Seit längerer Zeit beklagt die Suchthilfe, dass die kommunalen Suchtberatungsstellen nicht mehr auskömmlich finanziert werden, u. a. im „Notruf Suchtberatung“ der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) vom 23. April 2019. Die DHS fordert deshalb, dass die Suchtberatung zur kommunalen Pflichtleistung wird (DHS, 10. September 2020). Die Forderung wird bereits seit Jahrzehnten erhoben, ohne bislang realisiert worden zu sein. Auch aktuell gibt es hierfür keine Anzeichen.
Die Leistungspalette der Suchtberatungsstellen ist nach wie vor stark auf die klientenzentrierte Beratungsarbeit ausgerichtet, auch wenn sie sich im Laufe der Jahre ausdifferenziert hat. Bei dieser Ausrichtung wird zwangsläufig nicht ausreichend sichtbar, worin ein Mehrwert der Arbeit der Suchtberatungsstellen für die Kommunen besteht. Es ist für die Kommune schwer zu erkennen, wofür sich das finanzielle Engagement, neben der Verbesserung der individuellen Lebenslagen der Menschen, die die Angebote in Anspruch nehmen, lohnt.
Dieser Punkt wird im Zuge der aktuellen Entwicklung in absehbarer Zeit allerdings an Bedeutung gewinnen. Aufgrund der enormen staatlichen Ausgaben, die derzeit für den Kampf gegen SARS-CoV-2 aufgewendet werden, lässt sich vorhersehen, dass in den nächsten Jahren große Anstrengungen unternommen werden müssen, diese Schuldenberge wieder abzutragen. Die Folgen der dafür notwendigen Haushaltsdisziplin auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene werden vor allem die Bereiche spüren, die als freiwillige Leistungen finanziert werden – und damit auch die Suchtberatungsstellen.
Als wichtiger Partner für Verwaltung und Fachämter agieren
Um einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken bzw. die Folgen zu dämpfen, bedarf es einer Umorientierung in der Ausrichtung der Suchtberatungsstellen. Neben dem Ziel, den betroffenen Menschen zu helfen, muss stärker in den Blick genommen werden, welchen Nutzen die Kommune aus dem Dasein und der Expertise einer Suchtberatungsstelle ziehen kann. Die Suchthilfe muss sich dazu noch stärker als bisher als strategischer und zugewandter Partner in den lokalen politischen Gremien, der lokalen Verwaltung und den entsprechenden Fachämtern präsentieren.
Wenn die Suchtberatung engagiert im kommunalen psychosozialen Gesamtgeschehen agiert und Vernetzungen aus dem Suchthilfebereich heraus aktiv mitgestaltet, hilft dies nicht nur, den Bestand der Suchthilfeangebote zu sichern, sondern bedeutet zugleich konkrete Hilfe für Betroffene. Konkrete Beispielszenarien:
Wenn
Bürgermeister*innen die lokalen Suchthilfeakteure als Ratgeber oder Unterstützungsinstanz auch bei kommunalen Herausforderungen schätzen, z. B. bei Suchtproblemen in der Mitarbeiterschaft der Verwaltung,
die Polizei die Suchthilfe als verlässlichen Partner z. B. bei Problemen mit Jugendlichen wahrnimmt oder
die Suchthilfe von Ämtern als Fachorganisation gewürdigt wird, welche konkrete Hilfestellungen offeriert, die das eigene Handeln weiterbringen,
dann hat die Suchthilfe auf der kommunalen Ebene Mitstreiter, die ebenfalls ein großes Interesse daran haben, dass das vorhandene Angebot bestehen bleibt, ja, vielleicht durch zusätzliche Arbeitsaufträge (z. B. sozialpädagogische Familienhilfe bei von Sucht betroffenen Familien) sogar ausgebaut wird.
Ein Beispiel für eine gelungene breit aufgestellte Kooperation, bei der die Suchthilfe im Gefüge der kommunalen Organe eine aktive, tragende Rolle spielt, ist das Projekt SoS – Sozialraumorientierte Suchthilfe, das die Drogenhilfe Nordhessen e.V. zusammen mit verschiedenen Landkreisen und Städten durchführt (s. Kasten).
Die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre hat mit dazu geführt, dass sich Menschen mit psychosozialen Einschränkungen vermehrt an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen. Die Politik hat dies erkannt und ist bestrebt, den Zusammenhalt der Gesellschaft stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Sie weiß um die Bedeutung von Initiativen und Organisationen, die sich für die Teilhabe aller an unserer Gesellschaft einsetzen.
SoS – Sozialraumorientierte Suchthilfe Der Leitsatz des Projektes SoS lautet: „Finden die Menschen nicht in das System, so muss das System die Menschen finden!“ Ziel des Projektes ist es, in ländlichen Gebieten Menschen mit Suchtproblemen zu erreichen, die durch das konventionelle Hilfesystem nicht erreicht werden oder von sich aus nicht in der Lage sind, sich Hilfe zu suchen, und ihnen Behandlungsangebote zu machen. SoS ist eine aufsuchende und nachgehende Hilfeform. Das Projekt startete 2015 in Form von zwei halben Stellen für Sozialarbeiter im Landkreis Hersfeld-Rotenburg und im Schwalm-Eder-Kreis mit drei Jahren Laufzeit und einer Förderung durch das Land Hessen. Mittlerweile trägt sich das Projekt selbst über Partner auf kommunaler Ebene.
Was ist das Besondere? SoS initiiert aktiv eine breit aufgestellte Kooperation der Suchthilfe mit allen Bereichen öffentlicher Daseinsvorsorge – Jugendämtern, Sozialämtern, Arbeitsämtern – und dem Gesundheitswesen – Arztpraxen, Krankenhäuser. Die Suchthilfe bietet ihre Unterstützung und Expertise sowohl den dort anzutreffenden Kund*innen und Patient*innen an als auch den Mitarbeiter*innen und Führungskräften dieser Dienste. Eine ebensolche Zusammenarbeit besteht mit der Polizei und Rettungsdiensten. Zeigt sich bei deren Klientel ein Suchtproblem, werden die SoS-Mitarbeiter*innen ins Boot geholt. Mittlerweile verteilt die Polizei bei entsprechenden Einsätzen (häuslicher Gewalt, Fahren unter Alkoholeinfluss) SoS-Flyer.
Dauerhafte Finanzierung Handlungsmaxime von SoS ist eine die unterschiedlichen Hilfesysteme vernetzende Kooperation im Sozialraum. Ziel ist, dass bei erkanntem Suchtmittelproblem zeitnah, niedrigschwellig und in einem aufsuchenden und verlässlichen Setting Hilfe erfolgt. Das bedeutet, dass die Betroffenen notwendige Hilfen aus unterschiedlichen Sozialsystemen (Jugendhilfe, Suchthilfe, Gesundheitswesen, Rentenversicherung) erhalten. Da unterschiedliche soziale Sicherungssysteme, aber auch Betriebe, partizipieren und profitieren, ergibt sich die Chance, die Gesamtkosten für die Weiterführung des Projektes auf mehrere Kostenträger zu verteilen (öffentliche Hand, Gesundheitswesen und Wirtschaft). Ein weiterer Baustein der Finanzierung sind Dienstleistungen im Bereich betriebliches Gesundheitsmanagement und betriebliches Eingliederungsmanagement.
Die Leistung an Mann* und Frau* bringen Psychosoziale Hilfen sind von unschätzbarem Wert – für Individuen, Familien, Gemeinden und Arbeitgeber. Sie müssen in der Breite angeboten und publik gemacht werden. Sie brauchen einen dienstleistungsorientierten Vertrieb! So können sie sich ausdehnen und ein Versorgungsnetz bilden, das Hilfe leistet, wo Hilfe gebraucht wird. Und dieser „Service“ hat gute Chancen, finanziert zu werden.
Um zukünftig weiterhin betroffenen Menschen die notwendigen Suchthilfeangebote bieten zu können, muss eine positive und zielgruppenspezifische Darstellung der eigenen Arbeit einen größeren Raum einnehmen. Vor allem der Gewinn dieser Arbeit für die Allgemeinheit und die Geldgeber ist dabei gegenüber der Öffentlichkeit und der Politik stärker herauszustreichen.
Als Begleiterscheinung der Pandemie hat auch im Bereich der Suchthilfe die Digitalisierung einen enormen Schub erfahren. Neue Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und der Betreuung mit digitalen Tools wurden ausprobiert und haben derzeit vielerorts die vorhandenen Präsenzangebote ergänzt. Die Umsetzung digitaler Formate in der Arbeit mit Klient*innen innerhalb kurzer Zeit ist hervorragend gelungen, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Suchthilfe nach wie vor großer Bedarf herrscht, sich zeitgemäß und attraktiv im digitalen Raum zu präsentieren. Manche Homepage führt noch immer ein Schattendasein und ist für Nutzer*innen wenig attraktiv, soziale Medien werden kaum bedient. Doch gerade auch diese Kommunikationskanäle dienen der öffentlichen Darstellung der Einrichtung und werden von der Politik und der Öffentlichkeit wahrgenommen, d. h., auch bei der Kommunikation im virtuellen Raum ist es sinnvoll, die politischen Entscheider als Adressaten mitzudenken.
Neben kommunalen Mitteln werden Suchtberatungsstellen auch mit Mitteln der Länder finanziert. Vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklungen ist es auf dieser Ebene wichtig, sich frühzeitig mit den jeweiligen Landtagsfraktionen in Verbindung zu setzen und für die Erhaltung der Angebote und Strukturen zu werben. Auch hier helfen konkrete und überzeugende Beispiele, mit denen demonstriert werden kann, welche Vorteile die vorhandenen Angebote neben denen für die Individuen auch für die Regionen und das soziale Gefüge bieten.
Mögliche Einsparungen im Bereich der Suchtberatungsstellen könnten sich aktuell doppelt negativ auswirken: Aufgrund des pandemischen Geschehens ist damit zu rechnen, dass in den nächsten Jahren zusätzliche Suchtberatungsangebote benötigt werden. Die psychosozialen Kollateralschäden und Langzeitfolgen der Pandemie für vulnerable Zielgruppen sind derzeit noch nicht absehbar. Durch die Pandemie hervorgerufene persönliche Krisensituationen mit dem Konsum von Alkohol, Drogen, Glücksspielen oder dysfunktionalen Internetaktivitäten zu bewältigen, ist jedoch naheliegend. Erste Befunde hierzu liegen schon vor (Studie „Psychische Gesundheit in der Krise“ der pronova BKK; Manthey et al. 2020). Angesichts eines solchen Szenarios wäre den politischen Entscheidungsträger*innen zeitnah zu vermitteln, dass es nicht zielführend ist, Unterstützungsangebote gerade für diese Zielgruppen zu reduzieren.
Die Realisierung der genannten Aufgaben benötigt Ressourcen. Allerdings reicht es nicht, deren Bereitstellung als Selbstverständlichkeit von den Geldgebern zu erwarten. Vielmehr liegt es primär in der Verantwortung eines Zuwendungsempfängers, die erfolgreiche Arbeit auch entsprechend zu kommunizieren und zu publizieren, wenn er den Wunsch hat, dass die Zuwendung weitergeführt wird.
Große Träger sind im Vorteil
Viele Träger von Suchtberatungsstellen agieren im oben beschriebenen Sinne seit vielen Jahren mit gutem Erfolg. Dabei zeigt sich, dass es sich vielfach um größere Träger handelt, die mehrere Beratungsstellen, Angebote der Eingliederungshilfe oder sogar stationäre Therapieeinrichtungen vorhalten. Zusätzlich arbeiten diese Träger nicht nur mit suchtkranken Menschen, sondern bieten auch Leistungen im Rahmen der Jugendhilfe oder sozialpädagogische Familienhilfe an. Diese Leistungen werden individuell mit den kommunalen Trägern abgerechnet und bieten i.d.R. eine verlässliche Finanzierungsquelle.
In einer größeren Organisation sind finanzielle Deckungslücken zudem einfacher auszugleichen. Eine aktive Personalentwicklung ist leichter umzusetzen, und damit lässt sich auch dem in der Suchthilfe bestehenden Fachkräftemangel besser begegnen. Für Geldgeber zusätzlich attraktiv ist die Tatsache, dass größere Träger auf aktuelle Bedarfsänderungen schnell reagieren können. Vielfach agieren diese gemeinnützigen Träger, die es in vielen Bundesländern gibt, zudem überregional.
Aus diesen Aspekten abgeleitet stellt sich die Frage, ob und wie kleine Beratungsstelleneinheiten den bevorstehenden Herausforderungen zukünftig begegnen können.
Strukturveränderungen diskutieren und anstoßen
In den Institutionen, die die Interessen der Suchthilfe vertreten, sollte deshalb der Diskurs über mögliche oder sogar notwendige Strukturveränderungen begonnen werden, um konkrete Vorschläge zu entwickeln und an die politischen Entscheider zu adressieren. Das Beharren auf einem „Weiter so“ wird in Anbetracht der anstehenden finanziellen Aufgabenstellungen wenig zielführend sein, wenn es gilt, zukunftsfähige Perspektiven für Suchtberatungsstellen zu entwickeln.
Die anstehenden Herausforderungen für die Suchthilfe sind also enorm. Ob zu ihrer Bewältigung auch Strukturveränderungen und eine neue Haltung in der Angebotslandschaft notwendig wären, darf in dem anstehenden Diskurs nicht ausgeblendet werden. Mit konstruktiven Vorschlägen, die den geänderten Rahmenbedingungen Rechnung tragen, sollten umfassende und abgestimmte Aktivitäten der Suchhilfe auf Länder- und Bundesebene an die Politik adressiert werden. Ein solches Vorgehen bietet die Chance, dass Menschen mit Suchtproblemen weiterhin ein kompetentes, differenziertes und umfängliches Angebot erhalten, und zwar von gemeinnützigen öffentlich geförderten Suchtberatungsstellen, denen damit eine zukunftsfähige Perspektive eröffnet wird.
Kontakt:
Wolfgang Rosengarten
w.rosengarten@t-online.de
Angaben zum Autor:
Wolfgang Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration in Wiesbaden. Vorher war er über 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.
Transgeschlechtliche Menschen gehören einer gesellschaftlichen Minderheit an, also einer Gruppe mit einer erhöhten Anfälligkeit für eine mögliche Suchtentwicklung und problematische Substanzkonsummuster. Sie sind von Risikofaktoren und suchtfördernden Umständen betroffen. Die Gründe für ihre gesellschaftliche Benachteiligung liegen in sozio-ökonomischen, kulturellen und psychosozialen Faktoren. Die für die Bewältigung der vielfältigen Belastungen unzureichenden Ressourcen werden in ihrer Gesamtheit Minderheitenstress genannt (vgl. auch „Minoritätenstressmodell“, Brewster et al. 2013).
Besondere Stresserfahrungen von transgeschlechtlichen Menschen sind familiäre Ablehnung, Diskriminierungserfahrungen und mangelnder Zugang zu einer geschlechtsbejahenden Gesundheitsversorgung. Die kumulative Wirkung von Minderheitenstress ist mit einer erhöhten Komorbidität verbunden. Zu diesen Komorbiditäten gehören schwerwiegende psychische Erkrankungen und Suchtmittelabhängigkeit. Transgeschlechtliche Menschen sind neben dem Risiko für eine Suchterkrankung mit weiteren erheblichen gesundheitlichen Risiken wie HIV und sexualisierter Gewalt belastet (vgl. James et al. 2016, S. 10). Das Risiko, sich mit HIV zu infizieren, ist für trans Personen deutlich erhöht (Clark et al. 2017). In den USA beträgt die HIV-Rate bei trans Menschen 1,4 % zu 0,3 % bei der Gesamtbevölkerung. Darüber hinaus ist das Erleben mehrerer Minderheitsstressoren mit einer dramatisch höheren Prävalenz von Suiziden und Suizidversuchen und einer erhöhten Prävalenz von nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten (NSSV) verbunden.
Trans Menschen profitieren von herkömmlichen Angeboten der Suchthilfe zu wenig und werden ungenügend erreicht. Sie erleben häufig Stigmatisierung und Diskriminierung aufgrund von mangelnder Fachkenntnis (European Union Agency for Fundamental Rights 2014).
Deshalb hat der Träger Therapiehilfeverbund in Hamburg die Beratungsstelle 4Be (gesprochen „for be“ im Sinne von „Für das Sein“, „Weil es dich gibt, sind wir für dich da“) gegründet und bietet seit April 2019 Beratungen für geschlechtsdiverse Menschen an. 4Be praktiziert einen nicht pathologisierenden und in der Behandlung nicht diskriminierenden Ansatz (Austin et al 2015) und unternimmt verstärkte Anstrengungen, der gesundheitlichen Ungleichheit entgegenzuwirken (Austin & Craig 2015).
Damit soll das umfassende Konzept von Gesundheitsförderung der WHO berücksichtigt werden. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Setting-Ansatz, der neben der Stärkung der individuellen Ressourcen auch auf die aktive Gestaltung gesundheitsfördernder Lebenswelten abzielt (Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit 2017).
Suchthilfe
Transgeschlechtliche Menschen haben nur beschränkt Zugang zu Angeboten der Suchthilfe, sie gelten als „schwer erreichbar“. Für die eingeschränkte Erreichbarkeit sind beeinträchtigende Faktoren auf Seiten der Suchthilfe, sozial-strukturelle Hindernisse sowie Unzulänglichkeiten der jeweiligen Settings verantwortlich.
Geschlechtsdiverse Menschen werden im Hilfesystem regelhaft mit starren Vorstellungen von Geschlecht konfrontiert, die sich an binären Biologismen orientieren (Renner et al. 2020). Diese werden von den Genitalien abgeleitet, die gleichsam eine eindeutige geschlechtliche Identifizierung erzeugen sollen, entweder weiblich oder männlich. Menschen werden damit von der Geburt an identifiziert und lebenslang unterscheidbar angesprochen. Diese binäre Klassifizierung als Mann oder Frau erscheint als natürlich und nicht diskutierbar. Deshalb müssen trans Menschen nicht nur erleben, dass sie dem falschen Geschlecht zugeordnet werden und/oder von ihnen mit dem falschen Pronomen gesprochen wird (misgendern), sondern v. a. dass ihre geschlechtliche Wahrnehmung grundsätzlich in Frage gestellt und negiert wird.
Zu den erschwerenden sozial-strukturellen Hindernissen gehört ein geringerer sozioökonomischer Status, der einhergeht mit Schwierigkeiten am Arbeitsplatz wie Mobbing oder Aufstiegshindernisse oder gleich ganz dem Verlust des Arbeitsplatzes. Dazu kommen Fehlzeiten aufgrund von Behandlungsterminen und wiederholte Krankenhausaufenthalte mit zum Teil längeren Erholungsphasen z. B. nach einer Operation. Die Versorgungssituation ist beschränkt auf wenige Anlaufstellen in Ballungsräumen. Für diese wenigen Plätze bestehen in der Regel lange Wartezeiten. In der Fläche gibt es selten therapeutische oder endokrinologische Hilfsangebote. Dabei ist die Situation für die unter 18-Jährigen noch schlechter.
Für die Arbeit mit Transsexuellen sind die S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit (AWMF 2018) und darüber hinaus die Richtlinie des Medizinischen Diensts des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS) (Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen 2020) bindend. Sie schreiben Mindestqualifikationen der Mitarbeiter_innen vor, die in den meisten Beratungssettings nicht erbracht werden können.
Grundsätzlich ist es heikel, transgeschlechtliche Menschen auf ihre Sucht-Gefährdung anzusprechen und zu versuchen, sie für spezifisch auf sie ausgerichtete Maßnahmen zu gewinnen. Es besteht das Risiko der Stigmatisierung und Schuldzuweisung („Blaming the victim“), und es besteht die Gefahr, eine vorhandene Vulnerabilität zusätzlich zu verstärken (Montada et al. 1988). Das Angebot von 4Be ist deshalb in der Ansprache der Menschen und der Umsetzung zeit- und ressourcenintensiver als andere Angebote. Der Fokus darf ja nicht nur auf konkrete, bereits vorhandene riskante Konsummuster ausgerichtet sein, denn die anzugehenden Risiken und vor allem die Komorbiditäten sind vielfältiger und komplexer.
Die Ansprache dieser Zielgruppe durch 4Be hat deshalb drei Ziele:
Zugang zu den Menschen schaffen, die Menschen erreichen;
Akzeptanz gewinnen, die Menschen lassen sich auf das Angebot ein;
Wirkung erzielen, es kommt zu Veränderungen und Verbesserungen beim Suchtmittelkonsum und den Komorbiditäten.
Peerkonzept
Das Angebot im Bereich Genderdiversität von 4Be integriert alle relevanten Inhalte rund um das Thema. Dazu ist eine spezifische Fachkompetenz notwendig, durch die ein Suchtproblem identifiziert werden kann, und die handlungsfähig macht. Dafür bietet sich ein Peer-Angebot an, das auf die ressourcenstärkende Beziehung zu einer Bezugsperson aus der Community setzt.
Für die Suchtarbeit bedeutet dieser Ansatz allerdings Neuland, und die Suchtberatung verlässt die gewohnten Pfade. So müssen Kommunikationsmittel und -wege speziell auf diese Zielgruppen ausgerichtet werden. Hier spielen das Internet und die sozialen Medien eine besondere Rolle. Dabei entsteht ein Spannungsfeld zwischen Anforderungen des Datenschutzes und gruppenorientierter Kommunikation. Auch in diesem Kontext bietet das Peer-Angebot Entwicklungsmöglichkeiten, da sich die Peers unmittelbar in der Community aufhalten.
Unter dem Wort „Peer“ versteht man einen „Gleichrangigen“, es geht also um ein Angebot auf Augenhöhe. Dieses Angebot eignet sich besonders für Menschen, die sich mit jemandem austauschen möchte, die_der ähnliche Erfahrungen gemacht hat und die eigenen Erfahrungen dadurch auf besondere Art nachvollziehen kann. In der Peer-Beratung unterstützen und beraten Menschen, die eigene seelische Krisen erfahren haben, nach einer Beratungsausbildung andere Betroffene. Peer-Berater_innen hören vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung zu und bieten Beistand in Krisensituationen.
Sucht
Es gibt nur wenige valide Zahlen zur Suchtmittelabhängigkeit genderdiverser Menschen. Zahlen aus der Allgemeinbevölkerung zur Prävalenz von Suchtmittelabhängigkeit heranzuziehen, bildet den Minderheitenstress nicht hinreichend ab. In einer Studie in den USA berichteten 26,3 % der teilnehmenden trans Personen, in der Vergangenheit Drogen oder Alkohol in schädlicher Weise konsumiert zu haben, um mit transbezogener Diskriminierung umzugehen (Klein & Golub 2016).
In einer weiteren, internetbasierten Studie aus den USA zum Substanzkonsum bei erwachsenen trans Personen in den letzten drei Monaten machten 21,5 % der Teilnehmenden Angaben über exzessiven Alkoholkonsum, 24,4 % über Cannabiskonsum und 11,6 % über den Konsum anderer Drogen (Gonzalez et al. 2017). Ergebnisse aus der Hamburger ENIGI-Studie zeigen, dass der Alkoholkonsum von trans Personen nicht als grundsätzlich auffällig oder klinisch relevant eingestuft werden kann. Bei insgesamt 6,9 % der befragten Stichprobe wurde der Alkohol- oder Drogenkonsum als schädlich oder abhängig eingestuft (Kürbitz et al. 2018).
Abb. 1: Jahresauswertung 2020 von 4Be – Suchtverteilung
Die Daten der Jahresauswertung 2020 von 4Be beruhen auf den Selbsteinschätzungen der Klient_innen, die über einen Fragebogen erhoben wurden, und den Feststellungen der Peers (N=186). Im Wesentlichen dürften Menschen mit Suchtthematik eine entsprechende Beratung aufsuchen. Allerdings konnten bei 34 % (2019: 39 %) keine Feststellungen zu Suchtmitteln gemacht werden. Das liegt vor allem an den Einmalberatungen, bei denen kein Fragebogenrücklauf erfolgen konnte. Die Quote der Menschen mit einer Suchtthematik ist im Jahr 2020 leicht auf 66 % gestiegen (2019: 61 %).
Die Verhaltenssüchte und vor allem nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) stehen an erster Stelle der Befunde in der Beratung. Zusammen mit Internet-basierten Süchten und Kaufsucht machen sie 28 % (2019: 21 %) der Nennungen von süchtigem Verhalten aus.
Problematischer Alkoholkonsum konnte bei 14 % der Klient_innen festgestellt werden und verzeichnet damit einen spürbaren Rückgang im Vergleich zu 2019 (36 %). Die Zahlen bewegen sich damit in Richtung der Ergebnisse der ENIGI-Studie (Köhler et al. 2019).
An dritter Stelle der Suchterkrankungen stehen die Essstörungen mit 10 % in der Reihung Anorexie (5 %), Binge Eating (3 %) und Bulimie (2 %). Beim Cannabiskonsum liegt mit 9 % eine Steigerung der Feststellungen im Vergleich zu 2019 (7 %) vor. Alle anderen Suchtformen spielen nur noch eine untergeordnete Rolle. Nikotin und Medikamentenabhängigkeit haben als Thematik mit jeweils 1 % gegenüber den Zahlen aus 2019 (7 % und 6 %) keine Relevanz mehr.
Abb. 2: Jahresauswertung 2020 von 4Be – Alters- und Geschlechterverteilung
Für eine Suchtberatungsstelle ist ein Durchschnittsalter von 26,5 Jahren niedrig. Die trans Männer (bei der Geburt weiblich zugewiesen) haben einen Anteil von 44 % und ein Durchschnittsalter von 23,4 Jahren. Sie stellen damit die jüngste Gruppe. Die trans Frauen (bei der Geburt männlich zugewiesen) haben einen Anteil von 40 % und sind im Durchschnitt 29,2 Jahre alt. Die kleinste Gruppe bilden Menschen, die sich nicht binär verorten. Zu dieser Gruppe zählten sich 16 % mit einem Durchschnittsalter von 28,7 Jahren. Mit dieser Altersverteilung haben wir bezogen auf das Suchtmittel ungefähr eine Drittelung: 38 % haben nicht stoffgebundene Süchte, 28 % haben stoffgebundene Süchte und 34 % sind ohne Befund in der Beratung. Die Bedeutung von Verhaltenssüchten steigt, seitdem wir diese spezielle Arbeit machen.
Suizidalität
Die Häufigkeit von Suizidversuchen ist in der Suchtberatung für genderdiverse Menschen eine besondere Herausforderung. Bei trans Suchterkrankten zählen zu den häufigsten Belastungsfaktoren Diskriminierung und vor allem sexuelle Gewalt. Suizidprophylaxe gehört zu den Standardinterventionen in der Beratungsarbeit.
Im Jahr 2017 starben in Deutschland 9.241 Menschen durch einen Suizid (Statista 2019), das sind 0,0114 % der Bevölkerung (Wagner & Hofmann 2020). In der Lebenszeitprävalenz hatten 8 % der Bevölkerung Suizidgedanken und 1,5 % versuchten sich das Leben zu nehmen.
Die umfangreichste Studie zur Suizidalität bei Transsexuellen stammt aus den USA (Herman et al. 2019). Diese Studie zeigt, dass die Prävalenz von Suizidgedanken und -versuchen bei trans Erwachsenen signifikant höher ist als in der US-amerikanischen Allgemeinbevölkerung. So hatten die trans Erwachsenen bezogen auf die letzten zwölf Monate eine fast zwölfmal höhere Prävalenz von Suizidgedanken und eine etwa 18-mal höhere Prävalenz von Suizidversuchen.
Die US-amerikanische Transgender-Umfrage (USTS) von 2015, die bislang größte Umfrage unter Transgender-Personen in den USA, ergab, dass 81,7 Prozent der Befragten in ihrem Leben jemals ernsthaft über Selbstmord nachgedacht hatten, während 48,3 Prozent dies im vergangenen Jahr getan hatten. 40,4 Prozent gaben an, irgendwann in ihrem Leben Suizidversuche unternommen zu haben, und 7,3 Prozent gaben an, im vergangenen Jahr Suizidversuche unternommen zu haben (James et al. 2016).
Der Hauptrisikofaktor ist die kumulative Wirkung von Minderheitenstress. 97,7 Prozent derjenigen, die im vergangenen Jahr mindestens vier unterschiedliche diskriminierende oder gewalttätige Erfahrungen gemacht hatten, gaben an, ernsthaft über Suizid nachgedacht zu haben, und 51,2 Prozent haben einen Suizidversuch unternommen.
Diese Raten sinken übrigens schnell, wenn die Betroffenen im sozialen Umfeld und in den Familien Unterstützung bekommen, wenn sie eine Hormontherapie und/oder chirurgische Versorgung wünschten und anschließend auch erhielten und wenn sie in einem Staat mit einem Nichtdiskriminierungsgesetz zur Geschlechtsidentität leben.
Selbstverletzendes Verhalten (NSSV) wurde als Forschungsdiagnose im DSM-5 (American Psychological Association 2013) aufgenommen. Die Forschungen sollen überprüfen, ob NSSV eine eigenständige psychische Störung oder ein transdiagnostisches Phänomen darstellt, welches mit vielen psychischen Störungen einhergehen kann. In der ICD-10 ist das selbstverletzende Verhalten eines der Diagnosekriterien der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung des Borderline-Typus. Zudem besteht die Möglichkeit, auf der 4. Achse eine „vorsätzliche Selbstschädigung“ zu kodieren. Mit der derzeitigen Veröffentlichung der ICD-11 ist die nichtsuizidale Selbstverletzung (MB23.E) unter den Symptomen oder Merkmalen, welche das Erscheinungsbild oder Verhalten umfassen (MB23), in der Kategorie „Mortality and Morbidity Statistics“ aufgeführt.
Die Arbeit im ersten Jahr in der Beratungsstelle hat gezeigt, dass in der Gruppe der Jungerwachsenen Zwänge in Form von selbstverletzendem Verhalten (NSSV) mit dem Störungsbild einer Verhaltenssucht häufig sind. NSSV steht mit Suizidalität und vermehrtem Alkohol- und Drogenkonsum im Sinne einer Symptomverschiebung im Zusammenhang (In-Albon et al. 2015). Dem wird in der weiteren Arbeit besondere Aufmerksamkeit zu widmen sein.
Nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) wird im DSM-5 definiert als direkte, sich wiederholende, sozial nicht akzeptierte Zerstörung oder Veränderung des Körpergewebes ohne suizidale Absicht. Die häufigsten Methoden sind Schneiden, Ritzen und Sich-selbst-Schlagen. Bei der Geburt weiblich einsortierte Jugendliche schneiden sich häufiger (Cutting-Type), und bei der Geburt männlich einsortierte Jugendliche schlagen sich häufiger (Hitting-Type) (In-Albon et al. 2020). NSSV wird häufig zur Selbst- und Emotionsregulation genutzt, z. B. dient das Fühlen von Schmerz dazu, unangenehme Gefühle zu beenden.
NSSV tritt insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen häufig auf. Zwischen 25 und 35 % der Jugendlichen in der Allgemeinbevölkerung haben sich bereits mindestens einmal selbst verletzt, wiederholend und damit mit suchtartigem Charakter verletzen sich circa 4 % (In-Albon et al. 2020). Für die Arbeit von 4Be ist bedeutsam, dass die Prävalenzraten bei Angehörigen sexueller Minderheiten mit durchschnittlich 40,5 % (In-Albon et al. 2020) deutlich erhöht sind. Man kann sagen, dass NSSV neben Suizidalität und Sucht eine der wesentlichen begleitenden psychischen Störungen bei jugendlichen trans ist.
Corona
Die beiden Lockdowns im Rahmen des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (Corona-Pandemie) von März bis Mai und seit Oktober 2020 führten zu vermehrten Aufnahmen im Vergleich zu den durchschnittlichen Aufnahmen. Im März gab es eine Steigerungsrate von 14 % und im Oktober eine Steigerung um 21 %. Die Krise hat dazu geführt, dass spürbar mehr Menschen sich Hilfe gesucht haben.
Vor allem bei den unter 18-Jährigen in der Beratung bei 4Be gab es Auswirkungen. Ihr Anteil liegt bei 12 % mit 31 laufenden Betreuungen. 77 % (24) sind trans männlich, 16 % (5) sind trans weiblich und 3 sind geschlechtsdivers. Die Bedürfnisse geschlechtsdiverser Kinder werden in der Pandemie kaum berücksichtigt. Viele sind durch die Kontaktbeschränkungen sehr belastet, sie fühlen sich einsam und haben wenig Struktur im Alltag. Kinder und Jugendliche verbringen während der Pandemie viel mehr Zeit zu Hause. Plötzlich spielen familiäre Konflikte im Kontext Transgeschlechtlichkeit eine viel wichtigere Rolle, weil das Thema zu Hause immer greifbar ist. In Hamburg warten viele Kinder und Jugendliche vergeblich auf einen Therapieplatz, um ihre Transgeschlechtlichkeit zu behandeln.
Kinder, die vor der Corona-Pandemie ihre Transgeschlechtlichkeit irgendwie im Griff zu haben glaubten – durch die Struktur im Alltag mit Schulbesuch, Hausaufgaben, Freunden und diversen Hobbies –, hatten bzw. haben nun viel mehr Zeit übrig und fühlen sich einsam, und ihre Gedanken kreisen nur noch um ihr Geschlecht. Der entstehende Druck äußert sich in einer erheblichen Zunahme der Nutzung sozialer Medien, Internetkonsum, Essstörungen, selbstverletzendem Verhalten und einer Steigerung der Suizidalität.
Vor allem bei Jugendlichen, die in einem nicht supportiven Umfeld leben, in dem von den Eltern oder im Rahmen einer öffentlichen Betreuung nicht anerkannt wird, dass Transgeschlechtlichkeit ernst zu nehmen ist und behandelt werden muss, eskaliert die Situation. Hinzu kam im ersten Lockdown ein Aufnahmestopp in den Jugendhilfeeinrichtungen, der die Jugendlichen und unsere Einrichtung vor große Probleme stellte.
Fazit und Ausblick
Beratungsarbeit im Kontext von Transgeschlechtlichkeit und Komorbiditäten wie Sucht steht in mehreren Spannungsfeldern.
Für die Konzepte von „Diagnostik“ und „Komorbidität“ ist das Verständnis von Transgeschlechtlichkeit als Krankheit Bedingung. Die seit dem 09.10.2018 in Kraft getretene S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit räumt dem diagnostischem Prozess großen Raum ein.
So sagt sie zwar einerseits, dass es weder aus klinischer noch aus wissenschaftlicher Sicht Kriterien oder Differentialdiagnosen gibt, die eine Geschlechtsinkongruenz und/oder Geschlechtsdysphorie (GIK/GD) von vornherein ausschließen. Bei begleitenden psychischen Störungen wie beispielsweise einer affektiven Störung, einer sozialen Phobie oder Selbstverletzungsverhalten ist eine Verzögerung der Einleitung körpermodifizierender Behandlungen nicht zielführend, da es durch die Einleitung entsprechender Maßnahmen (z. B. Hormon- und/oder Epilationsbehandlung) in vielen Fällen zu einer Remission sowohl der GIK/GD-Symptomatik als auch der psychischen Störung kommen kann. Erst im Behandlungsverlauf lässt sich unterscheiden, ob die Symptomatik reaktiv ist oder unabhängig von der GIK/GD besteht (vgl. AWMF 2018, S. 22).
Allerdings sei ein längerer diagnostischer Prozess vor der Einleitung körpermodifizierender Behandlungen gerechtfertigt, wenn ein begründeter Verdacht besteht, dass die begleitende psychische Störung die GIK/GD wesentlich mitbeeinflusst. Das gilt insbesondere bei vorliegender aktueller psychotischer Symptomatik, Sonderformen der Dissoziativen Störung mit verschiedengeschlechtlichen Ego-States oder einer umfassenden Identitätsunsicherheit und bei einem akuten, klinisch relevanten Substanzmissbrauch (vgl. AWMF 2018, S. 22).
Es ist immer wieder zu beobachten, dass vorhandene Komorbiditäten zum Anlass genommen werden, die transsexuellen Menschen in Behandlungen zu zwingen. Es wird unterstellt, dass die Komorbiditäten in einem Zusammenhang mit der GIK/GD stehen oder stehen könnten. Die medizinisch notwendigen Modifikationen der körperlichen Geschlechtsmerkmale werden den Menschen verwehrt und damit die Chancen, sie irgendwie doch zu erreichen, ungünstig beeinflusst.
Diagnostik ist vor allem durch die Vorgaben der MDS-Richtlinie an ein binäres Paradigma der Transgeschlechtlichkeit (Mann zu Frau, Frau zu Mann) gekoppelt. Auch die Vorstellung von einer Transition als linearem Behandlungsverlauf der körperlichen und sozialen Anpassung von Mann zu Frau oder von Frau zu Mann fördert eine starke Erwartungshaltung bei den Behandler_innen und Klient_innen gleichermaßen (vgl. Renner et al. 2020). Es gibt das Ideal eines Prozesses, an dessen Anfang ein komorbiditätsfreier transgeschlechtlicher Mensch steht, der am Ende den gesellschaftlichen Identitätsvorgaben des Zielgeschlechtes körperlich und seelisch soweit wie möglich entsprechen soll.
Die diagnostischen Kriterien verwischen die Diversität von trans Personen hinsichtlich ihrer geschlechtlichen Selbstwahrnehmung und ihren Behandlungsanliegen. Nicht alle trans Personen halten körpermodifizierende Behandlungen für notwendig. Wenn sie sich als non-binär oder genderqueer verstehen, verfolgen sie teilweise ausgewählte Modifikationen. Dogmatismus und cis heteronormative Vorstellungen bringen Menschen dazu, vorgezeichnete Wege zu gehen. Biografien werden entsprechend modifiziert, um in ein schwarz/weiß-Schema zu passen.
Diagnostik von Transgeschlechtlichkeit erfährt international einen Paradigmenwechsel, denn die Begriffe und die diagnostischen Kriterien verändern sich in Richtung einer Entpathologisierung. Gegenüber der ICD-10-Diagnose Transsexualismus, die für das deutsche Gesundheitssystem weiterhin sozialrechtlich verbindlich ist, ist die Geschlechtsinkongruenz in der ICD-11 nicht mehr als psychische Störung, sondern in einem neuen Kapitel „Conditions related to sexual health“ (World Health Organization 2018) aufgenommen. Nach DSM-5 (American Psychiatric Association 2013) liegt eine Geschlechtsdysphorie vor, wenn die Geschlechtsinkongruenz zu einem klinisch bedeutsamen Leidensdruck führt. Grundlage einer Behandlung ist nicht mehr die Trans-Identität, sondern die Geschlechtsdysphorie, also das Leiden unter der Geschlechtsinkongruenz. Genauso wie die ICD-11-Diagnose Geschlechtsinkongruenz beschränkt sich die DSM-5-Diagnose Geschlechtsdysphorie nicht auf binäre Vorstellungen von Geschlechtlichkeit und schließt non-binäre Geschlechter ein.
Weltweit besteht fachlicher Konsens darüber, dass trans Menschen eine ganzheitliche Gesundheitsförderung mit dem Zugang zu einer multimodalen, trans-informierten Gesundheitsversorgung erhalten sollen (Coleman et al. 2012; T’Sjoen et al. 2020; World Medical Association 2015). Transitionsunterstützende Behandlungen umfassen damit ein weites Spektrum möglicher Maßnahmen. Nicht zuletzt erreichen wir bei 4Be Menschen in einem sehr frühen Stadium von Suchterkrankung. Es bleibt damit Zielsetzung und Hoffnung zugleich, dass wir mit unseren Ansätzen progrediente Verläufe wirksam verhindern oder abmildern können.
Cornelia Kost ist Psychotherapeutin, Lehrtherapeutin und Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft der Suchtfortbildungsinstitute, Vorstandsmitglied der Hamburgischen Landesstelle für Suchtfragen, Gerichtsgutachterin im TSG-Verfahren, Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. und dem Bundesverband Trans* e.V. Sie leitet seit 2019 „4Be TransSuchtHilfe“ in Hamburg.
Literatur:
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Im November wurde der Jahresbericht der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS), „Suchthilfe in Deutschland 2019“, veröffentlicht. In den regelmäßig erscheinenden Jahresberichten der DSHS werden die wichtigsten aktuellen Ergebnisse zusammengefasst. Im April berichteten wir auf KONTUREN online in einem Fachartikel über die an der DSHS beteiligten Institutionen und das Zustandekommen der Statistiken. In dem jüngsten, nun vorliegenden Bericht widmet sich ein Kapitel verschiedenen „Entwicklungen im Zeitverlauf“, die hier im Folgenden wiedergegeben werden. Der vollständige Bericht steht auf der DSHS-Website zum Download bereit.
Die vorliegende Statistik basiert auf den Daten des Jahres 2019, die mit dem KDS 3.0 erhoben worden sind. Der Bericht bietet neben Informationen zu den teilnehmenden Einrichtungen und dem Betreuungsvolumen einen Überblick über störungsbezogene und soziodemographische Merkmale der betreuten/behandelten Klientel sowie zu Merkmalen der Betreuung bzw. Behandlung. Ergänzend werden die Auswertungen für einige wesentliche Merkmale auch anhand folgender Hauptmaßnahmen erstellt: niedrigschwellige Hilfen, ambulante medizinische Rehabilitation, (Reha-) Nachsorge sowie ambulant betreutes Wohnen und Adaption.
Im Jahr 2019 wurden in 863 ambulanten und 142 stationären Einrichtungen, die sich an der DSHS beteiligt haben, 324.874 ambulante Betreuungen und 35.485 stationäre Behandlungen durchgeführt. Abweichend von der bisherigen Berichterstattung erfolgt die Darstellung der ambulanten Betreuung bzw. der stationären Behandlung sowie der Auswertungen für ausgewählte Hauptmaßnahmen ab dem Berichtsjahr 2020 in eigenständigen Kapiteln.
Im Folgenden wird das Kapitel 6 „Entwicklungen im Zeitverlauf“ wiedergegeben (hier ohne Abbildungen, im Bericht S. 90-103).
Entwicklungen im Zeitverlauf
Zur Darstellung von Veränderungen im Zeitverlauf werden einige ausgewählte Variablen im Vergleich zu den Vorjahren (ab Datenjahr 2017) dargestellt und Auffälligkeiten berichtet. Hierbei werden Veränderungen zwischen 5% und 10% als leichte Veränderungen, Veränderungen von mindestens 10% als deutliche Veränderungen interpretiert. Bei gleichgerichteten Veränderungen zwischen 3% und 5% wird eine Tendenz angenommen.
Beteiligung
Die Beteiligung an der DSHS hat bei ambulanten Einrichtungen minimal zugenommen (2017: 849, 2018: 861, 2019: 863), während sich bei den stationären Einrichtungen kein einheitlicher Trend ergibt (2017: 152, 2018: 137; 2019: 142). Im ambulanten Bereich blieben die Fallzahlen weitestgehend stabil (2017: 324.874, 2018: 325.052, 2019: 322.697, -0,7%), wohingegen im stationären Bereich eine leichte Zunahme zu beobachten war (2017: 33.588, 2018: 31.188; 2019: 135.458; +5,6%).
Störungen
Seit 2017 zeigt sich im ambulanten Bereich ein deutlicher Rückgang opioidbezogener Störungen (-25%) und Pathologischen Glücksspielens (-15%) sowie eine deutliche Zunahme von Störungen in Folge des Konsums anderer psychotroper Substanzen (+102%) und exzessiver Mediennutzung (+49%) – in den beiden letztgenannten Bereichen sind allerdings die eingangs kleinen Fallzahlen zu beachten. Im stationären Bereich ist ebenfalls ein Rückgang opioidbezogener Störungen (-13%) und Pathologischen Glücksspielens (-26%) zu beobachten. Zudem haben hier kokainbezogene Störungen (+44%) und Störungen in Folge des Konsums anderer psychotroper Substanzen (+35%) zugenommen.
Geschlechterverteilung
Die Geschlechterverteilung ist im ambulanten Bereich seit 2017 relativ stabil geblieben. Bei Klient*innen mit exzessiver Mediennutzung hat der Frauenanteil zwar zugenommen (+40%), dies ist in Anbetracht der geringen Fallzahlen jedoch mit Vorsicht zu interpretieren.
Im stationären Bereich ist der Frauenanteil seit 2017 tendenziell rückläufig (-4%). Dieser Trend ist insbesondere auf rückläufige Anteile bei den Patient*innen mit alkoholbezogenen Störungen (-9%) zurückzuführen.
Alter
Im ambulanten Bereich ist das durchschnittliche Alter seit 2017 insgesamt stabil geblieben. Allerdings war bei Personen mit alkoholbezogenen Störungen (+6 Monate), stimulanzienbezogenen Störungen (+10 Monate) oder exzessiver Mediennutzung (+14 Monate) eine tendenzielle Zunahme des Durchschnittsalters zu beobachten.
Im stationären Bereich ist das Durchschnittsalter zwar innerhalb der Gesamtklientel seit 2017 stabil, aber auf Hauptdiagnoseebene sind Trends erkennbar. Bei Patient*innen mit Glücksspielproblematik (+12 Monate) bzw. mit opioid- (+16 Monate) oder stimulanzien-bezogenen Störungen (+18 Monate) ist das durchschnittliche Alter um mindestens ein Jahr gestiegen, wohingegen sich bei Personen mit exzessiver Mediennutzung ein gegenläufiges Bild zeigt (-54 Monate). Allerdings sind in der letztgenannten Gruppe die geringen Fallzahlen zu beachten.
Familiensituation
Im Hinblick auf die Familiensituation ist die durchschnittliche Anzahl minderjähriger Kinder innerhalb der betreuten Klientel mit Kindern seit 2017 unverändert. Allerdings zeigen sich Veränderungen bei Personen mit opioidbezogenen Störungen, bei denen die Kinderzahl im Durchschnitt gesunken ist (-12%).
Im stationären Bereich hat sich die durchschnittliche Anzahl minderjähriger Kinder in der gesamten Klientel mit Kindern seit 2017 reduziert (-5%), insbesondere bei Patient*innen mit opioidbezogenen Störungen (-17%). Der deutliche Rückgang bei Patient*innen mit exzessiver Mediennutzung (-27%) ist bedingt durch die kleine Fallzahl jedoch kaum interpretierbar.
Migrationshintergrund
Die Trendanalyse zeigt, dass der Anteil an Klient*innen mit Migrationshintergrund im ambulanten Bereich seit 2017 rückläufig ist (-6%), insbesondere bei Personen mit Glücksspielproblematik (-13%). Lediglich bei Klient*innen mit opioidbezogenen Störungen (+3%) oder exzessiver Mediennutzung (+36%) ist tendenziell eine gegenläufige Entwicklung beobachtbar, wobei bei der letztgenannten Gruppe die kleine Fallzahl zu berücksichtigen ist.
Im stationären Bereich ist der Anteil an Patient*innen mit Migrationshintergrund seit 2017 tendenziell gestiegen (+3%). Diese Entwicklung ist im Wesentlichen auf einen steigenden Migrant*innenanteil bei Personen mit alkoholbezogenen Störungen (+21%) zurückzuführen. Auch bei Patient*innen mit exzessiver Mediennutzung (+53%) ist eine deutliche Zunahme zu verzeichnen, die aufgrund der kleinen Fallzahlen jedoch nur eingeschränkt interpretierbar ist. Demgegenüber ist der Anteil an Personen mit Migrationshintergrund bei Patient*innen mit opioidbezogenen Störungen (-7%) rückläufig. Dies trifft tendenziell auch auf Personen mit stimulanzienbezogenen Störungen zu (-4%).
Bildungsstand
Seit 2017 hat sich der Bildungsstand der ambulanten Klientel insgesamt leicht verbessert. Es finden sich über alle Hauptdiagnosen mehr Klient*innen mit hoher Schulbildung (+11%), am stärksten ist die Zunahme bei Personen mit Glücksspielproblematik (+24%), cannabinoidbezogenen Störungen (+13%) und exzessiver Mediennutzung (+10%), wobei in der letztgenannten Gruppe die kleinen Fallzahlen zu beachten sind. Der Anteil an Personen ohne Schulabschluss ist über alle Hauptdiagnosen hinweg leicht zurückgegangen (-8%), am stärksten unter Klient*innen mit alkoholbezogenen Störungen (-10%).
Auch in der stationären Klientel zeigt sich seit 2017 insgesamt ein leichter Anstieg des Bildungsstandes. Dies betrifft insbesondere Patient*innen mit Störungen in Folge des Konsums illegaler Substanzen, bei denen der Anteil mit hoher Schulbildung jeweils leicht zugenommen hat (opioidbezogene Störungen: +7%; stimulanzienbezogene Störungen: + 7%; cannabinoidbezogene Störungen: +5%). Der Anteil an Patient*innen ohne Schulabschluss ist weitestgehend stabil, mit Unterschieden zwischen den verschiedenen Patient*innengruppen: Bei Patient*innen mit opioidbezogenen Störungen (+11%) oder Glücksspielproblematik (+34%) finden sich vermehrt Personen ohne Schulabschluss, während der entsprechende Anteil bei Patient*innen mit cannabinoidbezogenen Störungen (-14%) bzw. exzessiver Mediennutzung (-89%) (cave kleine Fallzahlen!) deutlich abgenommen hat.
Berufliche Integration
In Bezug auf die berufliche Integration zeigt die Trendentwicklung seit 2017 einen deutlichen Rückgang der Arbeitslosenquote (-10%) über alle Klient*innengruppen hinweg. Der stärkste Rückgang an Arbeitslosen findet sich bei Personen mit Glücksspielproblematik (-15%) und alkoholbezogenen Störungen (-10%).
Im stationären Bereich ist die Arbeitslosenquote seit 2017 ebenfalls leicht gesunken (-6%), insbesondere bei Patient*innen mit exzessiver Mediennutzung (-23%) (cave! kleine Fallzahl) oder alkoholbezogenen Störungen (-8%). Lediglich bei Personen mit Glücksspielproblematik ist der Anteil an Arbeitslosen geringfügig gestiegen (+6%).
Erstbetreute
Der Anteil an Erstbetreuten ist im ambulanten Bereich seit 2017 um +7% gestiegen. Eine Zunahme findet sich bei nahezu allen Patient*innengruppen, wobei der Trend bei Personen mit opioidbezogenen Störungen (+17%) am stärksten ausgeprägt ist.
Im stationären Bereich zeigt die Trendanalyse seit 2017 einen tendenziell steigenden Anteil an Erstbehandelten (+4%), insbesondere bei Personen mit stimulanzienbezogenen Störungen (+6%) sowie bei Patient*innen mit alkoholbezogenen Störungen (+5%). Der deutliche Anstieg bei Patient*innen mit exzessiver Mediennutzung (+20%) ist aufgrund der geringen Fallzahlen nur begrenzt interpretierbar. Eine gegenläufige Entwicklung ist im Bereich Glücksspielproblematik zu beobachten, wo der Anteil Erstbehandelter leicht gesunken ist (-5%).
Latenz
Die Latenz von Störungsbeginn bis Betreuungsbeginn blieb im ambulanten Bereich seit 2017 über alle Patient*innengruppen hinweg nahezu unverändert. Nur bei Klient*innen mit stimulanzienbezogenen Störungen ist eine leichte Zunahme zu verzeichnen (+6 Monate).
Im stationären Bereich findet sich seit 2017 eine zunehmende Latenz bei stimulanzien- bzw. opioidbezogenen Störungen (jeweils +14 Monate). Demgegenüber ist die Zeit zwischen Störungs- und Behandlungsbeginn bei alkoholbezogenen Störungen (-8 Monate) und Glücksspielproblematik (-11 Monate) rückläufig.
Durchschnittliche Betreuungs-/Behandlungsdauer
Seit 2017 ist die durchschnittliche Betreuungsdauer im ambulanten Bereich insgesamt unverändert, obgleich sich auf Hauptdiagnoseebene eher längere Betreuungszeiten beobachten lassen. Die deutlichste Zunahme ist hier bei Personen mit opioidbezogenen Störungen (+4 Monate, d.h. 26%) zu beobachten.
Im stationären Bereich ist die durchschnittliche Behandlungsdauer seit 2017 über alle Patient*innengruppen hinweg stabil, wobei sich auf Ebene der einzelnen Hauptdiagnosen tendenziell längere Behandlungsdauern verzeichnen lassen.
Planmäßige Beendigungen
Seit 2017 hat der Anteil der planmäßig beendeten Betreuungen im ambulanten Bereich über alle Klient*innengruppen hinweg tendenziell zugenommen (+3%). Am ausgeprägtesten ist die Zunahme bei Personen mit Glücksspielproblematik (+7%) und opioidbezogenen Störungen (+6%).
Im stationären Bereich liegt der Anteil planmäßiger Beendigungen seit 2017 insgesamt unverändert bei 80%. Auf Ebene der einzelnen Hauptdiagnosen hat sich die Planmäßigkeitsquote bei Patient*innen mit Störungen in Folge des Konsums illegaler Substanzen eher erhöht (opioidbezogenen Störungen: +11%, stimulanzienbezogene Störungen: +4%), während sie bei Personen mit Glücksspielproblematik tendenziell gesunken ist (-4%).
Positive Betreuungs-/Behandlungsergebnisse
Der Anteil positiver Betreuungsergebnisse liegt im ambulanten Bereich seit 2017 stabil bei 97%. Hier kann lediglich bei Klient*innen mit opioidbezogenen Störungen eine minimale Zunahme angenommen werden.
Im stationären Bereich ist der Anteil positiver Behandlungsergebnisse seit 2017 unverändert (98%). Am ehesten lässt sich hier bei Patient*innen mit opioidbezogenen Störungen eine Zunahme beobachten.
Quelle: Hanna Dauber, Jutta Künzel, Larissa Schwarzkopf, Sara Specht (2020), Suchthilfe in Deutschland 2019. Jahresbericht der Deutschen Suchthilfestatistik (DSHS), IFT München, S. 90-103.
Im Rahmen des ersten Förderaufrufs des Bundesprogramms „Innovative Wege zur Teilhabe am Arbeitsleben – rehapro“ werden seit Herbst 2019 55 Modellprojekte gefördert. Darunter befinden sich auch rund ein Dutzend Projekte, die in der Suchtreha verankert sind. Drei dieser Projekte, die in Mitgliedseinrichtungen des buss durchgeführt werden, sollen hier näher vorgestellt werden. Die zuständigen Mitarbeiter*innen berichten, welche Ziele die Projekte verfolgen und welche Maßnahmen umgesetzt werden.
Ein rehapro-Projekt im Nordwesten: SEMRES – Mit Lotsen und dem Rehakompass aus rauer See in den richtigen Hafen!
Projektname: SEMRES – Steuern mit dem Rehakompass: Alle in einem Boot. Schnittstellenmanagement zur frühzeitigen Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs und rechtzeitigen Vermittlung in die Rehabilitation von Menschen mit Suchterkrankungen
Dr. Natalie SchüzMartina Jährmann-RittnerDr. Ulrich Böhm
Seit Jahren gehen die Anträge für Suchtrehabilitation zurück. Zudem wissen wir, dass es durchschnittlich mehr als zehn Jahre dauert, bis Suchtkranke in der medizinischen Rehabilitation für Abhängigkeitserkrankte ankommen. Die Deutsche Rentenversicherung Oldenburg-Bremen hat in Kooperation mit der Fachklinik Weser-Ems, dem RehaCentrum Alt-Osterholz sowie der Fachstelle Sucht Oldenburg und der Ambulanten Suchthilfe Bremen über den Fördertopf rehapro einen Antrag beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales eingereicht, um neue Zugangswege in die Rehabilitation zu kreieren. Die Projektidee wurde bewilligt, das Projekt ist angelaufen und soll zunächst bis Ende 2024 evaluiert und, wenn erfolgreich, verstetigt werden. Die wissenschaftliche Begleitforschung wird über die Hochschule Emden/Leer unter Leitung von Prof. Knut Tielking durchgeführt.
Was bedeutet SEMRES und was soll konkret erfolgen?
SEMRES bedeutet: Schnittstellenmanagement zur frühzeitigen Ermittlung des Rehabedarfs und rechtzeitigen Vermittlung in die Reha bei Suchterkrankungen.
Die so genannten Lotsen sind angestellte Psycholog*innen und Gesundheitswissenschaftler*innen der DRV Oldenburg-Bremen. In einem ersten Schritt schulen sie Netzwerkpartner darin, Menschen mit psychischen Belastungen und/oder problematischem Konsum in ihren Lebenswelten anzusprechen und in das Projekt zu vermitteln. Zu den Netzwerkpartnern gehören:
Sozialleistungsträger (z. B. Jobcenter, Arbeitsagenturen, Krankenkassen),
betriebliche Strukturen (z. B. IHK, Arbeitgeberverband),
medizinische Strukturen (Hausärztenetz, Psychotherapeutenkammer, Verband der Betriebs- und Werksärzte) und
soziale Strukturen (z. B. Sportvereine, Familienberatungsstellen).
Die Zielgruppe sind Menschen mit zu erwartenden oder beginnenden Rehabilitationsbedarfen. Die identifizierten Problemfelder weisen dabei auf eine Abhängigkeitserkrankung oder psychische Beeinträchtigungen hin.
In einem zweiten Schritt weisen die geschulten Netzwerkpartner Menschen aus der Zielgruppe den Lotsen zu. In einem strukturierten Anamnesebogen werden gezielt Symptome erfragt, die psychische Beeinträchtigungen erfassen, aber auch suchtbedingte Störungen. Bei ausreichenden Hinweisen für eine substanzbedingte Störung vermitteln die Lotsinnen und Lotsen schließlich die betreffenden Personen in den Rehakompass.
Was findet im „Rehakompass“ statt?
Die von den Lotsinnen und Lotsen akquirierten Teilnehmer*innen erhalten im Sucht-Rehakompass über zwei Tage im Rahmen von neun Modulen einen Einblick in die Behandlungsangebote und Räumlichkeiten einer Rehabilitationsklinik für Abhängigkeitserkrankte, und sie bekommen Informationen und Empfehlungen bezüglich ihres persönlichen Rehabilitationsbedarfs. Sie begegnen Mitarbeitenden der Fachklinik, der kooperierenden Suchtberatungsstelle und aktuellen Rehabilitanden. Über Psychoedukation erweitern sie ihr Wissen über Suchterkrankungen und werden sensibilisiert, kritisch ihren Umgang mit Suchtmitteln zu betrachten.
An Tag 1 beginnt die Maßnahme mit einer Vorstellung der verantwortlichen Mitarbeitenden, der Fachklinik sowie der Ziele des Rehakompasses. Die Teilnehmer*innen lernen sich kennen, und ihre Erwartungen werden erfragt (Modul 1). Im Anschluss erfolgt ein Gesundheitscheck, der die Ermittlung von Laborwerten, eine Anamnese und eine fachärztlich orientierende Untersuchung umfasst. Parallel wird eine Psychodiagnostik durchgeführt, die auf die Bereiche berufliche Teilhabe und aktuelle psychische Beschwerden ausgerichtet ist (Modul 2). Am Nachmittag findet je nach aktueller Corona-Situation entweder ein analoger oder ein virtueller Rundgang durch die Einrichtung statt. Idealerweise stellen Mitarbeitende einzelner Berufsgruppen ihr Angebot vor (Modul 3). Im anschließenden Modul 4 wird es durch eine Psychoedukation zum Thema Stress und Belastungen persönlicher. Inhaltlich geht es um die Identifikation des individuellen Stressgeschehens, die Reflexion individueller Stresserfahrungen sowie den individuellen Suchtmittelkonsum als dysfunktionalem Stressbewältigungsmechanismus. Nach kurzer Pause steht das psychische Wohlbefinden im Mittelpunkt. Die Teilnehmer*innen lernen verschiedene Entspannungs- und Achtsamkeitsübungen kennen (Modul 5). Der erste Tag endet mit einem Rückblick und einem Ausblick auf Tag 2.
Der zweite Tag startet mit einer Psychoedukation zu den Themen Abhängigkeit, Suchtmittelmissbrauch und deren Folgen. Die Vermittlung allgemeinen Wissens dazu und ein Fragebogen zum individuellen Suchtmittelkonsum sollen zu einer kritischen Reflexion des eigenen Konsumverhaltens anregen (Modul 6). Die verbleibende Zeit am Vormittag ist der Vorstellung des lokalen Hilfesystems sowie der Inhalte und des Ablaufs einer Rehabilitations-/Präventionsmaßnahme vorbehalten (Modul 7). In Modul 8 besteht die Möglichkeit, sich mit aktuellen Rehabilitanden auszutauschen. Am Nachmittag des zweiten Tages führen ein Arzt oder eine Ärztin und ein*e die Maßnahme umfänglich begleitende Sozialarbeiter*in oder Psycholog*in Einzelgespräche mit den Teilnehmenden. Gemeinsam wird die Maßnahme rekapituliert, und die Teilnehmenden erfahren die Ergebnisse des Gesundheitschecks und der Psychodiagnostik. Abschließend wird eine konkrete Empfehlung für eine Weiterbehandlung ausgesprochen. Dies soll in ein organisiertes Übergabeverfahren an die Lotsinnen und Lotsen münden und das Ausfüllen von benötigten Formularen beinhalten.
Ziel des Projektes SEMRES
Ziel des Projektes SEMRES ist damit eine konkrete Empfehlung für die Teilnehmer*innen. Im Rehakompass wird die Richtung festgelegt: zum Beispiel die direkte Vermittlung in die Rehabilitation (ambulant, ganztägig ambulant oder stationär) oder in eine alternative Unterstützungsmaßnahme, z. B. in einer Suchtberatungsstelle. Das Verfahren ist ergebnisoffen.
Dr. Ulrich Böhm, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie/ Sozialmedizin, Ärztliche Leitung, Therapiehilfe gGmbH, RehaCentrum Alt-Osterholz, Fachklinik für Suchterkrankungen, Bremen Martina Jährmann-Rittner, Psychologische Psychotherapeutin, Therapeutische Leitung, Fachklinik Weser-Ems, Diakonisches Werk Oldenburg Dr. Natalie Schüz, Wissenschaftliche Mitarbeiterin/Umsetzungsberaterin rehapro, Koordinationsmanagement Sozialmedizin, Deutsche Rentenversicherung Oldenburg-Bremen
Begleiteter Wiedereinstieg in Arbeit – mit dem rehapro-Projekt „BEAS“ neue Wege finden
Projektname: BEAS – Begleiteter Einstieg in das Arbeitsleben mit Starthilfe
Stephan Peter-HönerErwin Seiser
Menschen, die aufgrund von Sucht- und/oder psychischer Erkrankung aus dem Arbeitsleben gefallen sind, haben bei der Reintegration ins Arbeitsleben erfahrungsgemäß erhebliche Schwierigkeiten. Die Praxis zeigt, dass sie aufgrund der regional zuletzt sehr guten Arbeitsmarktlage oftmals zwar einen Arbeitsplatz finden, diesen aber schon bei geringer Störung im Ablauf wieder verlieren, sei es aufgrund mangelnder Belastbarkeit oder eines Rückfalls in alte Gewohnheiten. Das führt in der Regel zu weiteren, längeren Arbeitslosenzeiten und zu einer Misserfolgsprägung.
Eine anspruchsvolle Phase: der Wiedereinstieg ins Arbeitsleben
So hören wir in der Fachklinik Fischer-Haus in Gaggenau oftmals in der Entlassphase aus der Reha: „Was erwartet mich, wenn ich nach der Rehabehandlung an meinen alten Arbeitsplatz zurückkehre?“, „Wie geht mein Chef mit mir um, wie geben sich die Kolleginnen und Kollegen?“, „Das wird sicherlich kritisch, gab es doch zuletzt mehrere schwierige Situationen aufgrund meines Suchtproblems bei der Arbeit.“ Aber auch der Neuantritt eines Arbeitsplatzes bringt Verunsicherung: „Schaffe ich es dieses Mal, Fuß zu fassen?“, „Wie meistere ich kritische Situationen am Arbeitsplatz?“ Dies alles sind zentrale Themen bei der Planung der Zeit nach der Rehabehandlung. Viele gute Vorschläge und erarbeitete Strategien im Gepäck, verlassen die Rehabilitand*innen die Klinik und gehen hinein ins echte Leben. Aber was ist, wenn es anders kommt, wenn die Planungen sich nicht umsetzen lassen? Wenn das Erlernte nicht ausreicht? In der Regel – so die Rückmeldungen vieler Betroffener – kommt es zum (erneuten) Arbeitsplatzverlust, oft auch begleitend zum Rückfall, eine Abwärtsspirale beginnt oder setzt sich fort.
Die Projektidee: Unterstützung und Begleitung
Wie lässt sich das vermeiden oder besser machen? Welche Möglichkeiten gibt es, Übergänge und schwierige Situationen nach einer erfolgreichen Stabilisierungsmaßnahme so zu gestalten, dass Erfolge verstetigt werden? Hier hat unser stark fraktioniertes Sozialsystem sicherlich noch Einiges an Verbesserungspotenzial – aber auch die Sozialverantwortung von Unternehmen bietet Ansatzpunkte, wünschenswert wäre z. B.eine wohlwollendere Herangehensweise mit der Aussicht auf einen langfristigen Erfolg einer (Re-) Integrationsstrategie.
Erfolgversprechende Ansätze für Projekte gab es schon einige, allerdings fehlte bis dato eine stabile Finanzierung und auch die Gesamtsicht über die unterschiedlichen Beschwerdeebenen. Mit dem Bundesprogramm „Innovative Wege zur Teilhabe am Arbeitsleben – rehapro“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales steht ein Förderprogramm zur Verfügung, das die Durchführung solcher Projeke zur Überwindung von Schnittstellen ermöglicht.
Im Frühsommer 2017 erreichte uns der 1. Aufruf der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg zur Einreichung von Projektideen für das Bundesprogramm rehapro. Ausgelobt – so war die damalige Information – hatte die Bundesregierung einen Fördertopf für innovative Projekte, die Übergänge an den Schnittstellen zwischen den SGB-Bereichen gestalten sollten. Die Fördersumme wurde mit einer Milliarde Euro festgesetzt.
Auf Basis der noch ziemlich spärlichen Vorgaben und Informationen setzten wir uns umgehend an eine Projektskizze. Idee war, ein differenziertes neues Unterstützungssystem für Menschen zu entwickeln, die aufgrund von Sucht- und/oder psychischer Erkrankung aus dem Arbeitsleben gefallen sind und damit bei der Reintegration ins Arbeitsleben erhebliche Schwierigkeiten haben. Leitend war dabei auch unsere Erfahrung, dass aufgrund der regional sehr guten Arbeitsmarktlage oftmals zwar ein Arbeitsplatz gefunden werden konnte, dieser aber schon bei geringer Störung im Ablauf wieder verloren ging, was in der Regel zu weiteren, längeren Arbeitslosenzeiten und zu einer Misserfolgsprägung führt. Des Weiteren leitete uns der schon lang vorhandene Wunsch, Suchtrehabilitation konsequent zu Ende zu denken, also die Integration in Arbeit und Gesellschaft in jeder Phase der Rehabilitation als handlungsleitend zu begreifen und somit Interventionen und Strategien aus medizinischer, beruflicher und sozialer Rehabilitation zu verknüpfen.
Als Projektziel wurde definiert, zunächst im Landkreis Rastatt und im Stadtkreis Baden-Baden eine strukturierte Hilfe für Menschen mit Suchterkrankung bei der Einstellung und (mindestens) im ersten Beschäftigungsjahr zur Verfügung zu stellen. Bei der Definition des Projektzieles wurde uns klar, dass es hierfür eines mehrdimensionalen Hilfeansatzes bedarf. Die Hilfe sollte durch eine sozialtherapeutische Fachkraft erfolgen, die regelmäßige Gespräche mit den Teilnehmenden führt und gegenüber dem Arbeitgeber der betroffenen Person eine Moderatorenfunktion übernimmt.
Abb. 1: Aktivitäten der Einrichtung bezogen auf die Rehabilitand*innen
In das Konzept von „BEAS – Begleiteter Einstieg in das Arbeitsleben mit Starthilfe“ flossen unsere Erfahrungen aus den Projekten „Step by Step“ (ein Arbeitsintegrationsprojekt für langzeitarbeitslose Menschen mit Sucht und/oder psychischen Problemen) und „Starthilfe“ (ein unternehmensbezogener Unterstützungsansatz) ein sowie aus dem Förderverein zur Wiedereingliederung für Suchtkranke (in dem konkrete Arbeitsplätze vermittelt und begleitet werden).
Neu an BEAS sind:
die aktiv gesuchten und strukturierten Kontakte und Kooperationen mit Arbeitgebern,
die Aufrechterhaltung dieser Kontakte im Hinblick auf Unterstützung in Krisensituation für Mitarbeitende und Unternehmen,
weiterhin die verbindliche Begleitung am Arbeitsplatz und
die Netzwerkarbeit in arbeitsbezogenen Kontexten.
Zentrales Ziel ist neben dem Finden eines angemessenen Arbeitsplatzes die nachhaltige Stabilisierung des Arbeitsverhältnisses.
Abb. 2: Aktivitäten der Einrichtung bezogen auf die UnternehmenAbb. 3: BEAS Projektregionen
In BEAS werden neben den erwerbsbezogenen Integrationsschritten (incl. der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben) unterstützende Impulse und Leistungen im Bereich der weiteren sozialen Teilhabe berücksichtigt und verfolgt.
Als weiteres Projektziel wurde die Übertragung des Ansatzes auf die angrenzenden Landkreise Ortenau, Karlsruhe Stadt und Landkreis sowie Pforzheim Stadt und Enzkreis benannt, da hier schon gute Kontakte zu möglichen Kooperations- und Netzwerkpartnern bestanden.
Von der Idee zum geförderten Projekt – beteiligte Institutionen
Für die wissenschaftliche Evaluation wurde von der DRV Baden-Württemberg das Universitätsklinikum Freiburg, Sektion Versorgungsforschung und Rehabilitationsforschung (SEVERA), eingebracht, das sich unter Leitung von Prof. Dr. Erik Farin-Glattacker unmittelbar in die Entwicklung mit einschaltete.
Als Projekttitel wählten wir das Akronym „BEAS“, das für Begleiteter Einstieg ins Arbeitsleben mit Starthilfe steht.
In mehreren Konkretisierungs- und Verfeinerungsrunden wurde aus dieser Projektskizze gemeinsam mit Ulrich Hartschuh, dem Projektkoordinator bei der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg, ein detailliertes Projektkonzept entwickelt, das schließlich neben drei weiteren Projektvorhaben der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg von dieser bei der Fachstelle rehapro eingereicht wurde.
In weiteren Prüf- und Rückkopplungsrunden mit der Fachstelle wurde die Projektidee durchleuchtet und das Umsetzungskonzept mit Klaus Marhoffer, dem Projektleiter bei der DRV Baden-Württemberg, verfeinert. Als Ergebnis wurde BEAS mit Förderbescheid vom 6.12.2019 als eines der bundesweit ca. 60 Umsetzungsprojekte des 1. Förderaufrufs für rehapro ausgewählt und konnte nach ungefähr zweieinhalbjähriger Vorlaufzeit zum 1.1.2020 starten. Die Projektlaufzeit ist auf fünf Jahre bis zum 31.12.2024 festgesetzt. Das Fördervolumen insgesamt beträgt knapp zwei Millionen Euro, davon entfallen auf den Fischer-Haus e.V. für die Durchführung der Projektmaßnahme ca. 1,5 Millionen Euro.
Nach einer ersten Projektphase mit vorbereitenden Klärungen und Maßnahmen bezüglich der Evaluation und Details der Interventionen ist BEAS mittlerweile gut angelaufen und die ersten Teilnehmer*innen sind ins Projekt aufgenommen. Und schon steht der nächste Meilenstein an, nämlich die Gewinnung der zweiten Kooperationsregion Karlsruhe.
Stephan Peter-Höner, Leiter der Fachklinik Fischer-Haus, BEAS-Projektleitung/Steuerung fachlich Erwin Seiser, Verwaltungsleiter und Kaufm. Vorstand der Fachklinik Fischer-Haus, BEAS-Projektleitung/Steuerung administrativ
Berufliche Teilhabebegleitung in der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankungen (BORA-TB) – ein rehapro-Projekt aus der Perspektive einer Suchtrehabilitationsklinik
Projektname: BORA-TB – Berufsorientierte Teilhabebegleitung in der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankungen
Elena HerbachUlrike Dickenhorst
Aufgrund der riskanten Wechselwirkung zwischen einem abhängigen Suchtmittelkonsum und der Gefahr, den Arbeitsplatz zu verlieren, stellt die berufliche Integration einen der wichtigsten Faktoren zur Stabilisierung von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen dar (Henkel & Zemmlin 2015). Somit ist erklärtes Ziel der Suchtreha, die berufliche Teilhabe im Sinne des SGB 6 und SGB 9 zu erhalten und/oder wiederherzustellen und eine Erwerbsminderung zu verhindern (Weinbrenner & Köhler 2013).
Aus den Katamneseergebnissen des Entlassjahres 2018 (N=11.090) des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. wissen wir, dass die Arbeitslosenquote bei den alkoholabhängigen Rehabilitand*innen bei 41,6 Prozent und den drogenabhängigen Rehabilitand*innen bei 58,7 Prozent liegt. Für Rehabilitand*innen, die erwerbstätig sind, jedoch erwerbsbezogene Problemlagen aufweisen (BORA-Gruppe 2), würde eine weitergehende berufliche Stabilisierung auch positive Auswirkungen auf den gesundheitlichen Lebensstil, die intrapsychische Befindlichkeit und die soziale Gemeinschaft sowie das Familienleben haben (Zobel 2017).
Die Untersuchungsergebnisse von Vollmer und Domma (2020) bestätigen, dass erwerbstätige Rehabilitierte eine höhere Lebenszufriedenheit, eine höhere Selbstwirksamkeitserwartung und ein geringes Rückfallrisiko aufweisen und Rückfälle frühzeitiger stoppen konnten. Die sechsmonatige Abstinenz während der Therapie zeigte eine hohe Relevanz für den Status der Erwerbsfähigkeit, sowie das Alter: Jüngere Arbeitslose hatten eine dreifach erhöhte Wahrscheinlichkeit, ein Jahr nach Therapieende erwerbstätig zu sein. Dagegen hatten ältere Rehabilitand*innen eine höhere Wahrscheinlichkeit, durchgehend abstinent zu leben. Weitere relevante Faktoren, die den Erhalt des Arbeitsplatzes stabilisieren konnten, waren der Berufsabschluss, die Wohnregion, die Anzahl der Vorbehandlungen sowie die Höhe des Arbeitsentgeltes.
Berufliche Orientierung in der Reha
In der stationären Rehabilitation findet seit 2015 – seit die gemeinsamen „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezuges in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter“ veröffentlicht wurden – eine bedarfsorientierte Förderung statt. Die Rehabilitand*innen werden hierzu in die BORA-Gruppen 1 bis 5 eingeteilt.
Allerdings finden die in der Rehabilitation erreichten Teilziele im Wiedereingliederungsmanagement der Jobcenter oder in den Angeboten der Agentur für Arbeit zur Erhöhung der „Return to Work“-Quote keine passgenaue Entsprechung. Als besonders problematisch zeigen sich Übergänge und Schnittstellen in den Behandlungs- und Betreuungsphasen sowie unabgestimmte Förderkonzepte. So haben Koch et al. (2020) gezeigt, dass trotz Kontaktoptionen mit nachfolgenden Stellen, diese nur zu 30 Prozent wahrgenommen wurden, 20 Prozent keinen Termin verabredet haben und die Kontaktanbahnung aus der Rehabilitation zu 46 Prozent nicht fortgesetzt wurde.
An dieser Stelle setzt das Modellvorhaben zur berufsorientierten Teilhabebegleitung in der Rehabilitation von Abhängigkeitserkrankungen (BORA-TB) an. Es wurde federführend von der Deutschen Rentenversicherung Westfalen im Rahmen des Bundesprogramms „Innovative Wege zur Teilhabe am Arbeitsleben – rehapro“ beantragt. Das rehapro-Förderprogramm ist verankert im §11 SGB 9 und wird gefördert mit einer Milliarde Euro des BMAS. Der erste Förderaufruf wurde am 04.05.2018 ausgesprochen, der zweite am 25.05.2020. Antragsberechtigt sind Leistungsträger nach dem SGB 6 und dem SGB 2, die Projektlaufzeit kann bis zu fünf Jahre betragen. Eine wissenschaftliche Begleitung des Projektes ist möglich, die Gesamtevaluation des Förderprogramms findet durch ein bundesweites Konsortium um das Institut für Arbeit (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen statt.
Struktur und Inhalt von BORA-TB
Das Modellvorhaben BORA-TB beinhaltet eine neue Leistung für abhängigkeitserkrankte Rehabilitand*innen: Teilhabebegleiter*innen fungieren als zentrale Ansprechpartner*innen für den gesamten Prozess der Rehabilitation und mindestens sechs Monate bis maximal zwölf Monate, mit dem Ziel, die berufliche Reintegration zu fördern und zu fordern. Das Innovative an diesem Ansatz ist die erstmalige Einführung einer Person in das System, die den Prozess der trägerübergreifenden beruflichen Integration unterstützt, moderiert, stabilisiert usw., besonders um die Nahtlosigkeit bei Systemübergängen zu gewährleisten.
Das Modellvorhaben wird in zwei Modellregionen durchgeführt. Ein Standort ist die ländliche Region des östlichen Ostwestfalens: Rehabilitand*innen der Bernhard-Salzmann-Klinik des LWL-Klinikums Gütersloh aus den Postleitzahlbereichen 32… und 33… werden in die Studie eingeschlossen und von Teilhabebegleiter*innen des Caritasverbandes Gütersloh und des diakonischen Werkes in Herford begleitet. Der zweite Standort ist der großstädtische Raum Dortmund. Die im LWL-Klinikum Dortmund aufgenommenen Rehabilitand*innen werden von Teilhabebegleiter*innen des Klinikums begleitet.
Das Modellvorhaben BORA-TB wird durch Prof. Dr. Thorsten Meyer von der Universität Bielefeld an der Stiftungsprofessur für Rehabilitationswissenschaften und Rehabilitative Versorgungsforschung der Fakultät Gesundheitswissenschaften begleitet, u. a. werden die Standortunterschiede zwischen ländlichen und städtischen Versorgungsstrukturen erfasst und bewertet. Des Weiteren werden die Arbeitsbedingungen der zentral oder dezentral eingesetzten Teilhabebegleiter*innen erhoben und Schlussfolgerungen auf die Ergebnisqualität gezogen. Die erfassten Daten werden zum einen summativ statistisch ausgewertet (Ergebnisevaluation) mit der Frage: Welche Effekte zeigen die Interventionen auf die Rehabilitand*innen und Versorgungsprozesse? Zum anderen erfolgt mit qualitativen Methoden eine formative Evaluation, um die Wirkmechanismen der Teilhabebegleitung in den verschiedenen Versorgungskontexten auf Prozess- und Rehabilitandenebene zu verstehen. Die Ergebnisse werden in entsprechende Empfehlungen für eine Projektimplementierung bei einer möglichen Verstetigung einfließen.
Projektziele
Die Projektziele beinhalten die Förderung der Motivation der Rehabilitand*innen, eine weiterführende berufliche Teilhabeleistung in Anspruch zu nehmen und eine langfristig berufsorientierte Perspektive zu entwickeln und zu festigen. Die Rate der sich in einem Beschäftigungsverhältnis befindenden Rehabilitand*innen sollte sich erhöhen, und für den Forschungszeitraum sollte eine Beschäftigung von mindestens zwölf Monaten möglich sein. Die AU-Dauer (Arbeitsunfähigkeit) sollte in dem Zeitraum verringert werden. Das Betreuungsverhältnis von Teilhabegleiter*in zu Rehabilitand*in sollte 1:30 nicht überschreiten, um eine gute Betreuung zu gewährleisten. Falls sich das Projekt als zielführend erweist, könnte die zukünftige Finanzierung von Stellen der Teilhabebegleiter*innen über eine höhere Integrationsquote und eine Reduktion der Neuzugänge in die Erwerbsminderungsrente erreicht werden. Natürlich ist jede Reintegration einer/s Versicherten als Erfolg zu bewerten.
Im Projektverlauf werden neue Netzwerke dokumentiert, die Rehabilitand*innen werden zur Akzeptanz der Maßnahmen befragt, z. B. anhand von qualitativen Interviews. Besonderes Augenmerk liegt auf den bio-psycho-sozialen Teilhabehemmnissen. Sie werden sensibel erhoben, Hilfebedarfe erfasst und adäquate Maßnahmen eingeleitet. Auch die Gruppe der Rehabilitand*innen, die sich gegen eine Teilnahme entschieden hat, wird zu ihren Motiven befragt. Bei vorliegender Einverständniserklärung werden die soziodemographischen Daten mit in die Teilhabeplanung eingezogen sowie später die Ergebnisse der Ein-Jahres-Katamnese in der Datenbewertung berücksichtigt. In der Regel schließen die Rehabilitand*innen nach der Rehabilitation eine ambulante Weiterbehandlung/Fortführung/Nachsorge an, und die Kooperation zwischen Teilhabebegleiter*innen und weiterbehandelnden Suchtberatungsstellen ist regelhaft gewünscht.
Der erste Kontakt zu den Teilhabebegleiter*innen wird nach drei bis vier Wochen in der Klinik verabredet. Bis zu dem Termin haben die Rehabilitand*innen eine differenzierte sozialmedizinische BORA-Diagnostik durchlaufen und es werden mit ihnen, orientiert am individuellen beruflichen Teilhabebedarf, Therapiepläne erstellt und -interventionen verordnet.
Folgendes Flow Chart (Abb. 1) bildet den gesamten Prozess in der Bernhard-Salzmann-Klinik ab.
Abb. 1: Prozess im Projekt BORA-TB
Vielfach haben die Rehabilitand*innen während der Rehabilitation für die berufliche (Neu-) Orientierung und (Wieder-) Eingliederung eine wechselnde Motivationslage. Die Ambivalenz bzgl. des beruflichen Wiedereinstiegs zeigt sich z. B. in der Unvereinbarkeit von Wunschtätigkeit und realen Arbeitsmarktangeboten, in Ängsten, die beruflichen Erwartungen nicht erfüllen zu können, oder darin, die eigenen körperlichen, psychischen oder sozialen Vermittlungshemmnisse als unüberwindbar zu bewerten oder sich vor konflikthaften Auseinandersetzungen im Berufsalltag zu fürchten.
Hinzu kommt, dass die Rehabilitand*innen zu Beginn ihrer Behandlung meist andere Themen priorisieren, wie z. B. die Einleitung von existenzsichernden Maßnahmen, Wohnraumsicherung, die Erarbeitung von Therapiezielen, die Behandlung komorbider Störungen, die Bewältigung des Suchtmittelverzichts oder familiäre Problemlagen. Neigt sich die Behandlung dem Ende zu, sind die Rehabilitand*innen motivierter, sich mit dem Thema der beruflichen Orientierung auseinanderzusetzen.
Qualifizierung der Teilhabebegleiter*innen
Für eine fachlich hochwertige Teilhabebegleitung ist eine Qualifizierung der Teilhabebegleiter*innen mit praxisrelevantem Wissen notwendig. Die Durchführung der Qualifizierungen obliegt der „Landeskoordinierungsstelle berufliche und soziale Integration Suchtkranker in NRW“ (LKI) in Paderborn. Vor der praktischen Umsetzung des Modellvorhabens wurden die Teilhabebegleiter*innen in folgenden sechs Basismodulen geschult:
Modul 1: Einführung in das neue Aufgabenfeld der BORA-Teilhabebegleitung: Auftrag, Rolle und Ziele
Modul 2: Aufgaben und Anforderungen an BORA-TB / Netzwerke aufbauen, gestalten, koordinieren
Modul 3: Leistungen und Möglichkeiten der Jobcenter und Agenturen für Arbeit
Modul 4: Auswirkungen und Möglichkeiten des Bundesteilhabegesetztes
Modul 5: Betriebliche Suchthilfe, Eingliederungsmanagement, juristische Aspekte
Modul 6: Aufgaben und Leistungen der Deutschen Rentenversicherung
Zusätzlich organisiert die Landeskoordinierungsstelle fünf weitere Qualifizierungen zu fachspezifischen Themen:
motivierende Gesprächsführung
Sucht und Migration
Motivieren durch persönliche Präsenz
Persönlichkeitsstile/-störungen und die Herausforderungen in der Beratung
Genderbezug und Sucht
In den ersten Qualifizierungen konnten neben den Teilhabebegleiter*innen auch die Kooperationspartner*innen des Modellvorhabens teilnehmen. Insgesamt wurde deutlich, dass die einzelnen Kolleg*innen bereits sehr umfangreiches Fachwissen durch ihre vorherigen Berufserfahrungen in folgenden Fachrichtungen mitbringen: Suchttherapie, rechtliche Betreuung, arbeitsmarktorientierte Hilfen, Agentur für Arbeit, Integrationsfachdienst usw. Die bereits vorhandenen Qualifikationen ermöglichten die Bildung eines internen Expertenpools für den fachlichen Austausch. Trotz der unterschiedlichen Standorte in Dortmund, Gütersloh, Herford und Bielefeld sind alle Kollegen und Kolleginnen in einem sehr guten, regelmäßigen und engen Austausch.
Zur guten Vernetzung aller Mitarbeitenden des Modellvorhabens ist auch die Netzwerkarbeit mit Kostenträgern und anderen Versorgungsschnittstellen essentiell. Um diese Netzwerke aufzubauen und zu pflegen, werden mithilfe der Koordination der LKI pro Standort dreimal jährlich Netzwerktreffen stattfinden. Die Netzwerktreffen sollen dazu dienen, alle Akteur*innen untereinander bekannt zu machen, Raum für einen fachlichen Austausch zu schaffen und Referent*innen zu wichtigen Themen einzuladen. Die ersten Netzwerktreffen finden bereits dieses Jahr im November an allen drei Standorten statt.
Für die Gewährleistung eines reibungslosen Übergangs in die BORA-Teilhabebegleitung sind Fallkonferenzen mit den Rehabilitand*innen und allen relevanten Akteur*innen aus der medizinischen Behandlung geplant.
Akzeptanz der Maßnahme
In den ersten Monaten hat sich gezeigt, dass ein Teil der Rehabilitand*innen auf das Projekt skeptisch reagiert, u. a. konnte die Datenevaluation der Universität Bielefeld nicht eingeschätzt werden. Grundsätzlich haben die Rehabilitand*innen auch die Möglichkeit, an dem Projekt teilzunehmen, ohne dass Daten zu wissenschaftlichen Zwecken weiter bearbeitet werden. Die Ergebnisse würden dann über die Katamneseerhebung ausgewertet, wenn das Einverständnis dazu vorliegt.
Aktuell erfolgt die Kontaktaufnahme zu den Rehabilitand*innen durch den/die Teilhabebegleiter*in so früh wie möglich, um zu informieren und eine tragfähige Beziehung aufbauen zu können. In der ersten Phase der Rehabilitation willigen wenige Rehabilitanden direkt in die Teilhabebegleitung ein. Mit zunehmender Dringlichkeit zum Ende der Behandlung wird erneut Kontakt aufgenommen, um eine berufliche Perspektive zu erarbeiten.
Durch den Projektstatus haben die Teilhabebegleiter*innen die Möglichkeit, unterschiedliche Formen und Zeitpunkte der Ansprache auszuprobieren. Letztendlich wird die Evaluation durch die Universität Bielefeld aufzeigen, welche Form von BORA-Teilhabebegleitung sich langfristig positiv auf die berufliche Orientierung und Reintegration auswirken wird.
Vollmer, H. C. & Domma, J., (2020). Erwerbsstatus Alkoholabhängiger nach Therapie, in: SUCHT 66 (3), 133-142.
Weinbrenner, S. & Köhler, J. (2013). Der Mensch im Mittelpunkt – Anforderungen und Perspektiven für die Suchtbehandlung aus Sicht der DRV Bund, in: SuchtAktuell 20 (2), 15-20.
Zobel, M. (2017). Kinder aus alkoholbelasteten Familien: Entwicklungsrisiken und Chancen. Göttingen: Hogrefe.
Im dritten Teil des Artikels „Trends und Rahmenbedingungen in der Suchtrehabilitation“ stehen die Themen Modularisierung, Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung sowie Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit im Mittelpunkt. In Teil I und Teil II (erschienen am 26.08. und 09.09.2020) wurden bereits die Themen Nachfrage und Zugang, Fachkräftemangel, Digitalisierung sowie Therapie und Konzepte behandelt.
e) Modularisierung
In den Jahren 2011 bis 2015 erfolgte eine zunehmende Modularisierung des Leistungsangebotes in der Suchtrehabilitation. Es wurden verschiedene neue bzw. ergänzende Behandlungsformen entwickelt und durch entsprechende Rahmenkonzepte der Leistungsträger definiert.
Mit dem Rahmenkonzept zur ganztägig ambulanten Suchtreha wurden 2011 die Anforderungen für eine noch relativ neue Behandlungsform festgelegt, für die auch die Bezeichnungen Tagesreha oder teilstationäre Reha verwendet werden. Zahlreiche Einrichtungen wurden seither neu eröffnet, viele davon sind aber nicht ausgelastet, und einige wurden auch schon wieder geschlossen, weil diese sehr kleinen Einrichtungen (häufig nur zwölf Plätze) kaum wirtschaftlich zu führen sind. Besonders nachgefragt wird die sog. ganztägig ambulante Entlassungsform. Das bedeutet, dass sich an eine (häufig verkürzte) stationäre Phase eine in der Regel vierwöchige Phase im ganztägig ambulanten Behandlungssetting anschließt. Seit 2007 haben sich Einrichtungen der ganztägig ambulanten Suchtreha über ein jährliches Bundestreffen vernetzt und arbeiten gemeinsam an der Lösung spezifischer Probleme wie bspw. der passenden Indikationsstellung in Abgrenzung zur ambulanten und stationären Reha, der Etablierung von 6-Tages-Konzepten mit Angeboten am Wochenende, dem Vergütungsausfall durch Krankheitstage der Rehabilitanden, den notwendigen Suchtmittelkontrollen beim täglichen Übergang zum Alltag und der Eignung dieser Behandlungsform für Drogenabhängige.
Das Rahmenkonzept zur Nachsorge im Anschluss an eine medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker trat 2012 in Kraft. Damit wird eine deutliche Trennung der (sozialtherapeutischen) Reha-Nachsorge von der (suchttherapeutischen) ambulanten poststationären Reha-Behandlung definiert, mit erheblichen Folgen für die Angebotsstruktur in diesem Bereich. Therapiegruppen in der ambulanten Nachsorge und in der ambulanten Reha müssen nun getrennt durchgeführt werden, was zu immer kleineren Gruppen und einer abnehmenden Wirtschaftlichkeit für die Anbieter führt. Insbesondere im ländlichen Raum droht eine deutliche Reduzierung dieses Leistungsangebotes. Es folgten im Jahr 2015 weitere Rahmenkonzepte zur ambulanten bzw. ganztägig ambulanten Fortführung der Entwöhnungsbehandlung mit und ohne Verkürzung der vorherigen (stationären) Phase. Damit wurden wieder mehr Optionen für eine suchttherapeutische ambulante poststationäre Behandlung geschaffen.
Mit dem Rahmenkonzept zur Kombinationsbehandlung wurde im Jahr 2014 eine sehr weitgehende Möglichkeit für die kombinierte Durchführung verschiedener Behandlungsmodule bzw. Behandlungsphasen im Rahmen einer Kostenzusage geschaffen. Die einzelnen Phasen können in stationärer, ganztägig ambulanter oder ambulanter Form durchgeführt werden. In der Regel erfolgt im Anschluss an eine stationäre Rehabilitation eine Fortführung im ambulanten Setting. Für die Durchführung ist ein gemeinsames Konzept der beteiligten Leistungsanbieter erforderlich. Die Fallzahlen für diese Behandlungsform sind bundesweit eher gering. Allerdings konnte mit dem Konzept „Kombi-Nord“ der drei norddeutschen Regionalträger der DRV eine noch flexiblere Möglichkeit der Kombination unterschiedlicher Module geschaffen werden, bei der ein zeitlicher Rahmen für die Gesamtbehandlung definiert, Übergabegespräche beim Phasenwechsel festgelegt und eine Fallsteuerung ergänzt werden.
Besonders im Fokus steht derzeit die Ambulante Reha Sucht (ARS), für die seit 2008 ein Rahmenkonzept der Leistungsträger existiert. Diese Leistungsform wurde vor rund 25 Jahren als ergänzendes Angebot in Fach- und Beratungsstellen entwickelt. Mittlerweile ist deutlich geworden, dass dieses Angebot bei einem bundesweit einheitlich vorgegebenen Kostensatz und definierten Personal- und Strukturanforderungen der Leistungsträger kaum noch kostendeckend realisiert werden kann. Seit 2017 finden intensive Verhandlungen zwischen den Suchtverbänden und den Leistungsträgern statt, und es konnten einige organisatorische und finanzielle Verbesserungen vereinbart werden, bspw. wurde die Federführung für die Leistungsanbieter dem jeweiligen Regionalträger der DRV zugeordnet, und der Kostensatz wurde deutlich angehoben. Ob damit die langfristige Überlebensfähigkeit dieses wichtigen Leistungsangebotes sichergestellt werden kann, bleibt abzuwarten.
Eine weitere besondere Leistungsform in der Suchtreha ist die Adaptionsbehandlung als zweite bzw. letzte Phase der stationären medizinischen Rehabilitation. Sie ist stärker als die vorangehende Entwöhnungsbehandlung auf die Aspekte Wohnung und Arbeit fokussiert. Mit der Verfahrensabsprache zur Adaptionsbehandlung haben sich die Leistungsträger 1994 erstmalig auf gemeinsame Rahmenbedingungen für die Behandlungsform verständigt. Seit 2007 gab es sozialrechtliche Auseinandersetzungen mit Teilen der Gesetzlichen Krankenversicherung, die den medizinischen Charakter und die Zuständigkeit für die Kostenübernahme betrafen. Mit einem Urteil des LSG Baden-Württemberg von 2017 wurde diese Frage aber letztlich so entschieden, dass die Adaption eindeutig der medizinischen (und nicht der sozialen) Reha zuzuordnen ist. Zu dem Ergebnis, dass die GKV die Kosten für die Adaptionsbehandlung übernehmen muss, kommt auch ein ganz aktueller Beschluss des Sozialgerichtes Oldenburg (17.07.2020). Die Deutsche Rentenversicherung hat 2017 eine Erhebung unter den Einrichtungen zur Bestandsaufnahme durchgeführt, da die konzeptionelle Entwicklung in den letzten 20 Jahren zu regionalen Unterschieden geführt hat. 2019 wurde ein Rahmenkonzept veröffentlicht, das eine inhaltliche Einordnung der Adaption in das Leistungsspektrum der Suchtrehabilitation bieten sowie einheitliche strukturelle und personelle Anforderungen beschreiben soll.
Die folgende Übersicht (Tabelle 1), die 2016 von den Suchtverbänden als Hilfestellung für Träger und Einrichtungen erstellt wurde, zeigt die unterschiedlichen Leistungsformen im Gesamtzusammenhang:
Tab. 1: Kombinationsmöglichkeiten von Behandlungsformen in der Suchtrehabilitation
Vor dem Hintergrund dieser Modularisierung der Leistungsangebote können in der Suchtrehabilitation inzwischen sehr individuelle Behandlungsverläufe gestaltet werden, die allerdings erhebliche Anforderungen an das modul- bzw. phasenübergreifende Fallmanagement stellen. Das wirft für die Zukunft verstärkt die Fragen auf, wer dieses Fallmanagement leistet und wie diese zusätzliche Leistung vergütet werden soll. Eine mögliche weiterführende Perspektive könnte auch die Kombination mit Angeboten außerhalb der medizinischen Rehabilitation im Rahmen einer integrierten Versorgung sein. Ein sehr gutes Beispiel dafür, dass eine solche Vernetzung möglich ist und erhebliche Vorteile für die Leistungsberechtigten, die Leistungserbringer und die Leistungsträger bringt, ist das Modell „Alkohol 2020“, das in Wien erprobt wurde und mittlerweile in der Regelversorgung umgesetzt wird (vgl. Reuvers 2017: „Alkohol 2020“. Eine integrierte Versorgung von alkoholkranken Menschen in Wien).
f) Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung
Seit 2009 existiert in der medizinischen Reha eine gesetzliche Verpflichtung zur Zertifizierung der Systeme für das interneQualitätsmanagement. Es gab es schon um das Jahr 2000 herum erste Überlegungen, wie die eher industriell geprägten Ansätze zur Umsetzung von Qualitätsmanagement für das Gesundheitswesen und die Sozialwirtschaft angepasst und praxisgerecht umgesetzt werden können. Ein Beispiel dafür ist die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der Suchttherapie (deQus), die in diesem Jahr ihr 20-jähriges Bestehen feiert (www.dequs.de). Mittlerweile ist Qualitätsmanagement aus der Suchtrehabilitation nicht mehr wegzudenken und ein selbstverständlicher Teil des Arbeitsalltages geworden: Prozess- und Dokumentenmanagement helfen bei der Strukturierung der Arbeit, Patienten- und Mitarbeiterbefragungen werden als wichtige Rückmeldungen und Impulse für die Weiterentwicklung der Einrichtung gesehen, und in der Management-Bewertung werden jährlich Kennzahlen und andere wichtige Informationen zur Lage der Einrichtung bewertet. In den letzten Jahren haben der Umfang und die Komplexität der normativen Anforderungen, die nachweisbar zu erfüllten sind (Arbeitssicherheit, Brandschutz, Hygiene, Datenschutz, Risikomanagement etc.), deutlich zugenommen. Die Umsetzung wird in der Regel in das vorhandene QM-System integriert. Diese Anforderungen belasten die kleinen und mittelgroßen Einrichtungen in der Suchtrehabilitation deutlich mehr als größere Krankenhäuser, weil der Umsetzungsaufwand unabhängig von der Einrichtungsgröße ähnlich hoch ist: Die Personalausstattung ist jedoch sehr begrenzt, und für diese Sonderaufgaben sind in der Regel keine zusätzlichen Ressourcen im refinanzierten Stellenplan vorgesehen.
In den Jahren 2014 bis 2016 erfolge eine umfassende Weiterentwicklung im Bereich der Verfahren für die externe Qualitätssicherung, die auch erhebliche Auswirkungen auf die Suchtrehabilitation haben. Die unterschiedlichen Instrumente im Reha-QS-Programm der Deutschen Rentenversicherung wurden an aktuelle fachliche und organisatorische Anforderungen angepasst: Anforderungen zur Strukturqualität (2014), einheitliches Visitationskonzept (2014), grundlegende Überarbeitung der Klassifikation Therapeutischer Leistungen (2015), Auswertungen zur KTL-Statistik (2015), neue Checkliste für die Bewertung im Peer-Review-Verfahren (2016) und Aktualisierung der Reha-Therapiestandards (2016). Darüber hinaus werden mit der Rehabilitanden-Befragung Daten zur Rehabilitanden-Zufriedenheit und zum subjektiven Behandlungserfolg erhoben. Zusammen mit der Laufzeit der Entlassungsberichte und der Beschwerdequote steht somit ein sehr umfangreiches Bewertungssystem für die Qualität von Reha-Einrichtungen zur Verfügung. Die meisten Kennzahlen werden in ein 100-Punkte-System umgerechnet, so dass die Kennzahlen verschiedener Einrichtungen unmittelbar verglichen werden können. Zusätzlich wurde 2017 das Verfahren des „Strukturierten Qualitätsdialoges“ eingeführt, bei dem Einrichtungen zu Stellungnahmen aufgefordert werden, falls absolute oder relative Schwellenwerte unterschritten werden.
Die Ergebnisse der externen Qualitätssicherung sollen zukünftig immer stärker in die Belegungssteuerung und die Vergütungsverhandlungen einbezogen werden. Dabei sind allerdings einige Probleme zu bedenken:
Die QS-Daten bilden nur einen Teil der tatsächlichen Qualität der Einrichtungen ab, bspw. werden Behandlungsergebnisse kaum berücksichtigt.
Für kleine Einrichtungen liegen wegen der geringen Fallzahlen tw. nur unvollständige QS-Daten vor.
Die Auswertungen zu den QS-Daten enthalten immer wieder Fehler, die bei der Übertragung oder Aggregation der Daten entstehen und nur mit großen Aufwand zu identifizieren sind.
Die QS-Daten sind nicht immer aktuell, weil bspw. nach einer Visitation Mängel, die zu einer geringen Punktzahl geführt haben, unmittelbar abgestellt werden, aber keine Neubewertung erfolgt.
Die Suchtrehabilitation hat außerdem eine lange Tradition im Bereich Dokumentation und Statistik, weil der Nutzen der Auswertung von Behandlungsdaten früh erkannt wurde. 1974 erfolgte die erste gemeinsame, einrichtungsübergreifende Dokumentation in der ambulanten Suchthilfe mit dem System EBIS. Der Deutsche Kerndatensatz (KDS) für eine einheitliche Dokumentation in psychosozialen Beratungsstellen und stationären Einrichtungen der Suchthilfe wurde 1998 eingeführt. Damit wurde die Grundlage für eine bundesweit einheitliche Datenerfassung und statistische Analyse geschaffen (Deutsche Suchthilfestatistik www.suchthilfestatistik.de). Für den ab 2017 gültigen KDS 3.0 wurden vom Fachausschuss Statistik der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) umfangreiche Überarbeitungen des KDS vorgenommen. Der neue KDS berücksichtigt nun die nationalen, kommunalen, regionalen und einrichtungsseitigen Anforderungen umfassender und integriert auch die Spezifikationen, die sich aus den europäischen Vorgaben ergeben. Die Dokumentation ist insgesamt aufwändiger geworden, weil versucht wurde, die zunehmende Komplexität der Hilfen und Angebote in der Suchthilfe besser abzubilden. Das hat zunächst dazu geführt, dass die Vollständigkeit und Qualität der in den Einrichtungen erhobenen und in der Suchthilfestatistik zusammengeführten Daten leider nicht besser geworden ist.
Während die Suchthilfestatistik vor allem die Basisdaten abbildet, d. h. es werden Informationen zu Beginn und am Ende der Behandlung abgefragt, führen viele Einrichtungen zusätzlich katamnestische Befragungen ein Jahr nach Behandlungsende durch. Damit liegen wichtige und umfangreiche Daten zur Ergebnisqualität und zur Wirksamkeit der Suchtbehandlung vor. Die ergänzenden Analysen und Statistiken zu diesen Katamnesedaten sind auf den Internetseiten der Suchtverbände (buss/Basis- und Katamnesedaten, FVS/Wirksamkeitsstudien, FVS/Basisdokumentation) zu finden. Ein zentrales Problem bei katamnestischen Befragungen ist der häufig geringe Rücklauf und die Einschätzung der Situation (bspw. Abstinenz, soziale und berufliche Integration) bei den sog. Non-Respondern. Dazu wurde in den vergangenen Jahren ein aus Mitteln des Bundesministeriums für Gesundheit gefördertes Forschungsprojekt am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité durchgeführt, das wichtige Erkenntnisse und wertvolle Hinweise für die zukünftige Durchführung der Katamnese-Befragungen gebracht hat.
g) Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit
In den letzten Jahren wurde u. a. vom Bundesrechnungshof und vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) das Leistungsgeschehen im Bereich der medizinischen Rehabilitation der Deutschen Rentenversicherung analysiert und in diesem Zusammenhang eine fehlende Transparenz im „Reha-Markt“ kritisiert. Dabei wurde auch die Frage diskutiert, ob die Beschaffung von Rehabilitationsleistungen durch die Deutsche Rentenversicherung nicht dem öffentlichen Vergaberecht unterliegt und möglicherweise im Rahmen von Ausschreibungen erfolgen muss. Auf der Grundlage der „verbindlichen Entscheidung zur Beschaffung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation“ wurde daher 2017 ein zweistufiger Prozess mit folgenden Regelungen definiert:
Offenes Zulassungsverfahren – Jeder geeignete Anbieter erhält nach einer Qualitätsprüfung einen Belegungsvertrag und wird von einem federführenden Träger der DRV betreut. Mit dem Belegungsvertrag ist allerdings keine Belegungsgarantie verbunden.
Transparentes Belegungsverfahren – Die Einrichtungsauswahl für einen konkreten Fall nach Bewilligung eines Rehaantrages folgt einem definierten Algorithmus (u. a. medizinische Indikation, Komorbidität, Sonderanforderungen, Wunsch- und Wahlrecht, Setting) und wird nachvollziehbar dokumentiert. Stehen mehrere Einrichtungen zur Verfügung, erfolgt die Zuweisungsentscheidung nach einem Bewertungssystem mit den Kriterien Qualität, Preis, Wartezeit und Entfernung zum Wohnort.
Aus Sicht der Leistungserbringer muss dieser Prozess allerdings um eine weitere, dritte Stufe ergänzt werden, die die Vereinbarung einer angemessenen und leistungsbezogenen Vergütung regelt und dabei auch die Kostenstrukturen im Einrichtungsvergleich berücksichtigt. Bislang wurden von den Leistungsträgern nur Rahmenbedingungen für eine jährliche relative Anpassung der Vergütungssätze (Orientierung an einem „Reha-Index“ und an einer „Marktpreisbandbreite“) festgelegt.
Mit dem 2018 erschienenen Gutachten „Angemessene Vergütung für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation im Zuständigkeitsbereich der Deutschen Rentenversicherung“ wurde ein Vorschlag zur Festlegung einer angemessenen Vergütung vorgelegt. Da aus Sicht der Gutachter wegen der Marktmacht der Rentenversicherungsträger das vom Gesetzgeber gewollte Wettbewerbskonzept versagt, ist die Vergütung der Rehabilitationsleistungen nach Maßgabe eines zweistufigen Verfahrens aus Kostenprüfung und Vergütungsvergleich zu ermitteln, welches das Bundessozialgericht für andere nicht wettbewerblich strukturierte Leistungserbringermärkte entwickelt hat.
Das BMAS hat im Dezember 2019 den Referentenentwurf für ein Gesetz zur Regelung der Beschaffung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation durch die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Weiterentwicklung des Übergangsgeldanspruchs – Medizinisches Rehabilitationsleistungen-Beschaffungsgesetz (MedRehaBeschG) vorgelegt. In der Einführung zu dem Entwurf wird hervorgehoben, dass das bislang praktizierte offene Zulassungsverfahren die im Europäischen Vergaberecht eingeräumten Gestaltungsmöglichkeiten bereits genutzt hat, nun aber eine entsprechende gesetzliche Grundlage geschaffen werden soll. Diese bezieht sich insbesondere auf
die Zulassung und die konkrete Inanspruchnahme (Belegung) von Rehabilitationseinrichtungen nach objektiv festgelegten Anforderungen,
die Regelung des „Federführungsprinzips“ sowie
die Entwicklung eines verbindlichen, transparenten, nachvollziehbaren und diskriminierungsfreien Vergütungssystems zur Ermittlung, Bemessung und Gewichtung der an die Rehabilitationseinrichtungen zu zahlenden Vergütungen (bis Ende 2025).
Anforderungen für die Zulassung von Reha-Einrichtungen
Ausgestaltung des Vergütungssystems
Kriterien für die Inanspruchnahme von Reha-Einrichtungen
Daten der externen QS und deren Veröffentlichung
Die Entwicklung des Vergütungssystems soll zusätzlich wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden. Dabei sind folgende Kriterien zu beachten, wobei die Bewertungsrelation gegenüber dem Referentenentwurf neu hinzugekommen ist:
die Indikation,
die Form der Leistungserbringung,
spezifische konzeptuelle Aspekte und besondere medizinische Bedarfe,
ein geeignetes Konzept der Bewertungsrelationen zur Gewichtung der Rehabilitationsleistungen und
eine geeignete Datengrundlage für die Kalkulation der Bewertungsrelationen.
Es wird außerdem festgelegt, dass bei der Vereinbarung der Vergütung zwischen dem Federführer und der Reha-Einrichtung folgende Aspekte zu berücksichtigen sind (neu ist in dem Regierungsentwurf der regionale Faktor):
leistungsspezifische Besonderheiten, Innovationen, neue Konzepte, Methoden,
der regionale Faktor und
tariflich vereinbarte Vergütungen sowie entsprechende Vergütungen nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen.
Bei den Verfahren für die Zulassung und die Belegung sind keine wesentlichen Änderungen zum bisherigen Vorgehen der DRV erkennbar. Von besonderem Interesse für die Leistungserbringer wird allerdings die Ausgestaltung des Vergütungssystems sein, denn neben der Belegung ist die Vergütung der zweite wesentliche Faktor für die Wirtschaftlichkeit einer Reha-Einrichtung.
Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind für die Träger und Einrichtungen in der Suchtrehabilitation in den letzten Jahren immer schwieriger geworden. Auf der einen Seite werden von den Leistungsträgern hohe Qualitätsanforderungen in den Bereichen Struktur, Personal und Konzept formuliert, deren Erfüllung teilweise unter Androhung von Sanktionen eingefordert wird. Auf der anderen Seite existieren durch die „Macht-Asymmetrie“ im Reha-Markt nur begrenzte Möglichkeiten zur Verhandlung von kostendeckenden Vergütungen. Damit bleibt den Betreibern von Einrichtung nur ein geringer ökonomischer Handlungsspielraum.
Es wurde schon darauf hingewiesen, dass es in der Suchtrehabilitation (traditionell) viele kleine Einrichtungen gibt, mit einer deutlich geringeren Platzzahl als üblicherweise in der somatischen oder psychosomatischen Rehabilitation. Wenn man als „klein“ eine Einrichtung mit bis zu 50 Betten bzw. Plätzen definiert, dann macht das bei den Fachkliniken ca. 100 von 180 Einrichtungen (60 Prozent) und ca. 4.000 von 13.000 Plätzen (30 Prozent) aus. Tagesreha- und Adaptionseinrichtungen sind mit durchschnittlich zwölf Plätzen noch kleinere Organisationseinheiten. Diese Einrichtungen genießen eine hohe Wertschätzung bei Leistungsträgern, Zuweisern und Rehabilitanden, weil sie ein „familiäres“ Therapiesetting bieten, bei dem viele positive Effekte einer „therapeutischen Gemeinschaft“ ihre Wirkung entfalten können. Sie sind häufig auf spezielle Zielgruppen ausgerichtet und können ein deutliches konzeptionelles Profil zeigen. Und für viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist die Arbeit in einem übersichtlichen Team sehr attraktiv. Allerdings gibt es auch einige erhebliche Nachteile, die letztlich auch zu wirtschaftlichen Problemen führen und zu der Frage, ob diese Einrichtungen noch eine Zukunft haben:
hoher Anteil an Fixkosten (bspw. für Nachtdienste oder Qualitätsmanagement), die sich in größeren Einrichtungen besser verteilen lassen,
minimale und deshalb nicht attraktive und kaum zu besetzende Stellenanteile bei einigen sehr spezialisierten Berufsgruppen,
geringe personelle Redundanz und somit Vertretungsprobleme insbesondere bei längeren ungeplanten Abwesenheiten,
hohe Anfälligkeit für Belegungsschwankungen, weil ein einzelnes Aufnahme- oder Entlassungsereignis relativ gesehen stärker ins Gewicht fällt.
In den vergangenen Jahren konnte neben der Schließung von Einrichtungen vor allem auch vermehrt die Zusammenlegung von Einrichtungen, die Übernahmen von Einrichtungen durch größere Träger oder auch die Fusion von Trägern beobachtet werden. Wichtig ist dabei zum einen, dass es sich bei den Schließungen nicht um eine „Marktbereinigung“ handelt, denn die Nachfrage folgt bei Abhängigkeitserkrankungen nicht den üblichen Marktgesetzen. Es sind bereits dort regionale Versorgungslücken entstanden, wo ambulante und stationäre Angebote unabhängig vom Bedarf bzw. der Nachfrage eingestellt werden mussten. Zum anderen führen Fusionen nicht automatisch zu einer besseren Wirtschaftlichkeit von Trägern und Einrichtungen, Größe allein ist kein Erfolgsfaktor. Das Profil einer Einrichtung, die speziellen therapeutischen Angebote und eine klare Definition der Zielgruppen sind wichtige Faktoren für die Zusammenarbeit mit Zuweisern. Erfolgreich sind in der Regel die Träger, die eine Diversifizierung der Angebote betreiben, die verschiedene Leistungsbereiche integrieren und die in der Lage sind, selbst oder in Kooperation mit anderen Träger funktionierende Behandlungsketten zu etablieren.
Wie könnte es weitergehen?
Die vorstehende Beschreibung von aktuellen Trends und Themen, die die Arbeit in der Suchtrehabilitation aktuell und zukünftig beeinflussen, ist lang und komplex, aber vermutlich nicht umfassend. Für die Führungskräfte, die in den Trägern und Einrichtungen Verantwortung für viele Menschen und Arbeitsplätze tragen, ist es nicht leicht, den Überblick zu behalten und die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Es wurde bereits eingangs erwähnt, dass die Suchthilfe im Allgemeinen und die Suchtreha im Besonderen einen traditionell hohen Organisationsgrad haben, d. h., es existieren zahlreiche Kooperationen, Netzwerke, Verbände und Fachgesellschaften. Dadurch wird eine besondere Kooperationskultur geprägt, die ein altes Prinzip der Suchtselbsthilfe aufgreift und auf die Ebene von Einrichtungen überträgt: Im kollegialen Austausch lassen sich viele Probleme deutlich besser lösen, und durch ein gemeinsames Auftreten lässt sich die Vertretung der eigenen Interessen „schlagkräftiger“ organisieren. Daher kann es hilfreich sein, bei der Bearbeitung der angesprochenen Zukunftsthemen und Herausforderungen eine individuelle Ebene (Einrichtung, Träger) und eine gemeinschaftliche Ebene (Netzwerke, Verbände) zu unterscheiden und die anstehenden Aufgaben entsprechend zu verteilen (vgl. Tabelle 2).
Tab. 2: Individuelle und gemeinschaftliche Handlungsebenen in der Suchtreha
Natürlich muss jede verantwortliche Führungskraft die eigenen „Hausaufgaben“ machen. Aber es ist eine gute Tradition in der Suchthilfe, sich Rat von anderen „Peers“ zu holen, und manche Probleme werden allein schon durch die Erkenntnis kleiner, dass andere auch keine bessere Lösung haben.
Prof. Dr. Andreas Koch ist Mitglied der Geschäftsführung der Therapiehilfe gGmbH, Hamburg, und Honorarprofessor an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung, Hennef.
Es ist inzwischen ein Allgemeinplatz, dass wir uns in einer Informationsgesellschaft befinden, in einer vernetzten Welt, die nahezu grenzenlose Transparenz und Informationsgeschwindigkeit verspricht, mit allen Chancen und Risiken. Seit einigen Jahren kommt daher kaum ein Fachbeitrag, der sich mit Trends und Perspektiven im Gesundheitswesen und in der Sozialwirtschaft beschäftigt, ohne das Stichwort Digitalisierung aus. Es wird immer wieder gefordert, die digitalen Möglichkeiten vor, während und nach der Therapie stärker zu nutzen sowie intensiver auf die veränderten Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten einzugehen (vgl. Schmidt-Rosengarten 2018: Suchtarbeit 4.0 – Was verändert sich durch die Digitalisierung?). In diesem Zusammenhang ist auch auf eine Initiative der Drogenbeauftragten der Länder (AOLG AG Sucht) hinzuweisen. Im Januar 2020 hat sich in Essen eine Expertengruppe aus verschiedenen Bereichen der Suchthilfe zu einem Fachgespräch getroffen. Im Mittelpunkt der Beratungen standen die Bedingungen, die für eine gelingende Bewältigung des digitalen Wandels benötigt werden, und die Frage, welche grundlegenden Aspekte dabei zu beachten sind. Die dabei erarbeiteten „Essener Leitgedanken“ fassen thesenartig zusammen, wie die Suchthilfe den digitalen Wandel für die Weiterentwicklung der Hilfeangebote nutzen kann.
Bei der großen Vielfalt von Themen und Optionen ist eine Unterscheidung der organisatorischen und der therapeutischen Perspektive hilfreich, um die relevanten Handlungsfelder im Bereich der weiteren Digitalisierung der Suchthilfe zu identifizieren.
Organisatorische Perspektive
Aus der Erkenntnis, dass wir in einer Informationsgesellschaft leben, ergibt sich zwingend die Notwendigkeit, dass die Einrichtungen und Träger ihre Öffentlichkeitsarbeit entsprechend anpassen müssen, um die Fachöffentlichkeit (Leistungsträger, Zuweiser, Kooperationspartner) und die „Kunden“ (suchtkranke Menschen und ihre Angehörigen) zu erreichen. Dabei haben Printmedien (Flyer, Kurzkonzepte etc.) weiterhin ihre Bedeutung, aber die Präsenz in Onlinemedien wird immer wichtiger. Eine technisch schlecht gemachte Homepage ist eine katastrophale Visitenkarte für eine Einrichtung, aber natürlich müssen die präsentierten Informationen nicht nur optisch ansprechend, sondern auch fachlich fundiert und aktuell sein. Zudem müssen die veränderten „Lesegewohnheiten“ berücksichtigt werden: Die gute Visualisierung von Informationen und die passende sprachliche Gestaltung hat bei Printmedien eine ebenso hohe Bedeutung wie die Nutzung von „bewegten Bildern“ und Interaktionsmöglichkeiten bei Onlinemedien.
Kontrovers diskutiert wird die Präsenz von Einrichtungen in digitalen Netzwerken. Sie wird einerseits immer wieder gefordert, weil dort möglicherweise maßgebliche Meinungs- und Imagebildung betrieben wird. Andererseits ergibt nur eine kontinuierliche Aktivität in diesen Netzwerken Sinn, und diese erfordert einen enormen personellen Aufwand. Immer größere Bedeutung gewinnen auch Bewertungs- und Informationsportale, in denen jeder frei und mehr oder weniger qualifiziert seine Einschätzung abgeben kann. Auch die Beobachtung dieser Portale ist aufwändig. Eine interessante Option ist es, durch „Public Reporting“ von Qualitätsdaten auf eigenen oder offiziell dafür eingerichteten Webseiten selbst für Transparenz und idealerweise ein positives Image zu sorgen.
Die Digitalisierung hat natürlich auch längst Einzug in den Arbeitsalltag der Suchtreha-Einrichtungen gehalten. Die internen Arbeitsabläufe werden verstärkt von den vorhandenen Dokumentationssystemen bestimmt, und auch in der externen Kooperation findet eine zunehmende Automatisierung statt, bspw. durch die digitale Übermittlung von Laborbefunden oder den elektronischen Datenaustausch mit den Leistungsträgern. Diese Entwicklung ist ohne Frage sinnvoll und führt nach der häufig sehr anstrengenden Einführungsphase für eine neue Software zu vielen Erleichterungen in der täglichen Arbeit. Aber es sind einige Risiken zu bedenken: Zum einen ist es kaum noch leistbar, alle Anforderungen des (sicherlich notwendigen) Datenschutzes zu erfüllen, ohne dabei die Arbeitsabläufe immer komplizierter zu machen. Zum anderen verändert sich auch die Kommunikationskultur in den Einrichtungen. Wo vorher eine ärztliche Verordnung persönlich einer Pflegekraft mitgeteilt wurde, erfolgt nun lediglich ein kurzer Eintrag in die digitale Patientenakte. Wo vorher in der Fallkonferenz der therapeutische Prozess eines Patienten ausführlich diskutiert wurde, werden nun in der Teamsitzung die erreichten Therapieziele unmittelbar aus dem Dokumentationssystem heraus mit dem Beamer an die Wand projiziert. Auch wenn diese Beispiele etwas plakativ formuliert sind, so bleibt doch festzuhalten, dass diese Veränderung der Kommunikationskultur aktiv gestaltet werden muss, um noch ausreichend Raum für den notwendigen persönlichen Austausch zu geben.
Therapeutische Perspektive
Insbesondere bei den tendenziell jüngeren Patientinnen und Patienten in der Drogentherapie hat sich das Sozial- und Kommunikationsverhalten in den letzten Jahren deutlich verändert. Die Beschreibung einer erfahrenen therapeutischen Leiterin fasst die Problematik etwas vereinfachend, aber sicherlich sehr treffend zusammen: „Früher hat man sich zu den Patienten in die Raucherecke gestellt und wusste sofort, wie die Stimmung in der Einrichtung ist. Heute sitzen alle in ihren Zimmern und kommunizieren mit Mitpatienten und Externen über soziale Netzwerke. Wir im Team bekommen Schwierigkeiten und Krisen gar nicht oder zu spät mit!“ Diese Entwicklung stellt die therapeutischen Teams vor allen in den stationären Einrichtungen vor große Herausforderungen. Sie müssen zugleich die (sichtbare) soziale und die (verborgene) digitale Erlebenswelt der Patientinnen und Patienten im Blick behalten. Daher werden auch die Hausregeln zur Mediennutzung immer wieder diskutiert und angepasst. Generelle oder zeitweise Verbote von Geräten sind dann schwierig, wenn sie nicht bzw. nicht mit vertretbarem Aufwand kontrolliert werden können. Sinnvoll und notwendig ist vor allem eine intensive Auseinandersetzung mit den Verhaltensweisen der Patientinnen und Patienten in den Bereichen Mediennutzung und digitale Kommunikation. Diese Auseinandersetzung bietet wiederum häufig interessante therapeutische Ansatzpunkte.
Ein weiterer bedenkenswerter Aspekt bezieht sich auf die berufliche Orientierung, die im Rahmen der medizinischen Rehabilitation der Deutschen Rentenversicherung eine große Rolle spielt. Die entsprechenden Angebote, die die Einrichtungen in den Bereichen Arbeits- und Ergotherapie vorhalten, orientieren sich häufig noch am „klassischen“ Berufsbild Handwerk (u. a. Schreinerei, Metallwerkstatt, Garten und Landwirtschaft, Hauswirtschaft, Küche) sowie an einfachen kaufmännischen und administrativen Tätigkeiten (u. a. Patientenbüro oder Kiosk). Diese Bereiche haben bei entsprechenden beruflichen Erfahrungen und Zielsetzungen der Rehabilitanden sowie für die arbeitsbezogene Diagnostik, die Entwicklung von grundlegenden Kompetenzen und die Erprobung der allgemeinen Belastungsfähigkeit weiterhin große Bedeutung. Gleichwohl muss in das konzeptionelle Leistungsspektrum aber auch die immer wichtiger werdende Nutzung digitaler Medien in vielen Berufen sowie die Entwicklung neuer Berufsbilder integriert werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die regionale Vernetzung mit Betrieben, die entsprechende Praktikumsplätze bereitstellen können. Ein wichtiges Element ist auch das Bewerbungstraining, das in nahezu allen Einrichtungen mit Kompetenzvermittlung in den Bereichen Onlinerecherche und Erstellung digitaler Bewerbungsmappen etabliert ist. Allerdings müssen den Einrichtungen auch die notwendigen (finanziellen) Ressourcen zur Verfügung stehen, um die konzeptionell entwickelte „Arbeitstherapie 4.0“ realisieren zu können.
Unter dem Begriff „E-Mental-Health“ wird derzeit intensiv diskutiert, welche Rolle die Digitalisierung bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen spielen kann und soll. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) hat zu diesem Thema eine Task Force eingesetzt und beteiligt sich an entsprechenden Forschungsvorhaben. Für verschiedene Krankheitsbilder liegen schon erste Erfahrungen aus Pilotprojekten vor. Die Ergebnisse zeigen, dass digitale Medien und Onlineangebote eine wertvolle Unterstützung bei der Behandlung darstellen, aber offensichtlich die etablierten und im direkten persönlichen Kontakt eingesetzten psychotherapeutischen Methoden nicht ersetzen können. Insofern ist diese Entwicklung nicht bedrohlich für die vorhandenen Therapiekonzepte in der Suchtrehabilitation. Aber bspw. die Entwicklung von Apps für die Vorbereitung der Therapie (Information und Bindung), die Begleitung bei der Behandlung (Organisation in der Einrichtung) und die Sicherung des Behandlungserfolges (Online-Nachsorge) ist sicherlich eine sinnvolle Ergänzung des Leistungsspektrums der Einrichtungen.
d) Therapie und Konzepte
Für die Träger und Einrichtungen in der Suchthilfe war es schon immer notwendig, gesellschaftliche und politische Entwicklungen sowie Veränderungen bei Zielgruppen und ihren Konsummustern genau zu beobachten, um mit den eigenen Hilfeangeboten auf eine veränderte Bedarfslage reagieren zu können. In der Suchtreha bedeutet das eine regelmäßige Aktualisierung des Therapiekonzeptes, das nach bestimmten Vorgaben der Leistungsträger zu strukturieren und mit dem „Federführer“ abzustimmen ist. Jeder Reha-Einrichtung wird bei der Deutschen Rentenversicherung ein federführender Leistungsträger (Bundes- oder Regionalträger) als Ansprechpartner für strukturelle, konzeptionelle, personelle und finanzielle Fragen zugeordnet.
So ist es auch weiterhin therapeutisch sinnvoll, spezielle Behandlungskonzepte für besondere Zielgruppen anzubieten. Beispiele für eine solche Ausrichtung sind die folgenden:
In den letzten Jahren hat die Zahl der stationären Einrichtungen, die Substitution im Rahmen der Rehabilitation durchführen, zugenommen (ca. 30). Es handelt sich dabei um ein wichtiges ergänzendes Angebot für Opiatabhängige, bei dem die lange umstrittene Frage der Abdosierung während der Reha inzwischen deutlich individueller geregelt werden kann. Die Deutsche Rentenversicherung hat hier die Rahmenbedingungen flexibilisiert und ist derzeit bemüht, mehr Daten über dieses Behandlungsangebot zu sammeln. Die Suchtverbände haben 2017 eine bundesweite Übersicht zu diesem Angebot erstellt.
Die Zahl der stationären Einrichtungen, die Therapie ausschließlich für Frauen anbieten, ist deutlich rückläufig (ca. 10), vor allem, weil diese eher kleinen Einrichtungen kaum wirtschaftlich zu führen sind. Diese Entwicklung ist bedauerlich, weil es sich um eine besondere Möglichkeit der geschlechtsspezifischen Ausrichtung der Therapie handelt.
Vor dem Hintergrund der Einführung des MBOR-Konzeptes in der somatischen und psychosomatischen Reha der Deutschen Rentenversicherung (Medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation) wurden auch ergänzende Empfehlungen für den Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen entwickelt. 2014 wurden die „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker“(BORA-Empfehlungen) veröffentlicht, die von der gemeinsamen Arbeitsgruppe Berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker erarbeitet wurden. In dieser Arbeitsgruppe waren Expertinnen und Experten aus Einrichtungen und Verbänden und der Leistungsträger vertreten. Auch wenn die berufliche Orientierung in der Suchttherapie mit Blick auf die Gründungkonzepte der „Trinkerheilstätten“ Ende des 19. Jahrhunderts schon immer einen hohen Stellenwert hatte, haben die BORA-Empfehlungen eine erhebliche Wirkung auf die Entwicklung der Therapiekonzepte in den Einrichtungen gehabt: Berufs- und arbeitsbezogene Aspekte sind neben den psycho- und suchttherapeutischen Interventionen mehr in den Fokus gerückt. Die Bedeutung der entsprechenden therapeutischen Angebote im Rahmen des Gesamtkonzeptes ist ebenso gestiegen wie der Stellenwert der beteiligten Berufsgruppen (insbesondere Arbeits- und Ergotherapeuten) in den Teams. Außerdem ist zu erwähnen, dass die Deutsche Rentenversicherung in intensiven Verhandlungen mit der Bundesagentur für Arbeit sowie dem Deutschen Landkreistag und dem Deutschen Städtetag Empfehlungen zur Zusammenarbeit bei der Unterstützung arbeitsuchender abhängigkeitskranker Menschen erarbeitet hat. Damit soll sowohl der Zugang von Arbeitssuchenden aus der Beratung in die Suchtreha wie auch die Weitervermittlung nach der Reha in die Beratung und Arbeitsförderung erleichtert werden.
Eine wesentliche Entwicklung in der Sucht- und Drogenszene war in den letzten Jahren der vermehrte Konsum von synthetischen Drogen, die aufgrund der immer wieder veränderten chemischen Struktur bei Suchtmittelkontrollen kaum nachweisbar sind. Das wirft zum einen die Frage nach Nutzen und Bedeutung von bislang üblichen regelmäßigen medizinischen Kontrollen auf, und zum anderen, ob man sich auf das „Wettrüsten“ der ständigen Anpassung von Testungen an Variationen der synthetischen Drogen einlassen will. Einige Einrichtungen sind inzwischen dazu übergegangen, eher auf Verhaltensbeobachtungen zu vertrauen und nur bei Rückfallverdacht zusätzliche (aufwändigere) Testungen vorzunehmen. Letztlich können diese Fragen nicht allgemeingültig beantwortet werden, sondern jede Einrichtung muss sich, passend zu ihrer Zielgruppe und ihrer konzeptionellen Ausrichtung, für einen Weg entscheiden, der dann aber auch konsequent von allen Teammitgliedern umgesetzt werden sollte. Ein weiterer Trend ist die Auflösung bekannter Konsummuster, die sich auf nur eine Substanz beziehen (Heroin, Kokain, Cannabis, Alkohol etc.). Das zunehmend komplexere Konsumverhalten wirft die Frage auf, ob eine konzeptionell getrennte Behandlung von Alkoholabhängigkeit und Drogenabhängigkeit noch sinnvoll ist. Möglicherweise sind andere Unterscheidungskriterien zukünftig wichtiger, bspw. die beruflichen und sozialen Teilhabepotentiale der Rehabilitanden sowie die daraus resultierenden Rehaziele und Therapieplanungen.
Seit über zehn Jahren wird auch intensiv über eine „neue“ Form der nicht-stoffgebundenen Abhängigkeit (Verhaltenssucht) diskutiert: Die Begriffe Medienabhängigkeit, Computerspielabhängigkeit, Pathologischer Internetgebrauch, Onlineproblematik oder Internetsucht sind Versuche, dieses Phänomen zu fassen, das mit der verstärkten Nutzung digitaler Medien im Alltag aufgetaucht ist. Inzwischen hat sich die teilweise sehr heftige Debatte um die Dimension dieser Problematik deutlich beruhigt und zwei wesentliche Ergebnisse sind festzuhalten:
Es handelt sich um ein klinisch relevantes und eigenständig zu diagnostizierendes Problem, über das immer mehr wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen und das daher auch durch die American Psychiatric Association 2013 im DSM-5 als Forschungsdiagnose (Internet Gaming Disorder) aufgenommen wurde. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) folgt dieser Entwicklung mit der Aufnahme der Diagnose Gaming Disorder in die ICD-11.
Es wurden in den letzten Jahren offensichtlich ausreichende Hilfeangebote entwickelt, um den entsprechenden Beratungs- und Behandlungsbedarf zu decken. In der Suchtreha haben sich vor allem die Einrichtungen auf die Behandlung spezialisiert, die bereits Erfahrungen mit anderen Verhaltenssüchten (insbesondere Pathologisches Glücksspiel) hatten.
Wie auch bei anderen Indikationen, nimmt die Bedeutung von wissenschaftlich fundierten Leitlinien bei der Behandlung von Suchterkrankungen zu. Ein wesentlicher Meilenstein war die Veröffentlichung der S3-Leitlinien Tabak und Alkohol im Jahr 2015. Die S3-Leitlinien für Alkohol- und Tabakabhängigkeit entstanden in einem vierjährigen Entwicklungsprozess nach den Vorgaben der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF). Die Federführung lag bei der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht) und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Mehr als 50 Fachgesellschaften, Berufsverbände, Gesundheitsorganisationen, Selbsthilfe- und Angehörigenverbände mit über 60 ausgewiesenen Suchtexpertinnen und -experten waren in die Entwicklung eingebunden. 2016 wurde die unter Federführung der DGPPN entwickelte S3-Leitlinie für Methamphetamin-bezogene Störungen veröffentlicht. Die Arbeiten an einer S3-Leitlinie für schädlichen Medikamentenkonsum und Medikamentenabhängigkeit wurden 2017 ebenfalls unter der Federführung der DGPPN begonnen. Seit 2018 arbeitet eine Expertengruppe auf Initiative der DG-Sucht unter Federführung der Suchtforschungsgruppe der Universität Lübeck an der Entwicklung einer S1-Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung internetbezogener Störungen.
Die „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) der WHO soll als konzeptuelle Grundlage die Teilhabeorientierung in der Behandlung fördern und eine gemeinsame Sprache für verschiedene Gesundheitsberufe bereitstellen. Um die praktische Handhabung der ICF zu vereinfachen, empfiehlt die WHO die Entwicklung so genannter Core Sets: Ein Core Set enthält nur diejenigen Kategorien, die zur Beschreibung eines bestimmten Krankheitsbildes relevant sind. Da die für den Bereich Abhängigkeitserkrankungen wichtigen Kategorien nicht nur von der Indikation abhängen, sondern auch vom Behandlungssetting, wurde das Core Set modular aufgebaut mit den Versorgungsbereichen Beratung, Vorsorge, Entzug, Medizinische Reha und Soziale Reha (MCSS = Modulares ICF Core Set Sucht). Eine Forschungsgruppe aus dem Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf legte dazu 2016 einen ersten Vorschlag vor, der im Rahmen eines gemeinsamen Projektes mit Expertinnen und Experten aus der Suchthilfe entwickelt worden war. Ab 2017 lief ein Folgeprojekt, in dessen Rahmen das MCSS im Hinblick auf seine Praxisrelevanz und Validität empirisch überprüft wurde. Dabei wurde es querschnittlich in der Routineversorgung eingesetzt. Das mittlerweile finalisierte MCSS umfasst das Basismodul (25 Kategorien), das für alle Behandlungsbereiche einsetzbar ist, sowie die bereichsspezifischen Module Beratung (8 Kategorien), Vorsorge (7 Kategorien), Qualifizierter Entzug (6 Kategorien), Medizinische Reha (32 Kategorien) und Soziale Reha (10 Kategorien), die zusätzlich angewendet werden können. Es ist davon auszugehen, dass das nun vorliegende konsentierte MCSS zu einer stärkeren expliziten Berücksichtigung der ICF in der Suchtrehabilitation führen wird.
Am 23. September 2020 erscheint Teil III mit den Themen Modularisierung, Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung, Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit.
Prof. Dr. Andreas Koch ist Mitglied der Geschäftsführung der Therapiehilfe gGmbH, Hamburg, und Honorarprofessor an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung, Hennef.
Der Ursprung der Suchtrehabilitation geht zurück auf die Trinkerheilstätten, die Ende des 19. Jahrhunderts von Diakonie und Caritas aufgebaut wurden. Nach den Urteilen des Bundessozialgerichtes von 1968 (Anerkennung von Sucht als Krankheit) und 1978 (Kostenverteilung bei Suchtbehandlung) wurde die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker konzipiert und zu einer qualitativ hochwertigen Leistung mit zahlreichen Behandlungsoptionen weiterentwickelt. Die medizinische Rehabilitation im Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen ist heute ein sehr spezifisch ausgestaltetes Segment im deutschen Gesundheits- und Sozialwesen, bei dem vor allem die Förderung der gesellschaftlichen und beruflichen Teilhabe im Mittelpunkt steht.
Sie ist Teil eines komplexen Systems aus suchtspezifischen Angeboten in den Bereichen Beratung, Akutbehandlung, Selbsthilfe, Eingliederungshilfe und Substitution sowie vielen anderen Hilfeangeboten (bspw. in Justizvollzugsanstalten oder in der niedrigschwelligen Drogenhilfe). Eine Reha-Maßnahme (Entwöhnungsbehandlung) wird dabei i.d.R. im Rahmen eines Klärungs- und Motivationsprozesses in einer Suchtberatungsstelle vorbereitet und schließt sich idealerweise nahtlos an eine entsprechende Akutbehandlung (Entgiftung) an. Viele suchtkranke Menschen werden aber auch in anderen, nicht suchtspezifischen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesens betreut und behandelt, bspw. in Arztpraxen oder Allgemeinkrankenhäusern. Eine umfassende Analyse der Hilfen und Angebote für Menschen mit Suchtproblemen in Deutschland hat die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen erstellt.
Die Einrichtungslandschaft in der Suchtrehabilitation ist traditionell geprägt von vielen kleinen Einrichtungen (bis zu 50 Behandlungsplätze). Die Einrichtungen gehören überwiegend zu den freien Wohlfahrtsverbänden oder zu privaten Trägern, mit jeweils etwa der Hälfte der bundesweit verfügbaren Behandlungsplätze. Darüber hinaus gibt es auch einige wenige Einrichtungen in öffentlicher Trägerschaft, bspw. Fachkliniken oder Fachabteilungen der Psychiatrien in Baden-Württemberg oder der Landschaftsverbände in Nordrhein-Westfalen. Vor dem Hintergrund der über 100-jährigen Geschichte der Suchthilfe hat sich ein hoher Organisationsgrad mit mehreren Fachverbänden und Fachgesellschaften entwickelt. Die Einrichtungslandschaft in der Suchtrehabilitation lässt sich wie folgt im Überblick darstellen:
180 stationäre Einrichtungen (Fachkliniken, Therapieeinrichtungen oder Abteilungen/Stationen von Krankenhäusern) mit 13.000 Plätzen und 50.000 Behandlungen pro Jahr
100 Adaptionseinrichtungen (intern oder extern) mit 1.300 Plätzen und 4.500 Behandlungen pro Jahr
50 ganztägig-ambulante Einrichtungen (Tagesreha oder teilstationäre Reha) mit 600 Plätzen und 2.500 Behandlungen pro Jahr
600 anerkannte ambulante Einrichtungen (vor allem Beratungsstellen und Fachambulanzen) mit 18.000 Behandlungen (Reha und Nachsorge) pro Jahr (vgl. Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen 2019)
Die Hauptdiagnose Alkoholabhängigkeit macht bei rund 65 Prozent der Behandlungsfälle den größten Anteil aus, 30 Prozent der Hauptdiagnosen betrifft die Abhängigkeit von illegalen Drogen, fünf Prozent der Fälle beziehen sich auf andere Indikationen (Pathologisches Spielen, Medikamentenabhängigkeit, Essstörungen, Internetsucht). Das Durchschnittsalter der behandelten Menschen im Bereich Alkohol liegt bei 44 Jahren und im Bereich Drogen bei 30 Jahren. 20 bis 25 Prozent der Behandelten sind Frauen. Aufgrund der sozialrechtlichen Rahmenbedingungen und der geltenden Anspruchsvoraussetzungen ist die Deutsche Rentenversicherung mit ca. 85 Prozent der überwiegende Leistungsträger in der Suchtrehabilitation, die gesetzliche Krankenversicherung finanziert etwa zwölf Prozent der Behandlungen. In einigen Fällen wird die Behandlung auch von Sozialhilfeträgern, Privaten Krankenversicherungen oder Selbstzahlern finanziert.
In den Einrichtungen wird von interdisziplinären Teams (vertreten sind u. a. Medizin, Psychologie, Sozialpädagogik bzw. Soziale Arbeit, Pflege, Ergotherapie) ein breites Leistungsspektrum vorgehalten: medizinische Versorgung, Psycho- und Suchttherapie, Arbeits- und Ergotherapie, Sport und Bewegung, Kreativtherapie und Freizeitgestaltung, Sozialdienst sowie viele weitere Angebote, die in einem mit den Leistungsträgern abgestimmten Therapiekonzept beschrieben sind. Aufgrund entsprechender gesetzlicher Rahmenbedingungen und der eigenen fachlichen Ansprüche von Leistungsträgern und Leistungserbringern wurden für die Suchtrehabilitation hohe Standards in den Bereichen Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung erarbeitet, die weit über die Anforderungen in anderen Bereichen des deutschen Gesundheits- und Sozialwesens hinausgehen.
Was beschäftigt uns?
In den folgenden Abschnitten werden einige wichtige aktuelle Trends und Themen dargestellt, die die fachliche, organisatorische und sozialrechtliche Entwicklung in der Suchtrehabilitation derzeit bestimmen und vermutlich auch in der Zukunft maßgeblich beeinflussen werden. Die Auswahl und Schwerpunktsetzung entspricht der subjektiven Erfahrung des Autors und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit:
a) Nachfrage und Zugang
b) Fachkräftemangel
c) Digitalisierung
d) Therapie und Konzepte
e) Modularisierung
f) Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung
g) Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit
a) Nachfrage und Zugang
Bis 2013 war eine stetig steigende Nachfrage in der Suchtrehabilitation zu beobachten, was zum Teil demografische Ursachen hatte: Die „Babyboomer“ der starken Geburtsjahrgänge bis Anfang der 1970er Jahre hatten einen zahlenmäßig hohen Behandlungsbedarf (Altersdurchschnitt Alkohol ca. 44 Jahre). Das gesetzlich gedeckelte Budget der Deutschen Rentenversicherung für die gesamte medizinischen Reha (nicht nur für den Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen) wurde fast komplett ausgeschöpft, und es drohte eine finanziell begründete Limitierung von Reha-Maßnahmen. In der Suchtrehabilitation war aber ab 2014 ein deutlicher Einbruch bei den Anträgen zu beobachten. Trotz umfassender gemeinsamer Analysen von Deutscher Rentenversicherung und Suchtverbänden konnten keine eindeutigen Ursachen identifiziert werden. Die Zugangswege in die Suchtreha verteilen sich grundsätzlich zu 60 Prozent auf die Vermittlung aus Beratungsstellen und zu 20 Prozent auf die (direkte) Verlegung aus psychiatrischen oder internistischen Entzugskliniken. Im Bereich illegale Drogen spielt auch der Zugang direkt aus Justizvollzugsanstalten mit rund zehn Prozent eine Rolle (vgl. Weissinger 2017: Zugangswege erweitern, Übergänge optimieren). Es ist davon auszugehen, dass verschiedene Gründe für den Antragsrückgang vorliegen:
schwierige Finanzierungssituation in den Suchtberatungsstellen, die vor allem auf die kommunale Grundfinanzierung angewiesen sind,
alternative (und vermeintlich „niedrigschwelligere“) Behandlungs- und Betreuungsangebote in der Psychiatrie, Eingliederungshilfe und der ambulanten Substitution für Opiatabhängige,
Probleme beim Übergang aus der Haft in die Suchtreha (insbesondere bei Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG „Therapie statt Strafe“).
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung sind einige Einrichtungen in den letzten Jahren geschlossen worden, in manchen Regionen gingen bis zu zehn Prozent der Behandlungskapazitäten verloren. Die Situation vieler Einrichtungen wird zudem durch zu niedrige Vergütungssätze erschwert, die kaum die laufenden Kosten decken und keine Investitionen ermöglichen (vgl. Koch & Wessel 2016: Ein Gespenst geht um in Deutschland …). Seit 2017 steigen die Antragszahlen in der Suchtreha wieder, insbesondere im Bereich illegale Drogen. Allerdings sind auch für diesen positiven Trend keine eindeutigen Ursachen auszumachen. Es bleibt die Erkenntnis, dass die „Marktentwicklung“ in diesem Bereich kaum zu prognostizieren ist und damit die wirtschaftlichen Planungen von Leistungsträgern und Leistungserbringern schwierig sind.
Im Zusammenhang mit der Analyse des Antragsrückgangs und der Zugangswege in die Suchtrehabilitation sind einige spezifische Aspekte und Entwicklungen zu erwähnen, die Auswirkungen auf die „Schnittstellen“ zwischen den unterschiedlichen Hilfebereichen und Leistungssegmenten haben:
Auf der Grundlage gemeinsamer Beratungen von Leistungsträgern und Suchtverbänden wurde 2017 das Nahtlosverfahren Qualifizierter Entzug / Suchtrehabilitation verabschiedet. Die zwischen Deutscher Rentenversicherung, Gesetzlicher Krankenversicherung und Deutscher Krankenhausgesellschaft abgestimmten Handlungsempfehlungen sollen den Zugang nach qualifiziertem Entzug in die medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker verbessern.
Im Auftrag der beiden Fachverbände Caritas Suchthilfe (CaSu) und Gesamtverband für Suchthilfe (GVS – Fachverband der Diakonie Deutschland) wurde im Oktober 2018 die von Prof. Dr. Rita Hansjürgens (Alice-Salomon-Hochschule Berlin) erarbeitete Expertise Tätigkeiten und Potentiale der Funktion „Suchtberatung“ veröffentlicht. Sie umfasst eine differenzierte Situationsbeschreibung und formuliert Forderungen für die zukünftige Gestaltung dieses zentralen Bereiches im Suchthilfesystem. Vor dem Hintergrund der sich weiter verschlechternden Finanzierungssituation vieler Suchtberatungsstellen wurde 2019 der „Notruf Suchtberatung“ von zahlreichen Verbänden veröffentlicht, und die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen stellte entsprechende Forderungen zur Gestaltung der Rahmenbedingungen für die Arbeit von Suchtberatungsstellen auf.
Seit 2013 läuft die Entwicklung eines neuen Entgeltsystems für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik(PEPP-System). Es handelt sich um ein analog zu den DRG entwickeltes Entgeltsystem, das in den psychiatrischen Krankenhäusern seit 2018 verpflichtend umzusetzen ist. Die Einordnung in die für Suchtkranke vorgesehenen PEPP-Codierungen erfolgt nach dem ökonomischen Aufwand der Behandlung. Für die Qualität sorgt der verpflichtende Nachweis von Personal-Anhaltszahlen, der im Rahmen des ergänzenden Gesetzes zur Weiterentwicklung der Versorgung und Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen (PsychVVG) im Jahr 2016 festgelegt wurde. Es bleibt noch abzuwarten, welche Auswirkungen die Umsetzung auf die Behandlung von Suchtkranken in der Psychiatrie sowie das Zusammenspiel von Entgiftung und Entwöhnung haben wird.
Zwei veränderte Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) haben möglicherweise positiven Einfluss auf die Behandlung von Suchtkranken in der ambulanten Psychotherapie bzw. die Zusammenarbeit dieses Bereiches mit anderen Leistungsangeboten für Suchtkranke. Durch die Änderung der Psychotherapie-Richtlinie im Jahr 2011 wird die ambulante Psychotherapie bei Suchterkrankungen erleichtert, da Patientinnen und Patienten nicht mehr zwingend abstinent sein müssen, um eine Therapie zu beginnen. Mit der Änderung der Rehabilitations-Richtlinie im Jahr 2017 wurde das Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-VSG) umgesetzt, so dass nun auch Psychotherapeuten zur Verordnung bestimmter Leistungen zur medizinischen Rehabilitation befugt sind. Damit ist auch eine Weitervermittlung von suchtkranken Patientinnen und Patienten in die Suchtrehabilitation möglich.
b) Fachkräftemangel
Der Leiter einer Fachklinik machte im Pausengespräch während einer Verbandstagung folgende Bemerkung: „Wir werden demnächst irgendwo in Deutschland eine Klinikschließung erleben, nicht weil die Belegung oder die Finanzierung so schlecht ist, sondern weil nicht mehr genug qualifiziertes Personal zu finden ist!“ Damit wurde eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahre und Jahrzehnte auf den Punkt gebracht. Wie in fast allen Branchen macht sich in Deutschland auch im Gesundheitswesen und in der Sozialwirtschaft der Fachkräftemangel immer deutlicher bemerkbar. Für den Bereich der Suchtrehabilitation betrifft das vor allem ärztliches und pflegerisches, mittlerweile aber auch sozialpädagogisches und psychologisches Personal.
Die hohen quantitativen und qualitativen Anforderungen der Leistungsträger durch Sollstellenpläne und Formalqualifikationen verschärfen das Problem noch. Hier werden zukünftig neue Lösungen gefunden werden müssen, die einerseits die Qualität der Behandlung sicherstellen, andererseits aber auch der Arbeitsmarktlage Rechnung tragen. Im psychologischen Bereich wird bspw. ein von der Platzzahl abhängiger Anteil an Psychologischen Psychotherapeuten gefordert. Eine deutliche Erleichterung war hier die vor einigen Jahren eingeführte Regelung, dass bei noch nicht vorhandener Approbation auch die Zwischenprüfung oder absolvierte Hälfte der Weiterbildung bei dem entsprechenden Personal im Stellenplan anerkannt wird. Im Bereich Sozialpädagogik bzw. Soziale Arbeit darf mittlerweile grundsätzlich nur noch Personal im Stellenplan gezählt werden, das die suchttherapeutische Weiterbildung vollständig abgeschlossen hat. In den von der Deutschen Rentenversicherung anerkannten Curricula der entsprechenden Institute gem. den neuen Auswahlkriterien zur Prüfung von Weiterbildungen von 2011 (vgl. DRV Bund 2013: Vereinbarungen im Suchtbereich, S. 80) ist aber vorgesehen, dass diese Zusatzausbildung berufsbegleitend erfolgt. Es stellt sich also die Frage, wo das in Weiterbildung befindliche Personal beschäftigt werden soll? Es gibt nur geringe Stellenanteile im Bereich „Sozialdienst“ und die Vergütungssätze in der Suchtrehabilitation lassen keinerlei Spielraum, diese Mitarbeitenden zusätzlich in den Einrichtungen zu beschäftigen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit der Personalsituation ist die deutliche Verschiebung des Geschlechterverhältnisses. Sozial- und Gesundheitsberufe werden immer stärker von weiblichen Arbeitskräften dominiert, was grundsätzlich natürlich kein qualitatives oder quantitatives Problem darstellt. Allerdings wird von vielen Einrichtungsleitungen das Fehlen von „männlichen Identifikationsfiguren“ in den therapeutischen Teams beklagt, da rund drei Viertel der Patienten in der Suchtreha Männer sind. Und die praktische Erfahrung zeigt, dass die therapeutische Beziehung ein wesentlicher Wirkfaktor für eine gelingende Behandlung ist. Diese Beziehung lässt sich gleichgeschlechtlich anders gestalten, was bspw. auch für die Therapie in spezifischen Fraueneinrichtungen gilt.
Es werden in den Einrichtungen aber nicht nur Fachkräfte dringend gesucht, sondern ebenso Führungskräfte, die bereit sind, Verantwortung für Menschen, Konzepte und Gebäude zu übernehmen. Auch wenn das nach „früher war alles besser“ klingt, so lässt sich doch in der Praxis des Personalmanagements beobachten, dass die Nachbesetzung von Leitungsfunktionen in den Einrichtungen schwieriger wird. Bislang konnten häufig Nachfolgeregelungen mit ambitionierten Mitarbeitenden gefunden werden, die zunächst einige Jahre in der „zweiten Reihe“ Erfahrungen als Bereichsleitung oder stellvertretende Einrichtungsleitung gesammelt hatten. Zunehmend berichten aber Personalverantwortliche in den Trägerorganisationen, dass dieses Modell nicht mehr funktioniert. Häufig fällt die Antwort von Nachwuchskräften, denen eine Führungsposition zugetraut und angeboten wird, so oder so ähnlich aus: „Den Stress und die Verantwortung tue ich mir für eine kleine Gehaltserhöhung lieber nicht an!“ Das mag zum einen ein Hinweis darauf sein, dass Führungspositionen in Sozial- und Gesundheitseinrichtungen wegen der komplexen (fachlichen, personellen, organisatorischen, rechtlichen etc.) Anforderungen und der zunehmenden ökonomischen Zwänge weniger attraktiv sind als die möglicherweise eher sinnstiftende therapeutische Arbeit. Zum anderen könnte eine Ursache für dieses Phänomen in der veränderten Einschätzung der „Generation Y“ (Geburtsjahrgänge etwa 1985 bis 1995) im Hinblick auf eine akzeptable Arbeitsbelastung liegen. Wobei man sicherlich vorsichtig sein muss, denn diese Generationenmodelle sind stark verallgemeinert und können nicht jede individuelle berufliche Entscheidung erklären.
Es stellt sich also die Frage, wie Unternehmen im Sozial- und Gesundheitsbereich auf diese existentielle Herausforderung reagieren sollen. Eine Trendwende am Arbeitsmarkt ist schon aus demografischen Gründen nicht zu erwarten, und die Rekrutierung von ausländischen Fachkräften ist wegen der hohen sprachlichen Kompetenzanforderungen in der Psycho- und Suchttherapie eher im Einzelfall eine sinnvolle Lösung. Wenn die Einrichtungsträger in ausreichendem Umfang junge Fach- und Führungskräfte finden wollen, erfordert das neue Wege bei der Personalgewinnung, der Personalentwicklung und der Personalbindung. Dazu gehören u. a. folgende Aspekte:
Personalgewinnung – Vermittlung eines positiven Berufsbildes für die Suchthilfe in der Öffentlichkeit und bei potenziellen Bewerbern, bspw. durch regionale Vernetzung (Jobmessen) oder Ausbildungspartnerschaften (Bereitstellung von Praktikumsplätzen, Kooperation bei dualen Studiengängen, Förderung von Weiterbildungen).
Personalentwicklung – Unterstützung der Mitarbeitenden bei der professionellen Weiterentwicklung, wenn in kleinen Einrichtung kaum hierarchische Aufstiegsmöglichkeiten vorhanden sind, bspw. durch ergänzende therapeutische Weiterbildungen.
Personalbindung – Entwicklung einer Unternehmenskultur, die Identifikationsmöglichkeiten mit dem Arbeitgeber bietet sowie langfristig zufriedenes und (psychisch wie physisch) gesundes Arbeiten ermöglicht.
Es ist im Zeitalter der extremen Vernetzung und Transparenz durch soziale Netzwerke nicht mehr ausreichend, sich als guter Arbeitgeber in Broschüren oder auf der Internetseite zu präsentieren. Wenn diese Darstellung von der Wahrnehmung der Mitarbeitenden im Arbeitsalltag abweicht, dann steigt zum einen die Fluktuation, weil es viele offene Stellen bei anderen Unternehmen gibt, und zum anderen verbreitet sich das schlechte Image schnell unter potenziellen Bewerbern. Daher muss der Gestaltung einer positiven Unternehmenskultur verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt werden. Wichtige Bereiche sind in diesem Zusammenhang:
offene und vertrauensvolle Kommunikation (bspw. fairer Umgang mit Fehlern)
ressourcenorientierter und unterstützender Führungsstil (insbesondere Wahrnehmung individueller Stärken und Schwächen, Wünsche und Ziele)
transparente Entscheidungsstrukturen und Arbeitsabläufe (zur Vermeidung von Unberechenbarkeit und Unsicherheit)
Beteiligung an Gestaltungs- und Abstimmungsprozessen (zur Entwicklung eines gemeinsamen Verantwortungsbewusstseins)
individuelle zeitliche und räumliche Arbeitsgestaltung (u. a. flexible Arbeitszeit und mobiles Arbeiten in Abhängigkeit von den gegebenen Anforderungen und Rahmenbedingungen)
Förderung von Gemeinschaftsgefühl und Teamzusammenhalt (u. a. zur Herstellung von Verlässlichkeit und Verbindlichkeit)
Dadurch entstehen hohe Anforderungen an die Führungskräfte, und es wird zunehmend wichtiger, diesen auch die entsprechenden Kompetenzen zu vermitteln, bspw. durch Fort- und Weiterbildungen, kollegiale Supervision oder externes Coaching.
Am 9. September 2020 erscheint Teil II mit den Themen: Digitalisierung, Therapie und Konzepte.
Am 23. September 2020 erscheint Teil III mit den Themen Modularisierung, Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung, Leistungsrecht und Wirtschaftlichkeit.
Prof. Dr. Andreas Koch ist Mitglied der Geschäftsführung der Therapiehilfe gGmbH, Hamburg, und Honorarprofessor an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung, Hennef.
Kurzinterventionen sind Maßnahmen zur Gesundheitsförderung oder Prävention und eignen sich bspw. bei riskantem Konsumverhalten oder ungesunden Verhaltensweisen. Das motivierende Interventionsangebot Spirale Nach Oben (kurz: SNO) bei glücksspielbezogenen Problemen zielt auf eine Verbesserung des Gesundheitszustandes und der individuellen Lebenslage. Es begleitet Glücksspielende beim Prozess der Verhaltensänderung, indem Ressourcen aktiviert werden, Problembewältigung gefördert und zum veränderten Handeln motiviert wird(vgl. NLS 2020; Majuntke 2013; Meyer & Bachmann 2017).
Suchthilfeeinrichtungen verfolgen das Ziel, Menschen mit suchtbezogenen Problemen bei der Bewältigung ihrer gesundheitlichen Problemlagen zu unterstützen und auch Hilfe für deren Angehörige anzubieten. Betroffene werden von Fachkräften bei der Veränderung ihres Konsumverhaltens hin zu gesundheitsförderlichem Verhalten begleitet. Um Menschen mit glücksspielbezogenen Problemen fachlich beraten zu können, muss also die Frage gestellt werden, wie Menschen eine nachhaltige und für sie bedeutsame Veränderung erreichen. Eine Verhaltensänderung zu erwirken, ist oft kein leichter Prozess. Bei Suchterkrankungen gilt dies als besonders schwer, da zu Grunde liegende psychische Probleme oft schon länger bestehen und das schambesetzte Verhalten die Inanspruchnahme von Hilfe erschwert (vgl. NLS 2014; Meyer & Bachmann 2017; Hayer 2012; Wöhr & Wuketich 2019; Inglin & Gmel 2011).
Pathologisches Glücksspielen zählt seit 1980 zu den Störungen der Impulskontrolle und ist seit 2001 von deutschen Kostenträgern als rehabilitationsbedürftige Erkrankung anerkannt. Als eigenständige Verhaltenssucht ist die Spielsucht jedoch erst seit 2013 in der neuen Fassung des DSM-5 kategorisiert (DSM-5, USA). Auch in der ICD-11, die am 1. Januar 2022 in Kraft treten soll, wird die Störung durch Glücksspielen als Verhaltenssucht eingeordnet. Auf neurologischer Ebene lassen sich bspw. Störungen des Belohnungssystems erkennen, die dazu führen können, dass das Verlangen nach dem Suchtmittel stärker ist als die Initiative zur Verhaltensänderung. Glücksspielen erzeugt vergleichbare Effekte wie der Konsum von Substanzen, weshalb gerade Kinder und Jugendliche gefährdet sind, eine Suchterkrankung zu entwickeln (vgl. Hayer 2012; BZgA 2018). Doch wie kann Einfluss auf das Verhalten genommen und dieses nachhaltig verändert werden? Diskutiert werden bspw. der Einfluss von Selbstreflexion und Selbstkontrolle sowie Selbstwirksamkeit und Veränderungsmotivation (vgl. Meyer & Bachmann 2017; Stetter 2000; Kushnir et al. 2016; NLS 2014; BZgA 2018).
„Spielen macht seit Menschengedenken Alt und Jung Spaß und gehört zum menschlichen Verhaltensmuster. Wenn wir an kleine Kinder denken, verbinden wir Spielen mit Lernen und leuchtenden Augen. Bei Erwachsenen stellen wir uns fröhliche Runden mit Gesellschaftsspielen vor. Spielen heißt aber auch, Geld auf einen unkalkulierbaren Sieg in Spielhallen, Spielbanken, Lotterien und Internet zu setzen. […] Insbesondere gilt es, Jugendliche vor dem Abrutschen in glücksspielsüchtiges Verhalten zu bewahren sowie Menschen mit einem problematischen Glücksspielverhalten frühzeitig Hilfen anzubieten“ (NLS 2010: 4).
Glücksspielsuchthilfe in Niedersachsen
Im Mittelpunkt der niedersächsischen (Gesundheits-)Politik stehen auch die Prävention und Beratung bei Glücksspielsucht. Die niedersächsische Glücksspielsuchthilfe wird landesweit durch die Niedersächsische Landesstelle für Suchtfragen (NLS) koordiniert. Das Land Niedersachen fördert seit 2008 den Ausbau der glücksspielsuchtspezifischen Prävention in der Region und unterstützt deren Weiterentwicklung. In enger Zusammenarbeit mit der NLS werden Präventionsansätze, Beratungsangebote und Interventionen gezielt für Risikogruppen konzipiert und fortgeschrieben. Um den spezifischen Bedürfnissen der betroffenen Personen sowie ihrer Angehörigen begegnen zu können, hält das Landesprojekt regionale Beratungsangebote an 24 Projektstandorten und speziell ausgebildete Glücksspielsuchtfachkräfte bereit (vgl. NLS 2013/2014; Majuntke 2013). Diese Beratungsangebote wie auch das Interventionsangebot „Spirale Nach Oben“ wurden speziell für den Glücksspielsuchtbereich angepasst. Die verpflichtenden Schulungen bzw. Fortbildungen der Fachkräfte erfolgen überregional und werden durch die NLS fachlich begleitet (vgl. NLS 2013/2014).
Einen wichtigen Faktor in der Prävention und Behandlung von glücksspielbezogenen Problemen stellt die personelle Verstärkung der Suchthilfe dar. Durch die Fachkräfte, welche seitens der NLS ausgebildet wurden, konnten im Rahmen des Landesprojektes die präventiven und beratenden Aufgabenfelder verstärkt werden. Diese Aufgabenfelder verfolgen das Ziel der Vermeidung und der Abwehr glücksspielbezogener Suchtgefahren auf universeller und regionaler Ebene. Um dieses Ziel zu erreichen, führen die Fachkräfte sowohl kurzfristig angelegte, informationsorientierte als auch längerfristig angelegte, problemorientierte Beratungsarbeit durch (vgl. NLS 2014; Majuntke 2013; NGlüSpG §1 Abs. 5). Diese Beratungsarbeit ist angelehnt an den klientenzentrierten Beratungsprozess. Bei diesem werden durch Reflexion, Spiegelung und motivierende Gesprächsführung individuelle Lösungen und Bewältigungsmöglichkeiten entwickelt. Ggf. erfolgt die Weitervermittlung in eine spezialisierte Rehabilitationsmaßnahme (ambulant/stationär) und eine anschließende Betreuung zur Stabilisierung und Sicherung des Therapieerfolges (vgl. NLS 2014; Prochaska & DiClemente 1982; Majuntke 2013).
Das für den Glücksspielbereich adaptierte Interventionsprogramm „Spirale Nach Oben“ (SNO) zur Reduzierung des problematischen Spielverhaltens dient den Fachkräften dabei als Arbeitshilfe. Diese Arbeitshilfe ist eine Adaption eines Manuals aus dem Hartdrogenbereich. Das ursprüngliche Kurzinterventionsprogramm „In einer Spirale nach oben. Mehr Selbstkontrolle über Drogengebrauch“ wurde in Deutschland und in anderen europäischen Ländern bereits in der Praxis erprobt und wissenschaftlich begleitet (vgl. NLS 2014; Majuntke 2013; Amsterdam Institute for Addiction Research, AIAR 2005). Die Arbeitshilfe SNO kommt in präventiven Arbeitsfeldern zur Erreichung eines reflektierten, veränderten Spielverhaltens zum Einsatz. In Therapie und Beratung wird sie in unterschiedlichen Settings eingesetzt, z. B. prozessbegleitend oder informativ ergänzend im Einzel-, Paar- oder Gruppengespräch (vgl. NLS 2014; Majuntke 2013; NGlüSpG §1 Abs. 5).
Methodische Grundlagen der Arbeitshilfe „In einer Spirale nach oben“
Das Interventionsprogramm wurde 2013 unter dem Titel „In einer Spirale nach oben – der Einstieg in den Ausstieg aus problematischem Glücksspielverhalten“ veröffentlicht (vgl. NLS 2013). Im Beratungskontext eingesetzt, werden kleine Veränderungen als Handlungsmöglichkeiten dargestellt, anhand derer der Weg zu mehr Selbstkontrolle und einem reduzierten Konsum aufgezeigt wird. Gezielte Fragen und praktische Lösungsansätze sollen eine aktive Auseinandersetzung mit dem (Spiel-)Verhalten bewirken. Die Arbeitshilfe unterstützt in zehn Schritten die Veränderung hin zu mehr spielfreier Lebensqualität. Fortschritte können gezielt erreicht werden: Sie zeigen sich in Absichtsbildung, Vorbereitung und Aktion. Das Programm SNO begleitet verschiedene Veränderungsstadien, so kann z. B. ein besseres Problemverständnis erlangt oder das Erkennen von Frühwarnsignalen unterstützt werden. Das Thema Glücksspielen wird schrittweise anhand von Beispielen und Arbeitsblättern thematisiert, z. B. werden alternative Beschäftigungen oder Strategien des Geldmanagements erarbeitet. Aufgabenstellungen sollen die Beurteilung und Reflexion des eigenen Spielverhaltens ermöglichen (vgl. NLS 2020; Prochaska & DiClemente 1992; Majuntke 2013).
SNO basiert auf dem transtheoretischen Modell der Verhaltensänderung nach Prochaska und DiClemente. Bei diesem Modell verläuft die Veränderung in Stadien, in denen es von der Bildung einer Absicht bis zur eigentlichen Veränderung kommt. Die Verhaltensänderung wird strategisch durch Beratung begleitet, die sich zugleich am Tempo und der jeweiligen Phase der betroffenen Person orientiert und dadurch eine optimale Begleitung und prozessorientierte Unterstützung bietet (vgl. Prochaska & DiClemente 1982; Uhl & Lutz 2020; Maurischat 2001; Kushnir et al. 2016).
Das transtheoretische Modell stellt die Verhaltensänderung als mehrstufigen Lernprozess dar. Oft müssen Veränderungsphasen mehrmals durchlaufen werden, bis sich das Erlernte verfestigt hat. Unterschieden wird zwischen Stufen, Prozessen und Ebenen der Veränderung: Das spiralförmige Durchlaufen der fünf bzw. sechs Veränderungsstufen, beschreibt die motivationalen Zustände. Die Prozesse können dabei in Schleifen ablaufen, bspw. durch Rückfälle auf eine niedrigere Stufe, die zum Lernprozess dazugehören. Unterschiedliche Stufen und Prozesse werden auf verschiedenen Ebenen der Veränderung wirksam, z. B. auf interpersoneller Ebene durch die Reduzierung von Konflikten oder auf der Ebene des Suchtverhaltens durch Reduktion der Spielhäufigkeit. Die Stufen, die im Verlauf der Verhaltensveränderung durchlaufen werden, finden sich als einzelne Schritten in der Arbeitshilfe wieder (vgl. Tab. 1).
Tab. 1: Eigene Darstellung der Schritte der Arbeitshilfe SNO nach dem transtheoretischen Modell (vgl. Maurischat 2001; Majuntke 2013; NLS 2013; Prochaska & DiClemente 1982; Uhl & Lutz 2020)
(Selbsthilfe-)Manuale verfolgen das allgemeine Ziel, in leichtverständlicher Weise spezifisches Wissen weiterzugeben und/oder Kompetenzen im Umgang mit (Bewältigungs-)Techniken zu vermitteln. Die Arbeitshilfe SNO bietet Ansätze zur Einschätzung, Beeinflussung und Stabilisierung des Spielverhaltens. Erste Reduktionsziele werden eigenverantwortlich erreicht, wodurch sich die Person wieder selbstwirksam erlebt. Die Arbeitshilfe SNO bietet mit einem zieloffenen Ansatz die Möglichkeit, einen niedrigschwelligen Zugang zu schaffen und somit auch jene Personen anzusprechen, die durch abstinenzorientierte Konzepte nicht erreicht werden. Dabei geht sie auf die Vielfältigkeit der Problemfelder von Glücksspielabhängigkeit ein. Die motivierenden Aspekte der Intervention bereiten den Weg zur Reduktion und zu mehr Selbstkontrolle über das eigene Spielverhalten. Die Betroffenen werden dabei unterstützt, selbstbestimmt gesundheitsförderlich zu handeln sowie Tempo und Umfang des Reduktionsbestrebens erfolgreich selbst zu bestimmen (vgl. NLS 2020; Meyer & Bachmann 2017.; Majuntke 2013; NLS 2014/2020).
Konzept von SNO im Beratungskontext:
Krankheitseinsicht, Selbstreflexion und Absichtsbildung werden gefördert und können gesprächsbegleitend verfestigt werden.
Tempo und Ziele werden durch die betroffene Person selbst vorgegeben.
Verwendung von Arbeitsblättern ermöglicht die Dokumentation von Erfolgen und visualisieren den Fortschritt.
Aufbau der Arbeitshilfe strukturiert das Gespräch und den Beratungsprozess.
Aufgabenstellung und Hausaufgaben begleiten durch den spielfreien Alltag und unterstützen die Vorbereitung.
Keine Erzeugung von äußerem Druck oder Bevormundung bei der betroffenen Person durch Ergebnisoffenheit und kleine Schritte.
Akzeptanz, Respekt und Selbstbestimmung werden gefördert.
Aktualisierung der Arbeitshilfe SNO
Im Zeitraum von 2015 bis 2020 wurde die Arbeitshilfe evaluiert und bearbeitet. Unter Leitung von Prof. Dr. Knut Tielking führte die Hochschule Emden/Leer, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit, in enger Zusammenarbeit mit der NLS und mit Fachkräften der niedersächsischen Glücksspielsuchthilfe eine Untersuchung durch. Im Projektzeitraum wurden Arbeitsweise, Einsatzfelder und Verwendungsform der Arbeitshilfe untersucht sowie bisherige Erfahrungen ausgewertet. Nachfolgend wurde das Interventionsangebot weiterentwickelt und zielgruppenorientiert angepasst. Erfahrungen aus der Beratungspraxis und wissenschaftliche Erkenntnisse gingen in die Überarbeitung ein. Design, (An-)Sprache und Inhalt der Arbeitshilfe wurden verändert und Themenbereiche spezifisch für Glücksspielsucht mit Beispielen und Vorlagen angepasst. Auch wurden sprachliche Anpassungen vorgenommen, um einer Stigmatisierung von Glücksspielenden entgegenzuwirken. Negative Attribute wie ein Mangel an Selbstkontrolle, moralische Schwäche oder Impulsivität erschweren nicht nur den Betroffenen den Zugang zu Hilfeangeboten, sondern stellen auch Therapiehindernisse dar. Mitunter können entsprechende Stigmata zum Ausschluss von verschiedenen Versorgungsangeboten, vor allem von strikt abstinenzorientierten Einrichtungsangeboten, führen (vgl. Wöhr & Wuketich 2019; Goffman 1986; Orford & McCartney 1990; Inglin & Gmel 2011; Grunfeld et al. 2004; NLS 2013).
Interventionsmaßnahmen wie das Angebot SNO der niedersächsischen Glücksspielsuchthilfe zielen auf die gesundheitsförderliche Verhaltensänderung. Das Programm SNO begleitet den beratenden Prozess angepasst an die Ziele, Änderungsbereitschaft und Motivation der jeweiligen Person. Der Programmaufbau ist einfach und bietet Ansätze für die motivierende Gesprächsführung und eine individualisierte Rückmeldung. Fachkundige Personen mit Bezug zum Thema Glücksspielsucht ohne suchtspezifische Ausbildung können die Umsetzung der Intervention schnell erlernen und in verschiedenen Settings (Suchthilfe- und Bildungseinrichtungen etc.) einsetzen. Damit können sie frühzeitig für die Risiken und Gefahren sensibilisieren und zur Inanspruchnahme weiterführender Hilfen motivieren. Die Wirksamkeit motivierender Kurzinterventionen zeigt sich bei vielen Präventionsmaßnahmen zum gesundheitsgefährdenden Substanzkonsum, wie z. B. Tabak-, Drogen- oder Alkoholkonsum bei Jugendlichen (vgl. Reis et al. 2009; Majuntke 2013; Stolle et al. 2013; Wurdak et al. 2016).
Das Kurzinterventionsangebot SNO setzt bei der Reduktion von Widerständen, Stigmatisierung und fremdbestimmter Zielsetzung an. Wie auch einige der anderen Gesundheitsprogramme (z. B. gegen Bewegungsmangel oder zur Stressbewältigung) soll das niedrigschwellige Angebot für weniger Abwehr bei der reflexiven Auseinandersetzung mit dem problematischen Verhalten sorgen. Schriftliche Informationen, wie auch einfache Maßnahmen (Kurzberatung, Feedback usw.) bewirken zudem eine erste Auseinandersetzung mit dem eigenen Konsumverhalten. Kurzinterventionen bieten neben einer ersten Hilfe zur Selbstexploration vor allem Chancen für einen frühzeitigen Zugang von Menschen mit einem Gesundheitsproblem in die (suchtspezifische) Gesundheitsversorgung. Dies ist ein wichtiger Ansatzpunkt, denn eine Inanspruchnahme suchtspezifischer Hilfeangebote durch Risikokonsumierende ist eher gering und noch seltener frühzeitig.
Die landes- und bundesweite Förderung solcher suchtspezifischen und gesundheitsförderlichen Interventionsangebote wie das Programm SNO ist bedeutsam für die erfolgreiche Prävention und frühzeitige Behandlung von Glücksspielsuchtproblemen. Gesundheitspolitische Bemühungen sollten daher die glücksspielbezogene Suchthilfe und Forschung bei den neuen Herausforderungen unterstützen, um die Bevölkerung effektiv vor den Gefahren und Risiken, auch von illegalem und simuliertem Glücksspiel, zu schützen (vgl. Majuntke 2013; NLS 2014; Stolle et al. 2013; Wurdak et al. 2016; Fleckenstein et al. 2019).
Kontakt:
Meike Panknin-Rah
Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit
Hochschule Emden/Leer
Constantiaplatz 4
26723 Emden meike.panknin-rah@hs-emden-leer.de
Angaben zu den Autor*innen:
Prof. Dr. Knut Tielking ist Professor für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Sucht- und Drogenhilfe an der Hochschule Emden/Leer, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit. Er ist Leiter des Forschungsprojektes „Bedeutung der Selbstkontrolle für die Reduzierung des eigenen Glücksspielverhaltens – Untersuchung am Beispiel des Manuals ‚In einer Spirale nach oben – der Einstieg in den Ausstieg aus problematischem Glücksspielverhalten‘“ (2015–2020). Christina Diekhof und Meike Panknin-Rah sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit an der Hochschule Emden/Leer.
Literatur:
Amsterdam Institute for Addiction Research (AIAR) (2004): In einer Spirale nach oben. Wege zur mehr Selbstkontrolle und reduziertem Drogenkonsum. Stiftung Sirop: Amsterdam.
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (2018): Glücksspielverhalten und Glücksspielsucht in Deutschland 2017. Ergebnisbericht. Technical report. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Köln.
Fleckenstein, M./ Heer, M./ Leiberg, S./ Gex-Fabry, J./ Lüddeckens, T. (2019): Leistungssensible Suchttherapie: Vorstellung und Wirksamkeitsprüfung einer neuer Kurzintervention. Suchttherapie 20. 68-75.
Goffman, E. (1986): Stigma. Notes on the management of spoiled identity. Simon and Schuster: New York.
Grunfeld, R./ Zangenneh, M./ Grundfeld, A. (2004): Stigmatization Dialogue: Deconstruction and Content Analysis. INTERNATIONAL JOURNAL OF MENTAL HEALTH & ADDICTION, 1.Jg., Heft 2, 1–14.
Hayer T. (2012): Jugendliche und Glücksspielbezogene Probleme. In: Becker T. (Hrsg.). Schriftenreihe zur Glücksspielforschung. Peter Lang-Verlag. o. O.
Inglin, S./ Gmel, G. (2011): Beliefs about and attitudes toward gambling in French-speaking Switzerland. Journal of gambling studies, 27. Jg., Heft 2, 299–316.
Kushnir, V./ Godinho, A./ Hodgins, D./ Hendershot, C./ Cunningham, J. (2016): Motivation to quit or reduce gambling: Associations between Self-Determination Theory and the Transtheoretical Model of Change. In: J Addict Dis. 2016;35(1):58-65.
Maurischat, C. (2001): Erfassung der „Stage of Change“ im Transtheoretischen Modell Procháskas – eine Bestandsaufnahme. Psychologisches Institut, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Internetquelle: https://www.psychologie.uni-freiburg.de/forschung/fobe-files/154.pdf. Abgerufen am: 14.06.2020.
Orford, J./ McCartney, J. (1990): Is excessive gambling seen as a form of dependence? Evidence from the community and the clinic. Journal of gambling studies, 6. Jg., Heft 2, 139–152.
Prochaska, J. & DiClemente, C. (1982). Transtheoretical therapy: Toward a more integrative model of change. Psychotherapy: Theory, Research & Practice, 19 (3), 276–288.
Reis, O./ Papke, M./ Haessler, F. (2009): Ergebnisse eines Projektes zur kombinierten Prävention jugendlichen Rauschtrinkens. Sucht, 55, 347–356.
Stetter, F. (2000): Psychotherapie von Suchterkrankungen. In: Psychotherapeut 45:141–152 Springer-Verlag.
Stolle, M./ Sack, P.M./ Broening, S./ Baldus, C./Thomasius, R. (2013): Brief Intervention in alcohol intoxicated adolescent – a follow-up study in an access-to-care sample. Journal of Alcoholism & Drug Dependence, 1, 106. DOI:10.4172/2329-6488.1000106. Abgerufen am 01.06.2020.
Wöhr, A./ Wuketich, M. (2019): Stigmatisierung von Glücksspielern als Zuschreibungsprozess. In Wöhr, A./ Wuketich, M. (Hrsg.) (2019): Multidisziplinäre Betrachtung des vielschichtigen Phänomens Glücksspiel. Festschrift zu Ehren des 65. Geburtstags von Prof. Dr. Tilman Becker. Springer VS: Wiesbaden.
Wurdak, M./ Wolstein, J./ Kuntsche, M. (2016): Effectiveness of a drinking-motive-tailored emergency-room intervention among adolescents admitted to hospital due to acute alcohol intoxication – A randomized controlled trial. PreventiveMedicine Reports, 3, 83–89.
Mit der Entwicklung und Veröffentlichung der BORA-Empfehlungen im Jahr 2015 ist im Indikationsbereich Abhängigkeitserkrankungen die berufliche Integration im Rahmen der Medizinischen Rehabilitation deutlicher als bisher in den Fokus gerückt, auch wenn das Thema Arbeit bislang schon einen traditionell hohen Stellenwert in der Suchtbehandlung hatte (Köhler, 2009). Die Reha-Einrichtungen waren aufgefordert, durch Ergänzung ihrer Rehabilitationskonzepte die Analyse und Förderung der Integrationspotentiale der Rehabilitand*innen weiterzuentwickeln. Die Einführung von BORA unterstreicht die Notwendigkeit in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker, den Fokus auf die berufliche Wiedereingliederung zu legen, neben den anderen relevanten Teilhabezielen und der Förderung der Abstinenz.
Die verstärkte berufliche Orientierung in der medizinischen Rehabilitation darf aber nicht fälschlicherweise mit einer Abkehr von der Psychotherapie gleichgesetzt werden. Allerdings gelingt die Vernetzung mit der regionalen Agentur für Arbeit oder mit den lokalen Jobcentern trotz beeindruckender Abstinenzquoten nicht in allen Fällen (Kobelt et al., 2017). Bei vielen Rehabilitand*innen führt ein möglicherweise biografisch bedingtes Überforderungsgefühl oder eine nicht genügend ausgeprägte Resilienz dazu, dass ein konstruktiver Umgang mit Stresssituationen, Selbstwertproblemen oder mangelnder Gratifikation erschwert wird. Ebenso sind die Auflösung von konkurrierenden Belastungssituationen zwischen Arbeit und Familie, von Konflikten mit Kolleg*innen oder Vorgesetzten sowie eine ausgewogene Selbstorganisation große Herausforderungen. Die differenzierte und individualisierte Therapieplanung in den Einrichtungen trägt diesen Aspekten Rechnung. Persönlichkeitsstrukturelle Anteile der Rehabilitand*innen werden dabei ebenso thematisiert und bearbeitet wie die Kontextbedingungen der bestehenden Arbeitsplatzverhältnisse (Kobelt et al., 2017, Baumeister, 2016, Buruck et al., 2016). Die Realität der Arbeitswelt hat in der therapeutischen Arbeit mit Abhängigkeitserkrankten eine wichtige Bedeutung und wird unmittelbar in die Therapie integriert. Die Rehabilitand*innen sollen sich durch den mehrwöchigen Aufenthalt in der Klinik kein schützendes Idyll alternativ zur Suchterkrankung aufbauen, in dem die Probleme des Alltags ausgespart bleiben (Baumeister, 2016).
In § 42 SGB IX werden die Ziele in ein rein medizinisches Ziel (Abwendung, Beseitigung, Minderung, Ausgleich vorhandener Behinderung/chronischer Krankheiten) und ein Teilhabeziel unterteilt. Drittes Ziel ist dann die möglichst dauerhafte Wiedereingliederung (BSG vom 29.01.2008 B 5a/5 R 26/07 R). Das Rehabilitationsziel soll also mit einer Kombination von medizinisch-therapeutischen Maßnahmen zur Stabilisierung bzw. Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit einerseits und der dauerhaften Wiedereingliederung ins Erwerbsleben andererseits erreicht werden.
Forschungslage zum Wiedereingliederungserfolg nach Entwöhnungsbehandlung
Obwohl die berufliche Wiedereingliederung ein wichtiges Ziel der Entwöhnungsbehandlung darstellt, gibt es bisher nur wenige Arbeiten, die sich mit dem Wiedereingliederungserfolg nach der Entwöhnungsbehandlung in Leistungsträgerschaft der Deutschen Rentenversicherung beschäftigen; gleichzeitig finden sich nur wenige empirische Hinweise darauf, welche personen- oder kontextbezogenen Faktoren die berufliche Wiedereingliederung begünstigen. Buschmann-Steinhage und Zollmann (2008) konnten zeigen, dass der Beschäftigungsstatus zum Zeitpunkt der Antragsstellung den Arbeitsstatus zwei Jahre nach Beendigung der Entwöhnungsbehandlung vorhersagen kann, d. h., dass die Erwerbssituation durch die Reha-Maßnahme mindestens stabil gehalten werden kann. Als ergänzende Prädiktoren wurden die Wohnregion, der Bildungsstatus, die Anzahl der Vorbehandlungen sowie die Höhe des zuletzt erzielten Arbeitsentgeltes identifiziert. Gerade bei abhängigkeitserkrankten Menschen, die aus einem Beschäftigungsverhältnis in die Entwöhnungsbehandlung kommen, ist die Chance im Vergleich zu arbeitslosen Personen um 50% erhöht, dass sie auch nach der Rehabilitation einer versicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen (Kobelt et al., 2019). Bachmeier (2019) konnte zeigen, dass die Quote der Erwerbstätigen im Katamnesezeitraum nach der Entwöhnungsbehandlung um ca. 8% gegenüber dem Status zu Behandlungsbeginn gesteigert werden konnte (von 46,2% auf 54,3%). Entsprechend sank die Erwerbslosigkeitsquote um über 10% (von 33,3% auf 22,9%). Auch die Arbeitsunfähigkeitszeiten reduzierten sich im Katamnesezeitraum im Vergleich zum Zeitraum vor der Behandlung deutlich.
Dennoch stellt eine Abhängigkeitserkrankung ein erhebliches Risiko für den Arbeitsplatzverlust dar, wobei der Anteil beruflich gering Qualifizierter in dieser Population besonders hoch ist (Henkel, 2011). Die Wahrscheinlichkeit, nach einer Entwöhnungsbehandlung auf dem Arbeitsmarkt wieder eingegliedert zu werden, sank für Rehabilitand*innen ohne qualifizierten Berufsabschluss um 83% gegenüber der Vergleichsgruppe mit relevanten Qualifikationen (Bestmann, 2019). Auch in früheren Studien wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Humankapitalinvestitionen, die Arbeitnehmer auf den Arbeitsmarkt mitbringen, wie Berufsausbildung und tätigkeitsspezifische Kenntnisse und Erfahrungen, die entscheidende Größe für die Aufnahme bzw. auch monetäre Bewertung einer Arbeitstätigkeit darstellen (Achatz et al., 2011).
Zudem steigt das Risiko, nach der Entwöhnungsbehandlung erwerbslos zu sein, um 70% an, wenn weitere psychische Erkrankungen bspw. eine Depression vorliegen (Kobelt et al., 2019; Bestmann 2019). Für Arbeitgeber ist die körperliche und psychische Gesundheit eine Versicherung für Stabilität und Leistungsvermögen. Bestehende körperliche, psychische oder Abhängigkeitserkrankungen erschweren so die erfolgreiche Bewerbung auf ein Stellenangebot (Dietz, 2009).
Werden lediglich versicherungskontenbezogene Katamneseergebnisse berücksichtigt, die die Veränderung der Beitragszeiten aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung widerspiegeln, zeigt sich, dass sich nach einer Entwöhnungsbehandlung die Erwerbstätigkeit der Rehabilitand*innen nur geringfügig verbessert (Kobelt et al., 2019). Auch zwei bzw. drei Jahre nach der letzten Entwöhnungsbehandlung ändert sich an diesem Status wenig (Bestmann, 2019). Je länger die Erwerbslosigkeitszeiten vor der Entwöhnungsbehandlung sind, desto mehr sinkt die Chance auf eine berufliche Wiedereingliederung (Bestmann, 2019). Dabei ist zu beachten, dass diese Entwicklungen keine Bewertung der Leistungsfähigkeit der Entwöhnungsbehandlung zulassen, sondern auf zahlreiche Einflussfaktoren zurückzuführen sind.
In den wenigen verfügbaren Studien zeigt sich bislang, dass auf der individuellen Ebene vor allem die Schwere der Erkrankung, operationalisiert durch eine vorliegende Komorbidität, und der Erwerbsstatus im Jahr vor der Entwöhnungsbehandlung die wichtigsten Variablen sind, die die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt bestimmen.
Während die Interaktion zwischen Erkrankung und Arbeitsplatzproblematik im Rahmen der in den BORA-Empfehlungen vorgesehenen Interventionsbausteinen behandelt werden kann (Kobelt et al., 2017), sind die Einflussmöglichkeiten auf die Kontextfaktoren, die die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt blockieren, wie Ausbildungsstatus und/oder fehlender Arbeitsplatz, sehr begrenzt. Achatz und Trappmann (2011) haben festgestellt, dass die Kumulation von Hemmnissen mit jedem zusätzlichen Risiko die Übergangswahrscheinlichkeit aus dem Bezug von Arbeitslosengeld II in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung fast halbiert. Je länger ein Mensch arbeitslos ist, desto mehr verliert der Betroffene psychosoziale Fähigkeiten zur Überwindung der Teilhabeprobleme. Ein Teufelskreis entsteht, aus dessen Erleben neue Belastungen und Misserfolge und damit neue Erkrankungen erwachsen oder sich bestehende Einschränkungen noch weiter intensivieren (Zenger et al., 2013; Mewes et al., 2013). Hinzu kommen Vorbehalte der Arbeitgeber insbesondere gegenüber älteren Langzeitarbeitslosen, die dazu führen, dass Anstrengungen, in eine Anstellung zurückzufinden, immer seltener zum Erfolg führen können. Erschwerend kommt hinzu, dass es für Grundsicherungsstellen effizienter ist, sich auf die Langzeitarbeitslosengruppen zu konzentrieren, deren Arbeitsaufnahme am wahrscheinlichsten ist (Achatz und Trappmann, 2011). Daher ist der frühzeitige Einsatz von arbeitsmarktpolitischen Instrumenten im Anschluss an die Entwöhnungsbehandlung wichtig, um die berufliche Integration zu fördern und Rückfälle zu verhindern, wobei auch die regionale Arbeitsmarktsituation Einfluss auf die beruflichen Integrationschancen hat.
Wie soll der Return-to-Work-Erfolg gemessen werden?
Medizinisch-berufliche Rehabilitationsprogramme (MBOR, BORA) sollen eine kosteneffektive und qualitativ hochwertige Patientenbetreuung hinsichtlich der beruflichen Wiedereingliederung gewährleisten. Neben der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit als zentraler Zielsetzung der Entwöhnungsbehandlung stellt die Wiederaufnahme einer Arbeitstätigkeit (Return to Work) ebenfalls eine wichtige Messgröße und absehbar ein wichtiges Qualitätsmerkmal dar.
Allerdings gibt es unterschiedliche Auffassungen, wie der Return-to-Work-Erfolg gemessen werden sollte. So wird schon kontrovers diskutiert, ob es ausreicht, dass die Rehabilitand*innen nach der Heilbehandlung potentiell dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, also auch, wenn die Beiträge zur Rentenversicherung von der Agentur für Arbeit entrichtet werden. Doch selbst wenn man sich darauf verständigt, dass lediglich Beiträge aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung als Erfolgsparameter anerkannt werden, bleibt sowohl die Bemessung der Mindestanzahl der Beitragsmonate sowie der Kumulationszeitraum nach der Entwöhnungsbehandlung (ein, zwei, fünf Jahre) noch offen (Nübling et al., 2016). Reicht es aus, wenn der Rehabilitand mindestens einen Monatsbeitrag aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung entrichtet hat, oder sollte die Differenz zwischen den Beitragsmonaten im Jahr nach der Rehabilitation zum Jahr vor der Rehabilitation mindestens positiv sein, um eine Verbesserung zu dokumentieren? Als Ausweg aus diesem nicht abschließend geklärten Dilemma schlägt Höder (2019) vor, dass es dem Kostenträger überlassen bleiben sollte, welches Ergebnis als klinisch relevant zu bewerten ist. Diese Alternative ist kritisch zu bewerten, denn letztlich bleibt die Frage ungelöst, wie es Versicherten mit einer Abhängigkeitserkrankung ohne Entwöhnungsbehandlung ergangen wäre, da es keine kontrollierten Untersuchungen mit Vergleichsgruppen gibt.
Doch auch dieser Weg wirft weitere Fragen auf, vor allem dann, wenn die Ergebnisindikatoren (bspw. Beiträge aus versicherungspflichtiger Beschäftigung) unabhängig von den persönlichen (Psychopathologie, Suchtgeschichte, Berufsausbildung) und kontextuellen (Arbeitsmarkt, Wohnort, Mobilität) Voraussetzungen und Bedingungen der Versicherten und ohne ausreichende Berücksichtigung der Beeinflussbarkeit festgelegt werden (Amelung et al., 2013).
Wenn zukünftig Kliniken auf der Grundlage der Return-to-Work-Quote als Ergebnisindikator verglichen werden, um zum Beispiel erfolgreiche Behandlungs- und Fallmanagementprogramme zu identifizieren (vgl. Krischak et al., 2018), ist zu erwarten, dass sich Suchtrehakliniken deutlich mehr mit der Agentur für Arbeit, mit den JobCentern oder mit Berufsförderungswerken (Jankowiak et al., 2018) vernetzen müssen. So wurde schon vor Jahren eine vertraglich geregelte Kooperation zwischen Entwöhnungseinrichtungen und den Agenturen für Arbeit bzw. den Jobcentern gefordert (Bahemann et al., 2012).
Die Erwartung, dass vor der Rehabilitationsbehandlung arbeitslose oder arbeitsunfähige Rehabilitand*innen nach der Heilbehandlung eine neue Tätigkeit beginnen oder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren, setzt demnach unbedingt voraus, dass die behandelnden stationären und ambulanten Rehabilitationseinrichtungen direkt auf die kontextuellen Bedingungen des Arbeitsmarktes bzw. des bestehenden Arbeitsplatzes einwirken können, da die Wiederaufnahme einer Arbeitstätigkeit oder die Reintegration in den Arbeitsmarkt nach längerer Arbeitslosigkeit nur sehr begrenzt von der rehabilitativ-psychotherapeutischen Behandlungsplanung beeinflusst werden kann (Rekowski, 2014). Dazu kann entweder die schon geforderte enge Kooperation mit der Agentur für Arbeit oder den Jobcentern dienen, oder die berufliche Reintegration bzw. die Stabilisierung der regelmäßigen Erwerbstätigkeit muss im Rahmen der ambulanten Weiterbehandlung oder Nachsorge verstärkt in den Mittelpunkt gestellt werden, wobei die Rehabilitand*innen kontinuierlich betreut, unterstützt und beobachtet werden müssen (Kulick, 2009).
Fragestellung
Weil die Vernetzung mit der Agentur für Arbeit oder den Jobcentern eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Wiederaufnahme einer Arbeitstätigkeit vor allem für arbeitslose Rehabilitand*innen nach einer Entwöhnungsbehandlung ist, sollte mit der vorliegenden Studie untersucht werden, wie erfolgreich die Kooperation und Vernetzung mit der Agentur für Arbeit bzw. den örtlichen Jobcentern im Rahmen der stationären Entwöhnungsbehandlung gestaltet werden kann:
Wie hoch ist der Anteil der Rehabilitand*innen, für die eine Kontaktaufnahme mit der Agentur für Arbeit oder mit dem Jobcenter notwendig ist?
Wie wurde der Kontakt zur Agentur für Arbeit oder mit dem Jobcenter hergestellt?
Wie hoch ist der Anteil der Rehabilitand*innen, die während der Entwöhnungsbehandlung erfolgreich mit der Agentur für Arbeit oder mit den Jobcentern Kontakt aufnehmen konnten?
Welche Gründe gab es, dass kein Kontakt zur Agentur für Arbeit oder zum Jobcenter hergestellt werden konnte?
Methoden
Um wesentliche Indikatoren für die Zusammenarbeit zwischen der Agentur für Arbeit bzw. den Jobcentern und den an der Untersuchung beteiligten Einrichtungen zu dokumentieren, wurde durch eine Gruppe von Expert*innen der Suchtfachverbände (Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe (buss), Fachverband Drogen- und Suchthilfe (fdr+) und Fachverband Sucht (FVS)) sowie der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover die Basisdokumentation um zusätzliche Items ergänzt, auf deren Grundlage die Aktivitäten zur Förderung der beruflichen Teilhabe der Einrichtungen im Rahmen von BORA evaluiert werden können (s. Tabelle 1).
Tabelle 1: Ergänzende Items zur Dokumentation der Vernetzung im Rahmen von BORA
Die Items wurden als ergänzendes Modul in das Dokumentationssystem PATFAK (Software für stationäre Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe von der Fa. Redline Data) integriert.
Die Erhebung wurde in den Jahren 2017 (n=1.839), 2018 (n=1.961) und 2019 (=1.874) durchgeführt und umfasste ausschließlich Versicherte der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover (insgesamt n=5.674). Folgende Fachkliniken, die alle in der Federführung der DRV Braunschweig-Hannover liegen, haben sich an der Datenerhebung beteiligt:
Fachklinik Nettetal
Fachklinik Hase-Ems
Haus Möhringsburg
Fachklinik Bassum
Haus Niedersachsen
Klinik am Kronsberg
Fachklink Südergellersen
Therapiezentrum OPEN
Fachklinik Erlengrund
Klinik am Park
Die Datensätze der einzelnen Entlassungsjahrgänge wurden jeweils im Folgejahr von diesen Einrichtungen zusammen mit den Daten des Deutschen Kerndatensatzes (KDS 3.0) eingesammelt. Die Datensammlung, Auswertung und Ergebnisdarstellung wurde von der Firma Redline Data übernommen. Es wurden lediglich deskriptive Statistiken durchgeführt.
Ergebnisse
Bei etwas mehr als der Hälfte der Rehabilitand*innen wurde während der Reha die Kontaktaufnahme zum Jobcenter als erforderliche Maßnahme identifiziert (s. Tabelle 2).
Tabelle 2: Kontaktaufnahme zu Jobcenter / Agentur für Arbeit erforderlich
79,9% der Rehabilitand*innen, bei denen eine Kontaktaufnahme zur Agentur für Arbeit oder zum Jobcenter notwendig war, waren unter 50 Jahre alt. In dieser Gruppe waren 53,9% wegen einer Alkoholabhängigkeit in der Entwöhnungsbehandlung, 34,2% wegen einer Abhängigkeit von illegalen Drogen (Opioide, Cannabis, Kokain, Stimulanzien) und 6,4% Prozent waren mehrfachabhängig. 59,1% der Rehabilitand*innen waren zum Zeitpunkt der Befragung bereits Empfänger von Arbeitslosengeld II.
Die genauere Analyse der erforderlichen Kontaktaufnahme im Verhältnis zum Erwerbsstatus zeigt ein nicht überraschendes Bild: Von den Rehabilitand*innen, bei denen keine Kontaktaufnahme erforderlich war, machen Erwerbspersonen mit 67,5% den größten Anteil aus. Bei den Fällen mit erforderlicher Kontaktaufnahme ist die große Mehrheit (78,1%) arbeitslos (s. Tabelle 3). Die einzelnen Kategorien wurden wie folgt zusammengefasst:
Bei der Frage, ob der Kontakt für die Rehabilitand*innen, bei denen der Kontakt zum Jobcenter bzw. zur Arbeitsagentur erforderlich war, auch erfolgreich hergestellt werden konnte, zeigt sich, dass das nur bei etwas mehr als der Hälfte der Fälle gelungen ist (52,0%; s. Tabelle 4).
Tabelle 4: Erfolg der Kontaktaufnahme
Zur Frage nach den genutzten Kontaktwegen fällt der sehr geringe Anteil „Online“ auf (4,5%). Die übrigen Kontaktoptionen werden zu etwa gleichen Teilen genutzt, wobei die telefonische Kontaktaufnahme etwas überwiegt (38,0%; s. Tabelle 5).
Tabelle 5: Nutzung verschiedener Kontaktwege
Bei der Frage nach den Kontaktwegen ist zu beachten, dass hier eine Mehrfachauswahl möglich war. Die Antworten zu den einzelnen Kontaktwegen beziehen sich nur auf 2.054 Rehabilitand*innen (66,3%), die mindestens einen Kontaktweg genutzt haben. 27,7% der Rehabilitand*innen haben mehr als einen Kontaktweg genutzt (s. Tabelle 6).
Tabelle 6: Anzahl der genutzten Kontaktwege
Problematisch sind die Fälle, bei denen der Kontakt nicht erfolgreich war (n=1.454; s.a. Tabelle 4). Es ist davon auszugehen, dass ein nicht unerheblicher Anteil der Rehabilitand*innen, die keinen Kontakt zur Agentur oder zum Jobcenter herstellen konnten, auch gar nicht erst versucht hat, einen der Kontaktwege zu nutzen (n=1.045; s.a. Tabelle 6). Daraus lässt sich aber auch erkennen, dass bei 409 Fällen trotz Nutzung einer Kontaktoption kein Kontakt zustande kam.
Wenn die Kontaktaufnahme zum Jobcenter bzw. zur Arbeitsagentur nicht erfolgreich war, stellt sich die Frage nach den Gründen. Bei der Konzeption der Datenerhebung wurden von der Gruppe der Expert*innen zunächst mehrere mögliche Gründe aus der klinischen Erfahrung zusammengestellt und als Kategorien vorgegeben. Plausibel erscheint das Ergebnis, dass in 16,2% der Fälle das Jobcenter bzw. die Arbeitsagentur die Kontaktherstellung für die Zeit nach der Reha plant, weil erst an dieser Stelle die eigene Zuständigkeit gesehen wird (s. Tabelle 7).
Tabelle 7: Gründe für nicht erfolgten Kontakt
Es hat sich gezeigt, dass die Gründe, warum es nicht zu einer Kontaktaufnahme mit der Agentur oder dem Jobcenter kam, sehr unterschiedlich sein können und mit den vorgegebenen Antwortkategorien nur unzureichend erfasst werden konnten. Nach Rücksprache mit den an der Untersuchung teilnehmenden Einrichtungen verbergen sich hinter den „sonstigen Gründen“, die eine erfolgreiche Kontaktaufnahme verhindert haben, z. B. folgende Aspekte:
Jobcenterwechsel nach Wohnortwechsel kurz vor/nach der Entlassung,
Misstrauen gegenüber der Arbeitsverwaltung aufgrund negativer Vorerfahrungen,
realistische Möglichkeit, eine Arbeit aufgrund eigener Initiative aufzunehmen,
kein Kontakt aufgrund von vorzeitigem Behandlungsende,
Rehabilitand*in bevorzugt eigene Lösung und lehnt jede Hilfe ab,
Rehabilitand*in verfolgt ein Rentenbegehren und lehnt jede Hilfe ab,
negative sozialmedizinische Prognose.
Für den Entlassungsjahrgang 2019 wurde diese weitergehende Ursachenanalyse ausgewertet (s. Tabelle 8). Hervorzuheben ist hier, dass bei etwa einem Viertel der Fälle die Eigeninitiative der Rehabilitand*innen im Vordergrund steht und ggf. zu einer Arbeitsaufnahme führen kann (Kategorie 4 = 12,5% und Kategorie 6 = 12,1%).
Tabelle 8: Differenzierte Analyse der Gründe für nicht erfolgten Kontakt
Wenn der Kontakt zum Jobcenter bzw. zur Arbeitsagentur hergestellt werden konnte (n=1.613), wurde mit dem letzten Item erfasst, wie der Beratungsprozess weiter verlaufen ist (s. Tabelle 9). Bei etwa einem Drittel der Fälle hat noch während der Reha ein erster Beratungstermin stattgefunden, bei weniger als 20% der Fälle konnte kein Beratungstermin vereinbart werden. Die häufigste Option mit 46,8% (n=755) ist die Vereinbarung eines Termins für die Zeit nach der Reha. Zu berücksichtigen sind in diesem Zusammenhang auch die Fälle ohne erfolgreiche Kontaktaufnahme, bei denen schon der Erstkontakt auf die Zeit nach der Reha verschoben wurde (n=236; s.a. Tabelle 7).
Tabelle 9: Vereinbarung eines Beratungstermins
Zusammenfassung und Diskussion
Mit der vorliegenden Auswertung der Zusatzitems zur „Erfassung der Aktivitäten zur Verbesserung der beruflichen Teilhabe in der Suchtrehabilitation an der Schnittstelle zu Jobcenter und Arbeitsagentur“ konnten erstmalig Daten zu dieser, für das Rehabilitationsziel der Deutschen Rentenversicherung sehr bedeutsamen Fragestellung vorgelegt werden. Es hat sich gezeigt, dass für mehr als die Hälfte der Rehabilitand*innen in der Entwöhnungsbehandlung ein Kontakt zur Agentur für Arbeit bzw. dem Jobcenter erforderlich ist, um die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt nach erfolgter erfolgreicher Behandlung zu organisieren und umzusetzen. Insbesondere die arbeitslosen Rehabilitand*innen sind am Ende ihrer Behandlung auf eine möglichst engmaschige Betreuung angewiesen, nicht nur, um die verschiedenen persönlichen und arbeitsmarktbedingten Vermittlungshemmnisse überwinden zu können, sondern auch, um nicht schon an der Schwelle zwischen Entlassung und Alltag in Misserfolgserlebnisse zu geraten, die das Rückfallrisiko erhöhen. Diese Betreuung ist vor allem angesichts der Tatsache notwendig, dass ein Großteil der arbeitslosen Rehabilitand*innen unter 50 Jahre alt ist. Vor diesem Hintergrund ist es problematisch, dass bei nur etwa der Hälfte der ratsuchenden Personen eine Kontaktaufnahme zur Agentur für Arbeit bzw. zum Jobcenter erfolgreich war. Bei lediglich 34% der Rehabilitand*innen, die einen Kontakt herstellen konnten, fand noch während der Entwöhnungsbehandlung ein Termin statt, was etwa 17% der betreuungsbedürftigen Rehabilitand*innen entspricht, für die der Kontakt zur Agentur für Arbeit bzw. zum Jobcenter notwendig war. Bei rund 47% der Rehabilitand*innen mit erfolgreicher Kontaktaufnahme wurde zwar ein Beratungstermin für die Zeit nach der Entwöhnungsbehandlung geplant, es bleibt jedoch offen, ob der Termin tatsächlich von den Versicherten wahrgenommen wurde. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass sich die Verteilung auf die einzelnen Kategorien der verschiedenen Items zwischen den Jahrgängen nur unwesentlich unterscheidet.
Im Rahmen des von der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover angebotenen Fallmanagements (Piegza et al., 2013) hat sich in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass die vereinbarten Termine nach Entlassung aus der Entwöhnungsbehandlung nicht mehr zustande kamen. Die Einschränkung, dass sogar die Kontaktherstellung erst nach erfolgter Entwöhnungsbehandlung erfolgen soll, erschwert die Betreuung der Rehabilitand*innen, für die gerade die Entlassung ein kritischer Zeitpunkt ist, zusätzlich.
Unsere Untersuchung unterstreicht die Ergebnisse von Henke (2019), die zeigen konnte, dass nur etwa 30% der arbeitslosen Rehabilitand*innen nach einer Entwöhnungsbehandlung nahtlos vom Jobcenter weiterbetreut wurden, 43% nur manchmal und 14% der Rehabilitand*innen fast nie.
Unsere Untersuchung zeigt aber auch, dass die Vernetzung mit dem nachbetreuenden System zur Wiedereingliederung in eine Arbeitstätigkeit nicht nur von den Kontaktmöglichkeiten der Agentur für Arbeit bzw. der Jobcenter abhängt. Ein nicht unerheblicher Teil der Versicherten, für die eine Beratung durch die Agentur oder das Jobcenter angezeigt wäre, lehnte die Kontaktaufnahme aus persönlichen Gründen, wegen schlechter Erfahrungen oder deswegen ab, weil sie sich selbst um eine Arbeitsaufnahme kümmern wollten. Vor dem Hintergrund, dass es nur wenigen arbeitslosen Rehabilitand*innen nach der Entwöhnungsbehandlung gelingt, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, sollte die Zurückweisung von Hilfsangeboten im therapeutischen Prozess kritisch hinterfragt bzw. in der nachstationären Phase engmaschig begleitet werden (Kulick, 2009).
Die insgesamt nur teilweise erfolgreiche Kooperation mit der Agentur für Arbeit und den Jobcentern auf der einen Seite und die mangelnde bzw. unzuverlässige Inanspruchnahme von Fallmanagementangeboten durch die Rehabilitand*innen nach erfolgter Entwöhnungsbehandlung auf der anderen Seite erfordern möglicherweise eine Intensivierung bestehender Konzepte des „supported employment“ (Viering et al., 2015) bzw. des therapeutisch begleiteten Fallmanagements, z. B. im Rahmen der ambulanten Weiterbehandlung.
Es sollte deutlich geworden sein, dass zur Wiedereingliederung der doch erheblichen Anzahl arbeitsloser Abhängigkeitserkrankter eine multiprofessionelle bzw. institutionsübergreifende Betreuung und Begleitung notwendig ist, um erfolgreich sein zu können, vor allem dann, wenn die Versicherten nicht durch Leistungen zur beruflichen Rehabilitation unterstützt werden können. Unsere Ergebnisse zeigen, dass trotz der Bemühungen der Rehabilitationseinrichtungen, die Vernetzung zu initiieren, vermutlich nur ein kleiner Anteil im nachfolgenden System ankommt. Sie zeigen aber auch, dass wenn die Vernetzung nur unzureichend funktioniert, bestehende BORA-Konzepte noch mehr hinsichtlich erfolgreicher beruflicher Wiedereingliederung ausgerichtet sein müssen. Dazu kann die engere Zusammenarbeit mit Berufsförderungswerken (Jankowiak et al., 2018; Renkowski, 2014), der bedarfsgerechte Ausbau des Fallmanagements im Rahmen der ambulanten Weiterbehandlung bzw. der Nachsorge, aber auch die Prüfung wohnortnaher Möglichkeiten für die Entwöhnungsbehandlung für Arbeitslose dienen, da sich zeigt, dass die Kontaktaufnahme mit der Agentur für Arbeit oder mit dem Jobcenter erschwert ist, wenn die medizinische Rehabilitation wohnortfern durchgeführt wird. Möglicherweise relativiert sich dieser Aspekt, wenn die Online-Kontaktaufnahme stärker genutzt wird.
Prof. Dr. Andreas Koch, ehem. Geschäftsbereichsleitung Suchthilfe / Kinder- und Jugendhilfe, Deutscher Orden Ordenswerke, Weyarn (bis 30.04.2020); Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung, Hennef PD Dr. Axel Kobelt-Pönicke, Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover, Hauptabteilung 1 Leistung, Rehastrategie – Psychische Erkrankungen, Laatzen; Universität Hildesheim, Institut für Psychologie, Abt. Klinische Psychologie und Psychotherapie, Hildesheim Dirk Laßeur, Leiter der Stabsstelle Qualitätsmanagement der CRT Caritas-Reha und Teilhabe GmbH, Osnabrück Moritz Radamm, Leiter der Klinik am Kronsberg, Fachabteilungsleitung Behandlung, STEP gGmbH, Hannover
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Leiter des Fachkrankenhauses Vielbach, Sucht-Hilfe-Zentrum Vielbach
Interview vom 13.05.2020
Michael Leydecker
Leiter der Suchtberatung Landkreis Dahme-Spreewald, Wildau
Interview vom 11.05.2020
Michael Frommhold
Geschäftsführer des Notdienstes für Suchtmittelgefährdete und abhängige Berlin e.V.
Interview vom 11.05.2020
Dr. Wibke Voigt
Chefärztin der Fachklinik Kamillushaus, Essen
Vorstandsvorsitzende des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss)
Interview vom 08.05.2020
Carola Bau
Mitglied der Geschäftsleitung und Prokuristin der STEP gGmbH, Hannover
Interview vom 07.05.2020
Marcus Breuer
Leiter der Würmtalklinik Gräfelfing und des Adaptionshauses Kieferngarten, München
Interview vom 30.04.2020
Prof. Dr. Andreas Koch
ehem. Geschäftsbereichsleitung Suchthilfe / Kinder- und Jugendhilfe, Deutscher Orden Ordenswerke, Weyarn (bis 30.04.2020), Statement vom 05.05.2020
Wolfgang Indlekofer
Therapeutischer Gesamtleiter der Rehaklinik Freiolsheim, Gaggenau-Freiolsheim
Interview vom 05.05.2020
Martin Hoppe
Leiter der Fachklinik Bassum, Therapiezentrum Niedersachsen-Bremen gGmbH
Interview vom 07.05.2020