Kategorie: Fachbeiträge

  • Aufbruchstimmung in Krisenzeiten – die Bedeutung der Suchthilfe wächst

    Aufbruchstimmung in Krisenzeiten – die Bedeutung der Suchthilfe wächst

    Wolfgang Rosengarten

    Der neue Beauftragte der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen, Burkhard Blienert, schreibt auf seiner Homepage: „Die Drogen- und Suchtpolitik muss in vielen Bereichen neu gedacht und neu gestaltet werden. Was wir brauchen, ist ein Aufbrechen alter Denkmuster. Es muss gelten: ‚Hilfe und Schutz statt Strafe.‘ Nicht nur beim Thema Cannabis, sondern in der Drogenpolitik insgesamt, national wie auch international. Die Welt steht gesundheitspolitisch vor nie dagewesenen Herausforderungen und auch die Sucht- und Drogenpolitik muss mit großem Engagement und ohne Vorurteile angegangen werden.“

    Wie wohltuend müssen diese Worte in den Ohren all jener klingen, die in der bundesdeutschen Suchtpolitik der letzten Jahrzehnte eher eine Stagnation erlebt haben, die sich wie Mehltau über dieses wichtige gesundheitspolitische Arbeitsfeld gelegt hat. In der Politik und in der Öffentlichkeit hat die Suchtthematik dadurch einen Bedeutungsverlust in großem Ausmaß erfahren.

    Und jetzt diese Aufbruchstimmung, gekoppelt mit zwei Vorhaben der Bundesregierung, die in den letzten Jahrzehnten immer wieder an politischen Widerständen gescheitert sind: der kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken und der modellhaften Erprobungen von Drug-Checking.

    Natürlich wird es bei der Umsetzung der Vorhaben Widerstand geben, sowohl in der Fachöffentlichkeit als auch in der Politik. Und natürlich gibt es eine große Anzahl von Fallstricken, lauert auch hier der Teufel im Detail. Bei einem gesundheits- und gesellschaftspolitischen Kurswechsel in einer seit mehreren Jahrzehnten hoch emotionalisierten und z. T. ideologisierten Debatte ein neues Regelwerk zu erstellen, das hochkomplexe Fragestellungen berücksichtigen muss, bedeutet eine enorme Herausforderung. Aber es bedeutet auch ein Ende der Stagnation, es wird wieder debattiert und gestritten werden. Er wird darum gerungen werden, die bestmögliche Lösung zu finden (die dann immer noch nicht die beste sein wird). Es kommen wieder Prozesse in Gang. Es wird wieder lebendig werden.

    Eine gesetzliche Regulierung bei der Cannabisthematik muss darauf aufbauen, dass der Konsum von Cannabis Gesundheitsrisiken birgt und ein problematischer bzw. risikoreicher Konsum sowie der situationsunangepasste Konsum (z. B. Konsum am Arbeitsplatz, in der Schwangerschaft oder im Straßenverkehr) mit negativen Folgen für die Person selbst oder Dritte assoziiert sein kann. Die neue gesetzliche Regulierung muss das Ziel haben, die aktuelle Situation zu verbessern und Gefährdungspotentiale so weit wie möglich zu minimieren, besonders was Jugendliche betrifft.

    Multidisziplinäre Kompetenz

    In der medialen Öffentlichkeit wird die Stimme der Suchthilfe in der aktuellen drogenpolitischen Debatte noch nicht in dem Maße wahrgenommen, wie es für sie angezeigt wäre. Die Organisationen der Verbände und Einrichtungen haben schließlich die Expertise und langjährige Erfahrungen im Umgang mit den anstehenden Themen und vor allem den Menschen, um die es geht.

    Die organisierte Suchthilfe hat ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber allen Berufsgruppen, die sich zu Wort melden werden, seien es Ärzt:innen, Jurist:innen oder Ökonom:innen: Niemand hat Drogen- und Suchtfragen umfassender im Blick als die Suchthilfe. Hier arbeiten multidisziplinäre Teams in der ambulanten und stationären Versorgung, in der Prävention und in der Selbsthilfe. Die Suchthilfe ist weit mehr als eine berufsständische Fachgesellschaft, die die Sichtweise und Interessen einer Berufsgruppe vertritt.

    Das gesundheitliche Gefährdungspotential von Cannabis bei vulnerablen Gruppen ist unbestritten. Aber Suchtberatungsstellen sind auch mit Menschen konfrontiert, die aufgrund juristischer Auflagen zugewiesen werden, obwohl sie einen risikoarmen, nicht abhängigen und größtenteils unschädlichen Konsum betreiben. Diese Menschen werden allein wegen der aktuellen Rechtslage kriminalisiert, mit dem Resultat möglicher sozialer und psychischer Folgeschäden (gerade bei jugendlichen Konsument:innen).

    Expertin für Prävention

    Vor allem, um die im Zuge der kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken geäußerte unabdingbare Forderung nach begleitenden umfassenden Präventionsmaßnahmen zu erfüllen, sind die Erfahrungen und Kompetenzen der Suchthilfe unverzichtbar.

    Es ist erfreulich, dass in der aktuellen Diskussion um die gesetzlichen Veränderungen das Thema Prävention eine herausragende Rolle spielt. Im Bereich der Prävention muss mit umfassender Information und Aufklärung über die gesundheitlichen Gefahren des Cannabiskonsums einem möglichen Eindruck entgegengewirkt werden, der Konsum werde legalisiert, weil Cannabis ungefährlich sei. Aufgrund der geänderten Gesetzeslage kann ferner auch das Thema risikoreduzierende Verhaltensweisen und Konsumformen in den Angeboten einen größeren Raum einnehmen.

    Auch wenn der gesetzgeberische Prozess noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird, kann Prävention nicht erst beginnen, wenn das Gesetz verabschiedet ist. Allerdings reichen die aktuellen Budgets und Ressourcen in der Suchthilfe hierfür nicht aus. Auf den Mittelzuwachs zu warten, bis die potentiellen Steuereinnahmen aus dem Cannabisverkauf realisiert sind, um daraus die Präventionsmaßnahmen zu finanzieren, ist allerdings keine Option.

    Nötig sind Mittel, die der Bund der Suchthilfe im Vorfeld zur Verfügung stellt, um zielgruppenspezifische und situationsangepasste Präventionskonzepte vor dem Hintergrund der neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen zu erarbeiten sowie entsprechende Maßnahmen zu planen und in die Umsetzung zu bringen. Hierzu wäre es hilfreich, in einem Gremium mit Vertreter:innen der Bundesebene, der Länder und der Suchthilfe ein abgestimmtes Vorgehen zu erarbeiten.

    Der neue Drogenbeauftragte sieht die Notwendigkeit vom „Aufbrechen alter Denkmuster“. Dies betrifft in der Suchtpolitik nicht nur den zukünftigen Umgang mit Cannabis.

    Wir gehen bewegten und spannenden Zeiten entgegen.

    Kontakt:

    Wolfgang Rosengarten
    w.rosengarten@t-online.de

    Angaben zum Autor:

    Wolfgang Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration in Wiesbaden. Vorher war er über 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.

  • Leistungen zur Eingliederung in Arbeit in der Adaptionsbehandlung

    Leistungen zur Eingliederung in Arbeit in der Adaptionsbehandlung

    1 Komplexität der Strukturen in der Suchthilfe

    Peter Schay

    Abhängigkeitserkrankungen verfestigen sich in seelischen und körperlichen Symptomen oder in krankhaften Verhaltensweisen. Sie werden verstanden als „krankhafte Störung der Wahrnehmung, des Verhaltens, der Erlebnisverarbeitung, der sozialen Beziehungen und der Körperfunktionen. Es gehört zum Wesen dieser Störungen, dass sie der willentlichen Steuerung durch die [Rehabilitand*innen] nicht mehr oder nur zum Teil zugänglich sind“ (G-BA 2007, zit. n. Brandt 2010, S. 381). Dementsprechend müssen die Rehabilitand*innen „dauerhaft gesundheitlich und sozial stabilisiert werden“ (Stöver 2011, S. 31 f.).

    Das Suchthilfesystem beinhaltet vielfältige Maßnahmen, die „die individuelle Lebenssituation [der Klientel] berücksichtigen und ihre individuellen Problemlagen, aber auch ihre Fähigkeiten und Ressourcen in den Mittelpunkt stellen.“ (Adlon, Wißmann 2020) In den unterschiedlichen Leistungssegmenten der Rehabilitation wird mit abhängigkeits- und/oder psychisch kranken Menschen das Problem bearbeitet und behandelt, dass ihre soziale Kompetenz (Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit) als Folge des häufig bereits im Kindes- und Jugendalter begonnenen Suchtmittelkonsums „verarmt“ ist. In der Rehabilitation werden ihre Fähigkeiten, sich selbst und andere wahrzunehmen, zu erfassen und zu verstehen, und die Fähigkeit, sich mitzuteilen, gefördert und unterstützt.

    2 Die Adaptionsbehandlung

    Die Adaptionsbehandlung (Phase II der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker) wird als letzte Phase der stationären Rehabilitation durchgeführt und dient insbesondere dem Ziel, die Rehabilitand*innen „mit Leistungen zur Eingliederung“ zu fördern und zu integrieren. Ziel von Leistungen zur Teilhabe für abhängigkeitskranke Menschen ist es, diese zur gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu befähigen. Dazu gehören:

    • Erreichen und Erhaltung von Abstinenz
    • Behebung oder Ausgleich körperlicher und psychischer Störungen
    • möglichst dauerhafte Erhaltung beziehungsweise Erreichung der Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft

    2.1 Daten zur Adaptionsbehandlung aus der Basisdokumentation des FVS

    Der Fachverband Sucht e. V. (FVS) hat in seiner Basisdokumentation 2019 (FVS 2020) die Ergebnisse der Adaptionseinrichtungen umfassend dargestellt:

    Altersstruktur
    Die Prozentangaben beziehen sich jeweils auf 100 % der Männer bzw. 100 % der Frauen (d. h. sie addieren sich in der Spalte weiblich bzw. männlich jeweils zu 100 %). 

    • bis 19 Jahre: 0,9 % weiblich, 1,1 % männlich
    • 20 bis 29 Jahre: 24,7 % weiblich, 20,9 % männlich
    • 30 bis 39 Jahre: 35,0 % weiblich,36,1 % männlich
    • 40 bis 49 Jahre: 22,9 % weiblich, 25,3 % männlich
    • 50 bis 59 Jahre: 15,7 % weiblich, 15,5 % männlich
    • 60 Jahre und älter: 0,9 % weiblich, 1,1 % männlich

    Erwerbsstatus
    85,6 % der Rehabilitand*innen waren bei Behandlungsbeginn arbeitslos. 23,5 % haben Arbeitslosengeld I und 62,1 % Arbeitslosengeld II bezogen.

    Dauer der Abhängigkeit
    15,4 % der Rehabilitand*innen waren 1 bis 5 Jahre, 23,0 % waren 6 bis 10 Jahre, 38,6 % waren 11 bis 20 Jahre, 22,9 % waren mehr als 21 Jahre abhängig.

    Vorausgegangene Behandlungen
    67,9 % der Rehabilitand*innen hatten bis zu 20 Entgiftungen, 49,5 % einen qualifizierten Entzug und 100,0 % eine stationäre Entwöhnung (Phase I der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker) absolviert.

    Psychische Diagnosen
    46,0 % der Rehabilitand*innen hatten eine oder mehrere psychische Diagnose: Depressionen F32, F33 und F34.1 = 29,2 %, Angststörung F40 und F41 = 4,1 %, Persönlichkeitsstörung F60 und F61 = 15,1 %.

    Somatische Diagnosen
    43,6 % der Rehabilitand*innen hatten eine somatische Diagnose: Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen = F40-F48.

    Suizidale Handlungen
    23,2 % der Rehabilitand*innen hatten in einem länger als ein Jahr zurückliegenden Zeitraum suizidale Handlungen begangen, weitere 5,5 % im letzten Jahr vor der Aufnahme in der Adaption.

    Schulden
    66,5 % der Rehabilitand*innen hatten erhebliche Schulden.

    Leistungsfähigkeit am Behandlungsende
    Die Leistungsfähigkeit (6 Stunden und mehr) am Behandlungsende betrug bei den Rehabilitand*innen mit komorbider Depressionen 85,8 %, mit komorbider Angststörung 83,7 % und mit komorbider Persönlichkeitsstörung 85,6 %, gesamt 91,1 %.

    Berufliche Integration in den ersten vier Monaten nach Behandlungsende
    Vier Monate nach der Entlassung waren 57,8 % der Rehabilitand*innen arbeitslos, 19,2 % waren in Vollzeit beschäftigt, 8,7 % in Teilzeit. 5,2 % waren in einer Umschulungs-/Qualifizierungsmaßnahme. 3,8 % waren in einer Ausbildung und 1,3 % sind zur Schule gegangen.

    In der Basisdokumentation des FVS heißt es: „Um dieses Ergebnis würdigen zu können, sollen die Zahlen mit dem allgemeinen Vermittlungszahlen der Jobcenter in Relation gesetzt werden. Diese sind […] abhängig von der Anzahl der Vermittlungshemmnissen. […] Die Vermittlungsquote des Jobcenters liegt bei Personen mit drei oder vier Vermittlungshemmnissen bei 4,3 % bzw. 2,4 %“ (FVS 2020, S. 60). Dies belegt, dass Adaptionsbehandlungen in Bezug auf die berufliche Reintegration deutlich erfolgreicher sind als die üblichen Maßnahmen der Jobcenter.

    Die Vermittlungshemmnisse (Alter, Gesundheit, berufliche Qualifikation, Dauer der Arbeitslosigkeit u. a.) sind bei den meisten Rehabilitand*innen sehr ausgeprägt. Es ist zu befürchten, dass die Corona-Pandemie eine Vermittlung in eine existenzsichernde Arbeit deutlich schwieriger macht. Die Zahlen machen deutlich, dass insbesondere Leistungen der Eingliederung in Schule/Arbeit erbracht werden müssen.

    2.2 Ziele der Adaptionsbehandlung

    Die Adaption umfasst die Fortführung der medizinischen, psychotherapeutischen und sucht-therapeutischen Behandlung. Im Vordergrund steht neben der medizinischen Betreuung die psycho-therapeutische Aufarbeitung von Krisen, Rückfallsituationen und weiteren Problemlagen im Rahmen der Integration in den Erwerbsprozess und der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Ziel ist die Erlangung der beruflichen (Re-)Integration – zum Beispiel durch externe Arbeits- und Belastungs-erprobung, Betriebspraktika sowie berufliche Bildungsmaßnahmen – und die Hinführung zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung.

    Die Adaptionseinrichtungen erbringen somit den Transfer von therapeutischen Inhalten in die Lebenswirklichkeit. Hier bietet sich die Möglichkeit, im Bereich des beruflichen Kontexts und der sozialen Interaktion auftretende Stärken zu fördern und Schwächen therapeutisch zu bearbeiten und zu kompensieren. In der rehabilitativen Behandlung abhängigkeitskranker Menschen wirkt das therapeutische Angebot der Adaptionseinrichtung festigend auf den Behandlungserfolg und somit nachhaltig auf die berufliche (Re-)Integration.

    3 Integrationspotential von Abhängigkeitskranken

    Der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss) hat konkrete Faktoren benannt, die sich auf das Integrationspotential von Abhängigkeitskranken auswirken (buss 2011):

    • Komorbide psychische oder körperliche Erkrankung (mit Einschränkungen in der Leistungs- und Belastungsfähigkeit)
      + insbesondere (traumabedingte) Angststörungen (ICD-10: F4) und Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1),
      + Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen: Dissoziale Persönlichkeitsstörung (F60.2), Borderline-Persönlichkeitsstörung (F60.31), Ängstlich (vermeidende) Persönlichkeitsstörung (F60.6), Abhängige Persönlichkeitsstörung (F60.7), Narzisstische Persönlichkeitsstörung (F60.8),
      + Kombinierte und sonstige Persönlichkeitsstörungen (F61),
      + Persönlichkeits- und Verhaltensstörung (F19.71),
      + Störungen des Sozialverhaltens (F92.0),
      + Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (F90.0, F98.8)
      + Rezedivierende depressive Störungen (F33).
    • Geringe psychosoziale Kompetenz mit erheblichen Teilhabestörungen
    • Inkonstanz der psychosozialen Entwicklung mit Bindungsstörung, sozialer Entwurzelung, Vernachlässigung oder Delinquenz
    • Fehlende Persönlichkeits‐ und Lebensentwürfe, Sozialisationsdefizite, fehlende soziale Einbindung
    • Langzeitarbeitslosigkeit
    • Keine Berufsausbildung oder Berufserfahrung, kein Facharbeiterstatus
    • Vermittlungshemmnisse, bspw. kein Schulabschluss, geringe berufliche Kenntnisse, fehlende Arbeitsorientierung, Probleme im Bereich sozialer Beziehungen, gesundheitliche Beeinträchtigungen oder psychische Belastungen, Ver-/Überschuldung, reduzierte Fähigkeit zur Selbstverantwortung
    • Zusätzliche Schwierigkeiten, die bei ausländischen Rehabilitanden häufig den beruflichen Integrationsprozess erschweren, bspw. Probleme mit der deutschen Sprache und Klärung des Aufenthaltsstatus

    Um die Hemmnisse wirksam und effizient bearbeiten zu können, müssen alle notwendigen Maßnahmen in die Gesamtplanung der Adaptionsbehandlung konsequent eingebunden werden. Dementsprechend sind zur Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit und zur beruflichen (Re-)Integration die unten aufgezählten Aspekte a) bis i) zu berücksichtigen. Die einzelnen Aspekte werden ausführlich in dem vom Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe herausgegebenen Handbuch „Die Adaptionsbehandlung“ (Koch, Schay, Voigt 2017, S. 41-43) beschrieben:

    a) Medizinische und psychotherapeutische Behandlung

    b) Beruflich orientierte Eingangsdiagnostik

    c) Prüfung der persönlichen Voraussetzungen

    d) Kontakt zum Jobcenter bzw. zur Agentur für Arbeit / Vermittlung in Maßnahmen

    e) Interne Belastungserprobung

    f) Vermittlung eines externen berufsorientierenden Praktikums

    g) Vermittlung in Qualifizierungsmaßnahmen

    h) Vermittlung in Schulen

    i) Hilfe bei Bewerbungen

    4 Leistungen zur Eingliederung in Arbeit in der Adaptionsbehandlung

    Die vorrangige Zielsetzung der Adaptionsbehandlung ist grundsätzlich die (Wieder-)Heranführung der Rehabilitand*innen an den allgemeinen Arbeitsmarkt, d. h., „jeden erwerbsfähigen Hilfebedürftigen qualifiziert, umfassend und entsprechend seinen individuellen Bedürfnissen mit dem Ziel der Eingliederung und/oder Ausbildung zu unterstützen“ (Jobcenter Mecklenburgische Seenplatte Nord 2021). Vermittlungshemmnisse sollen möglichst weitgehend behoben und die notwendigen Integrationsstrategien entwickelt werden.

    „Dieser Leistungsanspruch ist eng mit dem Teilhabekonzept der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) verbunden. Danach ist eine alleinige biomedizinische Krankheitsbetrachtung (Diagnose und Befunde) nicht ausreichend, sondern eine Berücksichtigung der krankheitsbedingten bio-psycho-sozialen Beeinträchtigung erforderlich.“ (GVG 2010, S. 18)

    „Die vorrangige Zielsetzung von öffentlich geförderter Beschäftigung ist die (Wieder-) Heranführung von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen an den allgemeinen Arbeitsmarkt. Sie dient insbesondere dazu, […] die ‚soziale‘ Integration zu fördern als auch die Beschäftigungsfähigkeit aufrecht zu erhalten bzw. wiederherzustellen und damit die Chance zur Integration in den regulären Arbeitsmarkt zu erhöhen.“ (Bundesagentur für Arbeit 2009, S. 2)

    „Die Maßnahmeinhalte sind an den Bedarfslagen der identifizierten Zielgruppen auszurichten und auf die individuellen Erfordernisse und Bedürfnisse der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen abzustimmen. Die Maßnahmeinhalte müssen zumindest mittelbar zur Aufnahme einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt hinführen (‚erste Stufe einer Integrationsleiter‘).
    AGH MAE [Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung] sind inhaltlich so auszugestalten, dass Teilnehmer/innen über die Bereitstellung ihrer Arbeitskraft hinaus auch in ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung gefördert werden (z. B. durch feste Ansprechpartner beim Maßnahmeträger, geeignete Qualifizierungselemente, Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche, Bewerbungstraining, Praktika).“ (Bundesagentur für Arbeit 2009, S. 8)

    Das Ziel der Maßnahmen zur Förderung der beruflichen Integration in der Adaptionsbehandlung besteht in der Optimierung der persönlichen Fähigkeiten, um den Ansprüchen des Arbeitsmarktes zumindest teilweise gerecht werden zu können, und in der Unterstützung durch Motivationsarbeit. Um diese Zielsetzung erreichen zu können, müssen medizinische Behandlung, medizinische Rehabilitation, berufliche (Re-)Integration und soziale Integration als ganzheitliches Geschehen verstanden werden und wirksam ineinandergreifen.

    Die „frühzeitige und koordinierte Zusammenarbeit ermöglicht es, erwerbsbezogene Problemlagen, die Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit der Rehabilitand*innen, arbeitsbezogene Ressourcen, individuelle Interventions- und Vermittlungsbedarfe sowie insgesamt die Perspektiven der beruflichen (Re-)Integration umfassend einzuschätzen und die erforderlichen Maßnahmen frühzeitig einzuleiten (BORA-Empfehlungen 2014, S. 23).

    4.1 Gesetzliche Bestimmungen nach dem SGB II

    Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat im Juni 2020 seine Rechtsauffassung zur „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ nach dem SGB II veröffentlicht. Ziel ist die Eingliederung in Arbeit. Um dies zu erreichen, können folgende Maßnahmen durchgeführt werden:

    • Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung
    • Förderung der beruflichen Weiterbildung einschließlich des Nachholens des Hauptschulabschlusses
    • Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben
    • Leistungen zur Eingliederung (Eingliederungszuschüsse)
    • Förderung der Berufsausbildung benachteiligter junger Menschen

    Zur Umsetzung der Maßnahmen können verschiedene Eingliederungsleistungen nach dem SGB II in Anspruch genommen werden (vgl. BMAS 2020). Dazu zählen:

    Kommunale Eingliederungsleistungen
    In § 16 a SGB II werden u. a. Sucht- und Schuldnerberatung sowie psychosoziale Betreuung gefördert.

    Einstiegsgeld
    Gefördert wird die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, die mit einer wöchentlichen Arbeitszeit ausgeübt werden muss. Die Förderungsdauer beträgt 24 Monate; es besteht kein Rechtsanspruch.

    Förderung von Arbeitsgelegenheiten
    Für Rehabilitand*innen, bei denen eine unmittelbare Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt nicht möglich ist, kann diese Förderung ist Anspruch genommen werden. Die Förderungsdauer beträgt 24 Monate innerhalb von fünf Jahren.

    Eingliederung von Langzeitarbeitslosen
    Diese Leistung kommt in Betracht für Rehabilitand*innen, die mindestens zwei Jahre arbeitslos sind, und soll die Aufnahme eines sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses fördern. Gefördert werden können Arbeitsverhältnisse auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Förderungsdauer beträgt 24 Monate. Im ersten Jahr der Beschäftigung beträgt der Lohnkostenzuschuss pauschal 75 % und im zweiten 50 % des zu berücksichtigenden Arbeitsentgeltes. Zur Stabilisierung der Beschäftigten findet eine ganzheitliche beschäftigungsbegleitende Betreuung statt („Coaching“).

    Teilhabe am Arbeitsmarkt
    Ziel dieser Förderung ist, dass besonders arbeitsmarktferne Menschen durch eine öffentlich geförderte Beschäftigung soziale Teilhabe erreichen (vgl. §§ 16e und 16i SGBII). Gefördert werden können erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die das 25. Lebensjahr vollendet haben und/oder schwerbehindert sind.
    Diese Leistung gem. § 16i SGB II kommt in Betracht, wenn die/der Rehabilitand*in mindestens sechs Jahre innerhalb von sieben Jahren Leistungen nach dem SGB II bezogen hat und nur kurzzeitig erwerbstätig war. Bei Leistungsberechtigten, die mindestens ein minderjähriges Kind haben, werden nur die letzten fünf Jahre betrachtet. Die Ableistung eines Bundesfreiwilligendienstes oder eines Jugendfreiwilligendienstes wird „aufgrund der besonderen Zielrichtung und der Ausgestaltung im Sinne des § 16i Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II“ nicht als Beschäftigung abgerechnet.
    Der Lohnkostenzuschuss wird bis zu fünf Jahre gewährt; in den ersten zwei Jahren werden 100 % erstattet, ab dem dritten Jahr sinkt er um jeweils 10 %. Zur Stabilisierung der Beschäftigten findet eine ganzheitliche beschäftigungsbegleitende Betreuung statt („Coaching“), und es können für eine „Förderung einer Qualifizierung“ bis zu 3.000 Euro bezuschusst werden.
    Bei Leistungsberechtigten, die gem. § 16e SGB II im Bundesprogramm „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“ beschäftigt waren, wird generell eine Förderung nach § 16i SGB II nicht ausgeschlossen. Die vorhergehende Förderung wird auf die Förderungsdauer und Förderungshöhe nach § 16i SGB II eingerechnet.

    Leistungen der Freien Förderung
    Die Handlungsmöglichkeiten für eine individuelle Unterstützung der Rehabilitand*innen werden durch diese Leistung deutlich verbessert. Die Leistungen dienen der Aktivierung, Stabilisierung oder Betreuung von Langzeitarbeitslosen. Insbesondere jugendliche erwerbsfähige Leistungsberechtigte mit schwerwiegenden Vermittlungshemmnissen können weitergehend gefördert werden.

    Förderung schwer zu erreichender junger Menschen
    Ziel dieser Leistung ist, junge Menschen in einer schwierigen Phase zu unterstützen und sie (zurück) in Maßnahmen der Bildung, Arbeitsförderung, Ausbildung oder Arbeit zu holen.

    Nachgehende Betreuung
    Diese Leistung der Stabilisierung der Beschäftigungsaufnahme kann je nach Einzelfall erbracht werden, bspw. in Form von Beratung. Die Förderungsdauer beträgt 6 Monate nach Beschäftigungsaufnahme.

    Das BMAS hat keine Aufsichtsbefugnisse gegenüber dem Jobcenter in kommunaler Trägerschaft. Die Aufsichtsbehörde liegt bei den Landesbehörden. Die Adaptionseinrichtungen müssen mit ihrem örtlichen Jobcenter Kooperationsvereinbarungen abschließen, um für ihre Rehabilitand*innen Förderungsmöglichkeiten in Anspruch nehmen zu können.

    4.2 BORA – Berufliche Orientierung in der Rehabilitation Abhängigkeitskranker

    Da die „besondere Zielgruppe“ suchtmittelkonsumierender bzw. suchtmittelabhängiger Menschen (nach Maßgabe von § 3 SGB II) von besonderen Vermittlungshemmnissen gekennzeichnet ist, müssen im Behandlungskontext Maßnahmen zur Verbesserung der Chancen auf schulische und berufliche (Re-)Integration sichergestellt werden. Die vorrangige Zielsetzung dabei ist die erstmalige oder erneute Heranführung an den allgemeinen Arbeitsmarkt. Die einzuleitenden Maßnahmen müssen „dem gesetzlichen Auftrag [dienen], Menschen in Arbeit zu integrieren. Sie bieten die Möglichkeit, Ursachen des Suchtverhaltens zu erkennen und Hilfestellung in Situationen zu geben, in denen ohne Betreuung Rückfälle drohen. Darüber hinaus schaffen sie die Möglichkeit der Tagesstrukturierung und verringern die Gelegenheit zum Suchtmittelkonsum und -verhalten.“ (Leune 2009, S. 22)

    Wegen der großen Bedeutsamkeit der beruflichen (Re-)Integration bei Abhängigkeitserkranken hat die DRV in Kooperation mit den Fachverbänden (buss, fdr, FVS) eine Arbeitsgruppe zur beruflichen Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter (BORA) etabliert und als Ergebnis 2014 Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs veröffentlicht (vgl. BORA-Empfehlungen 2014, S. 2 ff.).

    Die BORA-Empfehlungen unterscheiden zunächst zwischen Rehabilitand*innen mit bestehendem Arbeitsverhältnis und Rehabilitanden, die ohne Beschäftigungsverhältnis sind. Besteht ein Arbeitsverhältnis, liegt der Schwerpunkt auf dem Erhalt des Beschäftigungsverhältnisses und der Beseitigung von am Arbeitsplatz existierenden Problemlagen. Hier kann die Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber eine förderliche Funktion einnehmen. Bei arbeitslosen Rehabilitanden steht die Entfaltung einer persönlichen beruflichen Perspektive im Vordergrund. Eine rechtzeitige Kooperation mit den unterschiedlichen Leistungsträgern (bspw. Jobcenter, Agentur für Arbeit) ist dabei zwingend notwendig (vgl. BORA-Empfehlungen 2014, S. 3). Die BORA-Empfehlungen unterscheiden insgesamt fünf Zielgruppen, die in Abbildung 1 im Einzelnen dargestellt sind:

    Abb. 1: Die fünf BORA-Zielgruppen (Schay 2021)

    Diese fallgruppenspezifische Orientierung dient zur Umsetzung von therapeutischen Angebots- und Leistungsstrukturen. Dabei ist eine individuelle und eine bedarfsorientierende Therapieplanung notwendig (vgl. BORA-Empfehlungen 2014, S. 12).

    In der Adaptionsbehandlung werden überwiegend Rehabilitand*innen der Zielgruppe 3 und 4 behandelt, bei denen der Schwerpunkt u. a. auf Motivationsarbeit, Abstinenzfestigung, Umgang mit negativen Rückmeldungen und Ereignissen sowie der Einleitung weiterer Maßnahmen liegen muss (vgl. BORA-Empfehlungen 2014, S. 20, BMAS 2015). Die arbeitsbezogenen Interventionen in dieser Behandlungsphase – wie die interne/externe Belastungserprobung – sollen eine gezielte Indikation und therapeutische Zielsetzung einschließen (vgl. BORA-Empfehlungen 2014, 13 f.), um den Erwerb oder die Verbesserung verschiedener Kompetenzbereiche erreichen zu können. Dabei sind drei Grundebenen zu beachten:

    • Grundarbeitsfähigkeit
    • soziale Fähigkeiten
    • Selbstbild

    4.3 Rechtliche Würdigung der Leistungen zur Eingliederung in der Adaptionsbehandlung

    Die mit der DRV abgestimmten und genehmigten Konzepte der stationären Adaptionseinrichtungen und die Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 06.09.2007 (B14/7b AS 16/07 R – BSGE), vom 02.12.2014 (B14 AS 35/13 R RdNr. 20) und vom 03.09.2020 (B14 AS 41/19 R) bestätigen eindrücklich die Auffassung, dass für die Gewährung von existenzsichernden Leistungen nach dem SGB II nicht maßgebend ist, ob die/der Leistungsberechtigte in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, sondern ob sie/er unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes eine Erwerbstätigkeit von mindestens drei Stunden täglich bzw. 15 Stunden wöchentlich ausüben kann (vgl. § 7 Abs. 4, Pkt. 2 SGB II).

    5 Berufliche Aktivitäten und Teilhabe in der Adaptionsbehandlung

    Mit „berufliche Aktivitäten und Teilhabe“ werden die Maßnahmen beschrieben, die in Adaptionseinrichtungen zur Förderung der beruflichen (Re-)Integration durchgeführt werden.

    „Arbeitsbezogene Leistungen sind […] individuell, umfassend, zielorientiert und so konkret, wie es für den Individualfall nötig ist, realistisch, flexibel und gemeinsam mit den Rehabilitanden zu planen und schlüssig, ergebnisorientiert durchzuführen.“ (Wiegand 2012, S. 46)

    Zu Beginn der Adaptionsbehandlung liegt der Fokus auf der Vermittlung lebenspraktischer Fertigkeiten. Bei ausreichender Stabilität und Leistungsfähigkeit werden die Rehabilitanden in eine Belastungserprobung oder ein betriebliches Praktikum vermittelt. Im Rahmenkonzept der DRV (2019, S. 10) heißt es: „Aufgabe dieser Maßnahmen ist, die Fähigkeit der Rehabilitanden im Bereich Arbeitshandlungen zu erweitern und zu verbessern“. Hierbei sind insbesondere folgende Maßnahmen wichtig:

    • Maßnahmen zur Stärkung von Ausdauer und Motivation
    • Maßnahmen zur Erweiterung der sozialen Kompetenz und zur Entwicklung von Eigeninitiative am Arbeitsplatz wie auch im alltäglichen Leben
    • Hilfen zur Problembewältigung am Arbeitsplatz
    • Hilfen zur Überprüfung von Selbsteinschätzung und Fremdbeurteilung

    Das Schaubild „Verlaufsmodell der beruflichen (Re-)Integration in der Adaptionsbehandlung“ (Abb. 2) zeigt die „konzeptionellen Akzentuierungen zur beruflichen und sozialen (Re-)Integration“ in der Adaptionsbehandlung (vgl. Koch, Schay, Voigt 2017, S. 66).

    6 Schlussbemerkungen

    Die Leistungen zur Unterstützung von Jugendlichen, jungen Erwachsenen und Erwachsenen mit Behinderungen und komplexem Unterstützungsbedarf stellen einen gleichberechtigten Zugang zur sozialen Teilhabe sicher. „Hierzu bedarf es teilhabeorientierter, trägerübergreifender und individueller passgenauer Unterstützungssettings, die auf der Grundlage eines Reha-Managements in den verschiedenen Systemen der beruflichen Ausbildung […] eingesetzt werden können.“ (BAG BBW 2014, S. 3)

    Das Ziel der Verbesserung der sozialen Teilhabe muss in der Adaptionsbehandlung entsprechend bei arbeitsmarktintegrativen Maßnahmen nach § 16 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 45 SGB III durch das Hilfesystem konsequent verfolgt werden. Dies gilt insbesondere deshalb, weil durch die Forschung gut belegt ist, dass Arbeitslosigkeit ein erheblicher Risikofaktor ist, der die Entwicklung bzw. Verschlimmerung von Suchtproblemen begünstigen kann (vgl. Henke 2019).

    Die Rehabilitand*innen müssen sich darauf verlassen können, dass sie von den Mitarbeiter*innen der Adaptionsbehandlung konsequent in ihren Möglichkeiten der sozialen und beruflichen Teilhabe unterstützt zu werden.
    Es muss schrittweise in der Behandlung möglich sein, ihre Einstellung zur „Eingliederung in Arbeit“ zu hinterfragen und ggf. zu ändern, um eine mögliche berufliche Perspektive zu entwickeln.
    Voraussetzung dafür ist eine enge und verbindliche Kooperationsvereinbarung zwischen der Einrichtung und dem Jobcenter, um alle Leistungen für die Rehabilitand*innen nutzen zu können.

    Die systematische Umsetzung entsprechender Maßnahmen ist von grundlegender Bedeutung, da ALG-II-Bezieher überwiegend nur geringe Integrationschancen haben. Die hochbelastete Gruppe der Menschen mit vielfältigen Vermittlungshemmnissen (hier: Abhängigkeits- und psychisch Kranke) bedarf entsprechender Unterstützung und Begleitung (vgl. Henke 2019, S. 40 f.).

    „[…] die Stärkung der beruflichen Wiedereingliederung von Suchterkrankten muss deutlich verbessert und dauerhaft sichergestellt sein.“ (Blienert et. al. 2021)

    Kontakt:

    Peter Schay
    c/o Kadesch gGmbH
    Martinstraße 1
    44652 Herne
    pschay@t-online.de

    Angaben zum Autor:

    Peter Schay: M.Sc. Integrative Psychotherapie, Dipl. Supervisor,  Approbation als KuJ-Psychotherapeut, Erlaubnis zur Psychotherapie nach dem HPG. Peter Schay war 25 Jahre Geschäftsführer der Kadesch gGmbH Herne, die für junge Menschen mit Abhängigkeitserkrankung die Angebote der sozialen und medizinischen Rehabilitation vorhält.

    Literatur:
    • Adlon, N., Wißmann, R. (2020): Vorwort, in: Seitenwechsel. Arbeitskreis der Arbeitsmaßnahmen für Menschen mit Suchterkrankungen in NRW, hrsg. v. Landeskoordinierungsstelle berufliche und soziale Integration Suchtkranker in NRW, Paderborn, S. 5-7
    • Blienert, B., Niermann, K.-F. (2021): Warum es Zeit ist, Cannabis zu legalisieren, in: „Die Welt“, 26.10.2021, Hamburg
    • BORA-Empfehlungen (2014): Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker vom 14. November 2014, erarbeitet von der gemeinsamen Arbeitsgruppe Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker (BORA). Online verfügbar unter: https://www.deutsche-rentenversicherung.de/DRV/DE/Experten/Infos-fuer-Reha-Einrichtungen/Grundlagen-und-Anforderungen/Konzepte-und-Positionspapiere/konzepte_positionspapiere.html
    • Brandt, C. (2010): Soziale Formen psychotherapeutischen Verstehens, in: Psychotherapeutenjournal 4/2010, Psychotherapeutenverlag, Verlagsgruppe Huthig Jehle Rehm GmbH, Heidelberg, 381-389
    • Bundesagentur für Arbeit (2009): SGB II – Arbeitshilfe Arbeitsgelegenheiten (AGH) nach § 16d SGB II (Stand: 07/2009)
    • Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke e. V. (BAG BBW) (Hg.) (2014): Der junge Mensch im Mittelpunkt: Reha-Erstausbildungen für junge Menschen mit Behinderung und komplexem Unterstützungsbedarf. Ein Beitrag zur Diskussion des Bundesteilhabegesetzes
    • Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2015): Arbeitsgruppe Bundesteilhabegesetz – Abschlussbericht, Berlin
    • Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2020): Leistungen zur Eingliederung in Arbeit, in: https://www.bmas.de/DE/Arbeit/Grundsicherung-Arbeitslosengeld-II/Beratung-und-Vermittlung/eingliederungsleistungen.html
    • Bundessozialgericht (BSG) (2007): Urteil vom 06.09.2007 – B14/7b AS 16/07 R – BSGE – Grundsicherung für Arbeitssuchende, Kassel
    • Bundessozialgericht (BSG) (2014): Urteil vom 02.12.2014 – B14 AS 35/13 R Rd.Nr. 20 – Grundsicherung für Arbeitssuchende, Kassel
    • Bundessozialgericht (BSG) (2020): Urteil vom 03.09.2020 – B 14 AS 41/19R – Grundsätze für Arbeitsuchende – Leistungsausschluss bei längerer stationärer Unterbringung – Aufenthalt zur Entwöhnungsbehandlung in einem Adaptionshaus – Gesamtverantwortung für die alltägliche Lebensführung – Einflussnahme der Einrichtung nach dem Therapiekonzept, Kassel
    • Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss) (2011): Workshop „Arbeitsmarktintegration“: Zielgruppen der Therapie – Zielgruppen der Arbeitswelt. Veranstaltung am 29.11.2011 in Kassel, Präsentation online verfügbar unter: http://www.suchthilfe.de/veranstaltung/workshop/arbeitsmarktintegration/4_zielgruppen.pdf
    • Deutsche Rentenversicherung (DRV) (2012): Anforderungsprofil zur Durchführung der Medizinisch-beruflich orientierten Rehabilitation (MBOR) im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung
    • Deutsche Rentenversicherung (DRV) (2019): Rahmenkonzept der Deutschen Rentenversicherung zur Adaption in der medizinischen Rehabilitation abhängigkeitskranker Menschen vom 27. März 2019
    • Fachverband Sucht e. V. (FVS) (2020): Basisdokumentation 2019. Ausgewählte Daten zur Entwöhnungsbehandlung im Fachverband Sucht e. V., Reihe: Qualitätsförderung in der Entwöhnungsbehandlung Band 27, Bonn
    • Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e. V. (GVG) (2010): Die medizinische Rehabilitation – Ein Überblick, Schriftenreihe Bd. 66, Köln
    • Henke, J., Henkel, D., Nägele, B., Wagner, A. (2019): Erhebung von Ansätzen guter Praxis zur Integration Suchtkranker ins Erwerbsleben nach dem SGB II. Ergebnisse einer bundesweiten Befragung der Jobcenter, in: Suchttherapie 2019, 20: 39-47
    • Jobcenter Mecklenburgische Seenplatte Nord (2021): Beratung und Vermittlung, Fallmanagement im Jobcenter, in: https://www.jobcenter-ge.de/Jobcenter/MSE-Nord/DE/Beratung-Vermittlung/Fallmanagement/fallmanagement_node.html
    • Koch, A., Schay, P., Voigt, W. (Hg.) (2017): Die Adaptionsbehandlung. Handbuch zur zweiten Phase der stationären medizinischen Rehabilitation bei Abhängigkeitskranken, Lengerich
    • Leune, J. (2009): Arbeit und Beschäftigung als zentrale Integrationsaufgabe, in: Landschaftsverband Westfalen-Lippe (Hg.): Krise als Chance, Forum Sucht, Band 42, ISSN 0942-2382, Münster, S. 18-28
    • Sozialgesetzbuch (SGB) zweites Buch (II) (2021): Grundsicherung für Arbeitsuchende, in: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_2/BJNR295500003.html
    • Stöver, H. (2011): Drogenpolitik und Drogenarbeit: Wandel tut not, in: Schäffer, D., Stöver, H. (Hg.): Drogen-HIV/AIDS-Hepatitis. Ein Handbuch, Deutsche AIDS-Hilfe e. V., Berlin, 30-45
    • Wiegand, G. (2012): Die Bedeutung der beruflichen Teilhabeförderung bei Leistungen zur medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker aus Sicht eines Vertreters eines regionalen Leistungsträgers, in: SuchtAktuell, Zeitschrift des Fachverbandes Sucht e. V., Jg. 20/01.13, Bonn, S. 44-48
  • Update zur Umsetzung des BTHG

    Update zur Umsetzung des BTHG

    Dr. Mignon Drenckberg

    Das Bundesteilhabegesetz (BTHG), welches innerhalb der letzten Jahre in Kraft getreten ist, ordnet nicht nur die Eingliederungshilfe (EGH) vollkommen neu, sondern verschafft auch den bisher schon im Sozialgesetzbuch neun (SGB IX) verankerten Passagen mit Aussagen zu Behinderung, Rehabilitation und Teilhabe mehr Geltung und regelt Aspekte des Schwerbehindertengesetzes neu.

    In diesem Artikel wird es in erster Linie um die Eingliederungshilfe gehen, weil dieser Teil im SGB IX neu die größten Veränderungen erfahren hat. Zusätzlich soll auf den Teilhabeverfahrensbericht eingegangen werden, der unter anderem das Antrags- und Bewilligungsverfahren aller Rehabilitationsträger dieses Gesetzes in einem jährlichen Bericht beleuchtet. Alle zitierten Paragrafen beziehen sich auf das SGB IX neu, sofern nicht anders angegeben.

    Grundsätzlich wurde das BTHG – wie so viele andere Gesetze auch – bereits mehrfach verändert und konkretisiert, zum Beispiel durch das Angehörigenentlastungsgesetz. Einige wesentliche Teile sind über Gesetze und Verordnungen der Länder bzw. der zuständigen Kostenträger zu regeln bzw. geregelt worden.

    Zugang zur Eingliederungshilfe (§ 99)

    Die letzten Teile der Regelungen zur EGH wurden bereits zu Anfang des Jahres 2020 als Teil 2 des Bundesteilhabegesetzes wirksam. Allerdings wurde der Zugang zur Eingliederungshilfe (§ 99) erst mit dem Teilhabestärkungsgesetz vom Juni 2021 neu geregelt und am 1. Juli 2021 in Kraft gesetzt. Dabei wurde zum einen auf eine Sprachregelung analog der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) und zum anderen auf die bestehende Eingliederungshilfe-Verordnung Wert gelegt:

    § 99 Leistungsberechtigung, Verordnungsermächtigung

    (1) Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten Menschen mit Behinderungen im Sinne von § 2 Absatz 1 Satz 1 und 2, die wesentlich in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind (wesentliche Behinderung) oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe nach § 90 erfüllt werden kann.

    (2) Von einer wesentlichen Behinderung bedroht sind Menschen, bei denen der Eintritt einer wesentlichen Behinderung nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.

    (3) Menschen mit anderen geistigen, seelischen, körperlichen oder Sinnesbeeinträchtigungen, durch die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind, können Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten.

    (4) Die Bundesregierung kann durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates Bestimmungen über die Konkretisierung der Leistungsberechtigung in der Eingliederungshilfe erlassen. Bis zum Inkrafttreten einer nach Satz 1 erlassenen Rechtsverordnung gelten §§ 1 bis 3 der Eingliederungshilfe-Verordnung in der am 31. Dezember 2019 geltenden Fassung entsprechend (Drucksache 19/27400-24, Dt. Bundestag).

    Große Veränderungen im Vergleich zu den Regelungen aus dem früheren SGB XII sind damit nicht erfolgt, da sich die Arbeitsgruppe auf Bundesebene, die eine Neuformulierung des Zugangs zur Eingliederungshilfe entwickeln sollte, auf keine weitergehenden, an die ICF (Kapitel zu Aktivitäten und Teilhabe) angelehnten Formulierungsvorschläge einigen konnte. Außerdem war auch der Bundesrat mit einigen Formulierungsvorschlägen nicht einverstanden, so dass die nun gefundene Regelung als Minimalkonsens verstanden werden kann. Dies dürfte für die Suchthilfe allerdings von Vorteil sein, weil eine Untersuchung auf Bundesebene zu unterschiedlichen Eingangsdefinitionen bei den meisten Varianten ergeben hat, dass gerade die seelisch behinderten Menschen, und darunter vor allem die suchtkranken Menschen, keinen Anspruch mehr auf Eingliederungshilfe gehabt hätten. Die im BTHG vorgeschriebene Erprobung des Zugangs (Artikel 25, Abs. 3, Satz 2) wurde mit dem Teilhabestärkungsgesetz (Artikel 8) aufgehoben, da sie bereits erfolgt ist.

    Die in Absatz 4 erwähnte Eingliederungshilfe-Verordnung ist in ihrer letzten Fassung noch aus dem Jahre 2003, so dass sich auch hier keine substanziellen Änderungen ergeben haben. In dieser Verordnung werden unter § 3, Punkt 3 die „Suchtkrankheiten“ als ein Teil der seelischen Behinderungen aufgeführt, die insgesamt nur vier Punkte umfassen. Die neue Rechtsverordnung aus Satz 4 des § 99 neu wird in einer Arbeitsgruppe auf Bundesebene erstellt werden. Dadurch wird dann erst der Zugang zur EGH endgültig im Detail geregelt.

    Bedarfsermittlung

    Bei der Bedarfsermittlung ist zu beachten, dass für alle Rehabilitationsträger die Vorschriften zur Teilhabeplanung (§§ 19-22) gelten. Für die EGH ist die Gesamtplanung (§§ 117-122) verpflichtend, die wesentlich detaillierter beschrieben ist. In beiden Fällen kann die Ermittlung des Bedarfs rein schriftlich erfolgen, falls der/die Betroffene keine Konferenz einfordert oder diese mit einem unzumutbar hohen Aufwand verbunden wäre. Außerdem besteht eine Antragserfordernis für die Leistungen der EGH (§ 108), wobei diese nicht genauer definiert ist und die Vorgabe damit auch durch einen formlosen Antrag erfüllt werden kann.

    Die Bedarfsermittlung in der Gesamtplanung hat nach den Bereichen der Aktivitäten und Teilhabe der ICF zu erfolgen, und die Instrumente werden von den jeweiligen Kostenträgern entwickelt. Dabei fällt auf, dass die Kontextfaktoren (umwelt- und personenbezogene Faktoren) oft zu wenig berücksichtigt werden, da ihre Ermittlung schwierig erscheint und es wenige Beschreibungen dazu gibt.

    Bisher waren häufig die Leistungserbringer bei der Bedarfsermittlung federführend, doch das Gesetz schreibt diese Aufgabe klar dem Kostenträger zu. Da bei vielen Kostenträgern die Ressourcen dafür nicht vorhanden sind, behelfen sich einige damit, dass die Bedarfserhebung die Leistungserbringer durchführen und die eigentliche Bedarfsermittlung auf dieser Grundlage dann der Kostenträger.

    Nach der Ermittlung des Bedarfs erfolgt die Bedarfsfeststellung und damit die Beschreibung der notwendigen Leistung für den/die Betroffene/n, die der Kostenträger in einem offiziellen Bescheid mitteilt. Nur gegen diesen kann dann – wenn notwendig – ein Widerspruch eingelegt werden.

    Entscheidend in dem weiteren Verfahren sind das Berichtswesen und die Verlaufsdokumentation. Dabei müssen die Ziele und Maßnahmen auf der Grundlage der Bedarfsermittlung überprüft und gegebenenfalls angepasst werden (zum Beispiel auch eine Teilhabezielvereinbarung nach § 122). Hier stellt sich die Frage, wer diese Überprüfung durchführt, da sicherlich der Leistungserbringer eine größere Nähe zu den Betroffenen und deren Bedürfnissen hat. Diese Frage ist nicht unwichtig, weil die Zielerreichung im Allgemeinen mit der Wirkung und damit auch der Wirksamkeit verknüpft wird und infolgedessen auch Prüfungen unterliegt.

    Assistenzleistungen

    Die Leistungserbringung im Bereich der sozialen Teilhabe soll über Assistenzleistungen erfolgen. Dabei wird im zweiten Absatz das Angebot der qualifizierten Assistenz definiert.

    § 78 Assistenzleistungen (Auszug)

    (1) Zur selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltages einschließlich der Tagesstrukturierung werden Leistungen für Assistenz erbracht. Sie umfassen insbesondere Leistungen für die allgemeinen Erledigungen des Alltags wie die Haushaltsführung, die Gestaltung sozialer Beziehungen, die persönliche Lebensplanung, die Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, die Freizeitgestaltung einschließlich sportlicher Aktivitäten sowie die Sicherstellung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen. Sie beinhalten die Verständigung mit der Umwelt in diesen Bereichen.

    (2) Die Leistungsberechtigten entscheiden auf der Grundlage des Teilhabeplans nach § 19 über die konkrete Gestaltung der Leistungen hinsichtlich Ablauf, Ort und Zeitpunkt der Inanspruchnahme. Die Leistungen umfassen

    1. die vollständige und teilweise Übernahme von Handlungen zur Alltagsbewältigung sowie die Begleitung der Leistungsberechtigten und
    2. die Befähigung der Leistungsberechtigten zu einer eigenständigen Alltagsbewältigung.

    Die Leistungen nach Nummer 2 werden von Fachkräften als qualifizierte Assistenz erbracht. Sie umfassen insbesondere die Anleitungen und Übungen in den Bereichen nach Absatz 1 Satz 2.

    Für die Aufgaben im Bereich der Suchthilfe wird es darauf ankommen, sie so klar und eindeutig zu beschreiben, dass die Zuordnung für den überwiegenden Teil der Leistung als qualifizierte Assistenz möglich ist, um die bisherige Qualität zu erhalten und die Klientel weiterhin effektiv versorgen zu können. Im gemeinschaftlichen Wohnen muss die Fachleistung in ausreichender Quantität vorhanden sein, um auf der einen Seite Betreuungsabbrüche zu vermeiden und auf der anderen Seite auch die Mitarbeitenden nicht zu überfordern. Im ambulanten Bereich wie im gemeinschaftlichen Wohnen dürfen die Leistungen, die als eine Art Basisfachleistung beschrieben werden können (zum Beispiel Gesamtplanung, Koordination, Angehörigenarbeit, Sozialraumarbeit, Übergabezeiten, Teambesprechungen), nicht zu gering angesetzt werden, auch wenn viele Leistungsträger der Meinung sind, dass Personenzentrierung heißt, dass ausschließlich Leistungen direkt an / mit der Klientel erbracht werden. Wichtig ist auch eine gute Beschreibung der „gemeinschaftlichen Inanspruchnahme der Leistungen“ (sog. Poolen, § 116).

    Vertragsrecht

    Das Vertragsrecht sieht nach § 131 Landesrahmenverträge vor, die „gemeinsam und einheitlich“ zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern geschlossen werden sollen. Dabei ist grundsätzlich anzumerken, dass die Kostenträger die Hilfe für die Anspruchsberechtigten personenzentriert und unabhängig vom Ort der Leistungserbringung sicherzustellen haben (§ 95) und unter Federführung der jeweiligen Länder Arbeitsgemeinschaften zur „Weiterentwicklung der Strukturen der EGH“ zusammen mit den Leistungserbringern und den Verbänden der Menschen mit Behinderungen bilden sollen (§ 94, Absatz 4). Die Leistungsträger sind damit viel weitgehender als bisher für die Sicherung der Angebote und die Weiterentwicklung der Hilfelandschaft verantwortlich.

    Inhalte der Rahmenverträge sind unter anderem:

    • die Festlegung der Vergütungspauschalen nach Zuordnung zu den Kostenarten,
    • die Kriterien für die Ermittlung und die Höhe der Leistungspauschalen,
    • Richtwerte für die personelle Ausstattung und
    • die Grundsätze und Maßstäbe für die Wirtschaftlichkeit und Qualität einschließlich der Wirksamkeit.

    Die einzelnen Bundesländer haben sich offenbar mit den nicht sehr konkreten Vorgaben des Gesetzes unterschiedlich schwergetan und teilweise Konkretisierungen in weitere Verträge, Verordnungen, Anlagen und Glossare ausgelagert.

    In den Einzelvereinbarungen nach § 125 werden weitere Inhalte auf dieser Grundlage als Vergütungs- und Leistungsvereinbarung schriftlich fixiert, wie der betreute Personenkreis, die personelle und sächliche Ausstattung und Art, Umfang, Ziel und Qualität der Leistung.

    Diese Vereinbarungen sind zusammen mit der konkreten Leistungserbringung für die Klientel die Grundlage für Prüfungen, die anlassbezogen und – falls die Bundesländer dies entsprechend geregelt haben – auch nicht anlassbezogen erfolgen können. Sie sind ohne vorherige Ankündigung möglich und das Verfahren wird in den Landesrahmenverträgen geregelt. Der Gegenstand der Prüfungen umfasst „Inhalt, Umfang, Wirtschaftlichkeit und Qualität einschließlich der Wirksamkeit der erbrachten Leistungen“ (§ 128). Um für Prüfungen gut aufgestellt zu sein, ist es entscheidend, dass in der zuvor geschlossenen Leistungsvereinbarung die Angebote und Leistungen und der zu betreuende Personenkreis ausführlich beschrieben worden sind, genauso wie die aus den Bestandteilen Struktur, Prozess und Ergebnis bestehende Qualität. Ein großes Problem besteht in der Prüfung der Wirksamkeit, da im Sozialbereich eine Definition für diesen Begriff fehlt und sie oft fälschlicherweise mit Qualität gleichgesetzt wird. Wirkung lässt sich vermutlich noch aus der Zielerreichung nach der Gesamtplanung im Einzelfall erheben, aber Wirksamkeit müsste durch randomisierte, kontrollierte Studien erforscht werden. Ein Problem könnte sich dadurch ergeben, dass der Gesetzgeber die Wirksamkeit in die Prüfungen eingeschlossen hat und gleichzeitig bei der Feststellung einer „Pflichtverletzung“ die Kürzung der Vergütung zulässt (§ 129). Zwar müssen sich die Beteiligten über die Höhe der Kürzung einigen (ansonsten entscheidet die Schiedsstelle), aber es ist trotzdem darauf zu achten, dass in den Landesrahmenverträgen klargestellt wird, dass die Prüfung der Wirksamkeit keine Auswirkungen auf die Vergütung hat, solange es keine klaren Parameter und Definitionen in diesem Bereich gibt.

    Daten aus dem Teilhabeverfahrensbericht

    Einige interessante Aspekte der Leistungsgewährung durch die Rehabilitationsträger listet der Teilhabeverfahrensbericht 2020 (THVB) mit den Zahlen aus dem Jahr 2019 der Bundearbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) auf. Dieser Bericht beruht auf den Zahlen, die alle Rehabilitationsträger nach § 41 verpflichtend melden müssen. Insgesamt wurden für die Rehabilitation und Teilhabe über 40 Milliarden Euro ausgegeben, wobei die EGH der größte Rehabilitationsträger ist und über 940.000 Personen mit rund 19 Milliarden Euro versorgt hat. Der THVB umfasst die Daten von fast 1.000 Rehabilitationsträgern, wobei die EGH ungefähr 250 Träger umfasst (die Angaben der EGH-Träger schwanken in den einzelnen Punkten des Berichts, da nicht alle Träger zu allen Fragen geantwortet haben). Dabei wurden im Jahr 2019 in der EGH 156.829 Anträge bearbeitet (im Vergleich zu 1.815.915 Anträgen bei der Rentenversicherung) und davon waren mit Abstand am meisten Leistungen zur Sozialen Teilhabe umfasst (114.324). 16.374 waren Anträge zur Teilhabe am Arbeitsleben und 11.716 Anträge zur medizinischen Rehabilitation.

    Grundlegende Vorgaben für die Fristen bei der Bearbeitung von Anträgen finden sich in den „Gemeinsamen Empfehlungen“ der BAR von 2019. Zuständigkeitsklärungen für die Leistungsgewährung müssen innerhalb von zwei Wochen erfolgen. Das schafften die Träger der EGH bei insgesamt 142.487 Zuständigkeitsfeststellungen mit 17.949 Fristüberschreitungen (entspricht 12,6 Prozent) nicht. Entscheidender ist hier aber eine andere Zahl: Bei über 50 Prozent (40.367, entspricht 52,75 Prozent) der Anträge, die ohne Gutachten entschieden werden konnten (insgesamt 75.915), schafften sie es nicht, die Frist von drei Wochen zur Entscheidung über die Leistungsgewährung einzuhalten. Mit Sicherheit kennen alle Leistungserbringer die Verzögerung bei Kostenbescheiden, die durchaus mehrere Monate betragen kann.

    Die Teilhabeplanung (hier Gesamtplanung) wurde in 57.421 Fällen in der EGH angepasst. Hierbei lag die Geltungsdauer zwischen null und 364 Tagen – im Durchschnitt betrug sie 37,8 Tage. Das heißt, dass die Planung selten längerfristig gilt, sondern im Laufe eines Jahres teilweise mehrfach angepasst wird.

    Bei den Zahlen zur trägerübergreifenden Teilhabeplanung (1,6 Prozent in der EGH) und zum trägerübergreifenden persönlichen Budget (in der EGH 113-mal beantragt und 79-mal bewilligt) zeigt sich, dass die Intention des Gesetzgebers, die Leistungen für Betroffene wie aus einer Hand zu erbringen und die Kostenträger zu mehr Zusammenarbeit anzuregen, sich nicht erfüllt hat. Dabei sind die Zahlen für das trägerübergreifende persönliche Budget in der EGH von allen Kostenträgern mit Abstand die höchsten. Immerhin kam die EGH beim trägerspezifischen persönlichen Budget auf 1.982 Beantragungen und 1.381 Bewilligungen.

    Als Fazit lässt sich festhalten, dass die Betroffenen mit Sicherheit weiterhin Hilfe und Unterstützung benötigen, um ihre Ansprüche durchsetzen zu können. Die Veränderung der EGH in Richtung größerer Personenzentrierung wird nur in Zusammenarbeit aller Akteure gelingen, welche im SGB IX in vielen Bereichen festgeschrieben wurde und nun mit Leben gefüllt werden muss.

    Kontakt:

    Dr. Mignon Drenckberg
    Caritasverband der Erzdiözese München und Freising e.V.
    Pater-Rupert-Mayer-Haus
    Hirtenstr. 4, 80335 München
    Mignon.Drenckberg@caritasmuenchen.de

    Angaben zur Autorin:

    Dr. Mignon Drenckberg (Dipl.-Psych.), ist Referentin für Suchthilfe, Wohnungslosen- und Straffälligenhilfe in der Abteilung Spitzenverband und Fachqualität – Fachgruppe Eingliederungshilfe beim Caritasverband der Erzdiözese München und Freising e.V.

    Quellen:
    • Boecker, M., Weber, M. (2021). Wie lässt sich die Wirksamkeit von Eingliederungshilfe messen? Soziale Arbeit kontrovers 26. Verlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V., Berlin
    • Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V. (BAR) (2019). Gemeinsame Empfehlung zur Zuständigkeitsklärung, zur Erkennung, Ermittlung und Feststellung des Rehabilitationsbedarfs (einschließlich Grundsätzen der Instrumente zur Bedarfsermittlung), zur Teilhabeplanung und zu Anforderungen an die Durchführung von Leistungen zur Teilhabe gemäß § 26 Abs. 1 i.V.m. § 25 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 und 6 und gemäß § 26 Abs. 2 Nr. 2, 3, 5, 7 bis 9 SGB IX. Frankfurt/Main, Februar 2019
    • Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V. (BAR) (2020). 2. Teilhabeverfahrensbericht, 2020. Frankfurt/Main, Dezember 2020
    • § 99, Drucksache 19/27400 – 24 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode
    • Sozialgesetzbuch IX
  • Die Checkpoint-S-App für Menschen in Substitutionsbehandlung

    Die Checkpoint-S-App für Menschen in Substitutionsbehandlung

    Scarlett Wiewald
    Prof. Dr. Gundula Barsch
    Dr. Lars George-Gaentzsch

    Checkpoint-S ist der Name einer Smartphone-App für Android-Betriebssysteme, die sich in erster Linie an die etwa 81.300 Menschen in substitutionsgestützter Behandlung in Deutschland (vgl. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 2021) sowie an deren Behandler*innen – sprich Substitutionsärzt*innen, Psychotherapeut*innen und Sozialarbeiter*innen – richtet. Die Substitution einer Opiatabhängigkeit geht mit komplexen und vielfältigen Anforderungen an beide Seiten einher. Als sozial vulnerable Patient*innengruppe benötigen Substituierte vielseitige Hilfe und Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung. Mit der Checkpoint-S-App möchte ihnen das Team der Forscher- und Entwickler*innen ein Tool zur Seite stellen, das sie bei ihrer häufig lebenslangen Therapie begleitet und dazu beiträgt, ihren bio-psycho-sozialen Status zu stabilisieren und ihre Lebensqualität zu verbessern. Die App setzt dabei genau dort an, wo die Beratungs- und Betreuungsmöglichkeiten durch Behandler*innen aufhören: im Alltag der Patient*innen.

    Das Forschungsprojekt Checkpoint-S

    Entwickelt wird die Checkpoint-S-App im Rahmen eines gleichnamigen Forschungsprojekts an der Hochschule Merseburg, das seit 2019 für drei Jahre durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. Die Ergebnisse unterschiedlicher empirischer Erhebungen unter substituierten Menschen und Behandler*innen werden als Bestandteil einer iterativen und agilen App-Programmierung direkt in Funktion und Design der App übersetzt. Auf diesem Wege entsteht schrittweise ein Tool, das direkt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Zielgruppe zugeschnitten ist. Der Kerngedanke dabei ist: Je dichter Gestaltung und Funktionalität der App an der Lebensrealität der Adressat*innen orientiert sind, desto besser ist die Gebrauchstauglichkeit (usability) und das Nutzungserlebnis (user experience). Kooperationspartner*innen in Halle (Saale) und Berlin stehen dem Projekt mit ihrem Fach- und Praxiswissen beratend zur Seite. Alle eint die Idee, Checkpoint-S zu einem sinnvollen, therapiebegleitenden Hilfsmittel der Substitutionsbehandlung werden zu lassen.

    Die App in ihrer bisherigen Entwicklungsstufe räumt auch Menschen unabhängig von einer Substitutionsbehandlung Nutzungsmöglichkeiten ein. So bietet sie Drogengebraucher*innen und suchtkranken Menschen allgemein die Möglichkeit, bestimmte Aspekte ihres Alltags zu dokumentieren, um auf diesem Weg persönlichen Konsummustern auf die Spur zu kommen: Wie sehen die emotionalen und physischen Auswirkungen des Konsums aus? Was sind die individuellen Auslöser für den Konsum (Trigger)? 

    Abb. 1

    Die Checkpoint-S-App macht sich das Prinzip des so genannten Self-Trackings zunutze. Gemeint ist damit die freiwillige Erfassung von Aspekten des eigenen Körpers, des Verhaltens, der Emotion sowie der Kognition und ihres Verhältnisses zur physiologischen Umwelt (Aufenthaltsorte, Uhrzeiten, Wetterbedingungen u.v.m.) mittels technischer Gerätschaften. Ziel ist, Erkenntnisse über diese Aspekte zu gewinnen und ein entsprechendes Selbstwissen aufzubauen. Die so gewonnenen Einsichten können Ausgangspunkt für eine gezielte Gestaltung von Veränderungsprozessen werden (George-Gaentzsch 2021).

    Die Checkpoint-S-App setzt dieses Prinzip in Form unterschiedlicher digitaler Tagebücher um. Die aktuelle Version 6.3, die bereits im Google-Play-Store zum Download verfügbar ist, bietet die folgenden Funktionen (s. Abb. 1):

    1. Substitutionstagebuch zur Dokumentation der täglichen Einnahme des Substitutionsmittels in Bezug auf Dosis und Zeitpunkt. Zudem kann ein persönlicher Substitutionsplan in der App eingerichtet werden, wodurch eine reguläre Einnahme zukünftig nur noch bestätigt werden muss. Auch irreguläre Einnahmen lassen sich problemlos festhalten. In der zugehörigen Datenbank sind alle aktuell auf dem deutschen Markt erhältlichen Substitutionsmittel inklusive Depotmedikationen enthalten. Die App erinnert an die nächste Dosis, was insbesondere für Take-Home-Patient*innen sowie für Patient*innen, die Depotsubstitute erhalten, wichtig ist.
    2. Abb. 2

      Befinden-Tagebuch: In diesem Bereich können Patient*innen täglich ihr körperliches und emotionales Befinden beurteilen (Toll, Gut, Geht so, Mies) und festhalten, welche Gründe ihr aktuelles Befinden beeinflussen. Die Liste der Gründe kann durch den/die Nutzer*in selbstständig erweitert und um eigene Gründe ergänzt werden. Auf diesem Weg ist es möglich, die App zu individualisieren.

    3. Konsumdruck-Tagebuch: Hier lässt sich regelmäßig erfassen, wie stark oder schwach das Craving, d. h. das Bedürfnis, Drogen zu konsumieren, zum jeweiligen Zeitpunkt ist. Auch hier lassen sich Bewertungen in Bezug auf das Vorhandensein von Konsumdruck dokumentieren und individuelle Gründe dafür angeben (s. Abb. 2).
    4. Konsum-Tagebuch: Konsumieren Patient*innen während der Substitutionstherapie gelegentlich oder regelmäßig legale oder illegale Substanzen, kann das in diesem Bereich notiert werden. Das Konsum-Tagebuch erlaubt auch, Verhaltenssüchte wie Glückspiel, Kaufen oder Essen zu protokollieren. Da hier auch eigene ‚Substanzen‘ angelegt werden können, lässt sich das Konsum-Tagebuch nutzen, um die Einnahme verschriebener Medikamente wie etwa Schmerzmittel, Magen-Darm-Medikamente oder Psychopharmaka hinsichtlich Dosis und Zeitpunkt festzuhalten.
    5. Abb. 3

      Ziele-Tagebuch: Persönliche Ziele wie regelmäßig essen, Sport treiben oder spazieren gehen können in diesem Bereich definiert und die Umsetzung überwacht werden. Bei diesen Zielen kann es sich um eigene Vorhaben handeln oder auch um Ziele, die im Rahmen der Substitution, der Psychotherapie oder der psychosozialen Betreuung definiert wurden.

    6. Export- und Backup-Funktion: Die App verfügt schließlich über eine Exportfunktion, sodass Patient*innen ihre Daten ihren Behandler*innen zugänglich machen können. Ob die Daten geteilt werden oder nicht, ist allein den Patient*innen überlassen; ohne deren aktives Tun verbleiben die Daten auf dem persönlichen Handy und sind von Dritten nicht abrufbar. Auf der Projekt-Webseite https://checkpoint-s.de/ wird ein spezielles Excel-Sheet zum Download angeboten, das es ermöglicht, die exportierten Daten auf einfache Weise zu visualisieren und miteinander in Verbindung zu setzen. Wichtig wird, dass die App über eine Backup-Funktion verfügt, die es Nutzer*innen erlaubt, ihre Daten zu sichern.

    Die einzelnen Tagebucheinträge und ausstehenden Ereignisse werden in der App in einer komfortablen Kalenderansicht dargestellt (s. Abb. 3). Eingegebene Daten lassen sich als Diagramme visualisieren, wodurch zeitliche Verläufe erkennbar werden. Zusätzliche Kreisdiagramme informieren über Verhältnismäßigkeiten, etwa welches die häufigsten dokumentierten Gründe für ein „mieses“ Befinden sind. Die Visualisierungen sollen den Nutzer*innen ermöglichen, einfacher persönliche Einsichten über sich und ihre Erkrankung zu gewinnen und ggf. eigene Problembewältigungsstrategien zu entwickeln (s. Abb. 4).

    Abb. 4

    Zurzeit arbeitet das Projektteam an der Entwicklung und Implementierung einer Erinnerungsfunktionalität. Mittels selbstgesetzter Reminder können Nutzer*innen sich etwa daran erinnern lassen, regelmäßige Eintragungen in den Tagebüchern zu tätigen, oder sie können sich bestimmte alltägliche Zielvorgaben, wie beispielsweise regelmäßig zu essen, ins Gedächtnis rufen.

    Die Vorteile der App für Patient*innen, Klient*innen und Behandler*innen

    Folgende Vorteile ergeben sich für Patient*innen durch die Nutzung der Checkpoint-S-App:

    1. Ermöglichen von Selbstreflexion, Selbstwissen und Selbstexpertisierung: Für Patient*innen bietet sich die Chance, sich selbstinitiiert und eigenmotiviert ein besseres Verständnis für den Behandlungsprozess im Sinne einer bio-psycho-sozialen Gesamtentwicklung erarbeiten zu können. Mit der selbstinitiierten Sammlung körperlicher und psychischer Daten soll zu einer regelmäßigen, aktiven und bewussten Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper, dem Verhalten und dem psychischen Befinden angeregt werden. Auf diesem Wege können Nutzer*innen ihre individuelle Erkrankung sowie positive und negative Einflussfaktoren auf die persönliche Entwicklung besser verstehen lernen. Dergestalt werden sie zu Expert*innen ihrer persönlichen Erkrankung sowie ihrer Bedürfnisse und Probleme.
    2. Steigerung der Eigenverantwortung und Patient*innen-Autonomie: Durch das Angebot der Reflexion und Dokumentation sollen Patient*innen motiviert und befähigt werden, sich als informierte Partner*innen in die Gestaltung der Behandlung und Betreuung einzubringen – ein Fakt, der gleichzeitig die therapeutischen Kriterien Compliance und Haltekraft stärkt.
    3. Kontinuierliche Unterstützung: Die App möchte Nutzer*innen zu einer konstanten Datensammlung und Auseinandersetzung mit den Daten bewegen – zukünftig sollen Push-Benachrichtigungen dieses Ziel unterstützen. Dies wiederum kann zu einem Impulsgeber für die Entwicklung von persönlichen Zielen sowie von Lösungsstrategien bei Suchtdruck, Konsum und anderen Krisensituationen werden.
    4. Informations- und Wissensvermittlung: Den Patient*innen soll in Form von gut recherchierten und fachlich geprüften Informationen und Tipps eine bedarfsgerechte, jederzeit verfügbare, kleinschrittige und individuelle Unterstützung in Alltag und Beruf geboten werden. Diese Informationsvermittlung erfolgt über den Bereich Wissenswelt auf der Projekt-Webseite. In diesem Sinne sind die App und die Webseite als eine Einheit zu verstehen.
    5. Inklusion: Mit den genannten Zielsetzungen lässt sich ein Stück Barrierefreiheit und Teilhabe für eine vulnerable und vielfach benachteiligte Patient*innengruppe schaffen, die ansonsten nicht nur vom digitalen Wandel im Gesundheitsbereich ausgeschlossen bliebe. Ihr Ausschluss aus diesen Entwicklungen würde auch zu einer weiteren sozialen Benachteiligung führen.

    Die App soll eine digitale Therapiebegleitung sein, die sowohl den Patient*innen als auch deren Behandler*innen zugutekommt. Die Vorteile, die die Checkpoint-S-App Substitutionsärzt*innen, Psychotherapeut*innen und Sozialarbeiter*innen bieten kann, sind nach jetzigem Forschungsstand des Projekts:

    1. Vereinfachung von Diagnostik, Therapie und Beratung: Indem die Daten im Alltag der Patient*innen gesammelt und dokumentiert werden, erhalten Behandler*innen ein genaueres Bild von Symptomen und Alltagsproblemen. Wenngleich es sich hierbei nur um ‚weiche‘ – weil subjektiv gefärbte – Daten handelt, können diese doch wichtige Anhaltspunkte für die Therapieplanung liefern und auch dabei helfen, Erinnerungslücken auf Seiten der Patient*innen zu füllen.
    2. Individualisierung von Therapie und Beratung: Auf Basis der gesammelten Daten und der gemeinsamen Auswertung mit dem/der Patient*in kann es leichter möglich werden, Therapie und Beratung auf die jeweils individuellen Bedürfnisse zuzuschneiden und zielgerichteter zu planen – ein Fortschritt, der die Erfolgsaussichten deutlich verbessern kann.
    3. Arbeits- und Zeitersparnis: Aus einer zwar vereinfachten, aber umfassenderen Diagnostik, den erweiterten Individualisierungsmöglichkeiten und nicht zuletzt durch Befähigung und Stärkung der Patient*innen ergibt sich für deren Behandler*innen eine Ersparnis an Arbeit und Zeit.

    Anwendungsfelder der Checkpoint-S-App innerhalb und außerhalb der Substitution

    Ist ein/e Nutzer*in bereit, die Daten aus Checkpoint-S mit seinen/ihren Behandler*innen (Allgemeinmediziner*innen und Substitutionsärzt*innen, Psycholog*innen, Psychotherapeut*innen oder Sozialarbeiter*innen) zu teilen, können beide Seiten profitieren. Hierdurch eröffnen sich Möglichkeiten, Therapie und Betreuung zu individualisieren, negativen Entwicklungen frühzeitig entgegenzuwirken sowie positive Tendenzen zu unterstützen. Die App ermöglicht, Therapie und Beratung im Sinne eines Shared-Decision-Making zu gestalten. Gestützt auf bisher vorliegende empirische Erkenntnisse lassen sich nachfolgende Anwendungsfelder der App innerhalb der Substitutionstherapie erkennen: 

    • Einstellung des Substituts, Dosissplitting und Abdosierung: Durch die regelmäßige Dokumentation der Einnahme des Substituts lässt sich erschließen, ob, wann und in welcher Dosis der/die Patient*in das verschriebene Substitut eingenommen hat. Wird parallel dazu das Konsumdruck-Tagebuch geführt, können Substitutionsärzt*innen die Daten nutzen, um zu überprüfen, ob ihr/e Patient*in richtig eingestellt ist. Werden zudem die Daten aus dem Befinden-Tagebuch einbezogen, lassen sich potenzielle Nebenwirkung und Unverträglichkeiten identifizieren. Auf diesem Wege ist es möglich, die Dosis des Substituts gezielt und individuell anzupassen oder zu entscheiden, ob vielleicht ein anderes Substitut besser geeignet sein könnte. Auch bei einem Dosissplitting von Take-Home-Patient*innen können die Wirksamkeit und Verträglichkeit der Einzeldosen geprüft und gezielt Anpassungen vorgenommen werden. Des Weiteren kann eine kontinuierliche Abdosierung des Substituts anhand der App-Daten systematisch begleitet und bei Problemen zeitnah gegensteuert werden.
    • Einstellung und Kontrolle weiterer Medikamente: Nimmt ein/e Patient*in regelmäßig weitere Medikamente (z. B. Schmerz-, Magen-Darm-Mittel oder Psychopharmaka), kann deren Einnahme mittels Konsum-Tagebuch dokumentiert und überprüft werden. In Kombination mit Daten aus dem Befinden-Tagebuch lassen sich Rückschlüsse in Bezug auf die korrekte Dosiseinstellung sowie auf mögliche unerwünschte körperliche oder psychische Nebenwirkungen ziehen. Werden innerhalb substitutionstherapeutischer Interventionen auch die Eintragungen im Substitutionstagebuch hinzugezogen, ist auf diesem Wege möglicherweise zu erkennen, ob es negative Wechselwirkungen zwischen Medikamenten und dem Substitut gibt. In der Folge können Dosierungen und Einnahmezeitpunkte angepasst oder es kann über einen Wechsel der Medikamente entschieden werden.
    • Dokumentation von Begleit- und Folgeerkrankungen: Die meisten Menschen in Substitutionsbehandlung haben einen multimorbiden Gesundheitszustand. Vor allem durch das Befinden-Tagebuch lassen sich Symptome – etwa chronische Schmerzen oder andere Beschwerden – sowie individuelle Krankheitsverläufe systematisch dokumentieren. Auf dieser Basis können therapeutische Ansätze und Medikamente angepasst werden.
    • Falldokumentation: Die exportierten Daten der Checkpoint-S-App lassen sich in den Excel-Sheets gemeinsam in einer Grafik visualisieren. Zusammenhänge sind so leichter erkennbar. Die Export-Datei kann deshalb auch ein wichtiges Hilfsmittel für die Falldokumentation der Behandler*innen sein, weil auf diese Weise Verläufe sowie Zeitpunkte und Erfolge von therapeutischen Interventionen genau nachvollzogen werden können.
    • Identifikation von Triggern und psychischen Leiden: Wird das Befinden-Tagebuch regelmäßig genutzt und werden für das jeweilige Befinden auch die Gründe notiert, lassen sich bestimmte Auslöser (Trigger) für positive oder negative Gefühlslagen identifizieren. Damit können Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen erkennen, welche Verhaltensweisen sich vorteilhaft auf therapeutische Ziele auswirken und an welchen gemeinsam gearbeitet werden sollte. Bei einer längerfristigen Nutzung lassen sich bestimmte Verhaltensmuster erkennen, die erlauben präventiv einzugreifen, um etwa das Aufkommen depressiver Phasen zu vermeiden.
    • Konsummuster erkennen und verändern: Eine klassische Aufgabe therapeutischer Interventionen und psychosozialer Betreuung ist, Konsummuster für legale und illegale Substanzen sowie Muster von Verhaltenssüchten zu erkennen. Wichtige Informationen dazu kann das Konsum-Tagebuch liefern. Werden der Konsum oder exzessive Verhaltensweisen hier regelmäßig festgehalten, lassen sich solche Muster schnell erkennen. Kombiniert man diese Daten mit denen aus dem Befinden-Tagebuch, ergibt sich ein dezidiertes Bild über mögliche Auslöser und Kompensationsstrategien.
    • Problemfelder erkennen und Ressourcen aufbauen: Führt ein/e Nutzer*in neben dem Substitutionstagebuch auch regelmäßig das Befinden-Tagebuch, das Konsumdruck-Tagebuch und das Konsum-Tagebuch, ergibt sich ein komplexes Bild über wiederkehrende problematische Zusammenhänge. Beispielsweise wird so ersichtlich, ob der Aufenthalt an bestimmten Orten einen hohen Konsumdruck oder der Kontakt mit bestimmten Personen eine Stressreaktion auslöst. Auf Basis dieses Wissens können Behandler*in und Patient*in gemeinsam Problemlösungsstrategien erarbeiten, wie sich diese Risikosituationen zukünftig vermeiden lassen.
    • Ziele vereinbaren und verfolgen: Mit dem Ziele-Tagebuch der Checkpoint-S-App können etwa im Rahmen der psychosozialen Betreuung unterschiedlichste Ziele bestimmt und deren Umsetzung im Alltag verfolgt werden. So könnten bei einem Wunsch nach Konsumreduktion beispielsweise konsumfreie Tage oder wöchentlich wiederkehrende Routinen definiert werden. Beim nächsten Termin mit dem/der Klient*in ließe sich anhand der Daten gemeinsam besprechen, inwieweit Ziele umgesetzt werden konnten oder wo es Probleme gab.

    Die Anwendungsfelder der Checkpoint-S-App sind nicht auf Substitution beschränkt. Es lassen sich schon jetzt einige Off-Label-Uses im Kontext unterschiedlicher Formen von Sucht- sowie chronischer Erkrankungen erkennen. So ist Checkpoint-S auch für die Dokumentation bestimmter Verhaltenssüchte wie Glückspiel, Videospielen, Kaufen oder Essen geeignet. Außerdem kann die App im privaten Bereich eingesetzt werden. Dies betrifft den so genannten Party- und Freizeitkonsum legaler und illegaler Drogen, den Substanzgebrauch zur Leistungssteigerung in Schule, Universität und Beruf oder aber den Gebrauch bestimmter Substanzen als eine Form der Selbstmedikation bei physischen oder psychischen Leiden. Weitere Nutzungsszenarien der Checkpoint-S-App werden die Ergebnisse des Praxistests aufdecken, der im Juli 2021 beendet wurde.

    Fazit

    Die Checkpoint-S-App bietet für Menschen in Substitution die Möglichkeit, sich selbst, ihre individuelle Erkrankung und ihre speziellen Problemfelder und Bedürfnisse besser zu verstehen. Auf diesem Wege können sich motivierte und emanzipierte Patient*innen aktiv in die Gestaltung von Therapie und psychosozialer Betreuung einbringen. Sind Nutzer*innen bereit, die Daten mit ihren Behandler*innen zu teilen, können auch diese auf vielfältige Art und Weise einen Nutzen aus der App ziehen. Die App kann so ein wichtiges Tool der Therapiebegleitung und der Therapievorbereitung bzw. der Überbrückung bis zum Therapiebeginn sein. Sie kann genutzt werden, um bis zum Freiwerden eines Therapieplatzes bereits relevante Informationen zu sammeln, den/die Patient*in zur Selbstreflexion anzuregen oder bestimmte Ziele zu verfolgen.

    Zusätzlich zu allen genannten Vorteilen hat die aktuelle Corona-Krise die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Entwicklung kontaktarmer, mobiler Formen der Therapiebegleitung verdeutlicht. Insbesondere für Risikogruppen wie ältere, komorbide und/oder chronisch kranke Patient*innen werden derartige digitale Ansätze zukünftig wichtig werden. Die Checkpoint-S-App kann bereits heute dazu beitragen, für substituierte Menschen lebensbedrohliche Versorgungs- und Therapieabbrüche in Folge von Kontaktbeschränkungen, Praxisschließungen oder persönlichem Quarantänefall etwas zu kompensieren. Positiv gewendet sind die mit Corona verbundenen Entwicklungen auch ein Schritt zu mehr Normalität für Substitutionspatient*innen, die bisher stark geregelten und kleinteilig kontrollierenden Behandlungsroutinen ausgesetzt sind.

    Unabhängig von einer Substitutionsbehandlung bietet Checkpoint-S ein breites Anwendungspotenzial auch für Psychotherapie oder Beratungen. Weitere Anwendungskontexte der Checkpoint-S-App sehen die Forscher*innen auch in der Allgemeinmedizin. Nach Auswertung des Praxistests werden sie dazu berichten.

    Kontakt:

    Dr. Lars George-Gaentzsch
    CheckPoint-S Projektteam
    Hochschule Merseburg, University of Applied Sciences
    Eberhard-Leibnitz-Straße 2
    06217 Merseburg
    checkpoint-s@hs-merseburg.de
    www.checkpoint-s.de

    Angaben zu den Autor*innen:

    Dr. phil. Lars George-Gaentzsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt Checkpoint-S und kümmert sich im Wesentlichen um die Konzeption des Forschungsdesigns, die Durchführung und Auswertung der empirischen Erhebung sowie die theoretische Übersetzung der Forschungsergebnisse in Design und Funktionen der Checkpoint-S-App.
    Prof. Dr. habil. Gundula Barsch ist Projektleiterin und Impulsgeberin des Forschungsprojekts. Seit vielen Jahren arbeitet sie als Dozentin und Forscherin an der Hochschule Merseburg im Fachbereich Soziale Arbeit. Medien. Kultur. Ihr thematischer Schwerpunkt liegt im Bereich „Drogen und Soziale Arbeit“.
    Dipl.-Soz.päd. Scarlett Wiewald ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt und Dozentin an der Hochschule Merseburg. Neben der praktischen Konzeption der Inhalte und des Designs der App gemeinsam mit den Software-Entwicklern pflegt sie die Kontakte zu den Behandler*innen und Patient*innen und managt den Transfer der App in die Praxis.

    Literatur:
  • Substitutionsbehandlung während der Corona-Pandemie

    Substitutionsbehandlung während der Corona-Pandemie

    Antje Matthiesen

    Im Januar 2020 tauchten erste Nachrichten über eine unbekannte, leicht übertragbare, mit schweren Krankheitsverläufen einhergehende Infektionskrankheit auf. Dies sorgte für Aufregung, auch unter suchterkrankten Menschen und denen, die mit und für sie arbeiten. Die Sorge, dass sich schnell Infektionsketten unter dieser vulnerablen Bevölkerungsgruppe ausbreiten würden, einhergehend mit der Sorge, dass mit einer Vielzahl an möglichen Todesfällen zu rechnen sei aufgrund der gesundheitlich z. T. stark vorbelasteten Personen, war nicht nur bei uns im Träger spürbar. Zudem wurde ein Ansturm auf die Einrichtungen erwartet, bedingt durch den befürchteten Zusammenbruch des Drogenmarktes sowie infektionsbedingte Schließungen von Substitutionspraxen. Gerade die großen Substitutionspraxen wurden als potentielle Zentren für die Verbreitung von SARS-CoV-2 unter dem Personal und den Patient*innen eingeschätzt – besonders unter dem Aspekt der täglichen Vergabe des Substituts unter Sicht.

    Kurze Vorstellung des Trägers Notdienst Berlin e.V.

    Eine jahrelange Suchtmittelabhängigkeit führt häufig zu gesundheitlichen, sozialen und finanziellen Problemen wie Schulden, Wohnungs- und Arbeitslosigkeit sowie gesellschaftlicher Isolation. Die Teilhabe ist deutlich eingeschränkt. Daher bietet der Notdienst für suchtmittelgefährdete und -abhängige Berlin e.V. eine Kombination aus verschiedenen aufeinander abgestimmten Hilfen für die Betroffenen, um eine sinnvolle und nachhaltige Perspektive zu eröffnen. Wir informieren, beraten, betreuen und begleiten Menschen und vermitteln sie bei Bedarf in weiterführende Hilfen. Die Vermittlung in weiterführende Hilfen gelang jedoch unter Pandemiebedingungen kaum, da Einrichtungen geschlossen oder anderweitig genutzt wurden.

    Grundsätzlich unterstützen wir bei der gesellschaftlichen Re-Integration, der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und der Entwicklung einer sinnstiftenden Tagesstruktur und Aufgabe. Unsere Schwerpunkte liegen in den Bereichen:

    • Beratung/ambulante Rehabilitation
    • Substitution (Psychosoziale Betreuung und Betreutes Wohnen)
    • Beschäftigung, Qualifizierung, Tagesstruktur
    • Angebote nur für Frauen
    • Angebote für Familien
    Psychosoziale Betreuung für Substituierte am Standort Genthiner Straße in Berlin

    Einen besonderen Ansatz verfolgen wir in unseren vier Ambulanzen für integrierte Drogenhilfe, A.I.D. Dies bedeutet: konzeptionell eng verzahnte und interdisziplinäre Zusammenarbeit von Medizin und Sozialarbeit unter einem Dach für die Zielgruppe opioidabhängige Menschen. In diesen Schwerpunktpraxen werden jeweils zwischen 220 bis 330 Patient*innen mit Ersatzstoffen medizinisch behandelt und begleitend psychosozial betreut. Diese Einrichtungen bieten vor allem den schwerstabhängigen, so genannten Nicht-Wartezimmer-fähigen Patient*innen ein auf ihre Bedürfnisse spezialisiertes und eng verknüpftes Angebot. Im Mai 2020 eröffneten wir, mitten in der ersten Corona-Welle, in Lichtenberg unseren vierten Berliner Ambulanzstandort – in Zusammenarbeit mit dem Praxiskombinat Neubau, in dem auch mit dem Originalersatzstoff Diamorphin behandelt wird.

    Corona – die neue Situation

    Nicht nur die bereits erwähnten Ängste vor Praxisschließungen und Ansteckung vor Ort beschäftigten Mitarbeiter*innen und Patient*innen. Auch der Weg zur Substitutionspraxis wurde nun zu einem unkalkulierbaren Ansteckungsrisiko. Die Bitte der Regierung an die Bevölkerung, möglichst zuhause zu bleiben, verschärfte die Problematik und war für diesen Personenkreis kaum umsetzbar.

    Zusätzlich strömten täglich neue Drogenabhängige in die Praxen, die aus Angst vor einem zusammenbrechenden Drogenschwarzmarkt in die Substitution aufgenommen werden wollten. Diese eigentlich positive Entwicklung stellte sich schon bald als temporär heraus, da viele dieser Neu-Patient*innen die Praxis schnell wieder verließen. Dies führte zu einem erheblichen Mehraufwand bei Praxispersonal und PSB-Mitarbeiter*innen.

    Auch fehlende Vermittlungsoptionen durch geschlossene, reduziert besetzte oder anderweitig genutzte Behörden, Einrichtungen und/oder Kliniken prägten den Arbeitsalltag. Stationäre Behandlungsplätze (Entgiftungsbehandlung, Entwöhnungs-, aber auch Schmerztherapie) waren nur noch schwer, wenn überhaupt, verfügbar.

    Mit dem Infektionsschutzgesetz, den SARS-CoV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen, den Corona-Beschlüssen des Landes Berlin sowie der Eingliederungshilfe-Covid-19-Verordnung wurden schnell die rechtlichen Rahmenbedingungen angepasst, vorgegeben und fortlaufend aktualisiert. Hier galt es, pragmatisch zwischen Sicherstellung der Versorgung und Infektionsschutz abzuwägen. Dazu gehörte auch, soweit möglich und vertretbar, die Menschen nicht in die Praxen/Einrichtungen kommen zu lassen und die dafür zur Verfügung stehenden neuen Möglichkeiten der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) und der Richtlinie der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opioidabhängiger (BÄK-Richtlinie) vollumfänglich zu nutzen. Obwohl bereits 2017 Neuregelungen getroffen worden waren, wurden diese vor der Pandemie eher zaghaft genutzt.

    Neue Vorkehrungen und Arbeitsweisen

    Masken und Desinfektionsmittel für die Klient*innen

    Die Aufrechterhaltung der Grundversorgung für die Patient*innen/Klient*innen war für uns selbstverständlich und ist zudem ein expliziter Auftrag. Die zur Aufrechterhaltung der Angebote notwendigen Veränderungen mussten schnell umgesetzt werden, dazu gehörten:

    • Einlassmanagement in den Praxen/Einrichtungen
    • „Sicherung der Einrichtungen“ mit individuell angepassten Hygienekonzepten
    • verstärkte Nutzung der Take-Home-Regelungen
    • Überprüfung und – wo möglich – Anpassung der Rahmenbedingungen der Behandlung/Betreuung
    • noch engere Abstimmung zwischen Medizin und PSB
    • Umgang mit dem anfänglichen „Sturm“ in die Behandlung
    • Nutzung digitaler Medien wie Messenger, SMS, Chatberatung, Videokonferenzen
    • Etablierung neuer Angebote wie „Fenstern“ oder „Walk to talk“
    • Aufklärung und Durchführung von Testangeboten (ab 12/2020)
    • Aufklärung und Vermittlung in Impfangebote (ab 03/2021)

    Schnell etablierten sich auch bei uns im Träger neue Methoden des miteinander Arbeitens, besonders die „Vikos“. Videokonferenzen wurden das neue Kommunikationsinstrument im Träger sowie darüber hinaus. Die dafür notwendigen technischen Ausstattungsgegenstände wie Laptops und Smartphones wurden auf schnellem Wege angeschafft. Das Schulen der Mitarbeiter*innen gelang meist im üblichen „Do it yourself“-Verfahren – nicht immer reibungslos, aber letztlich mit dem gewünschten Ergebnis.

    Auswirkungen für die Substitutionspatient*innen

    Die SARS-CoV-2-Pandemie wurde für die Substitutionspatient*innen nicht zur anfänglich erwarteten Katastrophe. Ob das an dem eher jüngeren Alter, dem nur selten vorhandenen Übergewicht oder der eventuell präventiven Wirkung der Substitutionsmedikamente liegt, ist bislang unklar. Die klassischen Superspreader Events wie Kreuzfahrten, Skitouren oder Abibälle gehören zudem weniger zum bevorzugten Freizeitverhalten dieser Bevölkerungsgruppe, und die soziale Distanz haben viele auch schon vor der Pandemie verinnerlicht.

    Positiv, vor allem für die medizinische Behandlung, waren die 2017 angepassten gesetzlichen Neuregelungen der BtMVV sowie der ärztlichen Richtlinien, die eine gute Grundlage für die Anpassungen in der Pandemiezeit darstellten. Dazu gehörten der Aufruf zur konsequenten Nutzung der erweiterten Take-Home-Regelungen, die Möglichkeit der Abrechnung von mehr Gesprächen (auch telefonischer und/oder digitaler Art) oder der Postversand von BtM-Rezepten (amtliche Formblätter zur Verschreibung von Betäubungsmitteln). Einige Praxen erweiterten ihre Öffnungszeiten und/oder sorgten durch ein Einlassmanagement für Entzerrung der Patient*innenströme, was sicherlich half, einen Massenausbruch von Covid-19-Infektionen in den Praxen und damit einhergehende Schließungen zu verhindern.

    Die Ausweitung der Take-Home-Regelungen und die dafür an vielen Stellen von Patient*innen, PSB und Ärztin/Arzt gemeinsam vorgenommene Einschätzung der jeweiligen Möglichkeiten sorgte für eine neue positive Bewertung dieses Behandlungsdreiecks. Aufklärung über die aktuelle Pandemieentwicklung, Hygienemaßnahmen, Infektionsgefahren sowie die geltenden Auflagen und Bestimmungen war so schnell und wirkungsvoll möglich.

    Schnelltest

    Eine spannende Erfahrung war, dass es Patient*innen gab und gibt, die lieber wieder häufiger in die Praxis kommen wollten und wollen, da ihnen diese Aktivität als Tagesstruktur, aber auch als menschlicher Kontakt, fehlt. Durch den Lockdown und die eingeschränkten Möglichkeiten, das eigene Grundbedürfnis nach sozialem Kontakt ausreichend zu stillen, haben die Einrichtungen einen (noch) wichtigeren Stellenwert bei den Patient*innen/ Klient*innen eingenommen. Über einen längeren Zeitraum waren die Betreuungseinrichtungen der einzige Ort, der auch weiterhin täglich geöffnet hatte. Die auch dort notwendigen Einschränkungen wurden weniger negativ wahrgenommen als „draußen“. Vor allem, dass mit den täglichen Ansprechpartner*innen vor Ort auch mal „wohltuende Smalltalks“ möglich waren, wurde positiv kommuniziert. Hier gab es eine große Dankbarkeit der Patient*innen/Klient*innen. Vielerorts entstand ein neues „gutes Miteinander“.

    Die medizinische Versorgung wurde an einigen Stellen umfassender, und Corona als Gesundheitsthema sorgte für ein größeres Bewusstsein für die eigene gesundheitliche Fürsorge. Im Zuge der Impfvorbereitung führte der Blick in den Impfausweis zu der einen oder anderen Nachimpfung, mitunter aber auch dazu, dass ein Impfausweis überhaupt erst einmal ausgestellt wurde. Die verschärften Hygieneregeln und natürlich die Maskenpflicht hatten zudem deutlich weniger Erkältungs- und Grippeinfekte im Herbst/Winter 2020 zur Folge.

    Kooperierende Ärztinnen und Ärzte berichteten, dass sich manche Patient*innen durch die Vereinsamung ihnen gegenüber offener zeigten. Gespräche über Rückfälle oder den Konsum anderer Substanzen konnten gut für therapeutische Interventionen genutzt werden. Die Pandemie selbst stellte zudem oft ein „verbindendes Thema“ zwischen den Lebenswelten der Klient*innen und der Helferpersonen dar.

    Schutz durch Impfung

    Die Entscheidung, suchterkrankte Menschen wegen ihrer schweren psychischen Erkrankung in die Impfpriorisierungsgruppe 2 aufzunehmen und damit bevorzugt zu impfen, war für die Menschen ein sehr wichtiges Signal. Immer wieder berichteten uns Patient*innen/ Klient*innen, wie neu es für sie sei, als besonders schützenswert angesehen zu werden. Dass die Impfpriorisierung 2 auch für das Behandlungs- und Betreuungspersonal galt, sorgte für große Entspannung und Erleichterung im Arbeitsalltag der Mitarbeitenden.

    Ausblick: Verbesserungen für Behandler*innen und Patient*innen

    Die Pandemie bot die Möglichkeit, auch die Substitutionsbehandlung zu vereinfachen. Abläufe wurden an vielen Stellen verschlankt, und plötzlich waren innerhalb kürzester Zeit Änderungen von Vorgaben möglich, die unter „normalen Umständen“ undenkbar gewesen wären.

    Beim diesjährigen interdisziplinären Suchtkongress in München wurde von einer hohen Corona-Disziplin der Patient*innen gesprochen, von deutlich gesunkenen Behandlungsabbrüchen bis hin zu neuen therapeutischen Zugängen, weil sich die jeweiligen Blickwinkel veränderten. Suchtmediziner*innen berichteten von einem vereinfachten Verfahren, positiven Erfahrungen mit der Ausweitung der Take-Home-Regelungen (inklusive Diamorphin!), einer höheren Patientenzufriedenheit sowie einer Flexibilität der Behandlung. Auch dass weder der Schwarzmarkt mit Substitutionsmedikamenten überflutet wurde noch es zu zahlreichen „verlorenen“ Rezepten kam, war für viele eine Überraschung. Die Rede war an verschiedenen Stellen von einer „stillen Normalisierung“ dieser so wichtigen Behandlung, und demzufolge wurde (erneut) die Forderung laut, dass die ärztlichen Richtlinien dem wissenschaftlichen Stand (nach Pandemie) anzupassen seien.

    Kontakt:

    Antje Matthiesen
    Notdienst für suchtmittelgefährdete und -abhängige Berlin e.V.
    (Notdienst Berlin e.V.)
    Genthiner Straße 48
    10785 Berlin
    Tel. 030-233 240 100
    info@notdienstberlin.de
    https://drogennotdienst.de/ 

    Angaben zur Autorin:

    Antje Matthiesen hat beim Notdienst Berlin e.V. die „Fachbereichsleitung Arbeit & Beschäftigung, Substitution & PSB, Frauen“ inne. Die gelernte Tischlerin und Sozialpädagogin ist seit fast 20 Jahren beim Notdienst Berlin in verschiedenen Funktionen tätig.

  • Weiterbildung Suchttherapie im digitalen Format!?

    Weiterbildung Suchttherapie im digitalen Format!?

    Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel
    Corinna Mäder-Linke

    Die Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass im Rahmen der Weiterbildung zur / zum Suchttherapeut*in erstmals digitale Formate zur Wissensvermittlung eingesetzt wurden. Über die Erfahrungen damit berichtet Corinna Mäder-Linke in Teil I dieses Artikels.  Gleichzeitig hat die pandemiebedingte Notwendigkeit, Treffen in physischer Präsenz zu vermeiden, einen hohen Bedarf an Weiterbildung im Umgang mit digitalen Medien (technisch wie juristisch) offengelegt. Mit diesem Aspekt beschäftigt sich Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel in Teil II. 

    TEIL I

    Einleitende Worte: das Tor zum postpandemischen Leben

    Nach über einem Jahr ist die Corona-Pandemie nicht mehr nur ein Einschnitt, sondern ein echter Lebensabschnitt geworden: Menschen haben existenzielle Bedrohungen erlebt, sind in vielerlei Hinsicht an ihre Grenzen gegangen, sind gealtert, gewachsen, gereift, je nachdem. Die notwendig gewordenen Einschränkungen nehmen eine Zeitspanne ein, in der aus regelmäßigen Handlungen Gewohnheiten werden können, und da Anpassung eine Kernkompetenz ist, haben wir die Regeln zu Abstand, Hygiene und Alltagsmaske verinnerlicht und in unseren Alltag integriert. Genauso entgeistert, wie wir am Anfang die leeren Autobahnen und Innenstädte betrachteten, sehen wir nun auf volle Cafés. Und trifft man Freunde, stellt sich insgeheim oder auch laut die Frage nach der Art der Begrüßung – umarmen oder lieber nicht.

    Doch neben der Anpassung und der Gewohnheit gibt es noch eine echte kritische Distanz gegenüber der „alten Normalität“. So lohnt es sich, sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich Überlegungen anzustellen, welche der in der Corona-Zeit gemachten positiven Erfahrungen wir in der Zukunft beibehalten möchten. Der folgende erste Teil beleuchtet diese Frage im Hinblick auf die Weiterbildungen im Kontext der Suchttherapie.

    Die Geschichte der Weiterbildung Suchttherapie 

    Lange Zeit galt Sucht moralisch als Laster und Fehlverhalten, das die Betroffenen mit einer Willensentscheidung ändern könnten. Erst das Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts vom Juni 1968 erkannte eine Abhängigkeit als Krankheit an. Auch wenn die in den Konzepten der Einrichtungen beschriebenen Therapiemethoden in den 1970er Jahren den Eindruck erweckten, sie verfolgten eher eine Strafe, als dass sie sich an theoretischem Wissen über eine Erkrankung orientierten, entstand durch die höchstrichterliche Entscheidung ein Recht auf eine vom Sozialversicherungssystem finanzierte Behandlung der Suchtkrankheit. Damit einhergehend wurde das Dilemma deutlich, dass für suchtkranke Menschen ein medizinisches Versorgungssystem nachgefragt wurde, zum damaligen Zeitpunkt aber keine speziellen Behandlungskonzepte für Suchtkranke vorlagen und es an suchtspezifisch ausgebildetem Fachpersonal mangelte. Wichtige Impulse für die Betrachtung der Sucht als Krankheit und die Behandlung abhängigkeitskranker Menschen gingen von der von Bund und Ländern 1975 veröffentlichten Psychiatrie-Enquête aus, forderte sie doch unter Berücksichtigung der multikonditionalen Entstehung des Alkoholismus ein komplexes therapeutisches Programm, das nur durch Zusammenarbeit mehrerer Therapeut*innen verschiedener Fachrichtungen ermöglicht werden kann (vgl. Deutscher Bundestag, 1975).

    Den Bedarf nach einer spezifischen Qualifizierung für hauptamtlich in der Suchthilfe Tätige aufgreifend, konzipierten Suchtfachverbände oder Institute Curricula für die „Weiterbildung zur / zum Sozialtherapeut*in – Sucht“, die aus einem verhaltenstherapeutischen oder tiefenpsychologischen Krankheitsmodell ableitbar sind. In 15 Seminarwochen, verteilt über einen Zeitraum von drei Jahren, wurden – vor dem Hintergrund des jeweiligen Verfahrens – theoretische Erklärungsansätze zur Suchtentstehung sowie Kenntnisse über Diagnosen und darauf aufbauend die Planung von Interventionstechniken vermittelt. Ein weiterer Baustein war die Selbsterfahrung. Vor dem Hintergrund eines Verständnisses der eigenen Biografie sollten die Weiterbildungsteilnehmer*innen sich einen emotionalen Zugang zu ihren eigenen Wünschen, Idealen, Illusionen und Ängsten erarbeiten können. Somit sollten sie in der Lage sein, in der zukünftigen therapeutischen Arbeit zwischen sich und der/dem Klient*in unterscheiden zu können und zu verhindern, sie/ihn unbewusst zur Projektionsfläche der eigenen Bedürfnisse und Ängste zu machen. Die dritte Komponente der Weiterbildung stellten die Seminare zum Erlernen praktischer Kompetenzen dar, in denen die Anwendung des erlernten Wissens in der therapeutischen Arbeit der Weiterbildungsteilnehmer*innen mit abhängigkeitskranken Menschen supervisorisch betrachtet wurde.

    Mit der im Jahre 1978 von den Rentenversicherungsträgern und den Gesetzlichen Krankenversicherungen verabschiedeten Empfehlungsvereinbarung Sucht für den stationären Bereich der medizinischen Rehabilitation (und 1981 für das ambulante Setting) lagen nun erstmals Qualitätsstandards vor, die die Behandlung suchtkranker Menschen überprüfbar machten und nach außen transparent auf einem professionellen Niveau festschrieben (vgl. VDR, 1978).

    In den Jahren nach Inkrafttreten dieser Vereinbarung hatte sich ein ausufernder und kaum noch überschaubarer Markt an Zusatzausbildungen für Mitarbeitende der Rehabilitation abhängigkeitskranker Menschen entwickelt mit einem breiten und sehr heterogenen Weiterbildungsangebot bei fehlenden Mindeststandards. Der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) beauftragte im Jahre 1991 eine Projektgruppe, die unter der Beteiligung der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) formale und inhaltliche Beurteilungskriterien für die Weiterbildungscurricula im Tätigkeitsfeld der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker erarbeitete. Des Weiteren formulierte man Zugangsvoraussetzungen zur Teilnahme an der Weiterbildung hinsichtlich der Qualifikation und des Arbeitsplatzes. Nach Abstimmung dieser Kriterien mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen wurden sie 1992 mit der Veröffentlichung in der Zeitschrift „Deutsche Rentenversicherung“ bindend (vgl. VDR, 1992).

    Im Jahre 2011 überarbeiteten Renten- und Krankenversicherung gemeinsam die Beurteilungskriterien und veröffentlichten sie als „Auswahlkriterien zur Prüfung von Weiterbildungen für Gruppen- und Einzeltherapeuten im Tätigkeitsfeld der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker gemäß den Anlagen 1 und 2 der Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“ vom 4. Mai 2001 in der Fassung vom 23. September 2011“ (vgl. Deutsche Rentenversicherung Bund, 2013). Vor allem Lehrinhalte der sozialmedizinischen Kategorien bzw. die Übertragung verhaltenstherapeutischer oder psychoanalytischer Diagnostik, Therapieplanung und Prognose in die Kriterien der Leistungsträger vor dem Hintergrund der Nomenklatur des ICF (International Classification of Functioning) und der Sozialgesetzbücher SGB VI oder SGB V galt es aufzunehmen.

    Digitale Strategien der Weiterbildung Suchttherapie

    Derzeit bieten in Deutschland acht Institute, darunter sowohl Hochschulen als auch Suchtfachverbände oder andere gemeinnützige Gesellschaften, insgesamt neun von der Deutschen Rentenversicherung (DRV) und der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) anerkannte Curricula für die Weiterbildung zur / zum Suchttherapeut*in an. Staatliche anerkannte Sozialarbeiter*innen / Sozialpädagog*innen, Psycholog*innen mit Diplom oder Master sowie Ärzt*innen, die in einer Einrichtung der medizinischen Rehabilitation abhängigkeitskranker Menschen tätig sind, werden zur Weiterbildung zugelassen und können dabei zwischen den Curricula der Richtlinienverfahren – psychoanalytisch, verhaltenstherapeutisch und zukünftig systemisch – wählen (vgl. Deutsche Rentenversicherung Bund, 2021).

    Bei der Überprüfung der Curricula in den Jahren 2011 bis 2016 wurde von DRV und GKV viel Wert darauf gelegt, die geforderten 600 Unterrichtseinheiten der Weiterbildung in Gänze in Präsenz umzusetzen, so dass den Weiterbildungsträgern weder die Möglichkeit eingeräumt wurde noch die Notwendigkeit bestand, im Rahmen ihrer Angebote auch auf digitale Formate zurückzugreifen. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die mit der Pandemie ab März 2020 einhergehenden Kontakt- und Reisebeschränkungen die Weiterbildung Suchttherapie unvorbereitet trafen. Da abzusehen war, dass SARS-CoV-2 für einen nicht unbeträchtlichen Zeitraum Einfluss auf das private und berufliche Leben und hier eben auch auf die Durchführung von Veranstaltungen in Präsenz nehmen würde, taten tragfähige Lösungen Not. Nachdem Seminare im März abgesagt werden mussten, gelang es in kürzester Zeit, die Curricula auf ein online-Format umzustellen, so dass alle Teilnehmer*innen der aktuellen Kurse ihre Weiterbildung ab Juni 2020 per Videokonferenzen fortsetzen konnten. Dass dabei die DRV und GKV als kooperative Partner zur Verfügung standen, um gemeinsam flexible, der Situation angepasste, pragmatische Lösungen zu finden, erleichterte die Umstellung sehr.

    Nunmehr blicken wir auf ein Jahr digitalen Unterrichts zurück – mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen, sowohl für Weiterbildungsträger als auch für die Teilnehmer*innen. Der Reiz des Neuen und die Erleichterung, eine Möglichkeit gefunden zu haben, die Weiterbildung nicht unterbrechen zu müssen, motivierte zu Beginn alle Beteiligten, sich schnell in die Handhabung von Zoom, MS Teams und GoToMeeting einzuarbeiten. Man genoss die Vorteile der eingesparten Reisezeit und der Übernachtungskosten, die eine oder der andere auch das Arbeiten von zu Hause.

    Im Laufe der Zeit kristallisierte sich dann eine differenzierte Bewertung bezogen auf die Lehrinhalte heraus. Ließen sich theoretische Inhalte effektiv und effizient, mit einer hohen Konzentration auf die zu behandelnden Themen digital unterrichten, stellte die Vermittlung therapeutischer Fähigkeiten in Form von Selbsterfahrung und Supervision eine immer größer werdende Herausforderung dar. Der Lernprozess, dessen es bedarf, um dem abhängigkeitskranken Menschen mit seinem zerstörerischen Umgang mit sich und der Umwelt als Therapeut*in professionell begegnen zu können, ist in einem Setting ohne physische Kontakte schwer zu initiieren und zu steuern.  Wahrzunehmen, wie es sich anfühlt, mit Akzeptanz des aktuellen So-Seins, mit Respekt vor dem eigenen Entwicklungsschicksal und in Wahrnehmung aller verbalen und nonverbalen Äußerungen von den anderen Weiterbildungsteilnehmer*innen verstanden zu werden, ist für zukünftige Therapeut*innen elementar. Diese Erfahrung stellt die Voraussetzung dafür dar, Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung in der Therapie als hilfreiche/r Partner*in zur Verfügung zu stehen. Wenn der Raum ein virtueller ist, man sich nicht gegenseitig in die Augen sehen und sich nicht mit allen Sinnen erleben kann, wird es auf Dauer schwierig, diese Art, sich und dem Gegenüber zu begegnen, zu verinnerlichen.

    An dieser Stelle, so die Erfahrung in der Weiterbildung zur / zum Suchttherapeut*in, zeigen sich die Grenzen der Digitalisierung der Lehre. Unabhängig davon bleibt unbenommen, dass für die Vermittlung theoretischer Kenntnisse, für Arbeitsgruppentreffen und Absprachen online-Formate gewinnbringend, zeit-, energie- und finanzsparend sind. Wenn man eine Vision der zukünftigen Gestaltung der Weiterbildung zeichnen dürfte, dann wäre das idealerweise eine Kombination aus einerseits digitaler Wissensvermittlung theoretischer Inhalte und andererseits der Befähigung der Person der / des Therapeut*in in physischer Präsenz.

    Genauso, wie wir digitale Angebote in den beruflichen Alltag nachhaltig zu integrieren haben, werden wir in den kommenden Monaten Beziehung wieder neu lernen müssen. Vermutlich wird es nicht jeder und jedem leichtfallen, das auf sich bezogene Leben im Homeoffice, aber auch in der Freizeit, wieder für andere zu öffnen, und es wird eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein, das postpandemische Miteinander in den verschiedenen Kontexten zu gestalten.

    Weiterbildung als Zukunftsaufgabe

    Die Erfahrungen aus der Weiterbildung Suchttherapie ähneln dem allgemeinen Trend. Die Corona-Krise beschleunigte die Digitalisierung des Fort- und Weiterbildungsmarktes in vorher nie gekanntem Ausmaß, beeinflusste tradierte Handlungs- und Denkmuster und setzte so neue Impulse für die Qualifizierung. Eine aktuelle Umfrage unter deutschen Unternehmen zeigt, dass vor Beginn der Pandemie nur 35 Prozent aller Qualifizierungsmaßnahmen digital angeboten wurden, während es inzwischen bereits 54 Prozent sind (vgl. Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e.V., 2021).

    Gleichzeitig mussten die Unternehmen in der Corona-Krise (und darüber hinaus) den Spagat zwischen Sparzwang und steigendem Qualifizierungsbedarf schaffen. Sie waren und sind großem finanziellen Druck ausgesetzt und es liegt nahe, am Qualifizierungsbudget zu sparen. Diese Vermutung wird durch eine Umfrage belegt, die zeigt, dass bei 21 Prozent der befragten Unternehmen das entsprechende Budget im Zuge der Corona-Pandemie gesunken ist. Zugleich gaben 84 Prozent der befragten Unternehmen an, dass sich Fort- und Weiterbildung als Thema auf der Vorstandsagenda befindet. Dabei besteht der Wunsch nach innovativen Lernformaten, nach systematischer Evaluation von Lernerfolgen, einem klaren Business Case für Qualifizierung und dem Aufbau adäquater IT-Infrastruktur, die dezentrales Lernen unterstützt (vgl. Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e.V., 2021).

    Es wird also auch eine Aufgabe der Politik sein, die Unternehmen zu befähigen, ihren Mitarbeitenden Weiterbildungen zu ermöglichen und diese in einem angemessenen Format, bestehend aus analogen und digitalen Komponenten, durchführen zu können. Erste diesbezügliche Schritte sind getan. Mit der Nationalen Weiterbildungsstrategie gibt es seit 2019 ein abgestimmtes Vorgehen in Deutschland, das von Bund, Ländern, Wirtschaft, Gewerkschaften und der Bundesagentur für Arbeit festgelegt wurde. Weiterbildungen sollen danach als fester Bestandteil beruflicher und unternehmerischer Entwicklung etabliert und eine gemeinsame Weiterbildungskultur in Deutschland geschaffen werden (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales – Geschäftsstelle Nationale Weiterbildungsstrategie). Mit dem Arbeit-von-morgen-Gesetz hat das Bundesarbeitsministerium einige zentrale Vereinbarungen aus der Strategie umgesetzt (vgl. Bundesgesetzblatt, 28.05.2020). Ähnlich wie das Arbeit-von-morgen-Gesetz, zielt auch das Qualifizierungschancengesetz auf eine Ausweitung der Weiterbildungsförderung ab. Es richtet sich vor allem an beschäftigte Arbeitnehmer*innen. Konkret an jene, (a) deren berufliche Aufgaben von Technologien ersetzt werden können, (b) die anderweitig von Strukturwandel betroffen sind oder (c) in einem Beruf tätig sind, in dem Fachkräftemangel herrscht („Engpassberuf“) (vgl. Bundesgesetzblatt, 21.12.2018).

    Im Hinblick auf den demografischen Wandel der Mitarbeitenden in den ambulanten, ganztägig ambulanten und stationären Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe ist es dringend notwendig, staatlich anerkannte Sozialarbeiter*innen, Sozialpädagog*innen, Psycholog*innen oder Ärzt*innen zur / zum Suchttherapeut*in weiterzubilden. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass es gelingt, Weiterbildungsangebote den Erfordernissen, die eine Krise mit sich bringt, flexibel anzupassen und Mitarbeitende kontinuierlich auf hohem Niveau zu qualifizieren. Diese Erkenntnisse und Erfahrungen müssen wir für die Zukunft nutzen, um weiter dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.

    TEIL II

    Pandemie verschärft bekannte Probleme 

    Ohne einen positivistischen Eindruck erwecken zu wollen, lässt sich aufgrund der während der Corona-Pandemie gemachten Erfahrungen der vergangenen eineinhalb Jahre doch feststellen, dass das Infektionsgeschehen und die daraus abgeleiteten politischen Maßnahmen viele Probleme verschärft und intensiver ins Bewusstsein vieler Menschen gebracht haben, auf die u. a. Suchtfachverbände, Träger und Fachkräfte bereits seit langem hingewiesen haben: Expert*innen oder Berichte in der Tagespresse (vgl. Möhrle 2020; Starzmann 2021) machten wiederholt auf eine Zunahme von Substanzgebrauchsstörungen (nicht nur) während der Pandemie aufmerksam, die Finanzierungsstrukturen insbesondere der ambulanten Suchthilfe basieren vielerorts auf tradierten Modellen (vgl. Bossong & Renzel 2019), die häufig wenig flexibel und ungeeignet sind, angemessen auf Veränderungen zu reagieren, und die Rekrutierung qualifizierter Fachkräfte für die Arbeit im Suchtbereich erweist sich schon lange als problematisch (vgl. fdr+ 2019). Dies sind nur einige Themen, die bereits während der letzten Jahre vor Ausbruch der Pandemie Gegenstand einer Reihe von Arbeitstreffen und Veranstaltungen waren – zu grundsätzlichen Änderungen geschweige denn messbaren Verbesserungen haben diese häufig nicht geführt.

    Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Kreative Lösungen und innovative Projekte wurden von verschiedenen Trägern der Suchthilfe in den letzten Jahren immer wieder vorangetrieben und ausprobiert. Und auch Bund und Länder haben sich mit der Förderung von Modellprojekten immer wieder an einzelnen Aktivitäten beteiligt und diese zum Teil auch erst ermöglicht. Schon seit 20 Jahren wird das Internet zur Vermittlung von Präventions- und Informationsangeboten genutzt (vgl. Delphi 2019), die auch schon vor der Pandemie kontinuierlich ausgebaut und erweitert wurden. Aber zu keinem Zeitpunkt ist die Diskrepanz zwischen den grundsätzlichen Möglichkeiten der Nutzung digitaler Medien und den Lücken in der Umsetzung so deutlich geworden wie beim Ausbruch der Pandemie. Die vorübergehende Schließung zahlreicher Hilfsangebote im Frühjahr 2020 illustriert die Hilflosigkeit, mit der auch viele Suchtfachkräfte konfrontiert waren, und die Lücken in der systematischen Implementierung von Angeboten, die nicht ausschließlich darauf ausgerichtet waren, Klient*innen und Patient*innen face-to-face mit Fachkräften in Kontakt zu bringen, waren nicht mehr zu übersehen. Um es deutlich zu sagen: Dies war und ist kein Spezifikum der Suchthilfe, sondern war und ist auch in vielen anderen Bereichen der Fall. Aber auch unser Fachgebiet ist „kalt erwischt“ worden.

    Und plötzlich alles digital? – Neue Anforderungen an Fachkräfte und Klient*innen 

    Jenseits der globalen Probleme, die für alle Bürger*innen mit der Pandemie einhergingen und -gehen, ist ein Teil der oben erwähnten Hilflosigkeit auch auf fehlendes Wissen zurückzuführen. Damit sind hier nicht der Mangel an Kenntnissen über ätiologische Konzepte substanzbezogener Störungen gemeint oder grundsätzliche Fragen zum Umgang mit unseren häufig multimorbid erkrankten Klient*innen und Patient*innen. Aber sicher kann jede Facheinrichtung von Fragen berichten, mit denen sie sich auseinandersetzen musste und die schwer zu beantworten waren bzw. sind, z. B. wie Beratung und Behandlung unter Nutzung digitaler Medien mit dem besonderen Datenschutz bei der Verarbeitung von gesundheitsrelevanten Daten umzusetzen sind, welche Medien am besten geeignet sind, um unsere Klient*innen und Patient*innen zu erreichen, oder schlicht, wie man diese benutzt. Wer erteilt Genehmigungen für die Nutzung bestimmter Programme und wie überzeuge ich meinen Leistungsträger davon, dass unter Nutzung digitaler Medien erbrachte Leistungen hinsichtlich ihrer therapeutischen Qualität ebenso gut sind wie im face-to-face-Kontakt?

    Erwähnung finden muss an dieser Stelle, dass die Erbringung digitaler therapeutischer oder anderer Hilfsangebote weit über technische, gesetzliche und andere regulatorische Aspekte hinaus auch in der inhaltlichen und konzeptuellen Umsetzung neue Anforderungen an Fachkräfte und Klient*innen oder Patient*innen stellt; darauf wurde oben schon hingewiesen. Die Nutzung digitaler Medien in unserem Gebiet erfordert mehr und anderes Wissen als die reine Schaffung technischer Voraussetzungen auf dem Computer – aber ohne Letzteres geht es eben auch nicht.

    Insgesamt haben wir es also mindestens mit drei Anforderungen an Fachkräfte zu tun, die bislang nicht oder nur unzureichend Gegenstand von Aus- und Weiterbildung sind: Wir brauchen a) mehr technisches Wissen über die grundsätzlichen Möglichkeiten, die digitale Medien bieten, b) mehr Sicherheit über die regulatorischen Rahmenbedingungen, von Datenschutz bis zur Anerkennung digital vermittelter therapeutischer Leistungen, und c) Kenntnisse über die Anpassung unserer Angebote an neue Medien und deren Auswirkungen auf Beratungs- und Behandlungstätigkeiten.

    Digitalisierung als Querschnittsthema in Bildungsangeboten

    Auch wenn diese Liste nur holzschnittartig ist, weist sie unmittelbar auf bestehende Lücken in den Curricula der Aus- und Weiterbildung der in den unterschiedlichen Bereichen der Suchthilfe tätigen Fachkräfte hin. Die Forderung, sich mit Digitalisierung und Hybridstrukturen auseinanderzusetzen und die entsprechenden Qualifikationen von Fachkräften zu stärken, ist nicht neu (vgl. Klein 2021). Die Pandemie hat uns aber eindringlich mit der Notwendigkeit konfrontiert, diese Anforderungen nicht als isoliertes „weiteres Element“ der Aus- und Weiterbildung zu betrachten, das an geeigneter Stelle an bestehende Seminare und Kurse „angeflanscht“ wird. Es wird notwendig sein, Digitalisierung unter verschiedenen Gesichtspunkten als das große Querschnittsthema in unsere Bildungsangebote zu integrieren. Dazu müssen wir weiterhin Berührungsängste abbauen, Vorurteile bekämpfen und uns mit Neuem auseinandersetzen. Wenn in den letzten Monaten bei manchen der Eindruck entstanden ist, dass dies dazu führt, dass wir mehr Ressourcen gebraucht haben, um letzten Endes weniger gute Angebote zu schaffen, als wir es kannten, dann ist dies zum einen sicher der Tatsache geschuldet, dass (technische) Rahmenbedingungen vielerorts aus der Zeit gefallen waren und ein erheblicher Innovationsstau bestand. Zum anderen ist die oben erwähnte Integration der Digitalisierung in unsere Arbeitsprozesse noch lange nicht erfolgt und wird nur allzu oft als mehr oder minder lästige Zusatzbelastung betrachtet.

    Aus- und Weiterbildung hat hier eine große Aufgabe in den nächsten Jahren zu bewältigen, damit Bewährtes nicht verloren geht und Neues sinnvoll integriert werden kann. Nur mit Hilfe starker Bildungsstrukturen wird es uns gelingen, auch zukünftig die Qualität der Suchthilfe – unabhängig von den Versorgungssektoren – auf einem Niveau zu halten, das angemessen auf Veränderungen reagieren und diesen selbstbewusst begegnen kann. Dieser Appell richtet sich an Lehrende und Lernende gleichermaßen. Moderne Aus- und Weiterbildung im Suchtbereich muss mehr sein als das Teilen von Folien unter Nutzung eines digitalen Tools oder die häufig beobachtete Passivität der Zuhörer*innen beim Blick auf den Bildschirm.

    Aber auch hier besteht Anlass für Optimismus. Viele Dozent*innen und Seminarteilnehmer*innen haben in den letzten Monaten intensiv gearbeitet und hervorragende Beispiele geliefert, wie sich Wissensvermittlung und die Anwendung digitaler Medien kombinieren lassen. Dass eine Tätigkeit im Suchtbereich als interessante, anspruchsvolle und moderne Form der Berufsausübung wahrgenommen wird, wird bei der Suche nach zukünftigen Fachkräften eine erhebliche Rolle spielen.

    Kontakt:

    Corinna Mäder-Linke
    Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss)
    Wilhelmshöher Allee 273, 34131 Kassel
    cml@suchthilfe.de

    Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel
    IFT Institut für Therapieforschung München
    Leopoldstraße 175, 80804 München
    Pfeiffer-Gerschel@ift.de

    Angaben zu den Autor*innen:

    Corinna Mäder-Linke, Diplom-Sozialpädagogin, Master of Arts (Arbeits- und Organisationspsychologie), Sozialtherapeutin-Sucht (GVS), Supervisorin (DGSv), ist Geschäftsführerin des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss). Vorher war sie als Geschäftsführerin des Gesamtverbandes für Suchthilfe e.V. (GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland tätig und verantwortete dort sechs Jahre den Bereich Fort- und Weiterbildung, inklusive der Weiterbildung zur / zum Suchttherapeut*in. Sie ist Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Weiterbildung Suchttherapie.
    Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut (VT) und Supervisor, ist Geschäftsführer des IFT Institut für Therapieforschung München und der IFT-Gesundheitsförderung. Außerdem ist er als Psychotherapeut in eigener Praxis tätig.

    Literatur:

    TEIL I

    • Bundesgesetzblatt Jahrgang 2018, Teil I Nr. 48: Gesetz zur Stärkung der Chancen für Qualifizierung und für mehr Schutz in der Arbeitslosenversicherung, Seite 2651 – 2656, Bundesanzeiger Verlag, 21.12.2018.
    • Bundesgesetzblatt Jahrgang 2020, Teil I Nr. 24: Gesetz zur Förderung der der beruflichen Weiterbildung im Strukturwandel und zur Weiterbildung und Ausbildungsförderung, Seite 1044 – 1055, Bundesanzeiger Verlag, 28.05.2020.
    • Bundesministerium für Arbeit und Soziales – Geschäftsstelle Nationale Weiterbildungsstrategie: Umsetzungsbericht Nationale Weiterbildungsstrategie, Berlin, 2021.
    • Deutscher Bundestag: Psychiatrie-Enquete; Heger Verlag, 1975.
    • Deutsche Rentenversicherung Bund: Vereinbarungen im Suchtbereich, Seite 79 – 832; Auflage 08 / 2013.
    • Deutsche Rentenversicherung Bund: Von der Deutschen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung geprüfte Weiterbildungscurricula nach den Auswahlkriterien zur Prüfung von Weiterbildungen für Gruppen- und Einzeltherapeuten im Tätigkeitsfeld der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker gemäß den Anlagen 1 und 2 der Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“ vom 04.05.2001 in der Fassung vom 23. September 2011, 2021. Internetabruf am 02.08.2021: https://www.deutsche-rentenversicherung.de/DRV/DE/Experten/Infos-fuer-Aerzte/Fort-Weiterbildung-Aerzte/weiterbildung_therapeuten_sucht.html
    • Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e.V.: Die Zukunft der Qualifizierung in Unternehmen nach Corona, Essen, 2021.
    • Verband Deutscher Rentenversicherungsträger: Empfehlungsvereinbarung über die Zusammenarbeit der Krankenversicherungsträger und der Rentenversicherungsträger bei der Rehabilitation Abhängigkeitskranker – Suchtvereinbarung, 1978.
    • Verband Deutscher Rentenversicherungsträger: Deutsche Rentenversicherung 7-8/1992, Seite 468 – 479, 1992.

    TEIL II

  • Die Pandemie als „Brandbeschleuniger“ für Internetnutzungsstörungen?

    Die Pandemie als „Brandbeschleuniger“ für Internetnutzungsstörungen?

    Dr. Kai W. Müller
    Knut Kiepe

    Für viele Menschen scheint es nur allzu klar, dass die bereits mehr als ein Jahr währende Corona-Pandemie in Bezug auf die Internetnutzung deutliche Spuren hinterlässt und zu einer signifikant höheren Anzahl an internetbasierten Schädigungen – insbesondere bei Kindern und Jugendlichen – führt. „Höhere Internetnutzung gleich mehr Störungen“ ist aber eine zu einfache Formel: Was wir brauchen, ist ein differenzierter Blick – vor allem auf die psychischen Belastungen und ihre Hintergründe. Dies gilt besonders in Zeiten der Pandemie, aber auch generell im Rahmen der Digitalisierung.

    Als wichtige Grundlage und zum besseren Verständnis ist es hilfreich, den historischen Hintergrund zur Diagnostik zu kennen. Der Fachverband Medienabhängigkeit e.V. setzt sich seit 2008 für die Anerkennung von „Internetnutzungsstörungen“ als psychische Erkrankung ein. 

    Der Weg zur Anerkennung

    Bereits im Jahre 2013 entschied die American Psychiatric Association, die so genannte Internet Gaming Disorder zumindest als Forschungsdiagnose in den Anhang des DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Version) aufzunehmen. Dem vergleichsweise neuen (jedoch aus klinischer Sicht überaus relevanten) Phänomen wurde damit erstmalig und offiziell der Staus einer Problematik mit Gesundheitsrelevanz zuerkannt.

    Etwa sechs Jahre später folgte der nächste und womöglich noch wichtigere Schritt: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verkündete, das bisherige ICD-Kapitel der Substanzabhängigkeiten um den Aspekt der „abhängigen Verhaltensweisen“ (Verhaltenssüchte) zu erweitern und in diesem Zuge auch die „Störung durch Computerspielen“ als eigenständige psychische Erkrankung zu führen. Neben diesem neuen (direkt benannten) Diagnoseschlüssel bietet das ab 2022 gültige ICD-11 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 11. Version) nun die Möglichkeit, weitere Verhaltenssüchte und somit auch weitere differenzierbare Internetnutzungsstörungen zu verschlüsseln. In einem aktuellen Vorschlag werden hier insbesondere die Subformen der Online-Pornographie-Nutzungsstörung, der Online-Shoppingstörung und der Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung als relevante Formen benannt (Rumpf et al., 2021).

    Dysfunktional, suchtartig, exzessiv – viele Bezeichnungen für ein Phänomen

    Doch was genau verbirgt sich hinter dem Begriff Internetnutzungsstörung eigentlich? Zunächst als Phänomen geführt, wurde seit der erstmaligen Dokumentation Mitte der 1990er Jahre eine Vielzahl von inhaltlich mehr oder weniger synonym gebrauchten Bezeichnungen für das diagnostisch noch nicht verortete Störungsbild verwendet – von pathologisch-dysfunktionalem PC-Gebrauch über Internetsucht und Medienabhängigkeit bis hin zur heutigen Internetnutzungsstörung.

    Unabhängig vom konkret benutzten Begriff gilt für alle Bezeichnungen, dass sie als Oberbegriffe zu verstehen sind und dass der PC, das Internet oder gar die Medien an sich nicht als „Suchtmittel“ in einem direkten Zusammenhang mit einem Abhängigkeitsgeschehen stehen. Vielmehr sind es die einzelnen (zumeist) online durchgeführten Aktivitäten (und damit das Verhalten), welche unter bestimmten Voraussetzungen eine exzessive und unkontrollierte Nutzung im Sinne eines Abhängigkeitsgeschehens hervorrufen können.

    Aus den verfügbaren epidemiologischen Studien an repräsentativen Stichproben der Allgemeinbevölkerung und bestätigt durch Zahlen von Nutzern des Hilfesystems wissen wir, dass es vor allem bestimmte internetbasierte Computerspiele sind, die besonders häufig mit einem suchtartigen Konsum im Zusammenhang stehen. Aus diesem Grunde wurde gerade die „Störung durch Computerspielen“ als einzige Variante der Internetnutzungsstörungen im ICD-11 konkret aufgeführt. Gekennzeichnet ist das Störungsbild durch folgende drei diagnostische Kriterien:

    1. Kontrollverlust über das Nutzungsverhalten
    2. Bedeutungserhöhung bzw. Priorisierung der Nutzung, wodurch andere Lebensbereiche (Freizeitverhalten und Alltagsaktivitäten) beeinträchtigt oder verdrängt werden
    3. Fortführung der Nutzung trotz der dadurch entstehenden negativen Folgeerscheinungen

    Ergänzt wird die diagnostische Definition von einer mit den Kriterien einhergehenden Beeinträchtigung des psychosozialen Funktionsniveaus. Damit ist gemeint, dass Betroffene psychische Belastungssymptome entwickeln sowie Probleme im sozialen und leistungsbezogenen Kontext wie etwa Schule oder Beruf erleben.

    Auch auf die in der Bevölkerung seltener auftretenden Varianten von Internetnutzungsstörungen, beispielsweise im Zusammenhang mit der Nutzung von sozialen Netzwerken, Online-Pornographie oder Einkaufsportalen, werden die vorgenannten Kriterien angewandt, so dass sich für alle Internetnutzungsstörungen ein einheitlicher diagnostischer Rahmen ergibt.

    Die vorliegende epidemiologische Forschung zur Verbreitung von Internetnutzungsstörungen weist mit großer Übereinstimmung aus, dass Jugendliche und junge Erwachsene deutlich häufiger betroffen sind als ältere Personen. Die ermittelten Prävalenzraten der einzelnen Studien unterscheiden sich zwar leicht, liegen aber bei etwa vier Prozent für Jugendliche und junge Erwachsene, welche die Kriterien einer Internetnutzungsstörung erfüllen, und bei nochmals etwa vier Prozent für Jugendliche und junge Erwachsene, die ein zumindest problematisches Nutzungsverhalten aufweisen (hier sind also zumindest einige Kriterien einer Störung feststellbar). Bedenkt man, dass in den Studien ebenfalls mit großer Übereinstimmung eine merklich höhere Belastung der Betroffenen durch weitere psychosoziale und psychopathologische Symptome (z. B. erhöhte Depressivität, Verhaltensauffälligkeiten und Angstsymptome) festgestellt wird, ergibt sich ein deutlicher Handlungsbedarf. Dieser schließt nicht nur die Behandlung, sondern in besonderem Maße auch die Frühintervention ein. Für Maßnahmen zu einem frühen Zeitpunkt der Problementwicklung ist ein entsprechendes Früherkennungssystem notwendig. Ebenso bedarf es einer zielgruppenspezifischen Prävention – hier sollte eine Ausweitung und Überprüfung der vorliegenden Konzepte vorgenommen werden. 

    Der Einfluss der Pandemie auf die Fallzahlen

    Die Entstehung von Internetnutzungsstörungen folgt also nach gegenwärtigem Kenntnisstand komplexen Mechanismen. Die Annahme, dass allein die verstärkte Nutzung von Internetangeboten wie bestimmten Computerspielen oder sozialen Netzwerken ein komplexes Abhängigkeitsgeschehen bedingt, ist mit Sicherheit zu kurz gedacht. Bekannt ist, dass vor allem junge Menschen sehr empfindlich auf sich verändernde Rahmenbedingungen und den Wegfall von Strukturen reagieren. Die Pandemie könnte – mit ihren erhöhten und zum Teil dauerhaften psychischen Belastungen – somit als „Brandbeschleuniger“ wirken und zunehmende Internetnutzungsstörungen bzw. deren höhere Prävalenz begründen.

    Die mittlerweile formulierten Störungsmodelle wie etwa das Interaction of Person-Affect-Cognition-Execution Modell (Brand et al. 2016) oder das Integrative Prozessmodell der Internetsucht (Müller et al., 2016) gehen von einem komplexen Wechselspiel aus individuellen Prädispositionen, wirksamen Strukturmerkmalen der kritischen Internetaktivität und Einflüssen der sozialen Lebenswelt des Individuums aus. In der gegenwärtigen Corona-Pandemie sind insbesondere die Beziehungen zwischen den individuellen Risikofaktoren und der aktuellen sozialen Situation von hoher Bedeutung.

    Verschiedene Berufsverbände und Institutionen wie jüngst die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina haben darauf hingewiesen, dass die indirekten Auswirkungen der Corona-Pandemie gerade junge Bevölkerungsschichten stark beanspruchen und deutliche Effekte auf ihre psychische Gesundheit ausüben. Einige Forschungsdaten speziell zu Internetnutzungsstörungen, auch wenn sie die Problematik noch nicht über einen ausreichend langen Zeitraum abbilden können, erhärten die Vermutung, dass die Pandemie zu einer nochmals stärkeren Verbreitung des Störungsbildes beitragen kann (z. B. Paschke et al., 2021; Bilke-Hentsch et al., 2020; Rumpf et al., 2020).

    In der ambulanten Beratungspraxis werden unter anderen folgende Symptome in Verbindung mit problematischer Internetnutzung häufig berichtet:

    1. Müdigkeit, Unkonzentriertheit, Reizbarkeit
    2. starke Leistungsschwankungen oder Leistungsabfall (vor allem in Schule und Ausbildung)
    3. Stimmungsschwankungen und Antriebslosigkeit
    4. physische Beeinträchtigungen bzw. körperliche und psychosomatische Beschwerden (bspw. Kopf- und Gliederschmerzen, Haltungsschäden, Schlafstörungen)
    5. allgemeiner Rückzug

    Ein hoher Grad an Online-Beschulung, das Wegfallen von realen Sozialkontakten und fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten könnten diese bekannten Effekte in den bisher erlebten Lockdown-Phasen noch verstärkt haben. Erste, bislang jedoch unveröffentlichte Zahlen aus dem ambulanten Versorgungssystem weisen auf einen merklichen Anstieg der entsprechenden Nutzung des Hilfesystems wegen exzessiven Mediennutzungsverhaltens hin. Auch auf theoretischer Ebene unter Bezugnahme auf die oben genannten Störungsmodelle ist diese Entwicklung plausibel.

    Sowohl Praxis als auch Empirie bestätigen daher die Relevanz folgender Einflussfaktoren, die vor allem Kinder, Jugendliche und auch junge Erwachsene in der Zeit der Pandemie betreffen:

    1. Wesentliche Ressourcen brechen weg (z. B. Freizeitaktivitäten, direkter Kontakt zum Freundeskreis).
    2. Gesellschaftliche Sicherheit wird vermisst (z. B. gewohnte soziale Strukturen und Alltagsroutinen).
    3. Unsicherheit und Angst prägen das individuelle und gesamtgesellschaftliche Umfeld.
    4. Das Vertrauen in eine verlässliche Umwelt fehlt (unsichere Zukunftsperspektiven und erlebter Kontrollverlust).

    Diese vier Erkenntnisse sind von hoher Bedeutung und dürfen nicht ignoriert werden, sofern wir nicht nachhaltig negative Folgen für unsere Gesellschaft und im Besonderen für die nachkommenden Generationen in Kauf nehmen wollen. Von daher fordern Berufsverbände und auch der Fachverband Medienabhängigkeit e.V., dass die psychosozialen Folgen der aktuellen Krise ernst genommen werden und ein Auffangnetz für die vulnerablen Gruppen gespannt wird – gerade jetzt, wo die Pandemie zurückgedrängt scheint. Ein solches Netz muss spezielle und geeignete Angebote für Prävention und Behandlung vorhalten.

    Im Rahmen des geforderten und notwendigen Ausbaus der Digitalisierung sollten wir mit Blick auf Kinder und Jugendlichen zwei wichtige Eckpunkte berücksichtigen und in das Auffangnetz einbeziehen:

    1. Wir dürfen (vor allem jüngere) Kinder und Jugendliche nach wie vor nicht mit ihrer Mediennutzung alleine lassen – wir müssen aber auch (gerade von Kindern und Jugendlichen) lernen, virtuelle Angebote und Plätze und deren Funktion sowie Stellenwert besser zu verstehen.
    2. Neben den virtuellen Angeboten müssen wir geeignete reale Anlaufpunkte und Aktivitäten schaffen, ausbauen und stärken, da Digitalisierung diese niemals ersetzen kann.

    Der Fachverband Medienabhängigkeit e.V. ist bereit, an einem solchen Netzprojekt mitzuwirken und seine Erfahrungen und Erkenntnisse bezüglich der problematischen Internetnutzung mit einem differenzierten Blick einzubringen.

    Kontakt:

    Dr. Kai W. Müller
    Grüsser Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht
    Klinik für Psychosomatische Medizin der Universitätsmedizin Mainz
    Untere Zahlbacher Straße 8
    55131 Mainz
    kai.mueller(at)unimedizin-mainz.de

    Angaben zu den Autoren:

    Dr. Kai W. Müller, Diplom-Psychologe, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Forschung & Diagnostik an der Grüsser Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht an der Klinik für Psychosomatische Medizin der Universitätsmedizin in Mainz. Er ist 1. Vorsitzender des Fachverbandes Medienabhängigkeit e.V.
    Knut Kiepe, Diplom-Sozialarbeiter, war über zehn Jahre als Suchtreferent beim Gesamtverband für Suchthilfe e.V. – Fachverband der Diakonie Deutschland (GVS) tätig. Aktuell leitet er die Jugend-, Drogen- und Suchtberatung Mörfelden-Walldorf.

    Literatur:
    • Bilke-Hentsch, O., Bachmann, S., Batra, A., Conca, A., Funk, L., Gremaud, F., Jenewein, J., Hentsch, S., Klein, M. Michel, G., Müller, K.W., Müller-Knapp, U., Pezzoli, V., Preuss, U., Rexroth, C., Sevecke, K., Thun-Hohenstein, L., Walter, M., Weber, P., Wladika, W. & Jud, A. (2020). Gibt es ein „Post-corona-Adaptations-Syndrom“? Sollte es „post-Corona“-Interventionen geben? Entwicklungspsychiatrische Überlegungen. Leading Opinions Psychiatrie & Neurologie, 3/4, 6-11.
    • Brand, M., Young, K. S., Laier, C., Wölfling, K. & Potenza, M. N. (2016). Integrating psychological and neurobiological considerations regarding the development and maintenance of specific Internet-use disorders: An Interaction of Person-Affect-Cognition-Execution (I-PACE) model. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 71, 252-266.
    • Müller, K.W., Dreier, M. & Wölfling, K. (2016). Excessive and addictive use of the internet – prevalence, related contents, predictors, and psychological consequences. In L. Reinecke & M.B. Oliver (Eds.), The Roudledge Handbook of Media Use and Well-Being (pp 223-236). New York, Routledge, Taylor and Francis Group.
    • Paschke, K., Austermann, M. I., Simon-Kutscher, K. & Thomasius, R. (2021). Adolescent gaming and social media usage before and during the COVID-19 pandemic. Sucht, 67, 13-22. https://doi.org/10.1024/0939-5911/a000694
    • Rumpf, H.J., Brand, M., Wegmann, E., Montag, C., Müller, A., Wölfling, K., Müller, K., Stark, R., Steins-Löber, S., Hayer, T., Schlossarek, S., Hoffman, H., Lemenager, T., Lindenberg, K., Thomasius, R., Batra, A., Mann, K., te Wild, B., Mößle, T. & Rehbein, F. (2020). Covid-19 Pandemie und Verhaltenssüchte: Erfahrungen, Konsequenzen und Forderungen. Sucht, 66 (4), 212–216.
    • Rumpf, H.J., Batra, A., Bischof, A., Hoch, E., Lindenberg, K., Mann, K., Montag, C., Müller, A., Müller, K.W., Rehbein, F., Stark, R., te Wildt, B., Thomasius, R., Wölfling, K. & Brand, M. (in press). Vereinheitlichung der Bezeichnungen für Verhaltenssüchte. Sucht, in press.
  • Veränderungen in der Hamburger Suchthilfe in Zeiten der Corona-Pandemie

    Veränderungen in der Hamburger Suchthilfe in Zeiten der Corona-Pandemie

    Linda Heitmann

    Wie in vielen Bereichen des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens hat die Corona-Pandemie auch in der Suchtkranken- und Drogenhilfe zu stark veränderten Arbeitsweisen geführt. Die Hamburgische Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) als Dachverband, in dem 40 verschiedene Träger, Verbände und Akteur*innen der Hamburger Suchtkranken- und Drogenhilfe organisiert sind, hat im März 2021 unter ihren Mitgliedern eine Umfrage durchgeführt. Ziel war es, die veränderten Arbeitsprozesse und Klient*innen-Strukturen sowie Probleme im Alltag, aber auch Chancen und Wünsche für die Zukunft, zu erfassen bzw. davon einen Eindruck zu bekommen. Der für die Umfrage eingesetzte Fragebogen ist auf der Website der HLS als Muster abruf- und einsehbar.

    Insgesamt 23 ausgefüllte Bögen wurden an die Landesstelle zurückgesendet. Pro Fragebogen konnten Angaben zu verschiedenen Bereichen der Suchthilfe gemacht werden. Die Ergebnisse der Umfrage werden in dem hier vorliegenden Bericht unterteilt in die einzelnen Bereiche dargestellt. Am Ende folgen bereichsübergreifende wichtige Aspekte. Die Umfrage und Auswertung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und erfüllt keine wissenschaftlichen Standards. Ziel war und ist es, Kenntnisse über die Situation der Hamburger Suchthilfelandschaft während der Pandemie zu gewinnen und daraus mögliche Bedarfe und Wünsche für die Zukunft abzuleiten.

    Beratung

    Arbeitsprozesse

    Zehn Beratungsstellen gaben per Fragebogen Rückmeldungen an die HLS. In den Suchtberatungsstellen war der Anteil am mobilen Arbeiten besonders hoch. Bei nahezu allen Beratungsstellen, die Rückmeldung gaben, lag der Anteil der Mitarbeitenden im mobilen Arbeiten bei über 50 Prozent, vielfach sogar bei über 75 Prozent. Es wurde auf Telefon- oder Videoberatung umgestellt. Teilweise wurden mit den Klient*innen auch Beratungs-Spaziergänge an der frischen Luft gemacht.

    Die Folgen, die sich aus dem mobilen Arbeiten ergaben und ergeben, sind vielfältig: Mitarbeiter*innen mussten teilweise ihre privaten Telefone und Laptops nutzen, sie wurden zu Hause durch andere Familienmitglieder beim Arbeiten gestört, oder es war ihnen unangenehm, dass Klient*innen per Video oder Telefon etwas über ihr privates Umfeld mitbekamen. Einige wenige Mitarbeiter*innen aus Beratungsstellen gaben an, dass sie Probleme mit dem Zugriff auf notwendige Dateien hatten. In den meisten Fällen aber war das nicht virulent.

    Folgende Chancen und Wünsche an die Zukunft wurden von den Beratungsstellen formuliert: Einige Mitarbeitende beschrieben, zu Hause sei ein konzentrierteres Arbeiten möglich. Mehrere Mitarbeitende freuten sich über den Wegfall von Fahrzeiten und auch über ein vermindertes Stresslevel durch die Möglichkeit einer freieren Zeiteinteilung. Gerade für Erstberatungen und Einmal-Beratungen wurden Video- und Telefonberatungen als gute Möglichkeiten wahrgenommen. Sie können für machen Klient*innen eine sinnvolle Ergänzung zum klassischen Setting in der Beratungsstelle darstellen.

    Insgesamt herrscht eine große Vielfalt bei den für Videoberatung oder auch Austausch per Messenger eingesetzten Programmen. Zoom, Jitsi, Skype, GoToMeeting, aber auch unbekanntere Programme wie Senfcall oder BigBlueButton, kamen und kommen zum Einsatz. Dass diese auch Kosten verursachen können, wurde in kaum einem Fall als Problem angegeben, dafür aber erfolgte häufig die Rückmeldung, dass man datenschutzrechtliche Bedenken oder Verbindungsprobleme habe oder dass Klient*innen mit den Tools nicht zurechtkamen. In einigen Fällen wurde auch RedMedical zur Beratung genutzt. Hier gab es keine datenschutzrechtlichen Bedenken, dafür aber erhöhte Kosten und teilweise ebenfalls Probleme bei der Bedienung durch Klient*innen.

    Klient*innen

    Einige wenige Beratungsstellen gaben an, dass sie gar keine Veränderungen in der Klient*innen-Struktur wahrgenommen haben. Die meisten Beratungsstellen konnten jedoch Veränderungen verzeichnen. Sie erklärten, mehr junge und internetaffine Personen sowie mehr Angehörige und mehr mobilitätseingeschränkte Menschen erreicht zu haben als vor der Pandemie. Die Klient*innen konnten Termine flexibler in ihren Alltag einbauen und dafür z. B. auch einmal die Mittagspause nutzen, weil Fahrwege entfielen. Dem steht leider gegenüber, dass Ältere und schon länger Betreute häufig ihren „digitalen Weg“ in die Beratung nicht mehr fanden und Kontakte abbrachen, wenn man sich nicht persönlich sehen konnte.

    Bezüglich des Konsumverhaltens konnten gerade bei jenen, die schon länger in Beratung waren, häufig Rückfälle beobachtet werden. Aus der Beratung von Menschen mit Essstörungen wurde berichtet, dass Ängste und Stress stark zugenommen haben, die Betroffenen eine Beratung per Video häufig aber nur ungern annahmen, um sich nicht selbst sehen zu müssen.

    Positive Aspekte von Video- und Telefonberatung wurden besonders im Zusammenhang mit Menschen genannt, die neu ihren Weg in die Beratung fanden: Mehrere Beratungsstellen berichteten, dass ihrem Eindruck nach die Termine per Video oder Telefon deutlich verbindlicher realisiert wurden als reale Beratungstermine. Absagen bzw. Nichterscheinen kamen seltener vor. Außerdem wurde die Pandemie von einigen Klient*innen offenbar im positiven Sinne als Umbruchsituation wahrgenommen. Da sich dadurch im Leben ohnehin Veränderungen ergaben, wurde die Pandemie als guter Zeitpunkt angesehen, um das Suchtproblem anzugehen und eine Abstinenz vom Suchtmittel dauerhaft ernsthaft umzusetzen. In der Motivation zur Abstinenz half einigen Klient*innen beispielsweise auch, dass Spielhallen und Kneipen geschlossen waren.

    Wünsche für die Zukunft

    Betrachtet man die Wünsche für die Zukunft, die von den Beratungsstellen formuliert wurden, so besteht durchgehend der Wunsch, Telefon- und Videoberatung ergänzend zur persönlichen Beratung beizubehalten, ebenso die Möglichkeiten des mobilen Arbeitens. Viele gaben an, sich künftig ein bis zwei Tage mobiles Arbeiten pro Woche sehr gut vorstellen zu können. Bei den Klient*innen müsse man genau analysieren, für wen sich diese Beratungsform gut eigne und für wen nicht, um am Ende alle Ratsuchenden auf die beste Weise zu erreichen.

    Dienst-Handy und Dienst-Laptop stehen weit oben auf der Wunsch-Skala, um nicht mehr die privaten Geräte nutzen zu müssen. Gerade was Teamsitzungen und Fortbildungen angeht, können sich viele Mitarbeiter*innen vorstellen, diese regelhaft online durchzuführen. Bei Teamsitzungen wurde die Stimmung teilweise als konzentrierter und effizienter wahrgenommen. Voraussetzung dafür ist allerdings, wie häufig betont wurde, dass es in Bezug auf den Datenschutz eine größere Sicherheit geben solle. Außerdem wünschen die Mitarbeiter*innen der Beratungsstellen sich insgesamt stabileres Internet und Programme, die für Mitarbeiter*innen wie Klient*innen einfach in der Bedienung sind und nicht auf dem Rechner fest installiert werden müssen.

    Niedrigschwellige Hilfe

    Arbeitsprozesse

    Niedrigschwellige Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe bieten den Klient*innen häufig auch Möglichkeiten zum Aufenthalt sowie Konsumräume. Die Klient*innen sind nicht immer motiviert, den Ausstieg aus ihrer Sucht direkt anzugehen, aber für niedrigschwellige Ansprache und Unterstützung im Alltag sind sie offen. Vier niedrigschwellige Einrichtungen aus Hamburg füllten den Fragebogen der Landesstelle aus, so dass die hier beschriebenen Schlaglichter nur aus relativ wenigen Eindrücken gewonnen werden konnten.

    Insgesamt war der Anteil von Mitarbeiter*innen im mobilen Arbeiten in den Einrichtungen der niedrigschwelligen Suchthilfe recht gering und lag in den meisten Fällen bei unter 20 Prozent, in einem Fall bei 20 bis 50 Prozent. Dieses Ergebnis überrascht nicht, da niedrigschwellige Arbeit sehr stark mit persönlichem Kontakt verbunden ist.

    Die Möglichkeit zur Kommunikation per Video oder Telefon mit den Klient*innen war hier recht gering. Dafür aber wurden Videokommunikations-Programme und auch Messenger-Dienste zur Kommunikation innerhalb des Teams verstärkt genutzt und auch positiv aufgenommen. Datenschutzrechtliche Bedenken oder die Tatsache, dass das private Umfeld im Video zu sehen sein könnte, wurden nicht unbedingt als Probleme angesehen und benannt.

    Beratungsgespräche wurden gerade in der niedrigschwelligen Suchthilfe häufiger bei Spaziergängen durchgeführt, statt in der Einrichtung, um dem Setting geschlossener Räume zu entgehen und Menschen trotzdem persönlich zu begegnen.

    Klient*innen

    Dass die Einrichtungen vor Ort Klient*innen zeitweise gar nicht oder nur mit großen Abständen einlassen konnten, führte vielerorts zu Problemen. Insgesamt nahmen die Einrichtungen in der Klient*innen-Struktur keine großen Veränderungen wahr, merkten aber sehr wohl, dass Kontakte zu langjährigen Klient*innen leider abbrachen. Auch verstärkte sich offenbar bei zahlreichen Klient*innen der Konsum in der Pandemie. Der persönliche Kontakt in niedrigschwelligen Einrichtungen ist durch Online-Angebote nicht ersetzbar.

    Insgesamt berichteten die niedrigschwelligen Einrichtungen, dass die konkreten Hilfestellungen – z. B. bei Behördengängen, bei dem Bemühen um Arbeits- oder Praktikumsplätze oder bei der Wohnungssuche – in der Pandemie noch schwieriger geworden waren.

    Wünsche für die Zukunft

    Konkrete Wünsche an die Zukunft bzw. an eine Übernahme von Arbeitsweisen aus Pandemiezeiten, wurden von Seiten niedrigschwelliger Einrichtungen in den ausgewerteten Rückmeldebögen nicht geäußert.

    Eingliederungshilfe

    Arbeitsprozesse

    Auch in den Einrichtungen der Eingliederungshilfe ergaben sich mit der Pandemie deutliche Veränderungen. Von sechs Eirichtungen konnten Rückmeldungen ausgewertet werden. Der Anteil von Mitarbeiter*innen im mobilen Arbeiten lag in der Eingliederungshilfe bei unter 50 Prozent, in den meisten Einrichtungen sogar bei unter 20 Prozent. Immer wieder wurde betont, dass die persönliche Betreuung und Versorgung der Klient*innen nicht aus der Ferne möglich sei, dafür aber wurden einzelne Gespräche oder auch Teamsitzungen vermehrt in den virtuellen Raum verlegt.

    Fast alle Einrichtungen hatten hingegen damit zu kämpfen, dass Klient*innen nur noch in Einzelzimmern untergebracht werden konnten und zudem Zimmer für Quarantäne-Zwecke freigehalten werden mussten. Dadurch konnten fast überall nur weniger Klient*innen aufgenommen und betreut werden als vor der Pandemie. Zudem entstand ein durchgängig stark erhöhter Bürokratieaufwand durch regelhafte Testungen und die konsequente Einhaltung und Überwachung sich immer wieder verändernder Hygienevorschriften.

    Für die Klient*innen bestanden in fast allen Einrichtungen der Eingliederungshilfe wiederholt Heimreise- wie auch Besuchsverbote. Gruppenangebote mussten in kleineren Gruppen durchgeführt werden, somit wurden mehr Gruppensitzungen insgesamt abgehalten, was den Personalaufwand erhöhte. Auch Raumplanungen wurden dadurch in den Einrichtungen deutlich komplizierter.

    Klient*innen

    Veränderungen in der Klient*innen-Struktur wurden in den Einrichtungen der Eingliederungshilfe insgesamt nicht wahrgenommen.

    Die Einrichtungen berichteten davon, dass der Stress unter den Klient*innen spürbar zugenommen habe, insbesondere durch die Besuchs- und Heimreiseverbote, aber auch durch allgemeine mit der Pandemie verbundene Zukunftsängste. Die Aufenthaltsdauern haben sich dadurch teilweise verlängert, und die Sicherstellung nahtloser Behandlungsübergänge war noch wichtiger geworden.

    Wünsche für die Zukunft

    Besondere Wünsche, was aus der Pandemie an positiven Entwicklungen mit in die Zukunft genommen werden sollte und was es dafür an Voraussetzungen bräuchte, wurden von den Einrichtungen der Eingliederungshilfe nicht formuliert. Nur vereinzelt wurde angemerkt, dass die Möglichkeit von Teamsitzungen per Video auch in der Zukunft ein gutes Modell sein könnte.

    Ambulante Rehabilitation

    Arbeitsprozesse

    Fünf Einrichtungen, die Ambulante Reha Sucht (ARS) durchführen, haben den Fragebogen ausgefüllt. Bei den Angeboten der ARS war und ist die Möglichkeit der Mitarbeiter*innen, im mobilen Arbeiten tätig zu sein, deutlich begrenzt. Der Anteil der Mitarbeiter*innen im mobilen Arbeiten lag nach Angaben der sich beteiligenden Einrichtungen zwischen 20 und 50 Prozent im Mittel.

    Vor allem in Bezug auf die Gruppenangebote gab es in der ARS einen deutlichen Mehraufwand, da zahlreiche Gruppen geteilt oder gedrittelt werden mussten, um Abstände vernünftig einhalten zu können. Für viele Angebote mussten größere Räume gesucht oder generell bei den Räumen umorganisiert werden. Sowohl die Umstrukturierung der Gruppensitzungen als auch der erhöhte Organisationsaufwand führten dazu, dass nur weniger Klient*innen bei allerdings erhöhtem Personaleinsatz betreut werden konnten. Auch einige Angebote zur gemeinsamen Freizeitgestaltung im Rahmen der ARS mussten stark umstrukturiert werden oder zeitweise ganz entfallen.

    Vereinzelt kamen für Klient*innen-Gespräche, insbesondere aber auch für die Kommunikation untereinander, auch in der ARS Videokonferenzsysteme zum Einsatz. Teilweise wurde das als sehr positiv wahrgenommen, teilweise aber auch als Nachteil. „Wir vermissten im Team insgesamt den Austausch jenseits von Fakten“, hieß es dazu in einer Rückmeldung.

    Klient*innen

    Insgesamt nahmen die Einrichtungen keine Veränderungen in der Klient*innen-Struktur in Bezug auf Alter, Suchtmittel, Geschlecht oder Familienstand wahr.

    Die Motivation zur Behandlung bei den Klient*innen wurde sehr unterschiedlich wahrgenommen. Wie auch schon im Beratungssetting war es in einigen Fällen schwieriger, die Klient*innen zu motivieren und sie dauerhaft „bei der Stange zu halten“. Teilweise wurde aber auch berichtet, Verlässlichkeit, Aufmerksamkeit in den Gesprächen und Motivation zur Änderung der Lebenssituation seien höher als vorher.

    Wünsche für die Zukunft

    Die Einrichtungen der ARS äußerten keine Wünsche, was sie aus der Pandemie gerne positiv mit in Zukunft nehmen würden. Vereinzelt wurde auch hier positiv bewertet, Teamsitzungen künftig eher digital durchzuführen, aber einige Mitarbeitende sind dieser Option gegenüber durchaus skeptisch eingestellt.

    Stationäre Rehabilitation

    Arbeitsprozesse

    Im Bundesland Hamburg gibt es nur sehr wenig Angebote der stationären Rehabilitation für Abhängigkeitskranke, entsprechend erreichten die HLS auch nur von zwei Mitgliedern, die das Angebot der stationären Rehabilitation Abhängigkeitskranker vorhalten, eine Rückmeldung auf ihre Fragen.

    Die Einrichtungen gaben wenig überraschend an, dass im stationären Setting so gut wie keine Mitarbeiter*innen während der Pandemie im mobilen Arbeiten tätig waren, alle Mitarbeitenden mussten für die Behandlung und Betreuung der Klient*innen vor Ort sein. Es wurden aber vereinzelt Online-Einzeltherapiesitzungen durchgeführt, wenn z. B. Therapeuten*innen in Quarantäne waren. Dies lief dann in der Regel problemlos, und die Verantwortlichen waren selbst überrascht, wie gut derartige Therapiegespräche auch mit Videokonferenzsystemen geführt werden können.

    Insgesamt habe man die Krise daher auch als Chance wahrgenommen, aus eingefahrenen Strukturen herauszukommen und Neues auszuprobieren, gleichzeitig sei dies aber gerade für die Leitung auch mit einem enormen Stress und erhöhter Mehrarbeit einhergegangen aufgrund der Notwendigkeit, permanent flexible organisatorische Lösungen zu finden. Zudem war unter Mitarbeiter*innen wie Klient*innen eine anhaltende Anspannung zu spüren. Hauptgründe dafür waren die Angst, sich selbst oder Angehörige zu infizieren, oder die Sorge, dass die Klient*innen sich nicht an die Regularien halten und Ansteckungsrisiken verheimlichen.

    Es mussten Gruppen geteilt und verkleinert werden, dadurch hatte das Personal vielfach mehr zu tun, obwohl nur weniger Klient*innen als vor der Pandemie aufgenommen werden konnten, denn sämtliche Klient*innen waren in Einzelzimmern untergebracht, und es wurden Zimmer für Quarantäne frei gehalten.

    Klient*innen

    Aus den Einrichtungen wurde berichtet, dass in der Krise keine veränderten Klient*innen-Strukturen wahrgenommen wurden, aber ehemalige Rehabilitand*innen nahmen verstärkt Kontakt zur Reha-Klinik auf, um schlichtweg Anbindung oder Beratung zu erhalten, weil andere Angebote der Beratung oder auch der Selbsthilfe wegfielen. Das Therapiemodul „Heimfahrten als Belastungserprobung“ fiel für Rehabilitand*innen in der Krise komplett aus.

    Wünsche für die Zukunft

    Für die Zukunft können sich die Mitarbeiter*innen in der stationären Suchtreha Online-Angebote für einzelne Gespräche oder für Arbeitsgruppentreffen untereinander sowie zur Vernetzung mit Beratungsstellen oder Fachverbänden gut vorstellen. Dafür müsse die technische Infrastruktur und Ausstattung an vielen Stellen aber noch besser werden.

    Suchtselbsthilfe

    Von drei Verbänden der Suchtselbsthilfe sowie zwei Einrichtungen, in deren Räumen auch Selbsthilfegruppen tagen, sind Rückmeldungen zu diesem Bereich eingegangen. Zudem hat der Kreuzbund schon Ende des Jahres 2020 unter seinen Gruppen deutschlandweit eine Umfrage zur Selbsthilfe in Corona-Zeiten durchgeführt und die Ergebnisse in seiner Zeitschrift „Weggefährte“ im April 2021 veröffentlicht.

    Suchtselbsthilfe ist ein Bereich, der von den Kontaktbeschränkungen und Abstandsregeln, die während der Pandemie erlassen und immer wieder geändert wurden, sehr stark betroffen war.

    Teilnehmer*innen

    Wie alle Verbände einhellig in der HLS-Befragung rückgemeldet haben, betrafen die während der Pandemie wahrgenommenen Probleme von Einsamkeit, Job-Unsicherheiten, Kurzarbeit und eingeschränkten realen Sozialkontakten gerade die schon langjährig in der Suchtselbsthilfe aktiven und vielfach seit mehreren Jahren abstinent lebenden Gruppenmitglieder stark. Es wurde von allen Verbänden eine höhere Zahl von Rückfällen wahrgenommen.

    Gleichzeitig zeigte sich die Suchtselbsthilfe aber auch sehr flexibel und gewillt, ihre Angebote bestmöglich aufrechtzuerhalten. Viele Gruppen schwenkten auf Online-Treffen um oder tagten teilweise real und teilweise online. Gerade in den Sommermonaten 2020 waren reale Treffen auf Grund der niedrigen Inzidenzen gut möglich. Ein Verband meldete zurück, dass es für viele Aktive in der Suchtselbsthilfe ein sehr wichtiges Signal gewesen sei, als die Hamburger Gesundheitssenatorin Melanie Leonhard in einer Pressekonferenz mit Verkündigung der ersten neuen Einschränkungen im Oktober 2020 explizit betont habe, dass die Selbsthilfe wichtig sei und sich weiterhin treffen dürfe. Das wurde als hohe Wertschätzung wahrgenommen.

    Trotz allem war und ist die Erreichbarkeit von Suchtselbsthilfe-Aktiven in der Pandemie nicht einfach. Die Verbände berichteten, dass sie durch die Online-Angebote teilweise jüngere und internetaffine Menschen sowie Menschen mit Mobilitätseinschränkung besser erreicht hätten als vorher. Gleichzeitig gingen aber auch zahlreiche Gruppenmitglieder, die schon langjährig aktiv waren, verloren, und neue Interessierte konnten nicht so gut und zuverlässig abgeholt und betreut werden.

    Ein Verband beschrieb sehr eindrücklich, dass gerade die Werte und Erfahrungen, die für Suchtselbsthilfe-Aktive wichtig sind, um stabil abstinent zu leben, durch die Pandemie nicht mehr erlebt werden konnten. Denn die Zeit der Pandemie war für die Selbsthilfe gekennzeichnet durch:

    • fehlende Verbindlichkeit und häufige Umplanung von Treffen (real wie virtuell)
    • Vermissen des körpersprachlichen Erlebens
    • Vermissen des direkten Blickkontaktes
    • Angst davor, durch digitale Treffen mit Bildübertragung das private Umfeld zu präsentieren

    Der Wunsch nach realen Treffen und höheren Verbindlichkeiten ist demnach bei vielen Aktiven noch mal größer geworden.

    Arbeitsprozesse

    Bei der Technik für Online-Angebote herrschte gerade in der Suchtselbsthilfe eine große Experimentierfreude. Vielfach wurde Zoom genutzt, dies ging aber mit Datenschutzbedenken und immer wieder auch technischen Problemen einher. Außerdem hatten einige Gruppenmitglieder offenbar große Vorbehalte gegen eine Nutzung von Videokonferenz-Tools, und es gab auch immer wieder Bedienungsprobleme, was die Dynamik und die Gespräche in den Gruppen störte.

    Bei real während der Pandemie stattfindenden Treffen bemühten sich die Teilnehmer*innen, so berichteten die Suchtselbsthilfe-Verbände, mit großer Gewissenhaftigkeit, die Auflagen in Bezug auf Hygiene und Abstände zu erfüllen. Was die Angabe von Kontaktdaten zur möglichen Kontaktnachverfolgung im Infektionsfall angeht, so haben die Gruppen verschiedene Wege gefunden, damit umzugehen. In der Suchtselbsthilfe ist es für viele Aktive essentiell, dass sie ein gewisses Maß an Anonymität wahren können. Um dem angemessen zu begegnen, haben die Gruppenleitungen z. B. Kontaktangaben in verschlossenen Urnen eingesammelt und zugesagt, diese nur im Infektionsfall zu öffnen. Oder es wurde den Anwesenden erlaubt, Alias-Namen auf den Kontaktzetteln anzugeben, solange entweder E-Mail-Adresse oder Telefonnummer korrekt war. Trotz all dieser Lösungen ist nicht auszuschließen, dass Aktive abgeschreckt waren und den Sitzungen fernblieben auf Grund der Notwendigkeit, Kontaktangaben zu machen.

    Sieht man sich die Ergebnisse der Kreuzbund-Befragung unter den Gruppenleitungen des Verbandes bundesweit an, so decken sich zahlreiche Angaben und Erfahrungen mit den in den HLS-Fragebögen gemachten Aussagen.

    Wünsche für die Zukunft

    Auch wenn die Aktivitäten in der Suchtselbsthilfe mit Unstetigkeiten und auch Problemen einhergingen, so formulierten einige Verbände in ihren Rückmeldungen an die HLS trotzdem den ausdrücklichen Wunsch, digitale Angebote auch in Zukunft beibehalten zu wollen. Ergänzend zur „klassischen“ Suchtselbsthilfe mit realen regelmäßigen Treffen könnten virtuelle Gruppen eine Bereicherung sein, um vor allem jüngere, technikaffine sowie in ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen gut zu erreichen. Gegenüber der klassischen Selbsthilfe haben virtuelle Gruppen den Vorteil, dass man ortsunabhängig teilnehmen kann und Fahrwege wegfallen.

    Eine verbesserte technische Ausstattung, mehr Sicherheit in Datenschutzfragen, Support durch Fortbildungsangebote, den Abbau von Ängsten gegenüber digitalen Settings sowie bessere Aufklärung über die Chancen digitaler Angebote wünscht sich die Suchtselbsthilfe.

    Qualifizierter Entzug

    Arbeitsprozesse

    Zum Qualifizierten Entzug ging bei der HLS nur ein Fragebogen ein, dieser kam aus einer größeren Hamburger Klinik. Auf Grund von Kapazitätsverlagerungen im Krankenhausbetrieb sowie verschärfter Hygienevorschriften und anderer veränderter Rahmenbedingungen wurde in jenem Krankenhaus die normalerweise durchgeführte Qualifizierte Entzugsbehandlung seit März 2020 ausgesetzt und nur noch der (körperliche) Entzug angeboten.

    Wie zu erwarten, war der Anteil von Mitarbeiter*innen, die Möglichkeiten des mobilen Arbeitens nutzen konnten, extrem gering. Im Krankenhausbetrieb wurden und werden bei der körperlichen Entgiftung und der Betreuung von Klient*innen auf der Station die Mitarbeiter*innen vor Ort benötigt.

    Klient*innen

    Die Klinik beschrieb, dass sie in der Nachfrage und der Klient*innen-Struktur Veränderungen wahrgenommen hat. Es haben sich vermehrt Menschen an sie gewandt, die darum baten, aufgenommen zu werden, weil sie sich nach geregeltem Tagesablauf, Struktur und persönlichen Kontakten sehnten und dieses Bedürfnis in der ambulanten Betreuung und Beratung während der Pandemie aufgrund der Auflagen und Einschränkungen nicht mehr ausreichend abgedeckt werden konnte.

    Auch wandten sich mehr Angehörige mit der Bitte um Hilfe direkt an die Klinik. Dagegen wurden Menschen mit Mehrfachabhängigkeiten oder auch sehr stark sozial isolierte Personen weniger erreicht.

    Stützende und beratende Gespräche wurden von den Klient*innen gesucht und gewannen – im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten – an Bedeutung. Gleichzeitig aber wurde es viel schwerer, Menschen in andere Angebote wie z. B. Selbsthilfegruppen zu vermitteln, da diese wie vorne beschrieben nur unregelmäßig tagen konnten. Entgiftung und akutpsychiatrische Behandlungen standen bei der Arbeit in der Klinik im Vordergrund. Über längere Zeiträume bestanden Besuchs- oder Heimreiseverbote.

    Wünsche für die Zukunft

    Fragt man die Mitarbeiter*innen, was sie von diesen Entwicklungen mit in die Zukunft nehmen möchten, so ist das klare Signal, man wünsche sich gar nichts davon. Die meisten würden gern zum Zustand vor der Pandemie zurückkehren und die Wiederherstellung der fachlichen Standards und die Weiterentwicklung des suchttherapeutischen Angebotes in den Fokus nehmen.

    Gleichzeitig besteht der Wunsch, die technische und digitale Ausstattung in der Klinik langfristig zu verbessern, um z. B. Klient*innen die Teilnahme an Selbsthilfegruppen oder Mitarbeiter*innen die Vernetzung mit außerklinischen Beratungs- und Behandlungsangeboten zu erleichtern.

    Bereichsübergreifende wichtige Aspekte

    Einige Eindrücke und Rückmeldungen zu Arbeitsweisen während der Corona-Pandemie gelten für alle Einrichtungsformen. So beschrieben es mehrere Einrichtungen als sehr positiv, dass das Bewusstsein für Hygienevorschriften insgesamt gewachsen sei und die Einhaltung allgemeingültiger Regeln wie regelmäßiges Händewaschen deutlich besser klappe. Es wird mehrfach der Wunsch geäußert, dass dies auch nach der Pandemie anhält. Einige Akteur*innen vermerkten in diesem Zusammenhang, dass der Krankenstand in der Mitarbeiterschaft während der Pandemie zurückgegangen sei. Dies wird darauf zurückgeführt, dass sich die Mitarbeiter*innen durch das erhöhte Hygienebewusstsein, das ständige Tragen von Masken und das konsequente Abstandhalten in Alltagssituationen auch mit anderen Krankheitserregern als dem Covid-19-Virus weniger ansteckten.

    Akteur*innen der Suchtkrankenhilfe, die auch im Bereich Prävention tätig sind, berichteten, dass Zielgruppen, die klassischerweise über Institutionen oder Kooperationspartner*innen aus dem sozialen Bereich erreicht werden, während der Pandemie deutlich schwieriger zugänglich waren. Dies ist darauf zurückzuführen, dass auch diese Einrichtungen vielfach unter veränderten Bedingungen und im stetigen Wandel arbeiten mussten. Besonders schwer erreichbar für Präventionsangebote waren Schülerinnen und Schüler wegen des unregelmäßigen Schulbetriebes, wie eine Mitgliedseinrichtung der HLS rückmeldete. Zwei Träger gaben allerdings explizit an, dass sich während der Pandemie auch neue Kooperationen mit bisher unbekannten Projektpartner*innen ergeben hätten. Dies wird als sehr positiv erachtet.

    Vielen Rückmeldungen ist zu entnehmen, dass dauerhaft ein recht hoher Druck empfunden wurde, sich stets flexibel und schnell auf neue Situationen und Vorschriften einzustellen und kreative neue Angebote und Formate zu entwickeln. Dabei kam und kommt es auch oft zu Fehlplanungen und einem insgesamt erhöhten Verwaltungsaufwand, der in das Zeitbudget der Mitarbeiter*innen eingeplant werden müsse. Eine Einrichtung merkte dazu explizit an: „Für Fortbildungen blieb das ganze Jahr über so gut wie gar keine Zeit, obwohl diese eigentlich dringend notwendig gewesen wären.“

    In Bezug auf Verwaltungsvorgänge wünschen sich mehrere HLS-Mitglieder Erleichterungen. Original-Unterschriften auf Formularen, wie sie von einigen öffentlichen Stellen und Kostenträgern verlangt werden, sind in der Zeit des mobilen und digitalen Arbeitens häufig ein Problem. Außerdem berichteten mehrere Einrichtungen übereinstimmend, dass es auf Grund der Gesamtlage in der Pandemie noch einmal deutlich schwieriger war, Klient*innen bei der sozialen und beruflichen Re-Integration zu unterstützen.

    Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass alle Akteur*innen in der Arbeit mit suchtkranken Menschen sich durchgängig danach sehnen, dass wieder mehr Normalität einkehrt und auch wieder mehr reale Begegnungen stattfinden können. Online-Angebote können allenfalls eine Ergänzung zu den bestehenden Präsenz-Angeboten sein. Trotzdem muss festgehalten werden, dass durch Telefon- und Videoangebote gerade in der Beratung und teilweise in der Suchtselbsthilfe auch neue Zielgruppen erreicht wurden, so dass diese Angebote zumindest ergänzend beibehalten werden sollen. Speziell für Teamsitzungen können sich viele Mitarbeiter*innen digitale Lösungen auch in der Zukunft gut vorstellen.

    Die Corona-Pandemie hat die Digitalisierung der Suchthilfe massiv vorangetrieben – einige dieser Erfahrungen müssen nun validiert und bestenfalls in die Beratungs- und Behandlungskonzepte zur Verbesserung der Versorgung der Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen und ihrer Angehörigen integriert werden. Die Pandemie hat noch einmal gezeigt: Entscheidend für erfolgreiches Arbeiten mit den Klient*innen sowie mit den Kolleg*innen ist der persönliche, unmittelbare Austausch. Dies ist eine der wesentlichsten Ableitungen. Denn die immensen gesamtgesellschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Pandemie werden wir in Zukunft auch und vor allem in der Suchthilfe zu bewältigen haben. Dazu brauchen wir ein verlässliches Netzwerk und verlässliche Kooperationspartner*innen.

    Kontakt und Angaben zur Autorin:

    Linda Heitmann
    Geschäftsführerin
    Hamburgische Landesstelle für Suchtfragen e.V.
    Burchardstraße 19
    20095 Hamburg
    Tel. 040/30 38 65 55
    linda.heitmann(at)landesstelle-hamburg.de

  • Zukunftstrends – Was bleibt von Corona?

    Zukunftstrends – Was bleibt von Corona?

    Marcus Breuer

    Liebe Leserinnen und Leser,
    vielleicht geht es Ihnen ja wie mir – vielleicht können Sie das Thema „Corona“ inzwischen nicht mehr hören. Gerade jetzt, wo sich die Situation zu entspannen scheint und wir uns über Lockerungen freuen. Doch Corona bestimmt seit über einem Jahr unser aller Leben und Arbeiten – immer noch – und es wird Spuren hinterlassen.

    Herausgeber und Fachbeirat von KONTUREN online haben vor diesem Hintergrund beschlossen, die für unser Arbeitsfeld wichtigsten Veränderungen der letzten Monate zusammenzufassen und in einer Artikelserie zu veröffentlichen. Dabei möchten wir den Blick in die Zukunft richten, über das Ende dieser Pandemie hinaus. Uns interessiert, welche Veränderungen nach dem Ende der Pandemie dauerhaft Bestand haben könnten oder sollten, Stichwort Verschreibung von Substitutionspräparaten oder Therapie per Video.

    Unter der Überschrift „Zukunftstrends – Was bleibt von Corona?“ erwartet Sie eine lose Abfolge von Beiträgen. Bei vielen der behandelten Themen ist Corona der Katalysator zur Beschleunigung von Entwicklungen, die sich vermutlich in ähnlicher Art und Weise sowieso ergeben hätten.

    Die Artikelserie startet nächste Woche, am 22. Juni, mit einem Bericht der Hamburgischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. über Veränderungen in der Hamburger Suchthilfe in Zeiten der Pandemie. Dazu hat die Landesstelle im März 2021 – also ganz aktuell und auf Basis einiger gesammelter Erfahrungen – ihre Mitglieder befragt. Die Ergebnisse dieser Umfrage werden hier dargestellt.

    Die später folgenden Artikel befassen sich mit Digitalisierung und Medien(sucht), mit digitalen Strategien in der Fort- und Weiterbildung inklusive Bezügen zum vielzitierten Fachkräftemangel, mit Sucht und Arbeit in Zeiten von Homeoffice sowie mit den Auswirkungen von Corona auf die Substitution.

    Ich hoffe, Sie sind ähnlich gespannt auf diese Statements wie wir!

    Ihr
    Marcus Breuer
    Mitherausgeber

  • Der Staatsvertrag zur Neuregulierung des Glücksspielwesens in Deutschland

    Der Staatsvertrag zur Neuregulierung des Glücksspielwesens in Deutschland

    Dr. Kai W. Müller

    Unter der Bezeichnung „Störung durch Glücksspielen“ wird die unkontrollierte und zu negativen Folgeerscheinungen führende Nutzung von unterschiedlichen Glücksspielangeboten erstmals als eine Variante einer substanzungebundenen Abhängigkeitserkrankung (Verhaltenssucht) im ICD-11 (International Classification of Diseases, Weltgesundheitsorganisation, 2019) aufgeführt. Die Definition des Störungsbildes richtet sich somit nach den gängigen Kriterien von Abhängigkeitserkrankungen allgemein. Als diagnostisches Gerüst gelten die Kriterien der Priorisierung der Glücksspielnutzung vor anderen Lebensbereichen und Aktivitäten, eine verminderte Kontrolle über Art und Umfang der Glücksspielteilnahme und deren Fortführung trotz damit in Zusammenhang stehender negativer Konsequenzen.

    Besagte negative Konsequenzen können sich auf alle Lebensbereiche Betroffener beziehen, wie aus zahlreichen epidemiologischen und klinischen Studien bekannt ist (z. B. PAGE-Studie, 2011). Dazu gehören beispielsweise finanzielle Probleme, die durch ein immer risikoreicheres und intensiviertes Spielverhalten in oftmals ganz erheblicher Form auftreten. Ebenso gehen nachhaltige Schwierigkeiten in der Lebensführung und ausgeprägte soziale Konflikte mit der Erkrankung einher. Daneben ergeben sich auch Folgen für die psychische, aber auch körperliche Gesundheit: Unter Betroffenen sind psychopathologische Symptome (wie etwa erhöhte Stressbelastung und depressive Symptome) und psychische Begleiterkrankungen (hier etwa erhöhte Komorbidität für Angststörungen, affektive Störungen und Persönlichkeitsstörungen) im Vergleich zur gesunden Allgemeinbevölkerung um ein Vielfaches erhöht, und auch Zusammenhänge mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Krankheiten scheinen mittlerweile gesichert (vgl. z. B. Müller & Wölfling, 2019).

    Der Glücksspielstaatsvertrag: Glücksspielen in geordneten Bahnen

    Aus dieser knappen Ausführung wird ersichtlich, dass es sich bei Glücksspielen eben nicht um reine Unterhaltungsprodukte handelt, sondern sich aus ihrer Nutzung ernste Beeinträchtigungen ergeben können, zumindest wenn die bewusste Kontrolle über das Spielverhalten verloren gegangen ist. Dementsprechend existiert in Deutschland ein weites Netz an unterschiedlichen Anlaufstellen für Betroffene, welches Selbsthilfe, niederschwellige Beratungsangebote, ambulante Psychotherapien und stationäre Rehabilitationsmaßnahmen sowie Nachsorgeangebote umfasst. Hier finden Menschen Hilfe, die bereits eine problematische oder auch suchtartige Glücksspielnutzung entwickelt haben. Die Versorgung bereits Betroffener ist natürlich wichtig, der Vorbeugung von neuen Erkrankungsfällen muss jedoch eine ebenso hohe Bedeutung beigemessen werden. Ein wesentlicher Baustein hierzu ist im so genannten Glücksspielstaatsvertrag (Staatsvertrag zum Glücksspielwesen in Deutschland; GlüStV) zu sehen, in welchem bundeseinheitliche Regularien für das Betreiben und die Nutzung von Glücksspielen in Deutschland festgehalten werden. Die erste Fassung des Glücksspielstaatsvertrags trat bereits im Jahre 2008 in Kraft, es folgten verschiedene Novellierungen, bis schließlich der „Staatsvertrag zur Neuregulierung des Glücksspielwesens in Deutschland“ (GlüStV 2021) ratifiziert wurde und nun zum 1.7.2021 offiziell in Kraft treten wird.

    Der Grundgedanke des ursprünglichen Glücksspielstaatsvertrags bestand darin, verbindliche Rahmenbedingungen zu definieren, die das Betreiben und die Nutzung von Glücksspielen ermöglichen. Schon die erste Fassung des GlüStV berücksichtigte Fragen nach der Verhältnis- und Verhaltensprävention einer Störung durch Glücksspielen. Hierunter fallen beispielsweise die Regulierung der Angebotsdichte (Anzahl von zulässigen Spielbetrieben) und die Möglichkeit, eine Sperrung der Teilnahme am Spielbetrieb zu veranlassen. Mit der nun verabschiedeten Neuregulierung gehen im Vergleich zu den vorherigen Fassungen teils erhebliche Änderungen einher, deren Bedeutung speziell für den Spielerschutz im Folgenden umrissen und hinsichtlich ihrer Relevanz und potenziellen Auswirkungen kommentiert werden soll.

    Der Status des Internetglücksspiels

    Eine sehr wesentliche Veränderung bezieht sich auf den zuvor wenig regulierten Markt der internetbasierten Glücksspiele. Mit der zunehmenden Verbreitung des Internets geht schon seit vielen Jahren der Trend einher, dass sich auch das virtuelle Glücksspiel stark ausdifferenziert hat. So sind es längt nicht mehr nur Pokerportale und Sportwetten, die im virtuellen Raum zugänglich sind, sondern komplette virtuelle Casinos und Automatenspiele erweitern das Angebot. Die Neufassung des Glücksspielstaatsvertrags sieht nun vor, diesen Markt explizit zu berücksichtigen. Dies ist gleichbedeutend mit einer Zulassung von Online-Automatenspielen und berechtigt die Bundesländer auch dazu, Konzessionen für Online-Casinos zu vergeben. Da jene internetbasierten Glücksspielangebote natürlich unabhängig vom Glücksspielstaatsvertrag bereits im Internet verfügbar waren, wird durch diese Entscheidung das faktische Angebot an Glücksspielformen zwar nicht wirklich größer, es könnte aber präsenter und somit auch für weitere Zielgruppen interessant werden, die sich vorher aus dieser „Grauzone“ herausgehalten haben. Diese Neuregelung hat also nicht zur Folge, dass es mehr Glücksspiele geben wird, wohl aber, dass nun mehr legale Formen zur Verfügung stehen.

    Diese grundlegende Änderung ist aus suchtpsychologischer Sicht hoch relevant. Bei internetbasierten Glücksspielen, allen voran Online-Casinos und Online-Automatenspiele, handelt es sich um Varianten von Glücksspielen, die mit erhöhten Raten an Kontrollverlust und entsprechend hohen finanziellen Verlusten einherzugehen scheinen. In vielen Beratungsstellen und klinischen Versorgungseinrichtungen lässt sich eine steigende Anzahl von Betroffenen feststellen, die vornehmlich internetbasierte Glücksspiele suchtartig nutzen. Auch höhere finanzielle Verluste bei einer Präferenz für Internetglücksspiele wurden und werden immer wieder berichtet. Zumindest um den letzten Aspekt aufzufangen, sieht der neue Glücksspielstaatsvertrag die Einrichtung einer Art zentralen Registers, der so genannten Limitdatei, vor. Hintergrund für diese Datei ist, dass es bei der Teilnahme an Internetglücksspielen ein finanzielles Limit geben soll, welches sich auf die Höchstsumme von 1.000 Euro Einsatz pro Monat beläuft. Auch wenn für einen nicht unerheblichen Teil der Spielenden diese Summe bereits mehr als ausreichend sein dürfte, um sich bei gegebenem Kontrollverlust und anderen Symptomen einer suchtartigen Nutzung in ernsthafte finanzielle Nöte zu bringen, ist diese begrenzende Maßnahme doch grundsätzlich zu begrüßen.

    Der Stellenwert der Selbstsperre

    Eine weitere wesentliche Neuregelung betrifft das Instrument der Spielersperre. Die Möglichkeit, sich selbst von der Teilnahme an Glücksspielen ausschließen zu können (Selbstsperre), stellt ein ganz zentrales Element des Spielerschutzes dar. Diese Möglichkeit war bereits in den früheren Fassungen des Glücksspielstaatsvertrags gegeben, jedoch wurde sie nun um entscheidende Aspekte erweitert. Das neu definierte Spielersperrsystem sieht vor, dass eine Sperre spielformübergreifend erwirkt wird. Personen, die für sich eine Gefährdung erkannt haben, können im Falle einer erwirkten Sperre also beispielsweise nicht mehr nur in Spielbanken keine Glücksspiele mehr tätigen, sondern sind automatisch auch von Spielhallen, Sportwetten und allen Formen internetbasierter Glücksspiele ausgeschlossen.

    Technisch ermöglicht wird dies über eine so genannte zentrale Spielersperrdatei, für welche sich natürlich datenschutzrechtliche Fragen stellen. Inhaltlich ist der Schritt zu begrüßen, eine Sperre nicht wie zuvor nur auf einzelne Spielformen oder gar örtliche Spielstätten zu begrenzen. Ein „Drift“ gefährdeter Personen zu anderen Glücksspielformen ist hierdurch deutlich unwahrscheinlicher als zuvor. Kritisch zu bewerten ist hingegen die Neuregelung hinsichtlich einer Aufhebung der Sperre. Laut Glücksspielstaatsvertrag sind nunmehr keine besonderen Nachweise wie etwa psychologische Gutachten erforderlich, um eine Sperre zu beenden. Begründet wird dieser Umstand damit, dass subjektive Hürden für die Beantragung eine Sperre gesenkt werden sollen und dass darüber hinaus Personen, welche Gutachten über eine etwaige Spielsuchtgefährdung ausstellen, vor möglichen Regressansprüchen geschützt werden sollen.

    Grundsätzlich stellt eine externe Einschätzung des Gefährdungspotenzials einer Person eine schwierige Herausforderung dar. Eine bereits bestehende Störung durch Glücksspielen kann natürlich anhand der diagnostischen Kriterien von geschultem Fachpersonal zuverlässig beurteilt werden; eine prognostische Einschätzung im Vorfeld des Vollbildes der Erkrankung (beispielsweise in einem Frühstadium) hingegen ist äußerst anspruchsvoll. Nach Einschätzung des Autors ist dennoch zu bemängeln, dass eine Aufhebung der Sperre fortan ohne externe Einschätzung möglich sein wird. Trotz der oben angeführten Schwierigkeiten der Prognose kann eine externe Beurteilung hilfreich sein, und sei es lediglich, dass sie potenziell gefährdeten Personen die Chance zu einer Reflexion der Beweggründe für ihren Wunsch nach einer Entsperrung bietet.

    Ausblick

    Schließlich wurde im Glücksspielstaatsvertrag auch beschlossen, eine „Gemeinsame Glücksspielbehörde der Länder“ zu installieren, deren Sitz in Sachsen-Anhalt liegen wird. Als Anstalt des öffentlichen Rechts wird dieser Einrichtung die Aufsicht über die Einhaltung der im Glücksspielstaatsvertrag aufgeführten Regularien obliegen. Auch wird sie dafür zuständig sein, Forschungsaufträge zu vergeben, welche die Auswirkungen der nun beschlossenen Rahmenbedingungen des Glücksspielens auf den Markt und die Bevölkerung betreffen. Dies wird nötig sein, denn bei allem Positiven, was den neuen Glücksspielstaatsvertrag fraglos kennzeichnet, gibt es doch einige Punkte, deren Sinnhaftigkeit sich erst noch bewähren muss. Nur eine unabhängige und objektive Forschung kann perspektivisch zur Klärung dieser Unwägbarkeiten beitragen.

    Kontakt:

    Dr. Kai W. Müller
    kai.mueller@unimedizin-mainz.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Kai W. Müller, Dipl.-Psychologe, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Forschung & Diagnostik an der Grüsser Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht, Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität, Mainz.

    Literatur:
    • Meyer, C., Rumpf, H. J., Kreuzer, A., de Brito, S., Glorius, S., Jeske, C., Kastirke, N., Porz, S., Schön, D., Westram, A., Klinger, D., Goeze, C., Bischof, G. & John, U. (2011). Pathologisches Glücksspielen und Epidemiologie (PAGE): Entstehung, Komorbidität, Remission und Behandlung, Greifswald & Lübeck
    • Müller, K.W. & Wölfling, K. (2020). Glücksspielstörung. Stuttgart, Kohlhammer