ermöglicht.

    Die betreffenden Beratungseinrichtungen sind herausgefordert, ihre Berührungsängste mit sozialen Medien und jugendspezifischen Inhalten zu überwinden. Dabei liegt in rechtlichen Hürden wie Vorgaben zum Datenschutz die Gefahr, den Anschluss zur Welt junger Menschen zu verlieren. Der mit der Digitalisierung der Angebote verbundene technische Aufwand stellt eine weitere Hürde dar, an der die Lebensweltorientierung in der Praxis der sozialen Arbeit zu scheitern droht. Träger und Mitarbeitende stehen vor der Aufgabe, ihre Arbeits- und Organisationsformen anzupassen und zu flexibilisieren und sich neue Fähigkeiten und Kulturtechniken anzueignen. Es sind Kostenträger gefragt, die die Scheuklappen in Form von starren Verwaltungsabläufen und innovationsfeindlichen Ökonomisierungszwängen ablegen. All diese Faktoren entscheiden an vielen kleinen Stellen, ob es letztlich gelingen kann, Angebotsformen zu entwickeln, die junge Menschen tatsächlich erreichen. Hierbei ist der altbekannte Ruf nach einem Paradigmenwechsel im Sinne eines form follows user aktueller denn je.

    Auch wenn es sich bei der vorliegenden Befragung in einem norddeutschen Landkreis weder um einen repräsentativen Bevölkerungsausschnitt handelt, noch die Befragung wissenschaftlichen Standards entspricht, kann sie doch als Impuls aufgefasst werden, der eine Entwicklungsrichtung aufzeigt, die sich auch in anderen zahlreichen Studien der jüngeren Zeit abzeichnet (z. B. Copsy-Studie, Shell-Studien, Kinder- und Jugendberichte der Bundesregierung, Veröffentlichungen des Deutschen Jugendinstituts DJI, der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe AGJ und des Evangelischen Zentralinstituts für Familienberatung EZI). Die Besprechung der Ergebnisse erfolgt aus der Perspektive der Beratungsstellen. Für uns wird deutlich, dass eine Gruppe der jungen Menschen als gefährdet anzusehen ist. Es ist dringend notwendig, sie in ihrer Lebenslage besser wahrzunehmen und über die Angebote der Beratungsstellen wirksamer zu erreichen. Dieser Auftrag erscheint vor dem Hintergrund der aktuellen Belastung junger Menschen durch die Corona-Krise umso verbindlicher. Hierfür ist die beschriebene organisatorische und konzeptionelle Hinwendung zu den jungen Menschen unverzichtbar. Es sei jedem/jeder Leser:in selbst überlassen, den Aussagewert des Vorgestellten zu beurteilen, ein Anstoß zur Diskussion über notwendige Innovationsprozesse innerhalb der Einrichtungen der sozialen Arbeit sei hiermit zumindest gegeben.

    Kontakt:

    Marius Neuhaus
    marius-neuhaus@therapiehilfe.de

    Angaben zum Autor:

    Marius Neuhaus, Dipl.-Sozialpädagoge und Systemischer Therapeut (SG), ist tätig als Einrichtungsleitung der Beratungsstellen der Therapiehilfe gGmbH im Kreis Segeberg.