Kategorie: Fachbeiträge

  • Die Deutsche Suchthilfestatistik – DSHS

    Die Deutsche Suchthilfestatistik – DSHS

    1.     Einleitung

    Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel
    PD Dr. Larissa Schwarzkopf

    Die Deutsche Suchthilfestatistik (DSHS) ist ein bundesweites Dokumentationssystem, das dazu dient, zentrale Charakteristika des Suchthilfesystems und seiner Klientel zu dokumentieren. Die DSHS beschreibt wichtige Veränderungen im Bereich der Suchthilfe sowohl hinsichtlich der behandelten Population als auch in Bezug auf die Betreuung selbst. Betreuung bedeutet hier die gesamte Bandbreite der von Suchthilfeeinrichtungen angebotenen Leistungen von der Beratung bis hin zur Behandlung. Diese Informationen werden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Damit ist die DSHS europaweit eines der größten Monitoringsysteme im Betreuungs-/Behandlungsbereich von Suchterkrankungen.

    Die Anfänge der Deutschen Suchthilfestatistik liegen in den späten 1970ger Jahren, als im Rahmen eines Modellprojektes ein erster einheitlicher Datensatz für die Dokumentation in der Suchthilfe (Bundesdatensatz) entwickelt und erprobt wurde (Hachmann & Bühringer, 1980). Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) hat darauf aufbauend 1998 die erste Version eines Kerndatensatzes (KDS) „Klient“ herausgebracht. Es folgten 1999 der Kerndatensatz „Einrichtung“ und 2000 ein erster Kerntabellensatz (standardisierte Auswertung in Kreuztabellen). Eine erste umfassende Überarbeitung erfolgte 2007 („neuer KDS“; zuletzt DHS, 2010). Im Rahmen einer zweiten Überarbeitung entstand der KDS 3.0 (DHS, 2020), der seit 2017 die Dokumentations- und Datengrundlage der DSHS bildet.

    Der KDS 3.0 setzt sich aus dem Kerndatensatz „Einrichtung“ (KDS-E), in dem Einrichtungsmerkmale erfasst werden, und dem Kerndatensatz „Fall“ (KDS-F), in dem für jeden betreuten Fall soziodemographische sowie problem- und betreuungsbezogene Merkmale erfasst werden, zusammen. Die mit dem Inkrafttreten des KDS 3.0 verbundenen umfangreichen inhaltlichen Neuerungen wurden an anderer Stelle detailliert beschrieben (Braun & Lesehr, 2017). Besonders hervorzuheben ist die nun verringerte Anzahl der erfassten Einrichtungstypen (sieben statt vorher 16) verbunden mit differenzierten Dokumentationsmöglichkeiten für die in den Einrichtungen angebotenen Maßnahmen im KDS-E. Für den KDS-F bestehen die bedeutsamsten Änderungen in der Trennung von Konsummustern und Diagnosen, der Erfassung vielschichtiger psychosozialer Problembereiche zu Betreuungsbeginn und -ende sowie einer veränderten Erfassung der Konsummengen.

    Dieser Beitrag hat das Ziel, die für die Erstellung der DSHS zentralen Prozesse darzustellen und grundlegende Begriffe einzuführen. Zu diesem Zweck werden zunächst die an der DSHS beteiligten Partner*innen vorgestellt. Anschließend wird der gesamte Datenmanagementprozess ausgehend von Datenerfassung und -versand über Datensammlung und -verarbeitung bis hin zur Erstellung der Auswertungen beschrieben. Zuletzt werden die aus diesen Daten entstehenden Veröffentlichungen benannt.

    2. Strukturen und Prozesse der DSHS

    2.1. Beteiligte Institutionen und Gremien

    Die bundesweite Datenerhebung und Auswertung der DSHS wird im Rahmen eines jahresweise ausgeschriebenen Projekts durch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) gefördert. Antragsteller ist hierbei das IFT Institut für Therapieforschung München, das eng mit dem Unterauftragnehmer Gesellschaft für Standarddokumentation und -auswertung, Mainburg, (GSDA) zusammenarbeitet. Das IFT ist für die Projektdurchführung sowie die Veröffentlichung der Auswertungen verantwortlich, während die institutionell getrennte GSDA für die Datensammlung und -verarbeitung zuständig ist.

    Abbildung 1 beschreibt sämtliche an der DSHS beteiligten Partner*innen sowie grundlegende Gremienstrukturen:

    • Die Datenerhebung erfolgt auf der Ebene der teilnehmenden Suchthilfeeinrichtungen, die durch ihre übergeordneten Fach- und Wohlfahrtsverbände in den Gremien vertreten sind. Vertreter*innen der Verbände bilden den Fachbeirat Suchthilfestatistik, der über die grundlegende Ausrichtung und über Auswertungen und Veröffentlichungen der DSHS entscheidet. Vertreter*innen des IFT und der GSDA gehören dem Fachbeirat als ständige Gäste an.
    • Dem Fachausschuss Statistik der DHS gehören an: Vertreter*innen von IFT, GSDA, BMG und Softwareanbietern, Repräsentant*innen der an Datenhaltung, -sammlung und -lieferung beteiligten Institutionen (Länder, Verbände, Kostenträger) sowie weitere Beteiligte (Städtetag, Vertreter*innen von Wissenschaft und Praxis). Zu den Aufgaben des Fachausschusses Statistik gehört die Überarbeitung des KDS und die Festlegung von Lösungsstrategien zu anwendungs- und auswertungsbezogenen Fragestellungen.
    • Zudem hat die Projektleitung der DSHS einen Gaststatus in der aus Vertreter*innen von Bund, Ländern, Verbänden und Kostenträgern zusammengesetzten AG DSHS Die AG DSHS widmet sich einer Vereinheitlichung der Suchthilfestatistik, was insbesondere die Harmonisierung von Datenerhebung und -nutzung sowie abgestimmte Vorgehensweisen zur Formulierung, Begleitung und Durchsetzung gemeinsamer Standards umfasst. Sie wird durch die Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD) einberufen und fungiert gegenüber der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) als Expertengremium.
    Abbildung 1: Gremienstrukturen der Deutschen Suchthilfestatistik und ihre beteiligten Institutionen. BMG = Bundesministerium für Gesundheit, DSHS = Deutsche Suchthilfestatistik, DBDD = Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht, GSDA = Gesellschaft für Standarddokumentation und -auswertung, IFT = Institut für Therapieforschung

    2.2. Prozesse

    Abbildung 2 gibt einen schematischen Überblick über das Datenmanagement im Rahmen der DSHS. Diese Kernprozesse werden im Folgenden näher beschrieben.

    Abbildung 2: Datenflüsse im Rahmen der Deutschen Suchthilfestatistik

    2.2.1. Prozesse innerhalb der Einrichtung

    Datenerhebung

    In den Suchthilfeeinrichtungen wird für jede einzelne Einrichtung der Einrichtungsdatensatz (KDS-E) und für jeden einzelnen Betreuungsfall ein Kerndatensatz Fall (KDS-F) erhoben. Diese fallweise Betrachtung ist im Gesundheitswesen durchaus üblich (z.B. Arztfälle, Krankenhausfälle) und bedingt, dass eine Person mit unterschiedlichen Betreuungsepisoden im Beobachtungszeitraum mit mehreren Fällen in die DSHS eingeht.

    Die Datenerhebung innerhalb der Einrichtungen erfolgt dabei (in der Regel) elektronisch unter Einsatz verschiedener Softwaresysteme. In die DSHS gehen ausschließlich solche Daten ein, die mittels zertifizierter Systeme erhoben wurden, die bestimmte Vorgaben hinsichtlich Datenerfassung und -aggregation erfüllen. Die Zertifizierung erfolgt innerhalb der DSHS durch die GSDA.

    Aggregation und Datenexport

    Am Ende eines Erhebungsjahres werden alle Fälle in der Einrichtung aggregiert, d.h. nach zuvor definierten Vorschriften abgefragt und aufaddiert. Zu diesem Zweck stellt die DSHS den Softwareanbietern ein entsprechendes Programm zu Verfügung, das diese an die Einrichtungen (ihre Kund*innen) weiterleiten.

    Im Rahmen der Aggregierung entstehen verschiedene Auswertungsdateien über die einzelnen KDS-Items, die jeweils keine personenbezogenen Daten mehr enthalten (Tabellen). Diese sind bedingt durch die Zusammenfassung der einzelnen Fälle anonymisiert. Eine Aggregierung über einzelne Hauptmaßnahmen findet nur statt, wenn mindestens zehn Fälle eingehen, um valide Auswertungen zu gewährleisten. Die einzelnen aggregierten Ergebnisdateien werden einrichtungsweise in einem Tabellenband gebündelt und elektronisch an die GSDA übermittelt. Alle personenbezogenen Rohdaten verbleiben zu jedem Zeitpunkt in den Einrichtungen.

    2.2.2. Prozesse innerhalb der GSDA, der zentralen Datensammelstelle

    Mit dem Versand der auf Einrichtungsebene aggregierten Daten an die GSDA beginnt die Phase der Datensammlung und -verarbeitung, die mit der Erstellung einrichtungsübergreifender Tabellenbände endet. Der idealtypische Zeitablauf dieses Prozesses ist in Tabelle 1 zusammengefasst.

    Tabelle 1: Zeitlicher Ablauf von der Datensammlung bis zur Tabellenbanderstellung

    Plausibilitätsprüfung

    Nach Ende der Annahmefrist für Daten des Vorjahres (in der Regel 31.03. des Folgejahres) wird eine Liste der teilnehmenden Einrichtungen an die Verbände und Bundesländer versandt. Diese haben dann die Möglichkeit, Einrichtungen, die bis dato noch keine Daten geliefert haben, zur Teilnahme zu motivieren. So lässt sich die Anzahl der teilnehmenden Einrichtungen erhöhen.

    Nach Eingang der Daten finden bei der GSDA umfangreiche Kontrollmaßnahmen statt. Jeder Dateneingang wird auf technische Vollständigkeit und Korrektheit geprüft, um mögliche Fehlerquellen bei der Dokumentation und Aggregation frühzeitig zu identifizieren. Darüber hinaus finden zahlreiche Analysen statt, um eventuell vorhandene generelle Datenfehler (z.B. Programm- oder Exportfehler einzelner Softwaresysteme) zu identifizieren. Die GSDA spiegelt jedes beobachtete Problem an die liefernde Einrichtung zurück und leitet eine einzelfallbezogene Aufklärung in die Wege. Darüber hinaus werden zahlreiche softwaresystembezogene Auswertungen vorgenommen, um ggf. vorhandene generelle Datenfehler, die durch Programm- oder Exportfehler einzelner Softwaresysteme entstanden sind, systemspezifisch zu identifizieren und mit den Anbieter*innen abzuklären.

    Meta-Aggregierung zu Gesamttabellenbänden

    Nach Abschluss dieser Plausibilitätsprüfung nimmt die GSDA eine Addition der eingegangenen einrichtungsspezifischen Tabellenbände zu einem einzigen einrichtungsübergreifenden Gesamttabellenband vor (Meta-Aggregierung). Generell werden aus Datenschutzgründen itembezogene Tabellen nur unter der Voraussetzung erstellt, dass die Daten von mindestens drei Einrichtungen eingegangen sind. So wird verhindert, dass bei nur zwei datenliefernden Einrichtungen Angaben identifizierbar werden.

    Zudem ist bei der Erstellung der übergeordneten Tabellen der „Missingwert“ zu beachten. Dieser Wert legt fest, in wie vielen Fällen (maximaler Prozentwert) Angaben zu einem bestimmten Item fehlen dürfen, damit die Daten einer Einrichtung für diese Tabelle berücksichtigt werden. Der Missingwert liegt standardgemäß bei 33 Prozent. Somit geht in eine Tabelle jede Einrichtung ein, für die bei der entsprechenden Item-Kombination maximal 33 Prozent der Angaben fehlen. Dies führt zu einer Steigerung der Datenvalidität. Der Missingwert für die einzelnen Tabellen bewegt sich im Mittel um die fünf Prozent.

    2.2.3. Auswertungen am IFT

    Ist der einrichtungsübergreifende Gesamttabellenband erstellt, beginnt das IFT mit den ambulanten und stationären Hauptauswertungen. Die Auswertungen für die DSHS basieren auf einem Kerntabellensatz, der im Fachausschuss Statistik konsentiert wurde (siehe KDS-Manual, DHS, 2017). Diese Kreuztabellen aus einzelnen Items des KDS berücksichtigen unterschiedliche Stichproben und wenden verschiedene Filter an. Im Folgenden werden solche Stichprobenziehungen und Filterungen als Läufe bezeichnet. Hierbei wird zwischen „Standardläufenund jahresweise wechselnden Sonderläufen unterschieden. Standardläufe werden jedes Jahr in unveränderter Form sowohl für die Gesamtpopulation als auch stratifiziert nach Geschlecht durchgeführt. Sonderläufe adressieren einmalig bestimmte, vorab definierte Fragestellungen.

    Die Bezugsgröße der Auswertungen sind wie oben beschrieben grundsätzlichBetreuungsepisoden und nicht hilfesuchende Personen. Auf Einrichtungsebene kann eine Doppelzählung dadurch vermieden werden, dass nur die erste Betreuungsepisode in die Aggregierung eingeht. Die Problematik von Mehrfacherfassungen innerhalb der DSHS wird so auf die Nutzung von Hilfsangeboten in unterschiedlichen Einrichtungen reduziert.

    Die wichtigsten Stichproben und Filter werden im folgenden Abschnitt dargestellt.

    Stichproben für Standardläufe

    Alle Betreuungen: In diesem Lauf sind alle Betreuungsepisoden enthalten, die innerhalb eines Jahres dokumentiert wurden, unabhängig davon, ob die Maßnahme im Auswertungsjahr begonnen bzw. beendet wurde oder ob es sich um Übernahmen aus dem Vorjahr bzw. ins Folgejahr handelt. So lassen sich auch Langzeitbetreuungen abbilden.

    Zugänge/Beender: Dieser Lauf umfasst lediglich Betreuungsepisoden, die innerhalb des Auswertungsjahres begonnen oder beendet wurden. Übernommene Fälle aus dem Vorjahr und Übernahmen in das Folgejahr bleiben unberücksichtigt. Aktuelle Veränderungen können so besser beobachtet werden, da Langzeitbetreuungen nicht berücksichtigt sind. Die Zugänge-Stichprobe wird dabei für Basis-, Verwaltungs-/Zugangs-, soziodemographische sowie Konsum- und Diagnosedaten herangezogen. Die Beender-Stichprobe wird für Angaben zu Maßnahmen/Interventionen und Abschlussdaten herangezogen.

    Beender: Dieser Lauf enthält lediglich jene Betreuungsepisoden, die im Laufe des jeweiligen Jahres abgeschlossen wurden. Diese Selektion wird vor allem für den stationären Bereich verwendet, wo Entlassjahrgänge die übliche Bezugsgröße für Leistungserbringer und Kostenträger darstellen.

    Erstbehandelte: Dieser Lauf enthält nur die Betreuungsepisoden von Personen, die vor der aktuell dokumentierten Episode noch niemals suchtbezogene Hilfe in Anspruch genommen haben.

    Ohne Einmalkontakte: Dieser Lauf lässt Personen, die lediglich für einen einzigen Kontakt in der Einrichtung vorstellig wurden, unberücksichtigt. Dadurch wird der Missingwert auf Itemebene gesenkt, da im ambulanten Setting über Basisvariablen hinaus gehende Informationen häufig erst im Verlauf der Betreuung, also nach mehreren Kontakten, erfasst werden. Im stationären Setting besteht die Behandlungsepisode definitionsgemäß aus einem einzigen (eine gewisse Zeitspanne umfassenden) Kontakt, so dass hier die Regelung für Einmalkontakte nicht greift.

    TDI-Selektion: Auf europäischer Ebene (treatment demand indicator/TDI; European Monitoring Center for Drugs and Drug Addiction, 2012) soll jeweils die erste Inanspruchnahme suchtbezogener Hilfen im jeweiligen Datenjahr berichtet werden. Anhand einer KDS-Filterfrage werden daher Fälle ausgeschlossen, die im laufenden Jahr bereits suchtbezogene Hilfen in Anspruch genommen haben. Ergänzend wird die Stichprobe mit der ersten Betreuungsepisode in der jeweiligen Einrichtung berücksichtigt. Abweichend vom üblichen Prozedere (33 Prozent Missingwert) findet bei der TDI-Selektion ein Missingwert von 100 Prozent Anwendung (siehe auch 3.2.3).

    Tabelle 2 bietet eine Übersicht über die seit dem Datenjahr 2017 gültigen Standardläufe. Hierbei lassen sich die Läufe sowohl gegliedert nach Einrichtungstyp (ambulant vs. stationäre Rehabilitationsmaßnahmen) als auch gegliedert nach den angebotenen Maßnahmen (z.B. Niedrigschwellige Hilfen, Adaption, Ambulant Betreutes Wohnen) durchführen. Lauf 12 Alle Bezugspersonen dient ausschließlich als Information für die Einrichtungen und geht nicht in die Veröffentlichungen der DSHS ein.

    Tabelle 2: Standardläufe der Deutschen Suchthilfestatistik seit dem Datenjahr 2017. ZB = Zugänge/Beender, EK = Einmalkontakte, Haupt-MN = Hauptmaßnahme, HD = Hauptdiagnose, PSB = Psychosoziale Betreuung

    Inhaltliche Filtervariablen/Sonderläufe

    Grundsätzlich kann jedes KDS-Item als Filter für einen (einmaligen oder periodisch wiederkehrenden) Sonderlauf dienen. Hierbei werden besonders häufig Diagnosen (z.B. opioidbezogene Störung, Pathologisches Glücksspiel), klientenbezogene Charakteristika (z.B. Erwerbssituation, Alter, Migrationshintergrund) oder Aspekte des Betreuungsverlaufs (z.B. Art der Beendigung, Weitervermittlung) genutzt. Grundsätzlich lassen sich auch mehrere Filter kombinieren (z.B. Fälle ab 60 Jahren mit einer alkoholbezogenen Hauptdiagnose).

    Regionalauswertungen

    Neben den bundesweiten Tabellenbänden werden für den ambulanten Bereich Tabellenbände auf Landesebene erstellt und den jeweils zuständigen Ministerien zur Verfügung gestellt. Für einige Spezialauswertungen existieren zudem regionale Tabellenbände.

    Ermittlung der Beteiligungsquote

    Die DBDD hat in den Jahren 2006/2007 im Rahmen eines vom BMG geförderten Projekts ein zentrales Register deutscher Suchthilfeeinrichtungen aufgebaut (Süß & Pfeiffer-Gerschel, 2009), in dem jede Einrichtung über ihren Einrichtungscode eindeutig identifizierbar ist. Durch Abgleich mit den Dateneingängen aus der DSHS lässt sich feststellen, welche der registrierten Einrichtungen sich an der Erhebung beteiligen. Das nicht-öffentliche Register ermöglicht somit eine Abschätzung der Beteiligungsquote (siehe hierzu Süß & Pfeiffer-Gerschel, 2011), wodurch Rückschlüsse auf die Repräsentativität der DSHS-Daten gezogen werden können. Das Register wird zu diesem Zweck im Rahmen der DSHS weitergeführt und regelmäßig aktualisiert. Hierbei werden die Rückmeldungen der angeschriebenen Suchthilfeeinrichtungen zu Einrichtungstyp und Angebot bedarfsweise an systematische Veränderungen innerhalb des KDS angepasst.

    2.3. Datenschutz-Aspekte

    Die Erhebung und Dokumentation der Daten in den Einrichtungen erfolgt teilweise gemäß sozialrechtlich definierten Vorgaben unter Berücksichtigung der gesetzlichen Auflagen zum Sozialdatenschutz (insb. SGB X). Dies trifft auf Leistungen zu, auf die ein gesetzlich begründeter Anspruch besteht (bspw. Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation). Viele andere Maßnahmen, insbesondere ambulante Beratungsleistungen, stellen demgegenüber Angebote dar, die nicht in den sozialrechtlichen Kontext eingebettet sind. Infolgedessen greifen die Regelungen des SGB X hier nicht, und die Erhebung und Speicherung personenbezogener Daten auf Einrichtungsebene ist nur mit Einwilligung der Betroffenen und unter Wahrung der Vorgaben des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG zulässig.

    Die Lieferung der Daten aus den Einrichtungen an die DSHS erfolgt auf freiwilliger Basis, ohne dass hierfür eine gesetzliche Verpflichtung besteht. Hierfür verlassen die Daten die Einrichtungen in aggregierter Form. Es liegen also keine personenbezogenen, gesundheitsbezogenen und damit besonders schutzbedürftigen Daten im Sinne der einschlägigen Datenschutzgesetze vor. Die dort beschriebenen Vorgaben zum Datenschutz finden demnach keine Anwendung.

    Somit haben auch die umfassenden datenschutzrechtlichen Regelungen, die das Inkrafttreten der EU-Datenschutzgrundverordnung (EU-DSGVO) mit sich gebracht hat, keinen Einfluss auf den Datenaustausch innerhalb der DSHS. Schließlich ist aufgrund der aggregierten Datenlieferung keine Rückverfolgung einzelner Personen möglich.

    3. Ergebnisse und ihre Verwertung

    3.1. Standardläufe in Tabellenform

    Ausgewählte bundesweite Tabellenbände der Standardläufe sind im Download-Bereich der DSHS-Website als Excel-Arbeitsmappen öffentlich zugänglich, so dass die einzelnen Einrichtungen Ihre eigenen Daten mit dem bundesweiten Durchschnitt vergleichen können. Bei der Stichprobe „Alle Betreuungen“ werden die bundesweiten Tabellenbände grundsätzlich für alle sieben Einrichtungstypen öffentlich gemacht. Die Stichprobe „Zugänge/Beender“ wird für alle Einrichtungstypen mit Ausnahme der stationären Rehabilitationseinrichtungen bereitgestellt, die Stichprobe der „Beender“ wird nur für die stationären Rehabilitationseinrichtungen bereitgestellt. Die Einrichtungstypen sind: Typ 1 Ambulante Einrichtung, Typ 2 Stationäre Rehabilitationseinrichtung, Typ 3 Krankenhaus/-abteilung, Typ 4 Ärztliche/Psychotherapeutische Praxis, Typ 5 Soziotherapeutische Einrichtungen/Eingliederungshilfe/Hilfen zur Überwindung besonderer Schwierigkeiten, Typ 6 Einrichtung im Strafvollzug und Typ 7 Andere (z.B. Pflegeheim, Maßregelvollzug). Einrichtungen der Typen 4 und 7 beteiligen sich bislang jedoch nicht in hinreichend großer Zahl an der DSHS, so dass hier derzeit keine Daten vorliegen.

    3.2. DSHS-Berichterstattung

    Standardberichterstattung – Onlinebericht

    Im Jahresbericht der DSHS („Suchthilfe in Deutschland“; zuletzt Dauber et al., 2019) werden soziodemographische, störungs- sowie betreuungsbezogene Basisparameter der hilfesuchenden Klientel vorgestellt. Hierbei differenziert der KDS 3.0 nach ambulanten und stationären Einrichtungen. Zusätzlich erfolgt eine nach den wichtigsten Hauptmaßnahmen (unabhängig vom Einrichtungstyp) stratifizierte Berichterstattung. Der Jahresbericht wird ausschließlich online veröffentlicht. Eine kompakte Darstellung der Ergebnisse erfolgt zudem im Jahrbuch SUCHT der DHS (zuletzt Dauber et al., 2019).

    Kurzberichte/Publikationen

    In der Regel werden von der DSHS jährlich zwei Kurzberichte zu wechselnden Themen erstellt und elektronisch veröffentlicht. Diese Kurzberichte basieren meist auf Sonderläufen. Themen der letzten Jahre waren beispielsweise Analysen zu Klient*innen mit der Hauptdiagnose Pathologisches Glücksspielen (Künzel et al., 2019), Klient*innen mit Migrationshintergrund (Künzel et al., 2018) oder die Veränderung des Erwerbsstatus von Betreuungsbeginn bis Betreuungsende (Künzel et al., 2017). Teilweise entstehen aus den Sonderläufen auch wissenschaftliche Publikationen in Form von Zeitschriftenbeiträgen (Brand et al., 2015; 2016; Dauber et al., 2018; Kipke et al., 2015).

    TDI – Treatment Demand Indicator

    Auf europäischer Ebene entspricht der Treatment Demand Indicator (TDI 3.0) dem Kerndatensatz. Deutschland ist verpflichtet, an die EBDD Daten zum TDI zu liefern. Es handelt sich dabei um ein Monitoringsystem der Behandlungszugänge eines Jahres aufgrund des Konsums illegaler Drogen im gesamteuropäischen Kontext. Diese Informationen werden jährlich auf der Homepage der EBDD im Rahmen des „Statistical Bulletins“ veröffentlicht.

    4. Fazit

    Die DSHS stellt eines der umfassendsten und differenziertesten Systeme zur Datenerhebung im suchtbezogenen Beratungs- und Behandlungskontext auf europäischer Ebene dar. Am Gelingen dieses komplexen Vorhabens sind unterschiedliche Institutionen (Suchthilfeeinrichtungen, Verbände, GSDA, IFT etc.) und Gremien (Fachbeirat, Fachausschuss, AG DSHS) beteiligt.

    Weiterentwicklungen der DSHS stellen im Wesentlichen punktuelle Ausdifferenzierungen innerhalb langfristig etablierter Fragenkomplexe dar. Damit gelingt es, veränderten Versorgungs- und Lebensrealitäten Rechnung zu tragen, ohne zeitreihenbezogene Aussagen auf Itemebene grundsätzlich zu beeinträchtigen. Für die einzelnen Einrichtungen besteht der zentrale Nutzen dabei darin, dass sie die eigenen Daten einzelner Jahre, aber auch interne zeitliche Trends, mit den Bundeswerten vergleichen können. Insbesondere für den ambulanten Bereich ist auch nach Einführung des KDS 3.0 weiterhin eine Vergleichbarkeit mit den Vorzeiträumen gewährleistet (Künzel et al., 2017).

    Auf ähnliche Weise wurden auch die Prozesse der Datensammlung, -verarbeitung und -auswertung in der DSHS durch standardisierte Rückmeldeprozesse, bedarfsweise Anpassung der Manual-Erläuterungen sowie routinemäßige Prüfungen der Aggregationsvorschriften ohne grundsätzliche Veränderungen der Gesamtsystematik über die Jahre hinweg optimiert. Hierbei hat insbesondere die Beschränkung auf zertifizierte Softwaresysteme für die Dokumentation zu einer deutlichen Steigerung der Datenqualität und zur Reduktion von Schnittstellenproblemen geführt.

    Auch sich verändernde Rahmenbedingungen sind zu berücksichtigen. Beispielsweise hat das Inkrafttreten der EU-DSGVO im Mai 2018 die teilnehmenden Einrichtungen für Fragen des Datenschutzes und der Datensicherheit sensibilisiert. Da die Daten der DSHS jedoch nur in aggregierter Form die Einrichtung verlassen, bestehen aus datenschutzrechtlicher Sicht keine Bedenken.

    Die Anpassung des KDS und der DSHS an aktuelle Entwicklungen im Suchthilfesystem bleibt eine wichtige Zukunftsaufgabe. Das bedeutet nicht nur ein proaktives Aufgreifen neuer Fragestellungen im Kontext sich abzeichnender gesamtgesellschaftlicher Veränderungsprozesse. Ergänzend sind eine fortlaufende Harmonisierung des DBDD-Einrichtungsregisters mit den Einrichtungsdaten des KDS sowie eine Verfeinerung der bisherigen Methode zur Abschätzung der Beteiligungsquoten an der DSHS (Süß & Pfeiffer-Gerschel, 2011) essentiell, um eine zielgerichtete Bedarfsplanung in der Suchthilfe zu unterstützen. Vor diesem Hintergrund ist perspektivisch der Wechsel von einer segmentbezogenen Beteiligungsquote (Anteil ambulante bzw. stationäre Einrichtungen) auf eine maßnahmenbezogene Beteiligungsquote (erreichte Einrichtungen, die eine bestimmte Maßnahme anbieten) verbunden mit einer näherungsweisen Berechnung der Erreichungsquote auf Personenebene angedacht. Damit sollen die Lebensrealität der Hilfesuchenden und die organisatorischen Rahmenbedingungen der Suchthilfe noch besser abgebildet werden.

    Förderhinweis und Danksagung

    Das Projekt Deutsche Suchthilfestatistik wird im Rahmen einer jährlichen Laufzeit vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert. Die Autorinnen und Autoren danken dem Fachbeirat Suchthilfestatistik in der aktuellen und früheren (bis 2017) Besetzung für ihre Unterstützung bei der Erstellung dieses Artikels: Rudolf Bachmeier, Dr. Rafael Gaßmann, Prof. Dr. Andreas Koch, Corinna Mäder-Linke, Peter Missel, Friederike Neugebauer, Dr. Peter Raiser, Dr. Daniela Ruf, Gabriele Sauermann, Gero Skowronek, Renate Walter-Hamann, Detlef Weiler, Dr. Theo Wessel.

    Kontakt:

    PD Dr. Larissa Schwarzkopf
    Dipl. Gesundheitsökonomin, Biostatistikerin (MSc.)
    Leitung Therapie- und Versorgungsforschung
    IFT Institut für Therapieforschung
    Leopoldstraße 175
    80804 München
    www.ift.de
    schwarzkopf@ift.de

    Angaben zu den Autor*innen und zum IFT:
    • PD Dr. Larissa Schwarzkopf, Dipl-Ges.ök, MSc. Biostatistics, IFT, Gruppenleiterin Therapie- und Versorgungsforschung
    • Dr. Barbara Braun, Dipl.-Psych., IFT-Arbeitsgruppe Therapie- und Versorgungsforschung
    • Sara Specht, MPH, IFT-Arbeitsgruppe Therapie- und Versorgungsforschung
    • Hanna Dauber, Mag.-Psych., IFT-Arbeitsgruppe Therapie- und Versorgungsforschung
    • Michael Strobl, Dipl.-Psych., ehem. Geschäftsführer GSDA
    • Jutta Künzel, Dipl.-Psych., IFT-Arbeitsgruppe Therapie- und Versorgungsforschung
    • Jürgen Klapper, GSDA
    • Prof. Dr. Ludwig Kraus, Dipl.-Psych., IFT Institutsleiter
    • Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel, Dipl.-Psych., IFT Geschäftsführer

    Das IFT ist als selbstständiges, gemeinnütziges Forschungsinstitut auf dem Gebiet der Abhängigkeitserkrankungen tätig und bearbeitet grundlagen- und anwendungsbezogene Fragestellungen zu Ätiologie, Epidemiologie, Prävention, Therapie und Versorgungsforschung. In diesem Zusammenhang bildet die Deutsche Suchthilfestatistik (DSHS), die das IFT seit mehr als vierzig Jahren betreut, einen zentralen Grundpfeiler der Forschungsaktivitäten. Hierbei koordiniert die Arbeitsgruppe Therapie- und Versorgungsforschung am IFT schwerpunktmäßig die inhaltliche und methodische Weiterentwicklung der DSHS. Zudem führt die AG verschiedene länderspezifische Suchthilfestatistiken durch, evaluiert zielgruppenspezifische Interventionen im Bereich von Abhängigkeitserkrankungen (z. B. Su+Ber) und untersucht typische Versorgungsmuster für vorab definierte Klienten*innengruppen.

    Literatur:
  • Die individuelle Lebensqualität verbessern

    Die individuelle Lebensqualität verbessern

    Karl Lesehr

    Zum 31.07.2019 wurden die letzten Teilnehmenden* aus dem Projekt Su+Ber – Sucht und Beruf verabschiedet. Damit wurde dieses Projekt zur Teilhabeverbesserung langzeitarbeitsloser und suchtkranker Menschen nach gut dreieinhalb Jahren mangels weiterer Förderung vorläufig beendet. Wir haben über Su+Ber  ausführlich bereits 2017 in einem zweiteiligen Artikel auf KONTUREN online (Teil 1 + Teil 2) berichtet. Eine abschließende differenzierte und mehrteilige wissenschaftliche Evaluation legte das IFT München planmäßig bis zum Jahresende 2019 vor (PDF zum Download).

    Der hier vorliegende Artikel möchte einen anderen Aspekt, nämlich die innere Projektentwicklung reflektieren. Aus der Sicht eines verantwortlich Beteiligten möchte ich unsere Erfahrung von Hemmnissen und Schwierigkeiten darstellen und zeigen, wie sich unsere Arbeitshaltungen durch diese Erfahrungen im Projektprozess verändert haben. Mit einer solchen, eben nicht nur an Erfolgskennzahlen orientierten Evaluation wollen wir uns auf Entwicklungsschritte einlassen, wie wir sie ja auch von unseren Projekt-Teilnehmenden erhoffen und erwarten. Aufgrund meiner fachlichen Herkunft nehme ich dabei v. a. die Perspektive der Suchthilfe ein; viele meiner Aussagen gelten aber in vergleichbarer Weise auch für den Bereich der Arbeitshilfen.

    Entwicklungsgeschichte und Zielsetzungen des Projekts Su+Ber

    Das Projekt Su+Ber ist in Baden-Württemberg in einem mehrjährigen Diskussionsprozess entstanden, an dem neben zahlreichen Akteuren der Suchthilfe und der Suchtreha auch engagierte Fachkräfte aus Jobcentern und Politikvertreter beteiligt waren. Mit Su+Ber sollte an sechs Standorten für Langzeitarbeitslose mit einem teilhabebeeinträchtigenden Suchtverhalten (Alkohol/Drogen) auf einem ganz neuen Weg eine stabile Reintegration in einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz ermöglicht werden. Wesentliche Teile des Projekts Su+Ber wurden vom Europäischen Sozialfonds (ESF) und vom Land finanziert; die in die Projektkonzeption integrierten und relativ personalintensiven Arbeitsfördermaßnahmen wurden dabei in vollem Umfang von den beteiligten Jobcentern finanziert.

    Suchtprobleme gelten bei der Wiedereingliederung in Arbeit als wesentliches Vermittlungshemmnis. Gleichzeitig ist es ein Grundaxiom der Suchthilfe, dass eine regelmäßige Arbeit entscheidend zu einer gesundheitlichen Stabilisierung suchtkranker Menschen beitragen kann. Die fachliche Entwicklung der medizinischen Suchtreha orientierte sich deshalb stets an dem Ziel einer Reintegration in Arbeit, wofür eine Suchtmittelabstinenz bislang als unumgängliche Voraussetzung galt. Wer allerdings inzwischen die konkreten Arbeitsmarktperspektiven für langzeitarbeitslose Menschen mit Suchtstörungen ehrlich anschaut, für den wird spürbar, dass eine solche vorrangig auf eine formale Arbeitsreintegration orientierte Suchtreha den Teilhabebedürfnissen und -rechten dieser Menschen oft nicht gerecht wird. Die Grundkonzeption unseres Projekts Su+Ber baut zwar notwendigerweise auf diese arbeitsorientierte Tradition der Suchtreha auf, versucht aber, innerhalb der geltenden Rechtssystematik für bestehende versorgungspolitische Schwachstellen neue Lösungen zu finden.

    Konsequente arbeitsorientierte Leistungsvernetzung als Antwort auf Schnittstellenprobleme

    Das Projekt Su+Ber sieht als Antwort auf viele letztlich ungelöste Schnittstellenprobleme bei Maßnahmen zur Arbeitsreintegration im Anschluss an eine Suchtreha eine weitgehende örtliche, zeitliche und personelle Vernetzung aller Fördermaßnahmen: Leistungen der Suchtberatung, Arbeitsfördermaßnahmen der Jobcenter und der Arbeitshilfeträger sowie Leistungen einer arbeitsorientierten ambulanten Suchtreha sollen im Projekt in einer konsequenten Gesamtmaßnahme integriert werden. Zentrale Bausteine des Projekts waren:

    • eine Zielorientierung der Gesamtmaßnahme auf die Gewinnung eines eigenen Arbeitsplatzes unter konsequenter Berücksichtigung der eben auch widersprüchlichen individuellen Entwicklungsinteressen und der nutzbaren Entwicklungsressourcen der Teilnehmenden. Die Orientierung auf einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz sollte alle Beteiligten vor defizit- und mangelorientierten Selbst- und Fremdeinschätzungen und vor zu kleinteiligen Maßnahmenzielen schützen.
    • eine fallbezogene personale Vernetzung aller am Projekt beteiligten Akteure in einem gemeinsamen Clearingprozess und in der Maßnahmenplanung. Die Erfolgsprognose, die sozialleistungsrechtlich erforderlich ist, damit Maßnahmen gewährt werden, orientierte sich nicht an Maximalzielen (Abstinenz, volle Arbeitsintegration), sondern an konkreten Verbesserungen beruflicher Teilhabe und damit verbundener subjektiver Lebensqualität.
    • eine Konzeption der ambulanten Suchtreha, die vorrangig auf die Entwicklung einer hinreichenden Arbeitsfähigkeit orientiert ist und dabei notfalls auch auf den bisherigen Vorrang des gesundheitlichen Maximalziels einer Abstinenz verzichtete.
    • die nahtlose Nutzung aller individuell erfolgversprechenden Fördermaßnahmen der beteiligten Leistungsträger einschließlich einer suchtkompetenten Unterstützung auch im ersten Jahr an einem eigenen Arbeitsplatz.

    Innovation erfordert Mut zum Risiko, erhöht aber auch die institutionellen Erfolgserwartungen

    Ein solcher Projektansatz ließ sich natürlich nur realisieren, indem alle Beteiligten über ihre gewohnten Konzepte und Leistungsformen hinausgingen: So ließen sich die beteiligten Jobcenter auf einen gegenüber sonstigen Arbeitsfördermaßnahmen höheren Personaleinsatz ein. Die DRV Baden-Württemberg wagte den Versuch einer konsequent arbeitsorientierten ambulanten Suchtreha auch unter Verzicht auf die traditionelle Abstinenzbindung. Die Suchtberatungsstellen waren zu sozialräumlichen Kooperationen mit anderen PSBs (Psychosozialen Beratungs- und ambulanten Behandlungsstellen für Suchtgefährdete und Suchtkranke) und zu einem mehrheitlich externen Arbeitseinsatz beim Arbeitshilfeträger aufgefordert. Und für alle beteiligten Fachkräfte galt es, sich im geforderten Clearingprozess und in der fallbezogenen Maßnahmenplanung auf eine personale Kooperation einzulassen und dabei die eigenen fachlichen Sichtweisen und Denktraditionen immer wieder zu hinterfragen.

    Bei den beteiligten Leistungsträgern (Jobcenter und DRV Baden-Württemberg), die für das Projekt substantiell/materiell in Vorleistung gehen mussten, entstand dabei verständlicherweise ein hoher Druck, ihre Aufwendungen/Wagnisse auch durch möglichst gute Ergebniszahlen zu legitimieren. Bei den Jobcentern war dennoch die Bereitschaft, auch die eigenen internen Verwaltungsabläufe auf diese neue Projektstruktur abzustimmen, angesichts der je Standort nur bescheidenen Maßnahmekapazitäten (max. zwölf Plätze) sehr unterschiedlich ausgeprägt. Und auch in der projektbezogenen Kooperation mit der DRV Baden-Württemberg gelang es trotz einer insgesamt vertrauensvollen Arbeitsbasis erst zum Ende des ersten Projektjahres und damit zur Hälfte der anfänglich bewilligten Projektlaufzeit, eine für beide Seiten vertretbare Reha-Konzeption für das Projekt Su+Ber zu verabschieden.

    Schwierigkeiten bei der Teilnehmergewinnung für Su+Ber

    Während solche Schwierigkeiten mit den Leistungsträgern für uns schon in der Projektvorbereitung absehbar waren, hatten wir geglaubt, dass durch die zahlreichen Diskussionen und Fachveranstaltungen der Landesstelle für Suchtfragen im Projektvorlauf und durch ein detailliertes Anforderungsprofil in der ESF-Projektausschreibung bei der Teilnehmergewinnung und in der Projektumsetzung keine größeren Probleme auftreten würden. Tatsächlich hatten wir vor allem im ersten Projektjahr aber an nahezu allen Standorten erhebliche Schwierigkeiten, die in den Arbeitsfördermaßnahmen bereitgestellten Plätze auch zu füllen – deren Auslastung lag in dieser Zeit insgesamt deutlich unter 50 Prozent!

    Als wesentliche Ursachen dieser für uns unerwarteten Entwicklung konnten wir – trotz aller konzeptionellen Absprachen/Vereinbarungen im Vorfeld einer Projektbeteiligung – Folgendes feststellen:

    • Bei vielen Fachkräften der Suchtberatungsstellen herrschte große Skepsis gegenüber einem suchtrehabilitativen Ansatz ohne Abstinenzverpflichtung.
    • In vielen Suchthilfeeinrichtungen wird eine „Reha-Gesamtplanung“ praktiziert, bei der Fragen der Reintegration in Arbeit immer noch meist erst nach einer (stationären) Suchtreha in den Blick genommen wurden.
    • Bei einer Einbeziehung arbeitsorientierter Fördermaßnahmen in die Suchtreha-Planung wurde – unabhängig von der fachlichen Art des Angebots – bevorzugt in trägereigene Maßnahmen vermittelt.

    Offenbar führt eine hohe Autonomie der Fachkräfte in den PSBs bei gleichzeitig subjektiv hoher Arbeitsbelastung in der Fallarbeit dazu, dass vertraute rehabilitative Handlungs- und Denkmuster weitergeführt und innovative Interventionsansätze kaum ernsthaft registriert werden. Im Ergebnis gab es während der drei Projektjahre trotz vielfacher Informationsangebote und Werbung fast ausschließlich von denjenigen Suchtberatungsstellen Vermittlungen in das Projekt Su+Ber, in denen durch Honorarverträge Mitarbeitende unmittelbar in die Projektarbeit eingebunden waren. Aber auch in den direkt am Projekt beteiligten Suchtberatungsstellen gelang es mehrheitlich erst durch eine regelmäßige Präsenz von Projektmitarbeitenden in den eigenen Reha-Teams,  die Quote an Vermittlungen in das „eigene“ Projekt Su+Ber innerhalb der gesamten indikationsgerechten Vermittlungen in Suchtreha zu erhöhen.

    Unterschätzt hatten wir in der Projektplanung aber auch zwei materielle/leistungsrechtliche Faktoren:

    • Aufgrund der knappen Fördermittel für Su+Ber hatten wir für die sechs- bis achtmonatige Projektphase B der Arbeitsförderung und der integrierten ambulanten Suchtreha keine Mehraufwandsentschädigung für die Teilnehmenden vorgesehen. Dadurch waren wir für manchen Kunden/Klienten im Vergleich zu anderen vom Jobcenter angebotenen Maßnahmen aber deutlich weniger attraktiv (ganz unabhängig von der im Projekt ja zusätzlich geforderten offenen Befassung mit dem eigenen Suchtverhalten).
    • Angesichts der in Baden-Württemberg derzeit sehr guten Arbeitsmarktlage erlebten wir es in der Projektphase A (Motivierung und vorläufige Integrationsplanung) immer wieder, dass Interessenten kurzfristig eine Arbeit fanden und deshalb eine Projektteilnahme im Sinne ihres bisherigen Problembewältigungsmusters fallen ließen. Wenn dann nach oft schon absehbaren Krisen dieser Arbeitsplatz wieder verloren ging, griff die Regelung der „schädlichen Unterbrechung“ der Langzeitarbeitslosigkeit: Eine Wiederaufnahme ins Projekt war dann (eigentlich) genauso wie nach längerer Krankschreibung oder auch kurzfristigen Inhaftierungen (v. a. bei Drogenabhängigen) erst wieder nach einer längeren (kontraproduktiven) Wartezeit möglich; ein möglicherweise günstiges „Motivationsfenster“ blieb wegen unsinniger Zuständigkeitsregelungen so ungenutzt.

    Eine von der Projektkonzeption deutlich abweichende Teilnehmenden-Gruppe

    Im Ergebnis bestand unsere Su+Ber-Teilnehmergruppe v. a. aus Menschen, die von den Jobcentern vermittelt wurden und dort nach zahlreichen, aber wirkungsarmen Maßnahmen als weitgehend hoffnungslose Fälle eingestuft worden waren („hartnäckiger Sockel der Langzeitarbeitslosigkeit“). Gleichzeitig fehlten uns aus den Suchtberatungsstellen diejenigen Menschen, die sich dort zum wiederholten Mal aktiv um eine Suchtreha-Maßnahme bemühten.

    Es wurde aber auch deutlich, dass mehr als 80 Prozent unserer Teilnehmenden bereits Vorerfahrungen mit der ambulanten Suchthilfe und etwas mehr als die Hälfte auch Erfahrungen mit Suchtreha-Maßnahmen hatten. Zumindest bei dieser Gruppe stark chronifizierter Langzeitarbeitsloser mit Suchtproblemen ist also davon auszugehen, dass aufgrund zweier im Lebensalltag der Menschen ja zusammenhängender Teilhabe-Beeinträchtigungen häufig auch beide leistungsrechtlich getrennten Hilfesysteme in Anspruch genommen werden, allerdings oft ohne irgendeine erkennbare Kooperation und Abstimmung. Die Zahlen zeigen aber auch, dass wir mit unserem leistungsvernetzten Förder- und Behandlungsangebot von Su+Ber 44 Prozent der Teilnehmenden erstmals für die Nutzung einer Suchtreha-Maßnahme gewinnen konnten.

    Da im Projekt Su+Ber bei den Bemühungen um eine Arbeitsintegration ausdrücklich auch das Suchtverhalten thematisiert werden sollte, war für uns ein freiwilliger und von Sanktionen unabhängiger Zugang zum Projekt grundlegende Bedingung. Daraus leiteten wir die Hypothese ab, dass unsere Projekt-Teilnehmenden trotz ihrer vielfachen Erfahrungen des Scheiterns und vieler aktueller Alltagsprobleme und Beeinträchtigungen sehr wohl weiter an einer Verbesserung ihrer Lebenslage interessiert waren. Auch die zu den formalen Qualifikationen erhobenen Daten lassen vermuten, dass für einen deutlichen Teil der Teilnehmenden die Perspektive einer beruflichen Reintegration keineswegs abwegig ist: Nur 13 Prozent hatten keinen regulären Schulabschluss, aber immerhin 51,5 Prozent hatten eine abgeschlossene Berufsausbildung.

    Entwicklung der Teilnehmerzahl

    In der (nach einer Verlängerung) schließlich dreijährigen Projektlaufzeit haben wir nach ESF-Kriterien 301 Teilnehmende ins Projekt Su+Ber aufgenommen, also in die Projektphase A mit ihrem interinstitutionellen Clearing, der vertieften Motivierung und einer vorläufigen Maßnahmenplanung sowie schließlich der formalen Beantragung der ambulanten Suchtreha-Maßnahme. Tatsächlich wurden dann aber von diesen 301 ernsthaften Projektinteressenten nur 199 Teilnehmende in die Projektphase B übernommen, also in die sechs- bis achtmonatige Arbeitsfördermaßnahme mit integrierter ambulanter Suchtreha.

    Nach allen Erfahrungen aus der Motivierungsarbeit der Suchtberatung hatten wir zwar an diesem Übergang mit einem Schwund an Teilnehmenden gerechnet, der Ausstieg von einem Drittel hat uns aber doch beschäftigt. Ein Teil dieser Quote erklärt sich mit den bereits skizzierten leistungsrechtlichen Regelungen („schädliche Unterbrechung“). Andere Teilnehmende fühlten sich abgeschreckt durch die umfangreichen datenschutzrechtlichen Regelungen, die durch die wissenschaftliche Evaluation notwendig wurden und für die wir auch keine grundlegende Vereinfachung finden konnten.

    In der Analyse wurde für uns aber auch deutlich, dass wir es versäumt hatten, Ansätze und Strukturen für eine projektspezifische Veränderungsmotivierung der Teilnehmenden zu entwickeln. Obwohl wir davon ausgegangen waren, dass die vorrangige Triebfeder für die Beteiligung an Su+Ber bei den meisten Teilnehmenden die Gewinnung eines „vollwertigen“ Arbeitsplatzes sei, fanden die meisten (bestenfalls wöchentlichen) Kontakte der Phase A im rein verbalen Setting der Suchtberatungsstelle statt und gingen von den klassischen Konzepten einer Problemanamnese und Motivationsklärung aus.

    Diese Setting-Strukturen hatten Konsequenzen: Im Durchschnitt wurden diejenigen Teilnehmenden, die in oder nach der Phase A bereits wieder aus dem Projekt ausgeschieden sind, knapp vier Monate lang betreut – aus unserer Sicht viel zu viel Lebenszeit für Menschen, die mit einem  Entwicklungswunsch ins Projekt eingetreten waren. Aufgrund der Erfahrungen aus den supervisorischen Praxiswerkstattrunden vermuten wir zudem, dass in diesen Gesprächen mehrheitlich die Suchtproblematik und aktuelle Alltagsprobleme und weniger individuelle Entwicklungssehnsüchte und Hoffnungen der Teilnehmenden im Mittelpunkt standen. Wir haben es deshalb im zweiten Projektjahr ermöglicht, dass Teilnehmende auch direkt in die Phase B beim Arbeitshilfeträger ins Projekt Su+Ber einsteigen konnten; die für die Projektphase A vorgesehenen Aufgaben konnten dann dort begleitend zu den ersten Arbeitserfahrungen in den ersten drei Wochen bearbeitet und dann nahtlos auch in der ambulanten Suchtreha weitergeführt werden.

    Unterschätzt hatten wir auch einen weiteren Effekt der bereits genannten Skepsis in der ambulanten Suchthilfe gegenüber einem nicht abstinenzgebundenen Suchtreha-Ansatz: An der Mehrzahl der Projektstandorte fanden sich trotz wohlwollender Haltung der PSB-Leitungen nur Fachkräfte für die Mitarbeit im Projekt Su+Ber, die bislang kaum oder gar nicht in Leistungen der ambulanten Suchtreha eingebunden waren. Gleichzeitig fehlte an vielen Standorten aber auch die regelhafte kollegiale Einbindung in das „normale“ Reha-Team. In der Verbindung mit den für alle Beteiligten neuartigen konzeptionellen Anforderungen im Projekt Su+Ber führte dies dazu, dass einige unserer Projektfachkräfte lange Zeit stark verunsichert waren und so die konzeptionellen Entwicklungsräume unserer Reha-Konzeption zunächst kaum für ihre Teilnehmenden nutzen konnten.

    Das Projekt startete aus fördertechnischen Gründen zum Jahresanfang 2016 und damit noch vor dem positiven Ethikvotum zur Evaluationsforschung im Juni 2016. Dies führte – zusammen mit den aufwendigen datenschutzrechtlichen Bestimmungen, die viele Teilnehmende abschreckten – dazu, dass letztlich nur die Daten von etwa 60 Prozent der tatsächlichen Projekt-Teilnehmenden in die wissenschaftliche Evaluation einbezogen werden konnten.

    „Wir haben die falschen Projekt-Teilnehmenden“

    Rückblickend waren die Austauschrunden der ersten anderthalb Projektjahre neben der Klärung vieler formaler und dokumentationsrelevanter Fragen beherrscht von der Feststellung, dass wir an den meisten Standorten zu wenige und dann auch noch die „falschen“ Teilnehmenden im Projekt hätten, d. h. Personen, die voraussichtlich nicht direkt in den Arbeitsmarkt reintegrierbar wären. Dies fand seine Entsprechung auch in den Ergebnissen unseres prognostischen interinstitutionellen Grobclearings in der Projektphase A: Nur für etwa zehn Prozent der Teilnehmenden wurde von den beteiligten Fachkräften eine gemeinsame positive Prognose abgegeben. Offenbar haben sich in der Wahrnehmung der professionellen Akteure viele statistisch belegte Korrelationen („Vermittlungshemmnisse“, störungsbedingte Leistungseinschränkungen, unzureichende Veränderungsmotivation) als quasi persönliche Eigenschaften zu direkten personalen Zuschreibungen verfestigt und damit verselbständigt („mit diesen Problemen kannst du das doch nicht“). Das gemeinsame Grobclearing wurde so v. a. zum Prüfstein, an dem solche verfestigten individuellen oder institutionellen Zuschreibungen deutlich werden konnten; nach unseren bisherigen Auswertungen haben die prognostischen Einschätzungen dieses Grobclearings nur eine geringe Aussagekraft hinsichtlich des tatsächlich erzielten positiven Projektergebnisses.

    Paradoxerweise wird diese Zuschreibung von Schwächen in der individuellen Betreuungsarbeit oft scheinbar bestätigt durch brüchige und widersprüchliche Selbstkonzepte der Teilnehmenden. Deren eigentlich motivierende Einstellung „Ich will arbeiten, ich brauche das!“ wird regelhaft beeinträchtigt oder blockiert durch die chronifizierte Erfahrung „Ich kann es doch nicht recht machen, ich halte das eh nicht durch“. Vielfältige beschämende Erfahrungen des Scheiterns und unerfüllter Eigen- und Fremderwartungen sind offenbar stärker als einzelne Erfolgserfahrungen. Das Selbstwertgefühl der Menschen als „psychisches Immunsystem“ ist kollabiert. Statt auf Entwicklungskräfte und Alltagskompetenzen zu schauen, konzentrieren sich alle Beteiligten in vermeintlich bester Förder- und Entwicklungsabsicht dann faktisch nur noch auf Schwächen und Defizite, die es durch symptomorientierte Interventionen aufzulösen gelte.

    Fallbezogene Leistungsvernetzung als Weg zu einer gemeinsamen Reha-Verantwortung

    Schon als wir uns in der Projektentwicklung mit den Kriterien des Grobclearings befassten, war uns deutlich, welche fatalen Verstärkungseffekte solche problemorientierten individuellen Prognosen für die „gebrochenen Selbstwirksamkeitserfahrungen“ unserer Teilnehmenden haben (können). Im Projekt Su+Ber haben wir deshalb das Grobclearing als ein interdisziplinäres und interinstitutionelles Instrument im Rahmen einer konsequenten Leistungsvernetzung konzipiert. Grundsätzlich war demnach eine Projektteilnahme auch dann möglich, wenn nur eine der beteiligten Institutionen eine positive Prognose aussprach. Dieses Instrument der Leistungsvernetzung forderte somit alle Beteiligten zum intensiven Austausch und Abgleich ihrer Wahrnehmungen und Einschätzungen, ihrer Erfahrungen und Bewertungen heraus.

    Dieser weit über eine gewohnte fachliche Kooperation hinausgehende Vernetzungsanspruch in Su+Ber fand im Projektalltag unterschiedliche Akzeptanz. Einzelne Jobcenter sahen sich organisatorisch grundlegend nicht in der Lage, für die Betreuung aller ihrer Teilnehmenden eine konkret verantwortliche Fachkraft zu benennen. Einzelne Fachkräfte zogen sich in diesem Austausch von Sichtweisen und Argumenten immer wieder auf eine übergeordnete Position als Vertreter eines Leistungsträgers zurück. Die breite Mehrheit der Projektbeteiligten erlebte diesen Vernetzungsprozess jedoch als den zentralen fachlichen Gewinn aus der Projektarbeit. Die fallbezogene Verknüpfung persönlicher Sichtweisen, fachlicher Kompetenzen und unterschiedlicher leistungsrechtlicher Perspektiven wurde als Bereicherung erlebt und als Chance, die komplexe Lebenswirklichkeit und die Entwicklungspotentiale der Teilnehmenden umfassender wahrzunehmen und dann auch für die gewünschten Entwicklungsprozesse zu nutzen.

    Im Zuge dieser gemeinsamen Einlassung auf die Teilnehmenden und deren Lebensentscheidungen spürten die Profis oft auch Respekt und Demut: Es wurde für sie erlebbar, dass es bei allen Angeboten einer Teilhabeförderung für Menschen in stark chronifizierten Lebenslagen weniger um die Befähigung zu einer schnellstmöglichen Erreichung irgendwelcher von außen definierter oder verstärkter Ziele gehen sollte, als vielmehr um die Unterstützung einer eigenverantworteten Entwicklung und die Befähigung zu einer individuell spürbar verbesserten Teilhabe. Letztlich muss es um die Förderung einer individuellen Würde gehen, die sich speist aus entwicklungsorientierten Erfahrungen der Selbstwertschätzung und der Selbstwirksamkeit einerseits und der Erfahrung sozialer Wertschätzung und Achtung andererseits.

    Die Feedbacks, die die Profis im Projektverlauf von ihren Teilnehmenden erhielten, machen deutlich, dass eine derart veränderte Betreuungshaltung sehr wohl wahrgenommen und wertgeschätzt wurde: „Ich musste mich mit meinen Schwierigkeiten nicht mehr verstellen, brauchte keine Angst mehr haben, etwas falsch zu machen.“ „Die Mitarbeit im Projekt hat mich interessiert, Beikonsum war da kein Thema mehr.“ „Wenn ich eine Aufgabe habe, geht es mir besser.“ „Ich kann etwas, auch so, wie ich derzeit bin.“ Und gleichzeitig machen für mich Rückmeldungen einzelner Projektfachkräfte deutlich, dass dieses gemeinsame Bemühen um einzelne, ganz konkrete Menschen auch zur Verbesserung der eigenen professionellen Identität beigetragen hat.

    Verbesserungsmöglichkeiten für Folgeprojekte

    Zusammenfassend halten wir aufgrund unserer Erfahrungen folgende Ansätze für Verbesserungen bei künftigen vergleichbaren Projekten für grundlegend notwendig:

    • Bei Menschen in chronifiziert teilhabebeeinträchtigten Lebenslagen kann jede suchtrehabilitative Verbesserung der individuellen Lebensqualität soziale und berufliche Krankheitsfolgen und Krankheitsschädigungen reduzieren. Suchtreha-Leistungen dürfen deshalb nicht nur mit dem Ziel einer bestmöglich gesicherten Arbeitsintegration gewährt werden; bei Suchtberatungsstellen sollte zugunsten einer individuell möglichen Teilhabeverbesserung auch für eine bedarfsorientierte Nutzung suchtrehabilitativer Ansätze ohne Abstinenzverpflichtung geworben werden, und es sollten entsprechende Interventionskonzepte entwickelt werden.
    • Damit Menschen unserer Zielgruppen sich angesichts einer Vielzahl von Förderansätzen für ein Konzept unter Einbeziehung spezifischer Suchtreha-Leistungen entscheiden können, müssen motivationale Faktoren (z. B. Mehraufwandsentschädigungen, Zeitperspektiven von Maßnahmen) geschaffen und strukturelle Hemmnisse (z. B. „schädliche Unterbrechung“) bestmöglich beseitigt werden. Gegebenenfalls sollten in enger Abstimmung mit den Jobcentern fallbezogen motivationsstützende Förderalternativen gesucht werden.
    • Für einige Interessenten ist statt einer nur verbalen Klärung und Entwicklungsmotivierung ein frühzeitiger Einstieg in eine Maßnahme der Beschäftigungsförderung motivations- und selbstwertstärkend und ermöglicht gleichzeitig allen Beteiligten konkret sichtbare und ansprechbare Informationen über Belastungsgrenzen und lebensweltliche Hemmfaktoren.
    • Für Langzeitarbeitslose mit Suchtproblemen gibt es nach unserer Erfahrung nur selten nachhaltige und subjektiv befriedigende Arbeitsplätze. Bemühungen um eine berufliche Reintegration sollten deshalb nicht nur an formalen Integrationsdaten orientiert sein, sondern – als Maßnahme einer grundlegenden Teilhabeförderung – gleichgewichtig auch an einer Verbesserung persönlicher Lebensqualität und am Erleben von Selbstwert. Eine solche Teilhabeperspektive sollte von allen Beteiligten akzeptiert sein und an gemeinsam vereinbarten Parametern auch dokumentiert werden. Verbindliche Kooperationspartner bei Jobcentern und Arbeitshilfeträgern erleichtern eine solche gemeinsame Teilhabeperspektive.

    Teilhabeförderung muss sich auch in Ergebniszahlen bewähren

    Jede Form psychosozialer Arbeit und jede Teilhabeförderung bewegt sich im Spannungsfeld zwischen von der Gesellschaft getragenen Angeboten und individuellen Bedarfen. Somit ist neben allen subjektiv positiven Effekten auch wichtig, wie hoch die Kosteneffizienz und die Zielerreichung eines neuen Projektes ist. Die unzureichende Belegung der zur Verfügung gestellten Plätze im Projekt Su+Ber bedeutet natürlich schon mal eine relativ schlechte Kosteneffizienz. Wir gehen allerdings aufgrund der Verlaufsentwicklung in den drei Projektjahren davon aus, dass bei einer längeren Projektlaufzeit unsere veränderten Strategien der Teilnehmergewinnung und -haltung auch eine deutlich bessere Auslastung ermöglichen könnten.

    Von den 199 Teilnehmenden, die in die Projektphase B gestartet waren, konnten  42 in eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit überführt werden. Diese Integrationsquote von insgesamt etwa 21 Prozent entspricht nicht unseren ursprünglichen Hoffnungen bei der Projektkonzeption und zumindest teilweise auch nicht den Erwartungen der beteiligten Jobcenter bzw. der DRV Baden-Württemberg. Zudem waren die Integrationsquoten an den einzelnen Projektstandorten – unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktsituation – recht unterschiedlich. Nach unserer Beobachtung spiegeln diese Unterschiede wider, wie intensiv und engagiert sich die Fachleute  der jeweiligen Standorte mit dem Handlungsansatz des Projekts Su+Ber identifiziert und die durch dieses Projekt ermöglichten Handlungsfreiräume auch genutzt haben.

    Es bleibt aber immer noch die Frage, wie eigentlich die Quote von 21 Prozent für die Wiedereingliederung in Arbeit von Menschen unserer Zielgruppen zu bewerten ist bzw. ob nachhaltig wirksamere Maßnahmen für sie konkret zur Verfügung stehen. Es nützt ja wenig, wenn, wie an einem unserer Standorte, nach dem Ende von Su+Ber  zur Sicherung des weiteren Leistungsbezugs der Klientel einfach eine neu benannte Maßnahme aufgelegt wird und die Kunden dann wieder durch eine scheinbar neue Maßnahme geschleust werden. Wir haben uns deshalb in der Analyse unserer Projektarbeit intensiv auseinandergesetzt mit dem Verhältnis von

    • gesellschaftlich geforderten kurzfristigen Ergebniszahlen,
    • den durch SGB IX und das BTHG definierten Anforderungen an eine umfassende Förderung gesellschaftlicher und beruflicher Teilhabe für teilhabebeeinträchtigte Menschen
    • sowie einer subjektiv wahrgenommenen Verbesserung der individuellen Lebenswirklichkeit für die betroffenen Menschen („Lebensqualität“).

    Wir erleben um uns herum eine Praxis der Teilhabeförderung, in der Maßnahmen v. a. nach dem Kriterium kurzfristiger Kosteneinsparung und entlang leistungsrechtlicher Grenzziehungen auf der Basis von Kennzahlen als Verwaltungsakte umgesetzt werden. Dabei werden die betroffenen Menschen zum zu fördernden und zu bewertenden Objekt und letztlich auch zum Störfaktor, weil diese Förderpraxis individuelles Scheitern und kostenträchtige Maßnahmenwiederholungen bei unserer Zielgruppe kaum verringert. Auch wenn wir aufgrund der kurzen  Projektlaufzeit noch keine handfesten Belege liefern können, sind wir nach unseren Erfahrungen aber weiter davon überzeugt, dass – unter Nutzung aller bereits vorhandenen gesellschaftlichen Ressourcen und fachlichen Konzepte – eine konsequent an der Lebenslage der betroffenen Menschen und an ihren Entwicklungssehnsüchten orientierte Förderung/Reha-Maßnahme nicht teurer wäre als die bisherige Praxis, aber für die Teilnehmenden und für die Profis mehr Lebensqualität ermöglichen könnte. Wir brauchen dafür sicherlich neue persönliche Haltungen der Profis, aber wir brauchen auch grundlegende Interventionsansätze, die Handlungsfreiräume schaffen und dazu ermutigen, sich mit den hochkomplexen, natürlich auch widersprüchlichen und biografisch beeinträchtigten „Wirklichkeitskonstruktionen“ von Menschen in chronifizierter sozialer Exklusion auseinanderzusetzen mit dem Ziel einer für sie adäquaten Förderung.

    Was wäre für uns deshalb in einem weiterführenden Projekt wichtig?

    1. Die Praxis von Teilhabeförderung/Behandlung orientiert sich vielfach an linearen Kausalitätsmodellen, denen zufolge einzelne Störungen/Defizite zu Teilhabehemmnissen werden, die behoben werden sollen. Insbesondere die medizinische Suchtreha, die in ihren Anfängen als stationäre Reha ja einen Gegenentwurf zum Lebensalltag der Menschen erlebbar machen wollte, hat die Idee einer rehabilitativen „Befähigung“, die in einem hochspezialisierten Setting effizient vermittelt wird, gefördert. Dieses Modell hat so lange eine gewisse Berechtigung, wie die betroffenen Menschen in der Lage sind, die vermittelten Qualifizierungen/Kompetenzen auch eigenständig und möglichst umfassend in ihren identitätsstiftenden Lebensalltag und ihr Beziehungsnetz zu integrieren. Wenn wir im Kontrast dazu die Alltagsstrukturen von langzeitarbeitslosen Menschen mit Suchtproblemen trotz all ihrer Beeinträchtigung auch als Überlebenshilfen sehen, dann wird klar, dass eigenverantwortete radikale Brüche und Veränderungen in diesem Alltag für diese Menschen kaum möglich und selten nachhaltig sind. Wir sind deshalb davon überzeugt davon, dass nachhaltige Teilhabeförderung für diese Zielgruppen nur in alltagsnahen und im Sozialraum verankerten Strukturen gelingen kann, auch um den Preis, dass individuelle Entwicklungen eben oft nur in kleineren Schritten und mit Brüchen möglich sind.
    2. Obwohl die Arbeit der ambulanten Suchthilfe in vielfacher Weise auf eine berufliche Reintegration ausgerichtet ist, versteht sich die Suchtberatung meist nicht als unmittelbar dafür verantwortlicher Akteur. Wenn aber nicht mehr nur die Suchtstörung, sondern deren chronifizierte Einbindung in eine umfassende Lebenslage Grundlage der Hilfen und einer Teilhabeförderung werden soll, dann reicht es nicht, wenn einzelne Fachkräfte in kleinen Projekten sich einem solchen Perspektivenwechsel stellen. In Baden-Württemberg, wo die Kommunen die Hauptfinanziers der Suchtberatung sind, müssen wir vielmehr Land und Kommunen für eine solche gemeinsame Fallverantwortung in der beruflichen Reintegration gewinnen, z. B. indem projektunabhängig die Effekte der Suchtberatung für eine berufliche Reintegration differenziert beobachtet und Verbesserungsmöglichkeiten gesucht werden.
    3. Michael Bohne hat in seiner Arbeit sehr anschaulich ausgeführt, wie beschämende Erfahrungen hirnphysiologisch als vorrangige „Gefahreninformation“ abgespeichert werden und in der Folge manches positive Erleben überlagern. In seinen „Big Five der Lösungsblockaden“ beschreibt er Blockaden, die in einem sehr großen Ausmaß auch bei unseren Projekt-Teilnehmenden vorzufinden waren. In der Teilhabeförderung für Menschen in chronifizierten Lebenslagen muss es für uns darum gehen, solche beschämenden Erfahrungen des Scheiterns genauso zu vermeiden wie kurzfristige Erfolgserfahrungen, die die Betroffenen (noch) nicht als Selbstwirksamkeitserfahrung integrieren können, sondern als Glück, Zufall oder als überwiegend externe Unterstützung empfinden (vgl. Sußebach & Willeke, 2019). Wie in jedem guten Management brauchen wir auch für die Teilhabeförderung eine transparente und ehrliche Kultur der Fehlerfreundlichkeit, die Scheitern und Irrtum nicht ausblendet, aber dies als Markierung auf einem eigenverantworteten Entwicklungsweg versteht.
    4. Um solche veränderten Perspektiven plausibel und zu einer effizienten Arbeitsgrundlage werden zu lassen, ist nach unserer Erfahrung eine konsequente fallbezogene Leistungsvernetzung unter der Idee einer gemeinsamen Entwicklungsverantwortung unumgänglich. Bislang legitimiert sich jede Institution über eine abgegrenzte Handlungs- und Leistungsperspektive und wähnt sich in ihrer Abgegrenztheit als wirksamer Partner. Aber erst in einer fallbezogenen Leistungsvernetzung, in der die bestmögliche Förderung gemeinsam in den Blick genommen wird sowie die Möglichkeiten der beteiligten Institutionen und Personen eingefordert und die Grenzen berücksichtigt werden, kann sich eine Teilhabeförderung entwickeln, bei der die Chance auf eine realistische Unterstützung der bestehenden Entwicklungssehnsüchte und -ressourcen der betroffenen Menschen besteht.
    5. Im Projekt Su+Ber haben wir erlebt, wie viel Handlungsenergie im Projekt abgezogen wurde für die Klärung und Einhaltung formalistischer Vorgaben. Wenn Qualität und Effizienz nur noch an formalen Kennwerten gemessen werden, gehen Kreativität und bedarfsorientierte Flexibilität verloren und Entwicklungsförderung verkommt zum Versuch einer Dressur. Entwicklung braucht Zeit, braucht klare, reale Orientierungen, aber auch die Chance zu Irrtümern und Umwegen. In diesem Sinne wünschen wir uns eine Weiterführung von Erfahrungen wie aus unserem Projekt Su+Ber.

    „Gesund ist nicht, wer keine Beeinträchtigung hat, sondern wer einen kreativen Umgang mit seiner Begrenztheit und seiner grundsätzlichen Versehrbarkeit gefunden hat.“ (Giovanni Maio, Medizinethiker)

    Weitere Informationen und Berichte aus dem Projekt:
    https://www.werkstatt-paritaet-bw.de/abgeschlossene-projekte/suber-sucht-und-beruf/
    (für die Berichte nach unten scrollen)

    *Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind miteingeschlossen.

    Kontakt:

    Karl Lesehr
    lesehr@paritaet-bw.de

    Textverweise (die Unterlagen sind über den Verfasser erhältlich):
    • Werkstatt Parität gGmbh: Rahmenkonzeption für eine bei ihrer Arbeitsorientierung leistungsvernetzte ambulante Suchtrehabilitation im Rahmen des ESF-Projekts Su+Ber. Stuttgart, 12/2016
    • Sara Specht, Karl Lesehr: Das Landes-ESF-Projekt Su+Ber: Sucht und Beruf – Beruflicher Neustart trotz Sucht. Beitrag zu den 24. Suchttherapietagen in Hamburg. 11.06.2019
    • Michael Bohne, Sabine Ebersberger: Synergien nutzen mit PEP. Heidelberg 2019 (Carl Auer-Verlag)
    • Interview mit Michael Bohne zu den Big Five Lösungsblockaden: https://www.youtube.com/watch?v=5i8i7bhGfZw
    • Henning Sußebach, Stefan Willeke: „Die Fee von Fulda“, in: DIE ZEIT 15/2019, 4.4.2019
    Angaben zum Autor:

    Karl Lesehr (70) war 18 Jahre als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er seit 2001 als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und ab 2009 beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr. Neben der „Fachberatung Sucht“ im von ihm wesentlich initiierten ESF-Projekt Su+Ber hat er in den letzten Jahren noch das Landesprojekt VVSub (zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung) verantwortet.

  • Männlichkeiten und Sucht

    Männlichkeiten und Sucht

    Kaum ein Faktor beeinflusst die persönliche Identitätsentwicklung und Sozialisation so früh und grundlegend wie die geschlechtliche Zuordnung. Gesellschaftlich festgeschriebene Rollenbilder und damit verbundene Erwartungen stellen schon sehr früh die Weichen für den persönlichen Lebensweg. Anhand der uns umgebenden Vorbilder beginnen wir von klein auf, unser eigenes Verhalten zu entwickeln. Vorgelebte Rollen und ihre Merkmale werden als Normalität wahrgenommen, imitiert und gerade in der frühen Kindheit unreflektiert verinnerlicht. Daraus entwickeln sich Persönlichkeitsaspekte, die den Umgang mit anderen Menschen im weiteren Leben entscheidend mitbestimmen.

    Der Einfluss von Rollenbildern zeigt sich ebenso im Kontext von Suchterkrankungen, denn sowohl im Konsumverhalten als auch in den Motiven für den Konsum lassen sich deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede erkennen. „Beide Geschlechter leiden geschlechtstypisch und aus bipolar entgegengesetzten Gründen, denen die Einseitigkeit der Rollenverteilung zugrunde liegt.“ (Macha, Witzke 2008, S. 274) Als primäre Identifikationsfiguren gehören die Eltern zu den stärksten Einflussfaktoren, sie prägen die Auffassung der Geschlechterrollen entscheidend mit. Im Kontext von Männlichkeit kommt dem Vater als Rollenvorbild eine besondere Bedeutung zu. Stark sein, keine Schwäche zeigen, unbedingte Leistungsbereitschaft – dies sind Beispiele für Attribute, mit denen Klienten von Suchthilfeeinrichtungen ihre eigene Männerrolle häufig assoziieren. Es sind Attribute, die oftmals vom Vater vorgelebt und vom Sohn übernommen wurden. Auch das Trinken von Alkohol als männliche Verhaltensweise wird häufig vom direkten Rollenmodell abgeschaut und übernommen. Etwa ein Drittel der alkoholabhängigen Männer hatte selbst einen alkoholabhängigen Vater, was für eine generationsübergreifende Abhängigkeitsentwicklung spricht (vgl. Vosshagen 1997).

    „Reine Männersache?! – Suchthilfe in NRW“

    Um Fachkräfte für geschlechtsspezifische Perspektiven in der Arbeit mit suchtkranken Männern zu sensibilisieren und zu qualifizieren, startete die Koordinationsstelle Sucht des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe im Juni 2017 das Projekt „Reine Männersache?! – Suchthilfe in NRW“. Im Verlauf des Projektes, das im August 2019 endete, wurden insbesondere elf Lehrfilme entwickelt, die relevante Themen aus der praktischen Arbeit mit suchtkranken Männern aufgreifen. Diese und weitere Ergebnisse des Projekts werden im Folgenden vorgestellt.

    Filmreihe „Männlichkeiten und Sucht“

    Die Filmreihe „Männlichkeiten und Sucht“ gibt Einblicke in die Gedankenwelt suchtkranker Männer. Es geht um vorherrschende Rollenbilder, damit verbundene Erwartungshaltungen und auch darum, wie mit dem daraus entstehenden Druck umgegangen werden kann. In den gesellschaftlich verankerten sozialen Geschlechternormen gibt es oft sehr wenig Spielraum: Entspricht eine Verhaltensweise nicht dem vorherrschenden Männerideal, so wird sie schnell als weiblich deklariert. Dies kann bei Männern zu einem inneren Druck führen, vor allem, wenn sie das weibliche Geschlecht noch immer mit dem „schwachen Geschlecht“ assoziieren. Somit wird das nicht-männliche Verhalten nicht nur automatisch weiblich, sondern auch als schwach wahrgenommen. Und Schwäche gilt eben als genaues Gegenteil des starken und unbezwingbaren Idealmannes.

    Lust und Frust der Männerrolle

    Die elf Kurzfilme der Reihe betrachten den Zusammenhang von männlichem Geschlecht und Suchtverhalten sowohl aus fachlicher als auch persönlicher Perspektive und greifen Themen auf, die in Therapie und Beratung oft von besonderer Bedeutung sind. Experten aus der Sucht- und/oder Männerarbeit sowie Betroffene kommen zu Wort und geben Einblick in ihre Erfahrungen. Aspekte wie Sexualität, Gewalterfahrungen oder das Verhältnis von Arbeit und Freizeit sind zwar nicht ausschließlich Männerthemen, es handelt sich jedoch um Themenbereiche, in denen gesellschaftlich oft noch eine ziemlich feste und unflexible Vorstellung des idealen Mannes herrscht: Männer sind Verführer, nicht Verführte, manchmal Täter, nie Opfer, und immer ganz oben in Sachen Kompetenz im Arbeitsbereich. Auch wenn es mittlerweile einen gesellschaftlichen Entwicklungsprozess gibt, der mit einer Pluralisierung dieses Rollenbildes einhergeht, ist es noch immer weit verbreitet und bei Männern oft tief im Selbstverständnis verankert.

    Die Betrachtung von Suchtverhalten aus geschlechtsspezifischer Sicht bietet eine besondere Verständnisebene, die für den Therapieprozess förderlich sein kann. Oft genug dient das Suchtmittel als Ventil zum Abbau von Druck, der aus dem Gefühl heraus entsteht, dem gesellschaftlichen Rollenbild nicht gerecht werden zu können. Auch das Verständnis der familiären Rollenverteilung oder von Partnerschaft kann eng mit der verinnerlichten Geschlechterrolle zusammenhängen. Das Zusammenspiel von Geschlecht und dem Konsum von Rauschmitteln ist vielschichtig und oftmals tief im Unbewussten jedes Einzelnen verankert.

    Film: Modul 1 – Lust und Frust der Männerrolle 

    Sucht und Männlichkeit

    Seit rund 20 Jahren befasst sich die LWL-Koordinationsstelle Sucht schon mit dem Thema „Männlichkeiten und Sucht“. Die Relevanz des geschlechtsspezifischen Aspektes wird auch bei einem Blick auf folgende Zahlen deutlich: Weltweit lassen sich gravierende Unterschiede im Konsumverhalten von Männern und Frauen feststellen. So wurden in Deutschland im Jahr 2015 100.000 Fälle von Alkoholabhängigkeit bei Männern diagnostiziert, bei Frauen dagegen „nur“ 36.000 (Deutsches Krebsforschungszentrum 2017). In Suchteinrichtungen stellen Männer zwei Drittel der Klienten. Männer konsumieren in den meisten Kategorien (mit Ausnahme von Medikamenten) härter, häufiger und riskanter als Frauen und tun dies auch häufiger in der Öffentlichkeit. Alkohol und Tabak sind bekannte Beispiele für männlich konnotierte Suchtmittel: Jeder kennt das Bild des großgewachsenen, harten und natürlich rauchenden Cowboys oder das des Whisky trinkenden und Zigarre rauchenden erfolgreichen Geschäftsmannes. Dies sind nur zwei von vielen gängigen Klischees. Übertrieben männliche Rollenbilder gibt es in den Medien zuhauf. Das Ungleichgewicht im Konsumverhalten zwischen den Geschlechtern erstreckt sich über Tabak und Alkohol hinaus auch auf die meisten anderen Substanzen. Die Demonstration, viel vertragen zu können, dient der Darstellung von Macht und Stärke – und so eben auch von Männlichkeit. Das verinnerlichte Konstrukt der eigenen Geschlechterrolle ist dabei ebenso unflexibel wie empfindlich: Jede Abweichung vom vermeintlich männlichen Verhaltenskodex wird direkt mit Unmännlichkeit assoziiert und bietet so Angriffsfläche für Hohn und Spott der Geschlechtsgenossen.

    Obwohl Gender-Mainstreaming und die Berücksichtigung des sozialen Geschlechts mittlerweile weitgehend als förderlicher Aspekt in der Ansprache von Suchtkranken betrachtet werden, ist männerspezifische Suchtarbeit in vielen Einrichtungen nicht strukturell verankert (vgl. Stöver et al. 2017, S. 9). Für den Klienten können deshalb in Gesprächen Hemmschwellen entstehen, wenn es beispielsweise um ein sensibles Thema wie Sexualität geht. Um nicht in unangenehme Situationen zu kommen, werden wichtige Themen im Zweifel also lieber nicht angesprochen und können somit auch nicht erfolgreich bearbeitet werden.

    Um geschlechtersensibel arbeiten zu können, ist es für Fachkräfte notwendig, sich die eigene Geschlechtsauffassung bewusst zu machen. Verinnerlichte Rollenzuschreibungen müssen reflektiert und hinterfragt werden, vor allem auch unter Berücksichtigung der sich ständig verändernden gesellschaftlichen Realität: Rollenbilder wandeln sich zunehmend, neue und oftmals widersprüchliche Erwartungen und die damit einhergehenden Auswirkungen auf Sozialisationsprozesse und Wahrnehmungsmuster können zu mangelnder Orientierung und damit zu wachsender Unsicherheit führen. Ein klarer und konsequenter Standpunkt zur eigenen Geschlechterrolle ist für die Fachkraft daher notwendig, um dem Klienten eine zuverlässige Orientierungshilfe zu sein.

    Nicht nur für weibliche Fachkräfte kann männersensible Arbeit eine Herausforderung darstellen. Konkurrenzdenken und Imponiergehabe beispielsweise sind zwischen Männern oft Störfaktoren für eine konstruktive Gesprächsführung. Eine ausgeprägte Leistungsorientierung, bei der Erfolge hochgelobt und Rückschläge totgeschwiegen werden, kann effektives Arbeiten deutlich erschweren. Auch hier taucht schließlich wieder die Befürchtung auf: Wer Hilfe braucht, gilt als schwach und unmännlich. Leichter und unverfänglicher ist es da, eigene Leistungen zu betonen und sich zu profilieren. Die Erkenntnis, dass die Abweichung von männlichen Rollenklischees nicht gleichbedeutend mit dem Verlust der eigenen Männlichkeit ist, muss häufig erst noch erarbeitet werden. Durch das Erkennen und Verstehen der mit dem Geschlecht verbundenen Gründe und Funktionen des Konsums kann der Klient dabei unterstützt werden, alternative und vor allem risikoärmere Verhaltensweisen zu entwickeln und das Ausleben seiner Männlichkeit vom Konsumverhalten zu trennen. Das Aufdecken von jungen- und männerspezifischen Mythen im Kontext des Suchtmittelkonsums ist  ein ebenso notwendiger Schritt wie das Umdenken von Leistungs- und Exzessorientierung zur Genussorientierung (vgl. Heckmann 2007).

    Film: Modul 2 – Sucht und Männlichkeit

    Praxishandbuch „Männlichkeiten und Sucht“

    In dem von der LWL-Koordinationsstelle Sucht herausgegebenen Praxishandbuch „Männlichkeiten und Sucht“ wurde das Thema für die ambulanten und stationären Einrichtungen der Suchthilfe praxisorientiert aufbereitet. Die aktuelle dritte Auflage von 2017 berücksichtigt Ergebnisse der 2014 durch das Institut für Suchtforschung (ISF) erfolgten Evaluation und diente als Ausgangsbasis der Arbeit des Projektes „Reine Männersache?! – Suchthilfe in NRW“. Das Handbuch ist in elf Themenmodule gegliedert, welche neben dem grundsätzlichen Zusammenhang von Geschlecht und Sucht auch Aspekte wie Vaterschaft, Partnerbeziehungen, Familie, Freundschaften und Emotionalität behandeln. Die einzelnen Module werden ausführlich beleuchtet, und ausgewählte Methoden zur praktischen Gruppenarbeit mit Klienten werden vorgestellt und detailliert beschrieben. Die Methoden sind in unterschiedliche Schwierigkeitsstufen eingeteilt, welche dabei helfen sollen, sie entsprechend der Komplexität und Teilnahmebereitschaft der Arbeitsgruppe angemessen auszuwählen. Benötigte Arbeitsmaterialen für die Anwendung der Methoden werden auf der beiliegenden CD-ROM mitgeliefert.

    Fortbildungsprogramm

    Durch das im Rahmen des Projektes entwickelte Fortbildungsprogramm werden männliche Fachkräfte für die geschlechtsspezifische Arbeit mit suchtkranken Männern nicht nur sensibilisiert, sondern auch qualifiziert. Aufbauend auf den Modulen des Praxishandbuchs werden ihnen konkrete Methoden und Handlungsempfehlungen vermittelt, um durch geschlechtssensible Arbeit einen besseren Zugang zu ihren Klienten zu bekommen.

    Die Fortbildungen beinhalten Informationen zu männlicher Sozialisation, zu Abwehrmechanismen sowie männlichem (Sucht-)Verhalten und Erleben. Die Teilnehmer führen praktische Übungen in der Rolle des Gruppenleiters einerseits und in der Rolle des Klienten andererseits durch. Ziel der Fortbildungen ist es, Fachkräfte zu befähigen, mit unterschiedlichen Gruppendynamiken umzugehen und männerspezifische Angebote in ihren Arbeitsalltag zu integrieren.

    Im September und November 2018 sowie im Februar 2019 wurden die jeweils dreitägigen Fortbildungen mit insgesamt 36 Teilnehmern durchgeführt. Die im Rahmen der Projektförderung begrenzten Teilnehmerplätze waren schnell ausgebucht, sodass die Koordinationsstelle Sucht im April 2019 bereits einen Zusatztermin anbot. Die durchweg positive Evaluation der Fortbildungsveranstaltungen sowie die hohe Nachfrage zeigen deutlich, dass dem Thema in der praktischen Arbeit eine hohe Relevanz zukommt. Auch 2020 findet die Fortbildung „Männlichkeiten und Sucht“ daher wieder statt (9. bis 11. September 2020 in Freckenhorst).

    Arbeitskreis Mann & Sucht

    Neben den Fortbildungen bietet auch der Arbeitskreis Mann & Sucht männlichen Fachkräften in der Suchthilfe ein Forum zum kollegialen Austausch. Er gibt ausgewählte Impulse zur männerspezifischen Suchtarbeit, eröffnet Perspektiven und dient darüber hinaus als Plattform für aktuell relevante Themen aus den Einrichtungen der Teilnehmer.

    Weiteres Material

    Mit der Projektwebsite www.maennersache-sucht.de wurde eine Plattform gestaltet, über die sich Interessierte einen ersten Einblick in das Thema und die einzelnen Module des Handbuchs verschaffen können. Auch die im Projekt erstellten Filme sind hierüber abrufbar. Um das Thema darüber hinaus weiterzuverbreiten, wurden außerdem Poster, Postkarten und Taschentuchboxen mit speziell für den Kontext erstellten Motiven produziert. Obwohl die männlichen Fachkräfte im Fokus des Projektes stehen, sollen diese Materialien auch weiblichen Fachkräften als Aufhänger für den kollegialen Erfahrungsaustausch und als Einstiegsmöglichkeit im Klientenkontakt dienen. Die Projektaktivitäten zielen auf eine Verbesserung der gender- bzw. männersensiblen Arbeitsweisen in der Suchthilfe ab, wovon letztendlich vor allem suchtgefährdete und abhängigkeitserkrankte Jungen und Männer profitieren sollen.

    Ausblick

    Die Erfahrung, dass das Verständnis der eigenen Männlichkeitskonstruktion und  ihres Zusammenhangs mit der persönlichen Suchtbiografie wichtig und förderlich sein kann, unterstreichen auch die interviewten Männer der Filmreihe: „Ich kann einen gewissen Stolz empfinden, die Sucht überwunden zu haben. Und auch die Freiheit, machen zu können, was ich möchte, und nicht in der Sucht gefangen zu sein. Von daher fühle ich mich jetzt deutlich männlicher als zu abhängigen Zeiten.“ (F. Happel im Film „Modul 2: Sucht und Männlichkeiten“, ab 4:21).

    Mit Ende der 27-monatigen Laufzeit am 30. August 2019 ist das Projekt „Reine Männersache!? – Suchthilfe in NRW“ zwar abgeschlossen, das Thema jedoch bleibt  weiterhin relevant. Was heißt es heute, ein Mann zu sein? Wie erleben sich Männer mit männlichen Klienten in der Suchthilfe? Wie können Frauen von den bisherigen Erfahrungen und Ergebnissen profitieren? Diese Fragen standen im Mittelpunkt der Veranstaltung zum Projektabschluss am 12. Juni 2019, mit der im Rahmen des Projektes ein letzter Impuls gesetzt werden konnte. Zum einen wurden die gesammelten Projektergebnisse der Fachöffentlichkeit vorgestellt, zum anderen sollte vor allem das Thema sowohl männlichen als auch weiblichen Fachkräften zugänglich gemacht und dessen Wichtigkeit betont werden. Von Mitgliedern des Fachbeirats durchgeführte Workshops luden dazu ein, sich mit einzelnen Aspekten vertiefend zu beschäftigen, und boten die Möglichkeit zum kollegialen Diskurs. Die erstellten Informationsmaterialien, die in das Fortbildungsprogramm des LWL aufgenommenen Fortbildungen, die Projektwebsite sowie nicht zuletzt die Filmreihe „Männlichkeiten und Sucht“, welche nicht nur im Internet, sondern auch auf DVD erhältlich ist, sollen nachhaltig die Sensibilisierung für die besonderen Chancen und Herausforderungen männerspezifischer Suchtarbeit unterstützen.

    Das Projekt „Reine Männersache!? – Suchthilfe in NRW“ wurde gefördert vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales als Maßnahme des Aktionsplans gegen Sucht NRW.

    Kontakt:

    Sandy Doll, sandy.doll@lwl.org
    Maik Pohlmann, maik.pohlmann@lwl.org
    Markus Wirtz, markus.wirtz@lwl.org

    Projektkoordination „Reine Männersache!? – Suchthilfe in Nordrhein-Westfalen“
    Landschaftsverband Westfalen-Lippe
    Dezernat 50
    LWL-Koordinationsstelle Sucht
    48133 Münster

    Literatur:
    • Deutsches Krebsforschungszentrum (Hrsg.), Alkoholatlas Deutschland 2017. URL: http://www.dkfz.de/de/tabakkontrolle/download/Publikationen/sonstVeroeffentlichungen/Alkoholatlas-Deutschland-2017_Doppelseiten.pdf  (Stand: 25.10.2018)
    • Heckmann, Gier, Macht, Ohnmacht: Männliches Suchtverhalten. In: W. Hollstein, M. Matzner (Hrsg.), Soziale Arbeit mit Jungen und Männern. München 2007, S. 155 – 173
    • Macha, M. Witzke, Familie und Gender. Rollenmuster und segmentierte gesellschaftliche Chancen. Frankfurt am Main 2008
    • Stöver, A. Vosshagen, P. Bockholdt, F. Schulte-Derne, Männlichkeiten und Sucht – Handbuch für die Praxis, Hrsg.: Landschaftsverband Westfalen-Lippe. Münster 2017
    • Vosshagen, Geschlechtsspezifische Aspekte der Alkoholabhängigkeit bei Männern. Dissertation. Essen 1997
  • BTHG – auf dem Weg zur Reformstufe 3

    BTHG – auf dem Weg zur Reformstufe 3

    Stefan Bürkle

    Seit der Verkündung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) am 29.12.2016 tritt stufenweise bis 2023 ein neues Reha- und Teilhaberecht in Kraft. Die Umsetzung der jeweils in Kraft getretenen Teilbereiche des BTHG ist sehr komplex und mit vielen Veränderungen verbunden.

    Die Komplexität des Vorhabens entspringt u. a. der Idee des radikal geänderten Hilfeansatzes, der die Partizipation Betroffener und die personenzentrierte und individualisierte Leistungserbringung im Rahmen der Eingliederungshilfe in den Mittelpunkt stellt. Damit verbunden sind eine grundlegende Veränderung der Haltung in der Leistungserbringung sowie weitreichende gesetzliche Neuregelungen, die sich deutlich auf das Leben der Hilfebedürftigen und die Praxis der Leistungserbringung auswirken.

    Die Besonderheit des Bundesteilhabegesetzes ist auch in seiner Anlage begründet: Es ist ein Artikelgesetz bzw. Gesetzgebungsverfahren, durch das Regelungen in verschiedenen bestehenden Sozialgesetzbüchern und weiteren Gesetzen verändert werden. Zudem tritt das Bundesteilhabegesetz zeitversetzt in Teilen in Kraft, so dass die Umsetzung einen prozesshaften Charakter erhält und die Ergebnisse im Vorfeld nicht endgültig bestimmbar sind. Das zeigt sich beispielsweise in der Neugestaltung des Zugangs zur Eingliederungshilfe und der damit verbundenen Frage nach dem leistungsberechtigten Personenkreis, dessen Neubestimmung erst zum 01.01.2023 in Kraft tritt.

    Der prozesshafte Charakter zeigt sich in den derzeit noch nicht vollständig absehbaren Auswirkungen für Betroffene und Leistungserbringer durch die Trennung von Fachleistungen und existenzsichernden Leistungen, die zum 01.01.2020 in Kraft treten soll. Deutlich wird er auch bei der Umsetzung eines trägerübergreifenden Teilhabeplans zur Verbesserung der Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gesellschaft, wenn verschiedene Leistungsgruppen oder mehrere Rehabilitationsträger an der Hilfeleistung beteiligt sind, und bei der Einführung eines Gesamtplanverfahrens in der Eingliederungshilfe. Beide Regelungen sind bereits seit dem 01.01.2018 in Kraft. Damit sind einige Bereiche benannt, in denen das BTHG Auswirkungen insbesondere für suchtkranke Menschen und Einrichtungen der Suchthilfe im Rahmen der Eingliederungshilfe hat.

    Ziel dieses Artikels ist eine Bestandsaufnahme und Zwischenbilanz der sukzessiven Umsetzung des BTHG im Bereich der Suchthilfe. Hierzu haben wir bundesweit Praktiker*innen mit demselben Fragenkatalog nach ihrer Einschätzung gefragt. Die Fragen lauteten:

    1. Bemerken Sie in Ihrem Tätigkeitsfeld bereits Auswirkungen durch das BTHG? Wenn ja, welche?
    2. Welchen Nutzen hat das BTHG für die Suchthilfe?
    3. Welche Nachteile hat das BTHG für die Suchthilfe?
    4. Welche Veränderungen ergeben sich für Ihren Träger/Ihre Einrichtung durch das BTHG?
    5. Wie bereiten Sie sich auf die Veränderungen vor?

    Auch ein Vertreter eines Leistungsträgers hat aus seiner Sicht eine Zwischenbilanz gezogen. Sein Statement findet sich am Ende des Artikels.

    Weitere Informationen zum Thema finden Sie auf www.partnerschaftlich.org. Dort sind unter dem Titel „Das Bundesteilhabegesetz im Blick: Partizipation abhängigkeitskranker Menschen per Gesetz?!“ die Beiträge des gleichnamigen Fachtags aus dem Oktober 2019 und weitere Fachartikel erschienen.

    Stefan Bürkle, Geschäftsführer Caritas Suchthilfe (CaSu), Mitglied im Fachbeirat KONTUREN online

    Antworten der Expert*innen zum Fragenkatalog

    Janina Tessloff

    Janina Tessloff

    Geschäftsführung Therapiehilfe Bremen gGmbH, Bremen

    1. Bemerken Sie in Ihrem Tätigkeitsfeld bereits Auswirkungen durch das BTHG? Wenn ja, welche?.
    Das BTHG hat zum Ziel, Menschen mit Beeinträchtigungen so weit als möglich an gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen und sie zu befähigen, mit dem richtigen Maß an Unterstützung für die eigenen Belange selbst eintreten zu können. Suchthilfe hat sich von jeher mit den Themen Autonomie und Abhängigkeit auseinanderzusetzen. Daher ergeben sich für die inhaltliche Arbeit zunächst einmal wenige Veränderungen.
    Der Assistenzbegriff wird den Betreuungsbegriff ablösen. Damit müssen sich die Fachkräfte auseinandersetzen und ihre Haltungen hinterfragen. Im Bereich Verwaltung ergibt sich zukünftig weitgehend Mehrarbeit, siehe Pkt.3. Die Vorbereitung auf die Umstellung im Jahr 2020 bindet im Vorfeld sehr viel Energie und Arbeitszeit.

    2. Welchen Nutzen hat das BTHG für die Suchthilfe?
    Das Zugrundelegen der ICF-Kriterien und ‑Kodierungen bietet eine hervorragende Grundlage für Diagnostik sowie Ziel- und Maßnahmeplanung. In der vorgeschalteten Teilhabeplanung kommen die unterschiedlichen Akteur*innen der Hilfeplanung an einen Tisch (EGH, Reha, Berufsförderung etc.). Damit ist ein passgenaueres Angebot möglich.
    Die Themen „Verantwortung“, „mündige*r Bürger*in“ etc. bekommen ein größeres Gewicht, was im Assistenzprozess von Nutzen sein kann.

    3. Welche Nachteile hat das BTHG für die Suchthilfe?
    Insbesondere die vormals stationären Einrichtungen werden ab 2020 ein weitaus größeres Risiko in der Gegenfinanzierung haben als noch heute: Die bisher im Kostensatz eingepreisten (und für die Klienten bis dato selbstverständliche) Leistungen sind nun direkt von den Klient*innen zu zahlen, was zu Verwerfungen im Alltag führen kann. Dies führt in der Verwaltung zu einem höheren Aufwand in Buchhaltung und Mahnwesen, in der Einrichtung direkt zu einem höheren Kontrollaufwand. Betreuer*innen bekommen dadurch eine erweiterte Rolle, indem sie kontrollieren müssen, ob der/die Klient*in auch bezahlt hat, was er/sie bekommt. Dieser neue Kontrollbedarf könnte sich negativ auf den Aufbau einer betreuerischen und bindenden Beziehung auswirken. Klient*innen bekommen durch ihr Mietverhältnis eine andere Rolle als Mieter*in, was u. U. zu rechtlichen Auseinandersetzungen führen kann.

    4. Welche Veränderungen ergeben sich für Ihren Träger/Ihre Einrichtung durch das BTHG?
    Die Verwaltung hat einen erheblich höheren Aufwand (siehe Pkt.3). Mitarbeitende erfahren eine Veränderung in ihrer Rolle und müssen sich mit Anforderungen der Assistenz und den veränderten Bedingungen in der Gesamt- und Teilhabeplanung auseinandersetzen und neu finden.

    5. Wie bereiten Sie sich auf die Veränderungen vor?
    Natürlich werden die Verwaltungsprozesse entsprechend aufgestellt, die Verträge entsprechend der Vorgaben neu gefasst. In Bezug auf die Mitarbeitenden laufen schon seit längerem Schulungen und Informationsveranstaltungen zu den Themen ICF und BTHG. Bewohner*innen werden informiert und auf die sie betreffenden Veränderungen vorbereitet.

    Rodger Mahnke

    Rodger Mahnke

    Einrichtungsleitung Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld, Facheinrichtung für Suchterkrankungen, Alida Schmidt-Stiftung, Hamburg

    1. Zunächst ist das ganze Vorhaben ja noch Theorie. Aktuell sind Leistungserbringer und Leistungsträger mit der Erarbeitung der Handlungsstrukturen beschäftigt – in sehr unterschiedlicher Qualität und mit sehr unterschiedlichem Ergebnis. Auswirkungen aktuell sind eher Verunsicherung und Sorge um die Erträge und Arbeitsabläufe.

    2. Den Nutzen haben wir noch nicht erkannt.

    3. Die bisherige Finanzierung über einen Pflegesatz wird im Bereich der Eingliederungshilfe auf drei Kostenpositionen aufgeteilt, die von jeweils unterschiedlichen Leistungsträgern bedient werden. Das führt zu einem erheblichen Mehraufwand in der Verwaltung in den Einrichtungen, der sich dadurch noch steigert, dass die Betreuungszeiten mit ca. drei Monaten sehr kurz sind. Darüber hinaus wird die Realisation der Einnahmen für Lebensunterhaltsleistungen und Wohnen auf die Leistungserbringer übertragen – mit allen Risiken im Verhältnis zu den betreuten Klient*innen.

    4. Es ist ein deutlich erhöhter Verwaltungsaufwand mit der entsprechenden Personalressource umzusetzen bei nur geringer Bereitschaft zu einer Gegenfinanzierung durch den Leistungsträger. Dadurch müssen in den Einrichtungen Personalressourcen von der sozialtherapeutischen Betreuung in den Verwaltungsbereich verlagert werden. Das hat Auswirkungen auf die Betreuungsqualität.

    5. Wir erarbeiten neue Prozesse für die Abwicklung der Leistungserbringung und des Vertragswesens mit den Klient*innen. Wir schulen das Personal für diese neuen Prozesse. Wir erproben die neuen Prozesse mit Leistungsträgern und Klient*innen.

    Heike Thorwarth, Thomas Klingsporn

    Heike Thorwarth, Thomas Klingsporn

    Fachabteilungsleitung stationäre und ambulante Eingliederungshilfe, STEP gGmbH, Hannover

    1. Erste Auswirkungen sind spürbar. Es gibt inzwischen in Niedersachsen eine geregelte und fundierte Bedarfsfeststellung für Leistungsnehmer*innen. Die Anwendung der Bedarfsermittlung Niedersachen (B.E.Ni) ist regional unterschiedlich. In Hannover und der Region ist sie eingeführter Standard. Bei den örtlichen Sozialhilfeträgern anderer Landkreise und Kommunen hat sich das Instrument noch nicht umfänglich durchgesetzt.
    Aufgrund der Veränderungen im Beantragungsprozess zeigt sich unsere Klientel – nach unseren Beobachtungen – vielfach verunsichert. Im Vorfeld der Bedarfsermittlungsgespräche ist es daher sinnvoll, die Leistungsnehmer*innen auf das neue Verfahren gut vorzubereiten. Bei der ambulanten Eingliederungshilfe und den Einrichtungen für besondere Wohnformen sind derzeit überall dort, wo B.E.Ni angewendet wird, die Bearbeitungszeiträume ab Beantragung einer Leistung deutlich länger. Dieses gilt für alle Einrichtungstypen. Dauerte es früher vier bis sechs Wochen, bis Leistungsnehmende ihren „Bescheid“ bekamen, liegen die Fristen derzeit bei drei bis sechs Monaten. Dies ist auf die umfassende Befragung und Prüfung zurückzuführen.

    2. Vorweg und deutlich formuliert: Das BTHG bringt Vorteile für betroffene Menschen – um ein Anrecht auf Eingliederungshilfe zu bekommen, müssen suchtkranke Menschen mit Behinderungen künftig nicht mehr mittellos sein, da die Einkommens- und Vermögensfreibeträge sowie der Schonbetrag für Barvermögen für Bezieher von SGB XII-Leistungen deutlich angehoben wurden.
    Die Selbstbestimmungsfreiräume für Leistungsnehmende werden deutlich gestärkt. Ihre persönlichen Ziele finden umfassende Beachtung. Individuelle Unterstützungs- und Hilfsangebote, die auf die jeweilige Situation der von Sucht betroffenen Menschen passen, rücken deutlicher in den Vordergrund. Gut ist auch, dass ein neuer und moderner Beeinträchtigungsbegriff eingeführt wurde, der sich am biopsychosozialen Modell des ICF orientiert. Funktionale Beeinträchtigungen werden nicht mehr als Eigenschaft oder Defizit, sondern im Zusammenspiel mit Kontextfaktoren sowie den Interessen und Wünschen des betroffenen Menschen betrachtet.
    Auch für unsere Mitarbeiter*innen eröffnet das BTHG neue Möglichkeiten. Die verschiedenen Bedürfnisse unserer Klient*innen suchen ihre Spiegelung in noch individualisierteren Einrichtungsangeboten. Das ist eine Chance für positive Veränderungen und zugleich eine konzeptionelle Herausforderung.

    3. Menschen mit einer Suchterkrankung sind häufig in ihrem Wirkungskreis massiv eingeschränkt. Ohne Unterstützung bewältigen sie das notwendige Verfahren oft nicht. Für die Umsetzung des BTHG brauchen sie eine intensive Begleitung und die entsprechende Beziehungsarbeit durch Dritte, um Leistungen des BTHG überhaupt abrufen zu können.
    Dieses Unterstützungssystem ist jedoch meistens nicht vorhanden bzw. für potentielle Leistungserbringende nicht gegenfinanziert. Leistungen, auf die grundsätzlich Anspruch bestünde, werden daher noch zu häufig nicht wahrgenommen.
    Die institutionell seit 2017 neu eingerichtete „Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung“ wird von unseren Leistungsnehmenden nach unseren Erkenntnissen bisher kaum genutzt und ist im Umkreis der Suchthilfe nur wenig bekannt.

    4. Für die Einrichtungen der Suchthilfe stehen zukünftig die personenzentrierte Ausrichtung und die ganzheitliche Bedarfsermittlung, Planung, Steuerung, Dokumentation sowie Wirkungskontrolle im Mittelpunkt. Vor diesem Hintergrund stellt die Umsetzung des BTHG für uns als Leistungserbringer eine große Herausforderung dar. Es entsteht ein deutlich erhöhter Verwaltungsaufwand. Dieser beinhaltet den Abschluss neuer Wohn- und Betreuungsverträge mit den Bewohner*innen und die zukünftige Erstellung von Nebenkostenabrechnungen.
    Eines ist bereits jetzt klar: Träger in der Eingliederungshilfe müssen künftig noch mehr als bisher ihr Profil als Dienstleister schärfen. Das heißt, mit einer diversifizierten Angebotsvielfalt aufwarten, so dass für Leistungsnehmende die Versprechungen des BTHG greifbar werden. Bisherige Arbeitsroutinen innerhalb unserer Einrichtungen werden momentan aufgelöst. Denn aktuell sind amtliche Zuständigkeiten und anzuwendende Verfahren oftmals intransparent. Bewährte Abläufe werden erschwert oder kommen zum Stillstand. Die Veränderungen im Antragsverfahren und bei den Leistungsnachweisen fordern von unseren Mitarbeiter*innen Verständnis und Geduld. Um die organisatorischen Herausforderungen zu bewältigen und wirtschaftliche Risiken für uns als Träger auszuschließen, ist ein enger Austausch zwischen allen Beteiligten derzeit das Wichtigste. Wir spüren deutlich das gemeinsame Ringen um konstruktive Lösungen in Umsetzungsfragen. Das gilt für Leistungserbringer und Leistungsträger gleichermaßen.

    5. In Niedersachsen konnte inzwischen eine Übergangsregelung zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes vereinbart werden, so dass hier für die nächsten zwei Jahre Rechtssicherheit besteht. Folgende Schritte sind momentan zu bearbeiten und zu beachten:

    1. Aufgrund der Systemumstellung (Trennung der existenzsichernden Leistungen von den Fachleistungen) für besondere Wohnformen ist der Abschluss neuer Wohn- und Betreuungsverträge nach dem Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz erforderlich. Hier werden die Bewohner*innen derzeit von uns umfassend über die Veränderungen informiert.
    2. Bewohner*innen bzw. deren rechtliche Betreuer*innen müssen über ein eigenes Girokonto verfügen, da die Leistungen der Grundsicherung nicht mehr direkt an die besondere Wohnform, sondern an die Bewohner*innen gezahlt werden.
    3. Die Leistungen der Grundsicherung müssen gegebenenfalls genauso wie die Eingliederungshilfeleistungen (Fachleistungen) von unseren Klient*innen für den Zeitraum ab 2020 neu beantragt werden.

    Bei diesen sehr praktischen Schritten unterstützen wir unsere Klient*innen. Trägerintern bauen wir Verwaltungsstrukturen auf, die diese Vorgänge erfassen und sicherstellen, dass alles korrekt und zeitnah umgesetzt werden kann.

    Martina Tranel

    Martina Tranel. Foto©Tranel

    Einrichtungsleitung Theresienhaus Glandorf, CRT – Caritas Reha und Teilhabe GmbH

    1. Unsere Erfahrungen sind vielfältig: Im Gesamtplanverfahren ist unsere Beteiligung als potentieller Anbieter und Vertrauensperson nicht vorgesehen, so dass der Assessment- und Hilfeplanprozess bei uns „von vorne“ beginnt. „Hilfen wie aus einer Hand“ stelle ich mir anders vor, unsere Vorleistungen in der Suchthilfe durch Beratung und Behandlung der Adressaten werden in diesen Fällen nicht gewürdigt. Wir haben auch bereits erlebt, dass an dieser Schnittstelle Adressaten im System „verloren“ gegangen sind. Besser läuft es dort, wo wir als Experten „rechtzeitig“ beteiligt werden, so dass eine gemeinsame Wissensbasis entsteht und ein wirksamer Leistungsprozess fortgesetzt werden kann.
    Bei der Überprüfung der personenbezogenen Wirksamkeit unserer Leistungen sind die negativen Erfahrungen im Moment noch selten. Eine neue Misstrauenskultur mit Blick auf die Zielerreichung und Wirtschaftlichkeit hat bereits zu Enttäuschung bei Leistungsberechtigten geführt – Enttäuschung dadurch, dass der individuelle, positive Befähigungsprozess nicht gewürdigt wird und die inzwischen vertraute Betreuungsperson wieder „abgezogen“ und z. B. durch einfache Assistenz ersetzt werden soll. Unsere Überzeugung ist, dass die Wirkungskontrolle im Gesamtplanverfahren gegenüber dem Leistungsträger Transparenz und Vertrauen in den Arbeitsprozess herstellen kann. So wird auch der Wert der Sozialen Arbeit besser sichtbar.

    2. Das BTHG steht für personenzentrierte, wirkungsorientierte und vielfältige Leistungen ein. Das entspricht den bereits langjährig angewandten Standards der Suchthilfe in der Prävention, Beratung, Behandlung und Betreuung. Die Beteiligung der Adressat*innen hat in der Suchthilfe eine lange Tradition, auch in der engen Zusammenarbeit mit den Selbsthilfeverbänden. Die Finanzierung von Leuchtturmprojekten, die später in Regelangebote übergegangen sind, war stets mit erheblichem Einsatz von Trägermitteln verbunden. Es ist zu wünschen, dass mit der Umsetzung des BTHG die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen, damit wir weiterhin den individuellen Bedarfslagen und Erwartungen unserer Adressat*innen entsprechende Leistungen anbieten können. Dem steht der haushaltspolitische Anspruch einer Begrenzung der Ausgabendynamik in der Eingliederungshilfe entgegen.

    3. Die ursprüngliche Formulierung des § 99 Personenkreis (so genannte „5 aus 9“-Formel) hätte viele chronisch Suchtkranke von wirksamen Betreuungsleistungen ausgeschlossen. Diese Kuh ist seit der Studie von Prof. Welti und Kollegen hoffentlich vom Eis. Irritiert bin ich über den erheblichen bürokratischen Aufwand und damit verbundene Kosten. Das betrifft sowohl die Erforschung der Wirksamkeit des Artikelgesetzes und dessen Umsetzung. An bestimmten Schnittstellen werden Doppelstrukturen aufgebaut, die eigentlich vermieden werden sollten.
    Die Trennung der Leistungen soll zur Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen beitragen. Ich bin allerdings skeptisch, welchen Wert das für die Adressaten hat, deren Hilfebedarf beispielsweise im Umgang mit Geld liegt. Was für einen Menschen mit einer Körperbehinderung und der Fähigkeit zum Management diverser Leistungsbestandteile sinnvoll ist, stellt für einen chronisch mehrfach beeinträchtigten Suchtkranken mit Korsakow-Syndrom eine Überforderung dar. Die Nutzer*innen unserer Angebote stellen mir zunehmend die Frage nach dem Sinn des BTHG.
    Die Suchthilfe hat schon immer Gesetzgebung aus der Praxis heraus mitgestaltet. Ich bin überzeugt, dass dieses Engagement auch weiter notwendig ist, damit die UN-Behindertenrechtskonvention tatsächlich auch bei den Menschen mit Behinderung ankommt.

    4. Bei unserem ambulanten Betreuungsangebot ändert sich erstmal nichts, hier sind wir bereits seit 2004 „BTHG-konform“ unterwegs und bauen das Angebot weiter aus. Das Konzept der besonderen Wohnform, also das Theresienhaus als Wohnheim mit interner Tagesstruktur, verfügt bereits seit der Gründung über eine Binnendifferenzierung und ermöglicht individuelle Lösungen für individuelle Bedarfe. Statt eines zentralen Leistungsträgers haben wir zukünftig mehrere Stellen, von denen das Geld für unsere gute Arbeit kommt. Diese Umwege sind den Nutzer*innen nur schwer zu vermitteln, da reicht keine einfache Sprache. Die Adressaten haben einen Anspruch auf gesicherte Leistungen und unsere Mitarbeiter*innen auf ihr wohlverdientes Gehalt.

    5. Die Berechnungen der einzelnen Leistungskomponenten liegen vor. Die Nutzer*innen, Betreuer*innen und Heimaufsicht wurden informiert, die neuen Verträge liegen bald vor. Die Grundsicherungsanträge laufen. Das ist ein echter Kraftakt. Ansonsten arbeiten wir wie gewohnt an der Weiterentwicklung unserer Leistungen. Im Bereich Qualitätsmanagement sind wir sehr gut aufgestellt, so dass wir uns hoffentlich bald wieder auf das Kerngeschäft konzentrieren können, die Adressat*innen bei der Erreichung ihrer Ziele zu begleiten.

    Joachim Messer

    Joachim Messer

    Wolfgang-Winckler Haus, Entgiftungsstation und Übergangseinrichtung, Kelkheim-Eppenhain

    1. Das BTHG sowie das Gesetz zur Umsetzung des BTHG in Hessen haben bereits jetzt erhebliche Auswirkungen. Die Trennung von Fachleistungen und existenzsichernden Leistungen ist für besondere Wohnformen bereits erfolgt. Ungeklärt ist nach wie vor die Frage der „doppelten Miete“ in Übergangseinrichtungen. Pflegeeinrichtungen, die bisher Vergütungsvereinbarungen mit dem Landeswohlfahrtsverband Hessen (LWV) hatten, sollen nun mit den Örtlichen Trägern der Sozialhilfe Vereinbarungen abschließen, ohne dass hierfür bei den Kommunen finanzielle Spielräume vorhanden wären.

    2. Der Nutzen liegt vor allem darin, dass eine noch stärkere Personenorientierung realisiert werden muss und damit überholte Vorstellungen hinsichtlich der Rollenzuordnung von betreuter Person und betreuender Person verändert werden müssen

    3. Die Nachteile liegen eindeutig im erhöhten Risiko für die Träger: Nutzungskosten für den Wohnraum und der Verpflegung in besonderen Wohnformen werden voraussichtlich häufiger nicht bezahlt werden. Der vom LWV Hessen anerkannte Mietausfall beträgt zwei Prozent – das ist für die Suchthilfe unrealistisch. Hinsichtlich der Fachleistung gilt das Nettoprinzip. Auch hier werden sich Mindereinnahmen ergeben, die sich de facto als Pflegesatzkürzung auswirken werden.

    4. Wie bereits beschrieben sind einige für die Einrichtungen existenzielle Fragen noch nicht geklärt. In hessischen Übergangseinrichtungen mit hoher Fluktuation wegen der kurzen Aufenthaltsdauer erzwingt das BTHG ein vollständig geändertes Aufnahmeverfahren. Der administrative Aufwand, auch für die Klientel, ist dabei erheblich geworden. Hieraus können sich im Alltag Probleme ergeben. Wir verkaufen künftig im Prinzip Hotelfunktionen und werden vermutlich damit auch anders wahrgenommen.

    5. Wir haben alle notwendigen Formulare und Verträge entwickelt und können intern die notwendigen Prozesse ab 01.01.2020 umsetzen. Es bleiben die oben erwähnten Unsicherheiten, die im Wesentlichen juristischer Natur sind, und da es juristisches Neuland ist, gilt: zwei Juristen – drei Meinungen! Es steht zu befürchten, dass wir sehr viel öfter über Geld reden müssen und sich damit der Charakter des Beziehungsangebotes ändert.

    Jürgen Häuser

    Jürgen Häuser

    Einrichtungsleitung Haus im Niederfeld und Haus Kleyerstraße, Darmstadt

    1. Für die Bewohner unserer stationären Einrichtung sind bisher kaum Auswirkungen erkennbar. Lediglich die Eröffnungen eigener Bankkonten sind erste Anzeichen der anstehenden Veränderungen. Für uns als Träger hingegen wächst die Anspannung, da wir vermehrt Anfragen von gesetzlichen Betreuern nach Mietbescheinigungen erhalten, die für die Anträge auf KdU (Kosten der Unterkunft und Heizung) beim örtlichen Sozialhilfeträger benötigt werden. Diese konnten wir jedoch bisher nicht ausstellen, da sich auf Kostenträgerseite die notwendigen Vorarbeiten zeitlich verzögert haben.

    2. Für den Bereich, für welchen ich Verantwortung trage, eine soziotherapeutische Einrichtung für chronisch mehrfach beeinträchtigte suchtkranke Frauen und Männer, fällt es mir ehrlich gesagt schwer, einen Nutzen für unsere Bewohner zu erkennen, und fürchte eine Überforderung. Ich hoffe, ich werde eines besseren belehrt und die Bewohner können von dem Mehr an Selbstbestimmung profitieren.

    3. Bewohner erhalten zukünftig ihre existenzsichernden Leistungen direkt ausbezahlt und begleichen damit die in diesem Bereich erbrachten Leistungen. Nicht jeder ist jedoch in der Lage, mit diesen finanziellen Mitteln angemessen und zweckbestimmt umzugehen. Kommt es zu Forderungsausfällen, wird dies das Verhältnis zwischen uns und dem Bewohner belasten und verändern. Ein produktiver soziotherapeutischer Prozess wäre unter diesen Vorzeichen nur erschwert möglich.
    Ich erwarte ein Zunahme von Verschuldungen der Bewohner, vermehrte Abbrüche und eine Verschiebung der Hilfen in Richtung der Wohnungslosenhilfe.

    4. Für die soziotherapeutischen Einrichtungen als Teil der Eingliederungshilfe wird sich der Verwaltungsaufwand ganz erheblich erhöhen. Es steht zu erwarten, dass es zu Ausfällen bzw. Verzögerungen bei den Kostenerstattungen kommen wird. Insbesondere zu Beginn der Umstellung kann es zu Liquiditätsengpässen kommen. Es ist nicht klar, ob wir alle Qualitäten unseres Angebotes aufrechterhalten können (z. B. unsere eigene Küche).
    Insgesamt wird unser Angebot noch einen stärkeren ambulanten Charakter erhalten. Dies ist für einige unserer Bewohner sicher von Vorteil, für die Mehrzahl jedoch nicht.

    5. Wir besuchen so viele Veranstaltungen zu diesem Thema wie möglich, um alle Informationen und Entwicklungen möglichst frühzeitig zu erhalten. Gleichzeitig haben wir die Bewohner und ihre gesetzlichen Betreuer zeitnah über die anstehenden Veränderungen informiert. Im Bereich der Verwaltung sind wir dabei, zusätzliche Ressourcen aufzubauen. Für die ersten Monate der Umstellung und die dann zu erwartenden Verzögerungen in der Rechnungsbegleichung haben wir finanzielle Rückstellungen gebildet.

    Michael Strotmann

    Michael Strotmann und Bella

    Einrichtungsleitung Soziotherapieverbund Spessart, Partenstein

    1. In meinem Tätigkeitsfeld bemerke ich bereits folgende Auswirkungen durch das BTHG:

    • viel Unsicherheit und Unklarheit bzgl. der praktischen Umsetzung
    • Skepsis bzgl. einer termingerechten Umsetzung zum 01.01.2020 (z. B. in Hessen, wo es keine bayerische Übergangsregelung gibt)
    • einen erheblichen Mehraufwand in der täglichen Arbeit bzgl. Information und Aufklärung von Bewohnern und deren Betreuern sowie Kostenträgern und Wohngeldstellen

    2. Ich sehe folgenden Nutzen des BTHG für die Suchthilfe:

    • Ermöglichung von ggf. neuen finanzierten Arbeitsformen/-bereichen (Budget für Arbeit)
    • im Idealfall Rückerlangung von mehr Selbstachtung und Würde für den Einzelnen

    3. Ich sehe folgende Nachteile des BTHG für die Suchthilfe:

    • Die Möglichkeit zur eigenen Verwaltung von recht hohen Geldsummen verstärkt die Tendenz zur Selbstüberschätzung und unrealistischer Haushaltsplanung.
    • Der Einblick in genauere Kostenstrukturen z. B. bzgl. Unterkunft und Verpflegung kann ein häufig vorhandenes unrealistisches Anspruchsdenken ungut befördern und zu vielen unfruchtbaren Diskussionen in den Einrichtungen führen.
    • Die Möglichkeit zur Auszahlung des gesamten Lebensmittelgeldes und zum möglichen Selbsteinkauf/-versorgung kann sehr negative Auswirkungen auf das Ernährungsverhalten, die Hygiene und die therapeutische Gemeinschaft haben, die sich auch durch gemeinsame Mahlzeiten ausdrückt.

    4. Folgende Veränderungen ergeben sich für meine Einrichtungen durch das BTHG:

    • ein erheblicher Verwaltungsmehraufwand aufgrund eines zukünftig nicht mehr alleinigen und einzigen Kostenträgers
    • die Notwendigkeit eines Mahn- und Risikomanagements zum Eingang vereinbarter Monatszahlungen
    • Wohn- und Verpflegungsangebote müssen sich zukünftig noch stärker und regelmäßiger den Wünschen der Bewohner gegenüber verändern und verbessern, da mehr Kostentransparenz und Vergleich möglich ist.

    5. So bereiten wir uns auf die Veränderungen vor:

    • Auf- und Ausbau eines guten Fehler- und Beschwerdemanagements in der Einrichtung
    • Sensibilisieren der Mitarbeiter für die vom Gesetzgeber gewollte Eigenverantwortung und Eigenständigkeit auch von Menschen mit einer Beeinträchtigung/Behinderung, ohne suchtrelevante Grenzziehungen und Verhaltensspiegelungen zu unterlassen
    • Erarbeitung von neuen Wohn- und Betreuungsverträgen, die sowohl ausreichende Refinanzierung als auch notwendige Handlungsspielräume im täglichen Betreiben einer Einrichtung mit Suchtkranken ermöglichen

    Michael Thiem

    Michael Thiem

    Einrichtungsleitung Laufer Mühle, Geschäftsführung Soziale Betriebe der Laufer Mühle gGmbH, Adelsdorf

    Jede Neuerung bringt Verunsicherung mit sich. So auch im Mitarbeiterteam unserer Einrichtung, in dem wir uns seit geraumer Zeit intensiv mit den Anforderungen des BTHG – und damit auch mit dessen Chancen und Risiken – auseinandersetzen.

    Chancen und Risiken – und damit einhergehend auch Hoffnungen und Ängste – ergeben sich durch die Vorgaben des BTHG in allen therapeutischen, organisatorischen, wirtschaftlichen und personellen Prozessen und Bereichen. So wird eben auch die Umsetzung weitreichende Auswirkungen und Folgen nicht nur für die Nutzer („Kunden“) haben, sondern auch für die Menschen, die die gesetzlichen Bestimmungen auszuführen haben.

    Die Umsetzung des BTHG wird, blickt man auf die Seite der Mitarbeiter in der Suchthilfe, vor allem auch beschäftigungsrelevante und arbeitskulturelle Bedeutung haben, obwohl dies nicht primäre Absicht, sondern nur die Folge des Gesetzes ist. So werden sich die zu erbringenden „Arbeitsleistungen“ und die „Arbeitsziele“ in wesentlichen Punkten im Arbeitsfeld „soziotherapeutische Suchthilfe“ verändern. Von den Beschäftigten werden dann teilweise andere Arbeitsergebnisse und ‑gewichtungen erwartet, als es bisher gefordert war. Somit bedarf auch die suchttherapeutische (Grund-)Haltung der einzelnen Mitarbeiter einer umfassenden Transformation, da der Mitarbeiter „in Zukunft etwas anderes machen soll, als das, wofür er einmal angetreten ist und wovon er überzeugt war“ (Zitat eines Mitarbeiters).

    Verständlich, dass diese neuen Anforderungen an Mitarbeiter auch Unsicherheiten in Bezug auf den Arbeitsplatzerhalt und auch auf die Bewertung der Arbeitsleistungen, die zukünftig erbracht werden müssen, erzeugen. Dies wurde und wird in der aktuellen Diskussion nicht weiter problematisiert und lässt damit die Menschen, die dieses Gesetz „alltagstauglich“ machen sollen, „außen vor“.

    Soziotherapeutische Einrichtungen der Suchthilfe betrachteten bisher den Heilungserfolg (Rehabilitation und Resozialisation = Überwindung der Krankheit und Etablierung einer Lebenswelt, die das erneute Ausbrechen der Krankheit verhindert) als das Ziel all ihrer therapeutischen/betreuerischen Maßnahmen. Der klassische Handlungsansatz ist/war die „Betreuung“. Betreuung schließt Fürsorge ebenso mit ein wie die Verantwortung für die vorgeschlagene Betreuungsmaßnahme. Der Begriff „Betreuung“ wird nun im BTHG durch „Assistenz“ ersetzt. „Assistenz“ ist die Unterstützung einer Maßnahme, die der Betroffene vorgibt und die durchaus auch einem (vom Betreuer / Angehörigen / Arzt / von der Krankenkasse / der Gesellschaft)  gewünschten Therapieerfolg zuwiderlaufen kann. Der Gesetzgeber hat damit ganz eindeutig die persönliche Wahlfreiheit über das ehemalige Gesundheitsziel gestellt.

    Bisher empfahlen die Mitarbeiter aufgrund ihres Wissens und ihrer Erfahrungen den suchtkranken Menschen therapeutische Hilfsangebote, die diese dann in ihre verbindliche therapeutische Zielplanung mitaufnahmen und die dann gemeinsam von Betreutem und Therapeut verfolgt wurde. Diese „therapeutische Partnerschaft“ definierte u. a. die Pflichten, die der Betroffene auf sich nahm, um so die gemeinsam vereinbarten Ziele (= berufliche und soziale Integration, Suchtfreiheit) zu erreichen. Der Mitarbeiter nahm dabei nicht nur die die Rolle des Wegbegleiters, sondern auch des Trainers und eben auch des „Controllers“ ein, der auch darüber wachte, ob die gemeinsamen Vereinbarungen, die den späteren Erfolg erst ermöglichen können, auch eingehalten werden.

    Die „Mitwirkungspflicht“ bzw. „Compliance“ ist Dreh- und Angelpunkt jeder Heilbehandlung, ob somatisch oder psychosomatisch, da sie den Betroffenen aktiv mit einbindet und somit dessen Selbstheilungskräfte aktiviert und mobilisiert. Die Verantwortung für eine „Heilung“ wird dabei nicht an Ärzte, Therapeuten, Medikamente oder Methoden delegiert. Heilung ist in der Summe das Erfolgsergebnis eines verpflichtenden Zusammenspiels vieler Akteure, in dessen Mittelpunkt der Betroffene selbst steht.

    Beim BTHG (bezogen auf die Suchthilfe) steht nun also nicht mehr die Krankheit im Mittelpunkt. Es geht also nicht in erster Linie um Gesundung. Vielmehr geht es um Rechte und gesellschaftliche Gleichstellung eines Menschen, der krank ist oder eben auch Defizite hat. Weder Krankheit noch Defizite sollen den Betroffenen hindern, die gleichen Rechte wie Menschen ohne Behinderungen wahrnehmen zu können. Diesem Anliegen gilt es hier auch nicht zu widersprechen. Es wird lediglich kritisiert, dass es einen (sucht-)kranken Menschen von der Pflicht zur Mitwirkung entbindet.

    Selbstverständlich ergeben sich auch neue Ansätze, Perspektiven und dementsprechend auch Hilfsangebote durch das BTHG in der Soziotherapie für Suchtkranke. Gerade im Bereich des „peer counceling“, also des Hilfsansatzes der „Beratung/ Betreuung/ Begleitung von Betroffenen für Betroffene“, werden hohe Nachfragen (= „Kundenwünsche“) entstehen.

    Die langjährigen Erfahrungen in der Behindertenarbeit, speziell Suchtkrankenbehandlung, zeigen nämlich, dass ehemals Betroffene sehr gute Ratgeber und Wegbegleiter sind, dem Betroffenen geeignete und gangbare Wege aus der Krankheit/ Behinderung aufzuzeigen. Aus ihrer eigenen Erfahrung heraus können sie glaubhaft vermitteln, dass Krankheit/ Behinderung überwunden bzw. mit der Krankheit selbstbestimmt gelebt werden kann. Als Stärken des „Peer Counceling“ werden gesehen:

    • Mut zur Veränderung aufzeigen
    • Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten vermitteln
    • Fähigkeit aufzeigen, das Leben wieder in die eigene Hand zu nehmen
    • Vermittlung der Grundhaltung, durch eigene Kraft Lösungen, Krisen, Krankheiten, etc. überwinden zu können
    • Einfühlungsvermögen/ Empathie für die Gefühlslage des Betroffenen aufgrund der eigenen Lebensgeschichte

    Durch den Einsatz von Betroffenen wird die Gefahr der „Distanz“ zwischen professionellem Helfer und behindertem Menschen abgebaut. Die Interaktion findet auf Augenhöhe statt, was wiederum den Zugang zu Hilfsangeboten und die Inanspruchnahme von Hilfsmaßnahmen für die Betroffenen wesentlich erleichtert.

    Gerade der Einsatz von ausgebildeten Ex-Usern (vgl. Konzept Laufer Mühle, soziotherapeutische Assistenten/IHK) in der Soziotherapie hat sich über mehr als zwei Jahrzehnte hin bewährt und zu beachtlichen Rehabilitations- und Sozialisationserfolgen geführt. Allerdrings wurden diese wichtigen Lebensberater und -begleiter von den Kostenträgern bis heute nicht als professionelle Unterstützer anerkannt.

    Unter anderem hat nun die die Diskussion um das BTHG dazu geführt, „Betroffene“ (in der Suchthilfe sind es die „Ex-User“) nach einer fundierten Qualifikation als Genesungsbegleiter anzuerkennen und ihnen einen dementsprechenden Stellenwert im Heilungsprozess von kranken Menschen zuzuweisen. Die eingeleiteten Schritte sind erfolgsversprechend.

    Leah Schreiner

    Leah Schreiner

    Projektmanagement/Risikomanagement, Geschäftsbereich Sucht-/ Kinder- und Jugendhilfe, Deutscher Orden Ordenswerke, Hauptgeschäftsstelle, Weyarn

    1. Ja! Zurzeit nehmen die Aufgaben, die das BTHG betreffen, mind. 50 Prozent meiner Arbeitszeit ein. Die Vorbereitungen auf die Umstellungen zum 01.01.2020 bedeuten sehr viel Fleißarbeit, sowohl für die Einrichtungen als auch für unser Team in der Hauptgeschäftsstelle (Flächenberechnungen, Kostenkalkulationen, neue Zahlungswege, neue Heimverträge etc.).

    2. Für einen Teil unserer Bewohner/innen wird die finanzielle Leistungsgewährung in Zukunft fairer abgebildet, z. B. werden einige Bewohner zukünftig einen Teil ihrer Rente erhalten und auch selbst verwalten können. Das finde ich schön, wenn man bedenkt, dass viele ihr Leben lang dafür gearbeitet haben. Es wird insgesamt deutlich, dass die seelisch behinderten Menschen in den Suchthilfe-Einrichtungen mehr Autonomie ausüben sollen/können.

    3. Da die Suchthilfe-Einrichtungen nur einen ganz kleinen Teil der gesamten Eingliederungshilfe einnehmen, können teilweise die Besonderheiten der „Suchthilfeklientel“ nicht ausreichend berücksichtigt werden. Das zeigt sich vor allem am zukünftigen „leistungsberechtigten Personenkreis“ (Zugangsvoraussetzungen). Es könnte sein, dass dadurch einige unserer Bewohner/innen in Zukunft Schwierigkeiten haben, Eingliederungshilfeleistungen zu erhalten.

    4. Für unseren Träger wird es hauptsächlich Veränderungen in den Verwaltungsprozessen geben. Diese werden umfangreicher und komplizierter. Es wird sich möglicherweise die Atmosphäre in den Einrichtungen verändern, welche bislang stark vom Prinzip der „Therapeutischen Gemeinschaft“ geprägt waren.

    5. Wir versuchen immer auf einem aktuellen Informationsstand bzgl. der jeweiligen Umsetzung auf Landesebene zu sein. Das sind bei unserem Träger fünf Bundesländer, und es gibt in jedem Bundesland verschiedene Regelungen. Bisher konnten wir gut Schritt halten und alle notwendigen Umsetzungsschritte einleiten.

    Karl-Heinz Schön

    Karl-Heinz Schön

    Leitung Fachbereich für Menschen mit seelischen Behinderungen und Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen, Landeswohlfahrtsverband Hessen, Darmstadt

    1. Welchen Nutzen hat das BTHG für Menschen, die aufgrund einer Suchterkrankung behindert sind/werden?
    Der Nutzen des BTHG geht über die Orientierung an einer Zielgruppe hinaus. Im LWV Hessen orientieren wir uns vorrangig am Willen eines behinderten Menschen und seinen Ressourcen. Mit dem Budget für Arbeit, der Ausgestaltung der künftigen Assistenzleistungen und der Beteiligung der Betroffenen an der Planung ihres Teilhabebedarfes werden dem behinderten Menschen (Sucht) Möglichkeiten für mehr Selbstbestimmung zur Verfügung stehen. Lohnenswerte Ziele zur Teilhabe in den Bereichen Arbeit, Wohnen, soziale Beziehungen und Freizeitgestaltung bieten Anreize, den Suchtmittelkonsum einzuschränken oder zu beenden. Die Orientierung am Sozialraum bietet die Chance, Individualisierung zu überwinden. Die Reduzierung des Einsatzes von Einkommen und Vermögen erleichtert die Inanspruchnahme von Unterstützung.

    2. Welche Nachteile hat das BTHG für Menschen, die aufgrund einer Suchterkrankung behindert sind/werden?
    Längerfristige Nachteile des BTHG für Menschen, die aufgrund einer Suchterkrankung behindert sind/werden, sehen wir keine. Kurzfristig kann es durch die Trennung der Fachleistungen von den existenzsichernden Leistungen und das Nettoprinzip zu Verunsicherungen kommen. An diese Veränderungen müssen sich die behinderten Menschen, ihre gesetzlichen Betreuer, die Träger der Grundsicherung bzw. der Hilfe zum Lebensunterhalt und die Leistungserbringer in besonderen Wohnformen in den nächsten beiden Jahren anpassen. Das kann vorübergehend im Einzelfall dazu führen, dass Personen in Angebote nicht aufgenommen oder aufgrund von offenen Forderungen der Leistungserbringer entlassen werden. Auch bei der Beratung und Bedarfsermittlung gab es zu Beginn der Umstellung in Hessen Anpassungsprobleme, die wir Zug um Zug durch Praxiserfahrung verbessern. Unser Bestreben als Leistungsträger ist es, allen erforderlichen Angeboten einen wirtschaftlichen Betrieb zu ermöglichen und damit ein zukunftsorientiertes Angebot für behinderte Menschen sicherzustellen.

    3. Welche wesentlichen Veränderungen durch das BTHG ergeben sich für die Suchthilfe aus Ihrer Sicht als Leistungsträger?
    Wir werden als Leistungsträger darauf drängen, vorrangige Leistungen in Anspruch zu nehmen. Im Bereich der Suchthilfe sind das z. B. die Angebote der medizinischen Rehabilitation (ambulant, ganztägig ambulant und stationär), die Soziotherapie und ambulante psychiatrische Pflege. Die Teilhabekonferenzen bieten dazu Möglichkeiten. Wir werden auch die nichtprofessionellen, sozialräumlichen Unterstützungsmöglichkeiten und verbindliche Kooperationen unterschiedlicher Unterstützungsangebote (be)fördern. Wir werden darauf hinarbeiten, Menschen in normalen Wohnformen und normalen Arbeitsplätzen zu unterstützen. Wir hoffen dabei auf eine partnerschaftliche Kooperation mit den Leistungserbringern in der Suchthilfe, so wie wir das in der Vergangenheit auch in vielen Fällen erlebt haben.

  • Das Modell „prospektive Standardkatamnese“ in der ambulanten Rehabilitation Sucht

    Das Modell „prospektive Standardkatamnese“ in der ambulanten Rehabilitation Sucht

    1 Einleitung

    Die ambulante medizinische Rehabilitation Abhängigkeitskranker wird in Deutschland schon seit vielen Jahren erfolgreich umgesetzt. Wirksamkeitsnachweise konnten verschiedentlich erbracht werden (Linster & Rückert, 1998, 2000; Walter-Hamann & Wessel, 2015; Lange et al., 2018). Die fachliche Einbindung der ambulanten medizinischen Rehabilitation in das umfassende Leistungsspektrum einer Suchtberatungsstelle hat sich dabei bewährt, weil dadurch eine Behandlungskontinuität sichergestellt wird, die für viele suchtkranke Menschen hilfreich ist.

    Der Baden-Württembergische Landesverband für Prävention und Rehabilitation gGmbH (bwlv) ist in Baden-Württemberg der größte Träger sowohl der Suchtkrankenhilfe als auch von Integrationsfachdiensten für schwerbehinderte Menschen. Er hat im Jahre 2005 für alle eigenen ambulanten Beratungs- und Behandlungsstellen die Implementierung einer prospektiven Standardkatamnese in einer neuen Form beschlossen. Diese sieht vor, die Überprüfung des Behandlungserfolgs sowie die Untersuchung von längerfristigen Effekten anhand von Erhebungen zu drei Messzeitpunkten – Beginn und Ende der Behandlung sowie Katamnese – vorzunehmen. Mittlerweile liegen Ergebnisse aus sechs Entlassjahrgängen vor. In diesem Artikel sollen das Modell der prospektiven Standardkatamnese sowie Überlegungen zur Implementierung von Katamnesen vorgestellt werden. Anhand von ausgewählten Ergebnissen zum Erfolg der Implementierung und zu Effekten im Behandlungsverlauf werden mögliche Vorteile des Modells aufgezeigt.

    2 Stichprobe, Untersuchungsdesign und Methoden

    2.1 Stichprobe (Entlassjahrgänge 2007 – 2012)

    Der Beginn der Datenerhebung war im Oktober 2005. Zielgruppe sind alle abrechenbaren Fälle der ambulanten medizinischen Suchtrehabilitation. Die Fälle aus dem Entlassjahrgang 2006 wurden aus der hier betrachteten Stichprobe herausgenommen, weil zu ihnen keine Daten aus dem (damals) neuen Kerndatensatz vorliegen (dieser wurde erst 2007 eingeführt). Die Stichprobe umfasst n=2.032 Fälle. Von n=111 Fällen liegen keine Einverständniserklärungen für die Erhebung mit Fragebögen vor, so dass insgesamt eine Stichprobe von n=1.921 dem Artikel zugrunde liegt. Untersucht wurden somit die Entlassjahrgänge 2007 bis 2012 von insgesamt 20 Einrichtungen.

    Vergleichsweise hoch ist mit einem Drittel (33,9 Prozent) der Frauenanteil bei der ambulanten Entwöhnungsbehandlung. Diese Form der Behandlung ist speziell für Frauen aufgrund der Wohnortnähe und der Behandlungszeiten eine Alternative zur klassischen stationären Entwöhnungs­behandlung, bei der der Frauenanteil 28,7 Prozent (Bachmeier et al., 2018) beträgt. Beim Familienstand fällt auf, dass Männer eher ledig (29,5 vs 19,8 Prozent) und Frauen eher geschieden oder verwitwet sind (30,6 vs 16,7 Prozent). Erwartungsgemäß leben die Rehabilitanden in stabilen Wohnverhältnissen. Die Erwerbsquote ist mit 71,7 Prozent deutlich höher als bei stationären Entwöhnungsbehandlungen (41,4 Prozent, vgl. Bachmeier et al., 2018). Während Männer eher erwerbstätig sind, finden sich in der Gruppe der Frauen eher nicht erwerbstätige Personen (Schülerinnen, Studentinnen, Hausfrauen). Die Sicherheit des Arbeitsplatzes ist nach Selbstangaben nur bei 8,2 Prozent gefährdet. 67,9 Prozent besitzen zum Zeitpunkt der Aufnahme eine gültige Fahrerlaubnis, bei 25,3 Prozent wurde sie wegen Alkohol oder Drogen entzogen. Das Durchschnittsalter der gesamten Stichprobe beträgt M=46,7 Jahre. 

    2.2 Untersuchungsdesign prospektive Katamnese

    Das „Modell prospektive Katamnese“ sieht drei Messzeitpunkte vor: Beginn und Ende der Behandlung sowie 1-Jahreskatamnese. Im Unterschied zu retrospektiven Katamnesen wird in prospektiven Katamnesen „von Anfang an festgelegt, welche Merkmale zu Beginn, zum Abschluss und im Rahmen der Katamnese erhoben werden sollen“ (DHS, 2019, S. 111).

    Die Datenerhebung erfolgt als schriftliche Befragung der Rehabilitanden und Therapeuten*. Neben Fragen aus dem Kerndatensatz Katamnese (KDS-2) wurden weitere Themenbereiche (z. B. Motivation, Selbstbewusstsein) aufgenommen. Insgesamt kommen fünf Fragebögen zum Einsatz, wobei die Fragen zu den verschiedenen Messzeitpunkten weitgehend identisch sind:

    + Fragebogen zu Beginn der Rehabilitation (Rehabilitand)
    + Fragebogen zu Beginn der Rehabilitation (Therapeut)

    + Fragebogen zum Ende der Rehabilitation (Rehabilitand)
    + Fragebogen zum Ende der Rehabilitation (Therapeut)

    + Fragebogen Kerndatensatz Katamnese (Rehabilitand)

    In jeder Einrichtung wurde ein Dokumentationsbeauftragter geschult, dabei wurden folgende Inhalte vermittelt:

    • Allgemeiner Ablauf
    • Aufgabenverteilung und Zuständigkeiten der verschiedenen Mitarbeiter(Dokumentationsbeauftragte, Therapeutische Mitarbeiter, Verwaltungsfachkräfte)
    • Zielgruppe
    • Beginn der Datenerhebung
    • Fragebögen
    • Dokumente und Arbeitshilfen
    • Fallbeispiele

    Die Fragebögen zu Beginn der ambulanten Rehabilitation sollen innerhalb der ersten vier Wochen nach der ersten abrechenbaren Stunde von dem Rehabilitanden und dem Therapeuten ausgefüllt werden. Die Fragebögen zum Ende der ambulanten medizinischen Rehabilitation sollen (sowohl von dem Rehabilitanden als auch von dem Therapeuten) in einem Zeitraum von vier Wochen vor dem Behandlungsende (Finanzierungsende) ausgefüllt werden. Bricht der Rehabilitand die Behandlung vorzeitig ab, ist dafür Sorge zu tragen, dass der entsprechende Fragebogen beantwortet wird, um eine positive Selektion zu vermeiden.

    Für 1-Jahreskatamnesen ist eine Schwankungsbreite des Erhebungszeitraums von minus einem Monat bis plus zwei Monaten vorgesehen. Für die katamnestische Erhebung gilt, dass die Rehabilitanden elf Monate nach Finanzierungsende angeschrieben werden sollten. Bei diesem Anschreiben wird ein Fragebogen sowie ein Freiumschlag mit der Adresse der Beratungsstelle beigelegt (Porto zahlt Empfänger). Ist sechs Wochen nach Erstversendung noch keine Katamnese eingetroffen, wird ein erstes Erinnerungsschreiben versandt. Weitere sechs Wochen später wird bei noch nicht eingetroffener Katamnese ein zweites Erinnerungsschreiben mit erneutem Fragebogen und Freiumschlag versandt. Durch die Vergabe einer Fallnummer ist eine anonymisierte Auswertung sichergestellt.

    In Tabelle 1 werden die Rücklaufquoten für den Fragebogen zu Beginn und zum Ende der ambulanten medizinischen Rehabilitation (Rehabilitand) differenziert nach Geschlecht und Diagnose aufgelistet. Die Rücklaufquoten zu Beginn der Behandlung sind befriedigend. Die Rücklaufquoten am Ende der Behandlung verdeutlichen, dass es nicht immer gelungen ist, vorzeitige Beender zum Ausfüllen eines Fragebogens zu bewegen. Geschlechtsspezifische Unterschiede in den Rücklaufquoten lassen sich nicht erkennen. Die Gruppe der Rehabilitanden mit Hauptdiagnose Opioide hat deutlich niedrigere Rücklaufquoten, was u. a. mit einer schlechteren Haltequote zu erklären ist.

    Tabelle 1: Rücklaufquoten der Fragebögen für Rehabilitanden

    2.3 Auswertungen

    Bei den Auswertungen handelt es sich um deskriptive Darstellungen mit Angaben zu Häufigkeiten, Prozenten sowie Mittelwerten und Standardabweichungen. Darüber hinaus wurden Chi-Quadrat-Tests und für Mittelwertsvergleiche t-Tests durchgeführt. Die Berechnung der Effektstärken erfolgte beim t-Test mit Cohen´s d und beim Chi-Quadrat-Test mit Cramer-V. Als Programm für die Auswertung wurde SPSS Statistics Version 21 verwendet.

    3 Ergebnisse

    3.1 Unterscheiden sich Fälle mit bzw. ohne Einverständniserklärung?

    Die Angaben aus Fragen des Deutschen Kerndatensatzes (KDS) wurden mit den Angaben aus den Klientenlisten der Implementierungsstudie „gematched“. So konnte untersucht werden, ob sich Fälle mit Einverständniserklärung (n=1.921) von Fällen ohne Einverständniserklärung (n=111) unterscheiden. Bei den meisten Variablen zeigten sich keine Unterschiede zwischen diesen beiden Populationen (z. B. Geschlecht, Hauptdiagnose, Nationalität, Auflagen, Partnerbeziehung, Migrationsstatus, höchster Schulabschluss, höchster Ausbildungsab­schluss, Erwerbs­situation, Wohnsituation, problematische Schulden, ambulante medizinische Rehabilitation in der Vorbehandlung). Bei folgenden Variablen konnten Unterschiede ermittelt werden:

    • Form der Entlassung: Fälle ohne Einverständniserklärung beenden im Verlauf der Behandlung die Therapie eher vorzeitig. Die Abbruchquote durch den Rehabilitanden ist deutlich höher (30,9 vs 10 Prozent; p=.000; Cramer-V=.193).
    • Es gibt deutliche Unterschiede bzgl. der Quoten von Rehabilitanden ohne Einverständniserklärung in den jeweiligen Einrichtungen (range 0 bis 26 Prozent, p = .000, Cramer-V = .286).
    • Fälle ohne Einverständniserklärung haben im Vorfeld mehr Erfahrungen mit der Suchtkrankenhilfe (Jemals zuvor Suchthilfe beansprucht: 77,6 vs 62,7 Prozent, p=002; Cramer-V=.074). Dies zeigt sich z. B. bei den Angaben zu Vorerfahrungen mit stationären Entwöhnungsbehandlungen oder Entgiftungen.
    • Folgerichtig finden sich bei den Fällen ohne Einverständniserklärung mehr Wiederaufnahmen (56,1 vs 45,8 Prozent, p=.045; Cramer-V=.049).
    • Familienstand: Bei den Fällen ohne Einverständniserklärung finden sich eher ledige oder geschiedene Rehabilitanden (p=.048; Cramer-V=.073).

    Zusammengefasst lässt sich unter Berücksichtigung der Effektstärken konstatieren, dass die Fälle ohne Einverständniserklärung mehr Erfahrungen im Hinblick auf suchtspezifische Vorbehandlungen haben und die Therapie eher vorzeitig abbrechen. Der größte Effekt ergibt sich allerdings bei den unterschiedlichen Quoten von Rehabilitanden ohne Einverständniserklärung in den jeweiligen Einrichtungen. Die Vermittlung der Notwendigkeit von Datenerhebungen durch die jeweiligen Therapeuten wird in den Einrichtungen offenbar unterschiedlich gestaltet. In Implementierungsstudien sollte diesem Aspekt besondere Beachtung geschenkt werden.

    3.2 Behandlungsverlauf

    Die Behandlungsdauer liegt im Durchschnitt bei 208 Tagen. Erwähnenswert ist die Dauer der Vorbereitungsphase vor Beginn der ambulanten medizinischen Rehabilitation. Diese beträgt insgesamt knapp vier Monate (M=3,9) und ist durch keine Regelfinanzierung abgedeckt. Bei Rehabilitanden, die illegale Substanzen konsumieren, ist die Vorbereitungsphase im Schnitt ca. einen Monat länger als bei Alkoholkonsumenten. Die Ergebnisse zur Hauptdiagnose zeigen, dass die ambulante medizinische Rehabilitation in der Regel nur bei der Indikation Alkoholabhängigkeit (93,5 Prozent) durchgeführt wird. 85,9 Prozent beenden die Behandlung planmäßig, wobei Geschlechtsunterschiede nicht bedeutsam sind.

    3.2.1 Suchtmittelkonsum   

    Die Entwicklung des Substanzkonsums wurde nach Hauptdiagnosen getrennt ausgewertet. Die nachfolgenden Aussagen beziehen sich nur auf Rehabilitanden mit der Hauptdiagnose Alkohol (für die anderen Diagnosegruppen sind die Fallzahlen zu niedrig).

    Mittels Selbstangaben zum Suchtmittelkonsum wurde zu Beginn und am Ende der Behandlung der Suchtmittel­konsum erfasst. Es wurden nur Fälle ausgewertet, bei denen zu Beginn und am Ende ein Fragebogen vorlag. Es fällt auf, dass bereits zu Beginn der Behandlung 85,3 Prozent der Rehabilitanden abstinent von Alkohol leben (14,5 Prozent kein Konsum in den letzten zwölf Monaten, 70,8 Prozent kein Konsum in den letzten 30 Tagen). Im Verlauf der Behandlung kann die Alkoholabstinenz stabilisiert werden, so dass am Ende der Behandlung 89,7 Prozent abstinent von Alkohol leben (78,1 Prozent kein Alkoholkonsum während der Behandlung, 11,6 Prozent kein Alkoholkonsum in den letzten 30 Tagen). Etwa ein Fünftel der Rehabilitanden (21,9 Prozent) hatte während der Behandlung einen Rückfall mit Alkohol. Substanzen wie Opioide, Kokain, Crack, Amphetamine, Stimulantien, Ecstasy, Halluzinogene sowie flüchtige Lösungsmittel spielen bei Alkohol-Patienten keine Rolle. Bei 6,3 Prozent der Klientel wurde Cannabis in den letzten zwölf Monaten vor der Behandlung konsumiert. Während der Behandlung haben nur zwei Prozent der Rehabilitanden Cannabis konsumiert.

    Eine etwas größere Bedeutung beim Begleitkonsum spielen Barbiturate/Schmerzmittel und Beruhigungsmittel. Da es sich um Selbstangaben handelt, kann nicht geklärt werden, ob es sich dabei zum Teil um Substanzen handelt, die ärztlich verschrieben wurden. Gesondert dargestellt wird der Tabakkonsum. Ein Großteil der Alkohol-Rehabilitanden raucht zu Beginn der Behandlung (fast) täglich (60,8 Prozent). Im Verlaufe der Behandlung gelingt es kaum, das Rauchverhalten positiv zu beeinflussen. Der Anteil der täglichen Raucher (60,1 Prozent) ist nahezu auf dem gleichen Niveau (vgl. Tabelle 2).

    Tabelle 2: Substanzkonsum zu Beginn und am Ende der Behandlung (Rehabilitanden mit Hauptdiagnose Alkohol; N = 1.309; Daten mit zwei Messzeitpunkten)
    3.2.2 Zufriedenheit mit verschiedenen Lebensbereichen

    In allen Lebensbereichen ergibt sich im Verlauf der Behandlung eine Verbesserung der Zufriedenheit (vgl. Tabelle 3), die jeweils statistisch abgesichert ist (t-Test; p=.000). Bei Betrachtung der Effektstärken zeigen sich die größten Effekte bei der Zufriedenheit in Bezug auf Straftaten (d=0,66). Hier muss jedoch berücksichtigt werden, dass nur ein geringer Anteil der Rehabilitanden (n=71) dieses Item beantwortet hat, weil bei den meisten Rehabilitanden keine Straftaten oder sonstige Delikte vorliegen. Weiterhin verbessern sich bei den Rehabilitanden die Zufriedenheitswerte in Bezug auf den seelischen Zustand (d=0,41), die Alltagsbewältigung (d=0,34) und die Freizeitgestaltung (d=0,32). Die kleinsten Effekte ergeben sich beim Suchtmittelgebrauch (d=0,15), bei der Wohnsituation (d=0,20), bei der Familie (d=0,22) oder bei Freunden und Bekannten (d=0,22). Bei der Entwicklung der Zufriedenheit mit dem Suchtmittelkonsum muss allerdings berücksichtigt werden, dass die Rehabilitanden bereits zu Behandlungsbeginn sehr gute Zufriedenheitswerte (M=1,86) haben, die vermutlich durch Effekte der Vorbereitungsphase zu erklären sind.

    Tabelle 3: Zufriedenheit mit einzelnen Lebensbereichen zu Beginn und am Ende der Behandlung
    3.2.3 Veränderungen im intrapsychischen Bereich

    Neben den Fragen des Kerndatensatzes Katamnese (KDS-2) wurden weitere Fragen (nachfolgend kursiv) in die Fragebögen integriert. Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen (vgl. auch Tabelle 4):

    Abstinenzmotivation
    Ich möchte dauerhaft abstinent leben: Die Abstinenzmotivation ist bereits zu Beginn der Behandlung auf einem sehr hohen Niveau und kann im Verlauf der Behandlung weiter stabilisiert werden.

    Akzeptanz der Suchtkrankheit
    Ich kann meine Suchtkrankheit akzeptieren: Insgesamt lässt sich konstatieren, dass es im Rahmen der therapeutischen Arbeit gelingt, bei den Rehabilitanden die Akzeptanz der Suchtkrankheit zu verstärken. Den deutlichsten Effekt gibt es bei Cannabisabhängigen (d=0,55).

    Problembewusstsein
    Ich habe erkannt, dass mein Suchtmittelkonsum in vielen Bereichen meines Lebens zu Problemen geführt hat: Das Problembewusstsein ist bereits zu Beginn der Behandlung sehr ausgeprägt und bleibt auch während der Behandlung weitgehend konstant. Den stärksten Effekt gibt es wiederum bei der Gruppe der Cannabisabhängigen (d=0,30).

    Therapiemotivation
    Frage zu Beginn: Ich bin bereit, mich aktiv in die Therapie einzubringen.
    Frage am Ende: Ich habe mich aktiv in die Therapie eingebracht.
    Die Therapiemotivation, die zu Beginn der Behandlung auf hohem Niveau ist, nimmt im Behandlungsverlauf ab. Während zu Behandlungsbeginn die Therapiemotivation eher überschätzt wurde, gibt es vermutlich zum Behandlungsende eine realistischere Einschätzung.

    Selbstbewusstsein
    Ich halte mich für einen selbstbewussten Menschen: Das Selbstbewusstsein kann im Verlauf der Behandlung gestärkt werden. Zu Behandlungsbeginn gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen Männern und Frauen dergestalt, dass Frauen weniger Selbstbewusstsein haben. Im Behandlungsverlauf kann aber das Selbstbewusstsein bei den Frauen mehr gestärkt werden als bei den Männern (d=0,40 versus d=0,19).

    Tabelle 4: Intrapsychische Variablen zu Beginn und am Ende der Behandlung

    4 Zusammenfassung, Diskussion und Schlussfolgerungen für die Praxis

    4.1 Erfolgsfaktoren für die Implementierung

    In klassischen Katamnesestudien wird häufig die Situation der Rehabilitanden zum Katamnesezeitpunkt ohne Bezug zur Situation zu Behandlungsbeginn erhoben. Das hier vorgestellte „Modell prospektive Katamnese“ sieht drei Erhebungszeitpunkte vor, so dass Effekte im Behandlungsverlauf erfasst und die Angaben zum Katamnesezeitpunkt mit den vorherigen verglichen werden können. (Inwieweit die Veränderungswerte stabil sind, soll in anderen Artikeln untersucht werden.) Da der Rehabilitand den Fragebogen bereits im Rahmen der Behandlung ausfüllt, können bei etwaigen Rückfragen die Therapeuten behilflich sein. Dadurch wird die compliance erhöht. Im Grunde handelt es sich hier um eine Art Katamneseschulung, die auch von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS, 2019) als Strategie zur Verbesserung der Teilnahme und des Rücklaufs empfohlen wird. Bei der Implementierung von Katamnesen ist es wichtig, die Therapeuten in der Vermittlung des Sinns von Datenerhebungen zu schulen. Darin liegt ein bedeutsamer Erfolgsfaktor. Es konnte gezeigt werden, dass die Bereitschaft der Rehabilitanden zur Teilnahme an Studien nicht so sehr von Variablen der Rehabilitanden abhängt, sondern vielmehr von der Überzeugungskraft der Therapeuten und ihrer Fähigkeit, die Notwendigkeit von Studien zu vermitteln. Zusammenfassend empfiehlt sich bei der Implementierung von Katamnesen ein prospektiver Ansatz mit mehreren Messzeitpunkten sowie eine umfassende Schulung der durchführenden Personen.

    4.2 Effekte im Behandlungsverlauf

    Vor Beginn der ambulanten medizinischen Rehabilitation gibt es in der Beratungsstelle in der Regel eine Vorbereitungsphase ohne Regelfinanzierung zur Förderung der Abstinenz­motivation und der Veränderungs- und Behandlungsbereitschaft. In dieser Phase (ca. vier Monate) werden mit hoher Wahrscheinlichkeit erste therapeutische Effekte erzielt. So leben zu Beginn der ambulanten Rehabilitation bereits einige Rehabilitanden eine gewisse Zeit abstinent von Alkohol (und Drogen), und die Zufriedenheit ist in vielen Lebensbereichen auf einem hohen Niveau. Die Alkoholabstinenz kann während der Behandlung stabilisiert werden, während es beim Tabakkonsum kaum Veränderungen gibt. Es sollte überlegt werden, ob zusätzlich je nach Indikation Tabakentwöhnungskurse auch im Rahmen der ambulanten Rehabilitation angeboten werden. Während der Behandlung zeigen sich bzgl. der Zufriedenheit in verschiedenen Lebensbereichen aus Sicht der Rehabilitanden im psychischen Bereich die größten positiven Effekte. Im Rahmen der ambulanten medizinischen Rehabilitation gelingt es zudem, die Akzeptanz der Suchtkrankheit zu stärken und das Selbstbewusstsein speziell bei den Frauen zu verbessern. Die Effekte im Behandlungsverlauf ergänzen in einem positiven Sinne die Ergebnisse von Katamnesen und helfen bei deren Interpretation.

    4.3 Schlussfolgerungen

    Die ambulante medizinische Rehabilitation wird hauptsächlich bei der Indikation Alkoholabhängigkeit durchgeführt. Erste Ergebnisse bei Konsumenten von illegalen Drogen im Behandlungsverlauf zeigen, dass diese Behandlungsform auch für diese Indikation durchaus eine erfolgreiche Option darstellt. Die Organisation, Durchführung und Auswertung von prospektiven Katamnesen im ambulanten Setting ist sehr aufwändig. Katamnese­erhebungen sollten sich daher auf eine definierte und begrenzte Population (z. B. ambulante medizinische Rehabilitation) beziehen. Prinzipiell sind selbstverständlich auch für weitere Klientengruppen ambulanter Suchthilfeeinrichtungen Katamnesestudien wünschenswert. Diese sollten aber nicht als Standardkatamnese, sondern eher im Rahmen von finanzierten Forschungsprojekten durchgeführt werden.

    *Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit die männliche Sprachform verwendet. Dies impliziert jedoch keine Benachteiligung des weiblichen Geschlechts.

    Kontakt:

    Detlef Weiler
    Baden-Württembergischer Landesverband für Prävention und Rehabilitation gGmbH
    Referat Qualitätsmanagement und Forschung
    Renchtalstraße 14
    77871 Renchen
    Tel. 07843/949-203
    detlef.weiler@bw-lv.de

    Angaben zu den Autoren:

    Detlef Weiler ist Diplom-Psychologe und arbeitet beim Baden-Württembergischen Landesverband für Prävention und Rehabilitation (bwlv) im Referat Qualitätsmanagement und Forschung. Zuvor war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in verschiedenen Institutionen tätig (z. B. Institut für Therapieforschung in München, Universitätskrankenhaus Hamburg Eppendorf).
    Dr. Hans Wolfgang Linster war wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie am Psychologischen Institut der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Jetzt ist er im Ruhestand und dort weiterhin als Lehrbeauftragter tätig.
    Wolfgang Langer, Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut, ist Leiter der Suchtberatungsstellen Rastatt und Baden-Baden. Seit 1987 ist er als Therapeut und Berater im Bereich Suchtbehandlung tätig.

    Literatur:
    • Bachmeier, R. / Bick-Dresen, S. / Dreckmann, I. / Feindel, H. / Kemmann, D. / Kersting, S. / Kreutler, A. / Lange, N. / Medenwaldt, J. / Mielke, D. / Missel, P. / Premper, V. / Regenbrecht, G. / Sagel, A. / Schneider, B. / Strie, M. / Teigeler, H. / Weissinger, V. (2018). Effektivität der stationären Suchtrehabilitation – FVS-Katamnese des Entlassjahrgangs 2015 von Fachkliniken für Alkohol- und Medikamentenabhängige. Sucht aktuell, 1, 49-65.
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) (Hrsg.) (2010). Deutscher Kerndatensatz zur Dokumentation im Bereich der Suchtkrankenhilfe. Stand: 05.10.2010. www.dhs.de
    • Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) (Hrsg.) (2019). Deutscher Kerndatensatz zur Dokumentation im Bereich der Suchtkrankenhilfe 3.0. Stand: 01.01.2019. www.dhs.de
    • Lange, N. / Neeb, K. / Parusel, F. / Missel, P. / Bachmeier, R. / Brenner, R. / Fölsing, S./ Funke, W. / Herder, F. / Kersting, S. / Klein, T. / Kramer, D. / Löhnert, B. / Malz, D. / Medenwaldt, J. / Bick-Dresen, S. / Sagel, A. / Schneider, B. / Steffen, D. / Verstege, R. / Weissinger, V. (2018). Effektivität der ambulanten Suchtrehabilitation – FVS-Katamnese des Entlassjahrgangs 2015 von Ambulanzen für Alkohol- und Medikamentenabhängige. Sucht aktuell, 1, 87-94.
    • Linster, H.W. & Rückert, D. (1998). Ambulante Behandlung von Abhängigkeitskranken. Ein Beitrag zur Untersuchung der Effektivität ambulanter Entwöhnungsbehandlung von Alkoholikern/innen. Sucht Aktuell, 3+4, 25-30.
    • Linster, H.W. & Rückert, D. (2000). Wirksamkeit ambulanter Entwöhnungsbehandlung abhängigkeitskranker Patientinnen und Patienten. In DHS (Hrsg.). Individuelle Hilfen für Suchtkranke. Früh erkennen, professionell handeln, effektiv integrieren. Schriftenreihe zum Problem der Suchtgefahren, Band 42, 187- 210. Freiburg: Lambertus.
    • Walter- Hamann, R. & Wessel, t (2015). Einführung von Katamnesen in der Ambulanten Rehabilitation Sucht – Ausgewählte Ergebnisse der ersten Entlass-Jahrgänge 2011 und 2012. In: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (Hrsg.): DHS Jahrbuch Sucht 2015. Pabst, Lengerich: S. 199-213.
  • Psychosoziale Belastungen und Suchtmittelkonsum von unbegleiteten minderjährigen Ausländer/innen

    Psychosoziale Belastungen und Suchtmittelkonsum von unbegleiteten minderjährigen Ausländer/innen

    David Schneider
    Dr. Dieter Kunz
    Sabine Köhler

    Kinder und Jugendliche, die jünger als 18 Jahre alt sind und ohne Eltern bzw. Erziehungsberechtigte in Deutschland einreisen, wurden zunächst „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ (umF) genannt. Seit 2015 wird der Begriff „unbegleitete minderjährige Ausländer/innen“ (umA) verwendet, das BAMF spricht von „unbegleiteten Minderjährigen“. Alle Bezeichnungen sind inhaltlich nicht zufriedenstellend. So vernachlässigt der Begriff „Ausländer/innen“, dass Jugendliche ihr Heimatland unfreiwillig verlassen haben und besonders schutzbedürftig sind. Die Bezeichnung „Flüchtling“ beinhaltet Verwechslungsgefahr mit dem asylrechtlichen Status. Unbegleitete minderjährige Ausländer/innen erhalten zunächst eine Duldung. Vielen der Flüchtlingsstatus nicht zuerkannt und eine Flucht ohne Eltern bedeutet weit mehr als eine fehlende „Begleitung“. 

    Diese Kinder und Jugendlichen werden durch das Jugendamt in Obhut genommen und erhalten Leistungen der Jugendhilfe (SGB VIII). Dem Mediendienst Integration zufolge habe das Bundesfamilienministerium auf Anfrage mitgeteilt, dass Anfang 2018 rund 28.500 unbegleitete Minderjährige und 25.500 junge Volljährige in der Zuständigkeit der Jugendhilfe waren. Die Zahl der jungen Volljährigen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, da viele Jugendliche im Verlauf der Jugendhilfemaßnahme volljährig geworden sind („junge volljährige Ausländer/innen“). Ein Verbleib in der Jugendhilfe ist über das 18. Lebensjahr hinaus bis maximal zum 21. Lebensjahr nach § 41 SGB VIII möglich, wenn besondere Gründe dafür vorliegen, der bzw. die Jugendliche dies beantragt und das Jugendamt diesem Antrag zustimmt.

    Im Wissen um die oben beschriebenen und weitere Kritikpunkte wird zur besseren Lesbarkeit dennoch im Folgenden die Abkürzung „umA“ benutzt bzw. von Jugendlichen gesprochen. Darin sind auch die über 18-Jährigen eingeschlossen.

    Die Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Ausländer/innen

    Bei denjenigen, die als umA in Deutschland ankommen, handelt es sich um eine sehr heterogene Gruppe. Die überwiegend männlichen Kinder und Jugendlichen kommen aus verschiedenen Ländern, der Großteil stammt derzeit aus Afghanistan und Syrien. Vor ihrer Flucht waren sie in unterschiedlichem Ausmaß Bedrohung, Gewalt, Verfolgung, Folter, Krieg/Bürgerkrieg usw. ausgesetzt. Es gibt nicht wenige Jugendliche, die von erlebten Entführungen und/oder Foltermethoden wie Scheinhinrichtungen, Elektroschocks oder Aufhängen an den Füßen berichten.

    UmA unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Fluchtgründe, auf ihr Alter bei Beginn der Flucht, auf die Dauer der Flucht und deren Verlauf. Eine Flucht aus dem Sudan mit der Durchquerung der Sahara, einem Aufenthalt in Libyen und der Überquerung des Mittelmeers ist mit einer Vielzahl lebensbedrohlicher Situationen verbunden, meist auch mit anhaltender oder wiederholter schwerwiegender interpersoneller Gewalt – diese erleben sie selbst und/oder werden Zeuge davon, häufig auch von Todesfällen (z. B. Ertrinkende im Mittelmeer). UmA unterscheiden sich außerdem hinsichtlich ihrer Herkunftsfamilie, ihrer Familiensituation, der Schul- und beruflichen Ausbildung, ihrer Interessen und Kompetenzen etc. Vor diesem Hintergrund werden umA einerseits als besonders belastet, vulnerabel und schutzbedürftig beschrieben, andererseits als besonders resilient und flexibel.

    Für alle umA ist das Leben in Deutschland mit der Erfahrung verbunden, sich in einer bis dato fremden Kultur mit teilweise anderen Normen und Werten orientieren und zurechtfinden zu müssen. Dies verlangt das Erlernen einer neuen Sprache und etliche weitere gesellschaftliche, soziale und kulturelle Anpassungsleistungen (vgl. z. B. Eisbergmodell nach E. Hall in Müller & Gelbrich, 2014). Interkulturelle Schwierigkeiten und Akkulturationsstress (siehe auch Kulturschockmodell nach K. Oberg in Erll & Gymnich, 2013) sind die Regel, auch von Diskriminierungs­erfahrungen wird berichtet.

    Mehr oder weniger offensichtlich leiden umA unter dem Verlust wichtiger Bezugspersonen, vermissen die (Kern-)Familie und Freunde. Auch wenn mit Hilfe von Smartphones der Austausch leichter möglich ist als früher, bricht dieser häufig ab oder beinhaltet Nachrichten über den Tod von Verwandten, Freunden oder Nachbarn. Viele leiden unter Schuldgefühlen, selbst in Sicherheit zu sein. Hinzu kommt die Unmöglichkeit, die Trauerprozesse in der Familie mit zu vollziehen. Häufig besteht der Wunsch, die Familie zu unterstützen oder einen „Auftrag der Familie“ zu erfüllen.

    Im Gegensatz zur Idee, dass das Ankommen in Deutschland Sicherheit und Ruhe bedeutet, sind die Jugendlichen mit vielfältigen Unsicherheiten konfrontiert: Das Asyl- und Aufenthaltsrecht, die unterschiedlichen Aufenthaltstitel und die vielfachen Neuerungen und Veränderungen sind selbst bei verbessertem Sprachniveau kaum durchschaubar. Der unsichere Aufenthaltsstatus, das Warten auf die Anhörung und auf den Bescheid sowie eine prekäre soziale Situation und eine ungeklärte Zukunftsperspektive stellen weitere Belastungen dar.

    Der Schulbesuch ist mit zahlreichen Herausforderungen verbunden: Viele Jugendliche müssen eine neue Schrift und fast alle müssen die Sprache erlernen. Das deutsche Schul- und Ausbildungssystem mit seinen vielfältigen Wegen, das Verhalten der Lehrer/innen und  Schüler/innen und ihr Umgang miteinander, die Vermittlung des Unterrichtsgegenstands usw. unterscheiden sich von den Bedingungen im Herkunftsland und bergen vielfältige Anlässe für Missverständnisse. Häufig wird darauf bestanden, eine „richtige Schule“ besuchen zu können. Der Besuch der Regelschule ist aufgrund des Alters, der nicht ausreichenden Sprachkenntnisse und vielfach auch der Schulbildung oft nicht bzw. nicht sofort möglich. Zeitgleich haben umA Entwicklungsaufgaben zu bewältigen.

    Viele Jugendliche leiden unter Stress- und Trauma­folge­symptomen wie sich aufdrängenden unangenehmen Erinnerungen, Schlafstörungen sowie Kopf- und Bauchschmerzen, die die schulische und berufliche Entwicklung behindern. Zu beachten ist außerdem, dass u. a. Hoffnungslosigkeit, ein fehlendes Zugehörigkeitserleben, der Eindruck, anderen eine Last zu sein, und Schlafstörungen Risikofaktoren für Suizidalität sind (Teismann et al., 2016).

    Für diese psychischen Belastungen existieren wirksame Behandlungsmethoden, die z. T. adaptiert werden müssen (verändertes Setting aufgrund der Zusammenarbeit mit Dolmetscher/innen, unterschiedliche Krankheits- und Heilungskonzepte, kultursensibles Vorgehen, Auftreten aktueller Stressoren und kritischer Lebensereignisse infolge der Migration und der Situation im Heimatland usw.) Der Zugang zu psychiatrischer und psychotherapeutischer Versorgung ist erschwert, da viele Jugendliche entsprechende Behandlungsangebote vor dem Hintergrund kultureller Zuschreibungen (zunächst) ablehnen, aber auch, weil viele Behandler/innen der Zusammenarbeit mit Dolmetscher/innen und Kulturvermittler/innen zurückhaltend bis skeptisch gegenüber stehen.

    Das Zusammenleben mit anderen umA ist teils hilfreich (Verständigung in der Muttersprache, Erklärungen und Unterstützung durch die „Erfahreneren“), teils aber auch eine Herausforderung für jeden Einzelnen. Allein die unterschiedliche Bedeutung von Gesten in verschiedenen Ländern (Reker & Grosse, 2010) bietet vielfältige Möglichkeiten für Missverständnisse. Auch Jugendliche aus demselben Land unterscheiden sich oft im Hinblick auf ihre (religiöse) Einstellung und ihre Sozialisation. Dementsprechend ist die Ausübung von sozialem Druck nicht selten und stellt für die persönliche Weiterentwicklung mitunter ein Hemmnis dar. Die erlebten Anforderungen an Eigenständigkeit während der Flucht erschweren mitunter das Einhalten der in den Jugendhilfeeinrichtungen geltenden Routinen und Regeln und andere Anpassungsleistungen.

    Explorative Untersuchung des Vereins Jugendberatung und Jugendhilfe

    Um Hinweise auf konkrete psychosoziale Belastungen, den Suchtmittelkonsum und die Ressourcen von unbegleiteten minderjährigen und jungen volljährigen Ausländer/innen zu erhalten, führte der Verein Jugendberatung und Jugendhilfe (JJ) eine explorative Untersuchung durch. Befragt wurden 140 Klienten/innen und ihre Bezugsbetreuer/innen in den eigenen stationären Jugendhilfeeinrichtungen. Der Verein bietet neben Jugend- und Suchtberatung, Betreutem Wohnen, Rehabilitation und Pflege auch Hilfen für Bildung und Erziehung sowie ambulante und stationäre Jugendhilfe an. In mehreren Einrichtungen besteht ein vollstationäres pädagogisches Betreuungsangebot auf der Grundlage des SGB VIII, Hilfen zur Erziehung gem. §§ 27, 34, auch in Verbindung mit §§ 35a, 41 und 42.

    Die Erkenntnisse der Befragung sollen dazu genutzt werden, die Betreuungs- und Behandlungsangebote für junge Ausländer/innen mit Fluchthintergrund pass- und zielgenau weiterzuentwickeln. Die Ergebnisse werden im Folgenden vorgestellt.

    Folgende Einrichtungen des Vereins waren an der vorliegenden Untersuchung beteiligt (Tab. 1):

    Tab. 1: Beteiligte Einrichtungen

    Methodik

    Stichprobe und Einschlusskriterien

    Zwischen dem 14. und 25. August 2017 wurden in den oben aufgelisteten stationären Jugendhilfeeinrichtungen insgesamt 140 Klienten/innen und ihre Bezugsbetreuer/innen befragt. Es handelt sich um eine Vollerhebung, es gab keine Ausschlusskriterien. 

    Messinstrumente

    Folgende Messinstrumente wurden eingesetzt:

    • ein selbst entwickeltes Fremdbeurteilungsinstrument zur Erfassung der Belastungen und des Suchtmittelkonsums der Jugendlichen, das von dem/der zuständigen Bezugsbetreuer/in auszufüllen war,
    • deutsche Version und Übersetzung (in die jeweilige Muttersprache) des SDQ (Strengths and Difficulties Questionnaire; Goodman, 2005). Dieser Fragebogen zu emotionalen und verhaltensspezifischen Stärken und Schwächen wurde von der/dem Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen bearbeitet. Subskalen: Emotionale Probleme, externalisierende Verhaltensauffälligkeiten, Hyperaktivität, Probleme mit Gleichaltrigen, Prosoziales Verhalten.

    Ergebnisse

    Das Datenmaterial besteht aus den Angaben der Bezugsbetreuer/innen zu 140 von ihnen betreuten unbegleiteten minderjährigen und jungen volljährigen Ausländer/innen.

    Soziodemographische Daten

    Die betreuten Jugendlichen sind im Alter von 13 bis 21 Jahren. Davon sind 95 Prozent männlich und fünf Prozent weiblich. 82,1 Prozent der umA sind zwischen 16 und 18 Jahre alt, zehn Prozent sind zum Erhebungszeitpunkt volljährig, und 7,9 Prozent sind jünger als 16 Jahre.

    Herkunft und Aufenthalt in Deutschland

    Ein Großteil der umA kommt ursprünglich aus Afghanistan (54,3 Prozent), gefolgt von Syrien (17,1 Prozent) und Eritrea (6,4 Prozent). Weitere Herkunftsländer sind Äthiopien (2,9 Prozent), Guinea (3,6 Prozent), Iran (2,1 Prozent), Myanmar (2,1 Prozent), Pakistan (2,1 Prozent), Somalia (2,9 Prozent) und weitere Länder (6,3 Prozent). 22 Prozent der Jugendlichen leben kürzer als ein Jahr in Deutschland, 56 Prozent seit einem bis zwei Jahren und 22 Prozent seit über zwei Jahren.

    Flucht

    Die Fluchtdauer der Jugendlichen variiert. Die meisten (58,2  Prozent) waren länger als einen Monat, 15,7 Prozent über sechs Monate und sechs Prozent über ein Jahr auf der Flucht. Bei etwas mehr als 20 Prozent der Jugendlichen dauerte die Flucht weniger als einen Monat (s. Abb. 1).

    Abb. 1: Fluchtdauer (Angabe in Prozent)

    Der Anteil der Jugendlichen, die auf dem Landweg geflüchtet sind, beträgt 39,7 Prozent. 51,5 Prozent flüchteten mit dem Boot und auf dem Landweg, 8,5 Prozent kamen per Flugzeug nach Deutschland. 

    Lebensbedrohung

    Die Fachkräfte geben an, dass für 81,2 Prozent der Jugendlichen eine Lebensbedrohung im Heimatland und/oder auf der Flucht bestand. In 63,9 Prozent der Fälle gibt es zusätzlich zu den Schilderungen der Jugendlichen weitere Hinweise auf eine solche Bedrohung. Die Items „Lebensbedrohung des Jugendlichen im Heimatland bzw. auf der Flucht“ und das Item „Konfliktbewältigung“, mit dem die Fähigkeit beurteilt wird, in sozialen Konflikten zu bestehen, korrelieren signifikant negativ. Mit der „Lebensbedrohung“ korreliert außerdem das Item „emotionale Stabilität“. Je mehr Lebensbedrohung angegeben wird, desto schlechter wird die emotionale Stabilität und die Konfliktbewältigung bewertet.

    Die Items beziehen sich auf die „Zielerreichungsskala“, mit der in den umA-Einrichtungen von JJ gemessen wird, inwieweit die Jugendlichen in der Lage sind, eigenverantwortlich und gemeinschaftsfähig zu handeln. Diese Ziele der Jugendhilfemaßnahme leiten sich ab von § 1 SGB VIII. Um den jeweiligen individuellen Entwicklungsstand abzubilden, werden zu Beginn, halbjährig im Verlauf und am Ende der Maßnahme verschiedene Kompetenzen und Verhaltensweisen der Jugendlichen bewertet. Die Bewertung erfolgt anhand einer Punkteskala von 0 bis 10 Punkten, wobei mit verbessertem Entwicklungsstand oder Erfüllungsgrad der Anforderung die Punktzahl wächst. Die Bewertung findet jeweils in Kleingruppen von Mitarbeitern/innen statt.

    Kontakt zu Angehörigen

    Nach Angaben der Fachkräfte haben 63,5 Prozent der Jugendlichen Angehörige in Deutschland, 81,6 Prozent Angehörige im Heimatland. In den meisten Fällen besteht Kontakt zur Familie (67,6 Prozent). Bei 25,6 Prozent der Jugendlichen sind Angehörige gegenwärtig auf der Flucht und befinden sich somit in einer ungeklärten und oftmals gefährlichen Situation. 70,9 Prozent haben Freunde im Heimatland. Auch Freunde sind gegenwärtig auf der Flucht (18,1 Prozent). 36,5  Prozent haben keine Angehörigen in Deutschland (s. Tab. 2).

    Tab. 2: Angehörige und Freunde

    Suizidversuche und selbstverletzendes Verhalten

    17 Prozent der Jugendlichen äußerten im Rahmen der stationären Jugendhilfe einmalig oder mehrfach Suizidgedanken. 4,4 Prozent der Jugendlichen haben einmalig einen Suizidversuch unternommen. Einmaliges oder mehrfaches selbstverletzendes Verhalten liegt in 15 Prozent der Fälle vor (s. Tab. 3).

    Tab. 3: Suizidalität und selbstverletzendes Verhalten

    Inanspruchnahme von Behandlungen

    14,5 Prozent der Jugendlichen nehmen seit Eintritt in die Einrichtung regelmäßig Termine im Rahmen einer psychiatrischen Behandlung wahr. 14,3 Prozent der Jugendlichen nehmen regelmäßige Termine im Rahmen einer psycho­therapeutischen Behandlung wahr.   

    EVAS-Dokumentation

    Unabhängig von der dargestellten Untersuchung werden Verlaufsmessungen in allen JJ-Einrichtungen im Rahmen der EVAS-Dokumentation durchgeführt (EVAS = Dokumentationssystem für Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität in der Kinder- und Jugendhilfe). 

    Schule

    Fast 90 Prozent der Jugendlichen haben einen Schulplatz, 7,1 Prozent haben einen Ausbildungsplatz. Die meisten der Jugendlichen besuchen eine „InteA“-Klasse. Das hessische Integrationsprogramm InteA ist ein Angebot für Schülerinnen und Schüler, die erst grundlegende Kenntnisse der deutschen Sprache erwerben müssen. Jugendliche Flüchtlinge, die noch nicht volljährig sind, lernen zwei Jahre lang Deutsch und werden parallel dazu auf den Hauptschulabschluss vorbereitet. Von den umA in den Einrichtungen von JJ haben bisher sechs Prozent einen Schulabschluss erreicht.

    Suchtmittelkonsum

    Von den 140 Jugendlichen konsumierten nach Angaben der Bezugsbetreuer/innen in den letzten 30 Tagen insgesamt 39,3 Prozent Suchtmittel (inklusive Nikotin), 48,6 Prozent lebten abstinent, und bei 12,1 Prozent der Jugendlichen war keine Einschätzung möglich bzw. der Konsum unbekannt.

    Das im letzten Monat am häufigsten konsumierte Suchtmittel ist Nikotin mit 35,9 Prozent. Alkohol wurde von 17,8 Prozent der Jugendlichen konsumiert, Cannabis von 8,1 Prozent und Beruhigungsmittel von 3,6 Prozent der Jugendlichen. So genannte harte Drogen wurden nicht konsumiert. Auch Verhaltenssüchte wie Glücksspiel spielten keine Rolle.

    Abb. 2: Suchtmittelkonsum (Angabe in Prozent) in den letzten 30 Tagen, Angaben der Bezugsbetreuer/innen

    Cannabiskonsum

    Tabelle 4 stellt die Antworten der Bezugsbetreuer/innen zum Cannabiskonsum der Jugendlichen dar. Interessant sind sie im Vergleich zu den Ergebnissen einer Befragung von gleichaltrigen Schüler/innen in Frankfurt am Main (N = 1.509). Laut Angaben der Bezugsbetreuer/innen und soweit bekannt konsumieren die umA seltener Cannabis (7,8 Prozent) als Frankfurter Schüler/innen (23 Prozent; vgl. Werse et al. 2016).

    Tab. 4: Cannabiskonsum innerhalb der letzten 30 Tage: *Angaben der Bezugsbetreuer/innen und Befragung von Schüler/innen in Frankfurt am Main (Werse et al. 2016)

    Alkoholkonsum

    Zieht man die Vergleichszahlen zum Alkoholkonsum heran, ergibt sich das in Tabelle 5 dargestellte Bild:

    Tab. 5: Alkoholkonsum innerhalb der letzten 30 Tage: *Angaben der Bezugsbetreuer/innen und Befragung von Schüler/innen in Frankfurt am Main (Werse et al. 2016)

    Auffällig ist hier, dass nach Angaben der Bezugsbetreuer/innen in den Einrichtungen von JJ 61,4 Prozent der Jugendlichen keinen Alkohol konsumieren, wohingegen in der herangezogenen Vergleichsstichprobe (Schüler/innen aus Frankfurt/Main) nur 43 Prozent angeben, keinen Alkohol zu konsumieren.

    Vorfälle aufgrund von Alkohol oder illegalen Suchtmitteln

    Im Fragebogen sollten die Fachkräfte angeben, ob es seit Betreuungsbeginn Vorfälle aufgrund des Konsums von Alkohol oder illegalen Suchtmitteln gegeben hat, was bei 23 Prozent der Jugendlichen der Fall war (vgl. Tab. 6).

    Tab. 6: Vorfälle aufgrund von Suchtmittelkonsum seit Betreuungsbeginn

    Bei der Betrachtung aller umA, die durch Vorfälle im Zusammenhang mit Alkohol oder illegalen Suchtmitteln in der Einrichtung auffällig wurden, ergeben sich signifikante Unterschiede in den Kategorien Selbstfürsorge und Konfliktbewältigung. Bei ihnen wurden Selbstfürsorge und Konfliktbewältigung als noch nicht ausreichend eingeschätzt.

    Die Gruppe der Konsumierenden

    Um herauszufinden, ob die Gruppe der Suchtmittel-Konsument/innen Besonderheiten aufweist, wurde ein Gruppenvergleich vorgenommen: Als Konsumierende wurden diejenigen klassifiziert, die laut Bezugsbetreuung in den letzten 30 Tagen einmalig oder mehrfach Cannabis konsumiert haben und/oder öfter als einmal – d. h. wöchentlich oder mehrfach wöchentlich – Alkohol konsumiert haben (n=21). Als Vergleichsgruppe wurden diejenigen herangezogen, bei denen kein Cannabiskonsum vorliegt und die während der letzten 30 Tage höchstens einmal Alkohol getrunken haben (n=117; von diesen 117 umA haben 106 während der letzten 30 Tage gar keinen Alkohol getrunken, elf haben während der letzten 30 Tage einmal Alkohol getrunken). Folgende Unterschiede konnten festgestellt werden:

    • Herkunftsland: 76,2 Prozent der Konsumierenden kommen aus Afghanistan. Der Anteil der Afghanen ist auch in der Vergleichsgruppe hoch, aber mit 49,6 Prozent deutlich geringer.
    • Geschlecht: Der Frauenanteil ist in der gesamten Stichprobe gering, die Gruppe der Konsumierenden besteht jedoch ausschließlich aus männlichen umA. Die sechs weiblichen umA befinden sich allesamt in der Vergleichsgruppe. Auch wenn es sich um eine geringe Anzahl handelt
    • Dauer des Aufenthalts in Deutschland: Die Konsumierenden leben seit durchschnittlich 26 Monaten in Deutschland, die anderen erst seit 19,1 Monaten.
    • Suizidgedanken: Von den Konsumierenden hatten 46 Prozent einmal oder mehrfach Suizidgedanken. In der Vergleichsgruppe ist der Anteil der umA, die Suizidgedanken hatten, mit 15 Prozent deutlich geringer.
    • Selbstverletzendes Verhalten: Von den Konsumierenden zeigten 10 Prozent einmal und 19 Prozent mehrfach selbstverletzendes Verhalten (zusammen: 29 Prozent). In der Vergleichsgruppe waren es 5 Prozent (einmal) und 8 Prozent (mehrfach), zusammen waren es 13 Prozent.
    • Psychotherapeutische Behandlung seit der Aufnahme in der Einrichtung: Die Konsumierenden haben seit Betreuungsbeginn häufiger eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch genommen: 45 Prozent vs. 27 Prozent.

    EVAS-Dokumentation

    Hierbei zeigen erste Messungen positive Entwicklungen in verschiedenen Bereichen. Der Anteil der Jugendlichen, die gut, sehr gut bzw. fließend Deutsch sprechen, erhöht sich innerhalb des ersten Betreuungsjahres von 15,2 Prozent auf 54,8 Prozent. Ebenso verbessert sich die Bleibeperspektive, was sich günstig auf die gesamte Betreuung auswirkt: Während zu Beginn der Maßnahme bei nur drei Prozent der Jugendlichen eine Anhörung bei der zuständigen Behörde schon erfolgt war und nur bei 6,3 Prozent ein Bescheid bereits vorlag, ist zum Hilfeende bei 21,4 Prozent eine Anhörung erfolgt und bei 16,7 Prozent liegt ein Bescheid vor. Bei 59,5 Prozent ist zum Hilfeende die „Aktenanlage erfolgt / Asylanatrag gestellt“.

    Mit der Ressourcenskala, die im EVAS-Dokumentationssystem zentral ist, werden verschiedene soziale, kommunikative und gesundheitliche Fähigkeiten des jeweiligen Jugendlichen eingeschätzt und abgebildet. Die Ressourcen der Jugendlichen konnten gestärkt werden. Besonders deutlich ist die Verbesserung in den folgenden Bereichen:

    • Soziale Integration (Fähigkeit, Freundschaften und Beziehungen zu pflegen oder Verantwortung in Gruppen zu übernehmen)
    • Selbstkonzept und Selbstsicherheit (Selbstbewusstes Bewältigen von Lebensaufgaben unter Berücksichtigung der eigenen Interessen)
    • Soziale Attraktivität (Beliebtheit bei Gleichaltrigen, Körperkonzept, Modeorientierung)

    Befragung der Jugendlichen mit dem SDQ

    Mit dem Fragebogen „Strengths and Difficulties Questionnaire“( SDQ) wurden die Jugendlichen selbst befragt. Der SDQ soll Auskunft über emotionale und verhaltensspezifische Stärken und Schwächen liefern. Für ihn liegen den Autoren keine Normwerte oder Vergleichswerte einer deutschen Normpopulation Jugendlicher vor. Zudem ist das Instrument mit methodischen Mängeln versehen, die Zurückhaltung bei der Interpretation notwendig machen (z. B. dreistufiges Nominalskalenniveau). Die Autoren haben den Fragebogen einerseits eingesetzt, da er in verschiedenen Übersetzungen vorlag, was eine Bearbeitung auch bei noch fehlenden Deutschkenntnissen ermöglicht und die laut hinzugezogener Dolmetscher/innen sorgfältig vorgenommen wurden, und andererseits, um Hinweise auf deutliche Besonderheiten zu erhalten.

    Als Vergleichsstichprobe wurden 27 Jugendliche einbezogen, die zum Erhebungszeitpunkt in der stationären Rehabilitationseinrichtung „Therapeutische Einrichtung Eppenhain“ wegen einer diagnostizierten Suchterkrankung behandelt wurden.

    Die Unterschiede in den Subskalen „Emotionale Probleme“, „externalisierende Verhaltensauffälligkeiten“, „Probleme mit Gleichaltrigen“ und „Prosoziales Verhalten“ sind nicht signifikant, was vor dem Hintergrund zu betrachten ist, dass die Vergleichsstichprobe eine klinische Stichprobe (Drogenabhängigkeit) ist. Nur in der Subskala „Hyperaktivität“ bestehen deutliche Unterschiede. Die umA erreichen deutlich geringere Hyperaktivitätswerte als die Vergleichsgruppe. Dieses Ergebnis lässt sich sinnvoll interpretieren, da für die meisten suchtmittelabhängigen Jugendlichen zusätzlich eine ADHS-Diagnose vorliegt.

    Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse

    Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die Mehrzahl der umA, die in den stationären Jugendhilfeeinrichtungen von JJ betreut werden, belastende Erfahrungen im Herkunftsland gemacht haben und in Deutschland vielfachen Anforderungen und Unsicherheiten gegenüberstehen. Es gelingt den meisten umA, in den Jugendhilfeeinrichtungen aktiv mitzuwirken, soziale Netzwerke aufzubauen, regelmäßig die Schule zu besuchen, Deutsch zu lernen und Suchtmittel nicht bzw. nicht in riskanter oder schädigender Weise zu konsumieren.

    Es gibt jedoch nach Einschätzung der Bezugsbetreuer/innen auch Jugendliche, deren emotionale Stabilität und Selbstfürsorge als nicht ausreichend eingeschätzt werden, die selbstverletzendes Verhalten oder Suizidalität zeigen oder im Zusammenhang mit Suchtmittelkonsum auffallen. Es liegen Zusammenhänge zwischen zurückliegenden Erfahrungen und aktuellen Problembewältigungsmustern vor.

    Obwohl es deutliche Hinweise auf Traumata gibt, nimmt die Mehrheit der Jugendlichen zu Beginn der Behandlung keine regelmäßigen psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlungsangebote wahr, was damit zusammenhängen könnte, dass zu Beginn der Betreuung andere Probleme, wie z. B. die Frage des Aufenthalts, dominieren.

    Der Kontakt zu Freunden und Angehörigen hat einen messbaren Einfluss auf die aktuelle Lebenssituation und die Zukunftsängste in Deutschland. Außerdem zeigte sich, dass es einen Zusammenhang zwischen „Angehörige in Deutschland“ und „emotionale Stabilität“ gibt: Jugendliche, die Angehörige in Deutschland haben, erzielen höhere Werte bei der Zielerreichung im Bereich „emotionale Stabilität“. Das Gleiche gilt für die Befähigung zur Konfliktbewältigung.

    Der Kontakt zu Angehörigen – in Deutschland oder im Herkunftsland – hat positive Auswirkungen auf die Jugendlichen, weshalb sie darin unterstützt werden sollten, den Kontakt zu pflegen und aufrechtzuhalten.

    Suchtmittel sind Thema in der Betreuung, jedoch in der gegenwärtigen Situation zunächst nicht das dominierende Problem, auch wenn der Suchtmittelkonsum durchaus in Teamsitzungen und Gesprächen mit den Jugendlichen eine Rolle spielt. Durch die im Abschnitt „Suchtmittelkonsum“ beschriebenen Ergebnisse lässt sich veranschaulichen, dass die Dauer der Flucht einen Einfluss auf das Ausmaß des Cannabiskonsums der Jugendlichen hat. Auffällig ist, dass die hohen Werte im Bereich „Vorfälle mit Suchtmitteln oder Alkohol in der Einrichtung“ nicht gedeckt werden von den konkreten Benennungen zum Suchtmittelkonsum durch die Fachkräfte. Dies ist ein Hinweis darauf ist, dass der tatsächliche Konsum möglicherweise höher ist als der bekannte.

    Schlussfolgerungen für die Praxis

    Ein Teil der  unbegleiteten minderjährigen bzw. jungen Ausländer/innen leidet an psychischen Erkrankungen, viele werden noch nicht entsprechend behandelt. Sowohl das Gesundheitssystem als auch die Suchthilfe sind gefordert, entsprechende Konzepte für die Behandlung von umA anzuwenden bzw. weiterzuentwickeln. Vielen umA ist das deutsche Versorgungssystem nicht bekannt, und viele der hiesigen Angebote sind im Herkunftsland unbekannt. Deshalb gibt es in den Einrichtungen von  Jugendberatung und Jugendhilfe e.V. z. B. suchtspezifische Informationsangebote in den umA-Einrichtungen sowie Suchtberatungsstellen mit Angeboten für Geflüchtete, die unterschiedlich gut angenommen werden.

    Für einen Einstieg in den deutschen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt sind das Erlernen der deutschen Sprache sowie das Erreichen eines Schulabschlusses entscheidende Voraussetzungen. Hinsichtlich der schulischen Vorbildung und der sprachlichen Kenntnisse haben die Jugendlichen ungleiche Ausgangslagen. Dementsprechend benötigen sie unterschiedliche, flexible und ihrer individuellen Ausgangslage gerecht werdende Unterstützungsangebote. 

    Suchtmittelkonsum spielt im Betreuungsalltag eine Rolle, ist für die Mehrheit der Jugendlichen jedoch kein vordringliches Problem. Es stehen zunächst andere Probleme im Vordergrund. Zudem fällt das Reden über Suchtmittelkonsum oftmals schwer, z. B. weil das Thema Sucht schambesetzt ist oder Suchtmittelkonsum im Herkunftsmilieu als Sünde gilt. Hier helfen Prävention und Aufklärung. Informationsorientierte Suchtpräventions­veranstaltungen sind sinnvoll, auch um weiterführende (möglicherweise unbekannte) Unterstützungsangebote transparent und zugänglich zu machen. Bisherige Erfahrungen zeigen, dass diese von vielen Jugendlichen angenommen und mit Interesse verfolgt werden. Im Falle derjenigen Jugendlichen, die regelmäßig konsumieren, kommt es darauf an, ein Problembewusstsein zu schaffen und ihnen das Suchthilfesystem gegebenenfalls überhaupt erst näher zu bringen.

    Aufgrund der Gegebenheiten in der Jugendhilfe (z. B. Ausgangsregelungen) ist bei einem Gutteil der Jugendlichen unklar, ob und in welchem Umfang sie Suchtmittel konsumieren, auch wenn die Bezugsbetreuer/innen meist eine sehr enge Arbeitsbeziehung zu den Betreuten haben. Daher plant der Verein Jugendberatung und Jugendhilfe im nächsten Jahr eine Befragung der Jugendlichen zu ihrem Suchmittelkonsum.

    Kontakt und Angaben zu den Autoren:

    Sabine Köhler
    Dipl.-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin
    Villa Anna – Stationäre Jugendhilfe-Einrichtung, Eppstein
    Theodor-Fliedner-Weg 5
    65817 Eppstein
    sabine.koehler@jj-ev.de
    Tel. 069/06198 5746-0

    Dr. Dieter Kunz
    Dipl.-Psychologe
    Geschäftsführer JJ
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt a. M.
    dieter.kunz@jj-ev.de
    Tel. 069/74 34 80-10

    David Schneider
    Dipl.-Soziologe
    Fachstelle Evaluation JJ
    Gutleutstraße 160-164
    60327 Frankfurt a. M.
    david.schneider@jj-ev.de
    Tel. 069/74 34 80-13 

    Literatur
    • Donath, C., Gräßel, E., Baier, D., Hillemacher, T. (2013). The prevalence of suicidal thoughts and attempts in a representative sample of German adolescents. Vortrag am XIV. International Congress of the International Federation of Psychiatric Epidemiology: 6. Juni 2013. Leipzig
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  • Mitarbeiterbefragung und Gefährdungsanalyse Teil II

    Mitarbeiterbefragung und Gefährdungsanalyse Teil II

    Robert Meyer-Steinkamp

    Wie hoch sind die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz in der Suchthilfe? Die Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld (TGJ) ermittelte mithilfe einer „Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen“ die Situation der eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. In Teil I dieses Artikels (erschienen am 15. April 2019) berichtete Robert Meyer-Steinkamp über den Anstoß dazu und die Durchführung der ersten Phase, einer Mitarbeiterbefragung mit Fragebogen. In Teil II stellt er die zweite Durchführungsphase dar, in der aufbauend auf den Befragungsergebnissen in Workshops Maßnahmepläne erarbeitet wurden.

    Psychische Belastung und psychische Beanspruchung

    Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (baua) bemängelt in ihrer Broschüre „Psychische Belastung und Beanspruchung im Berufsleben: Erkennen – Gestalten“ (2010) begriffliche Unklarheiten und gibt eine Definition für „psychische Belastung“ und „psychische Beanspruchung“ an. In Anlehnung daran lässt sich zusammenfassen:

    „Psychische Belastung ist die Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch auf ihn einwirken.“ (DIN EN ISO 10075-1 (1a); baua 2010, S. 9)

    Psychische Belastung, ob beruflicher oder außerberuflicher Natur, wird dabei zunächst als wertneutral und nicht zwangsläufig als negativ betrachtet. Grundsätzlich ist psychische Belastung Teil aller Tätigkeiten und betrifft alle Menschen. Darüber hinaus ist sie notwendig, um die psychischen Funktionen aufrechtzuerhalten, analog den körperlichen Funktionen, die schwinden, wenn z. B. nach einem Beinbruch eine längere Ruhigstellung erfolgt und anschließend die Muskulatur erst wieder trainiert werden muss, bevor der Betroffene wieder regulär gehen oder womöglich sportlich aktiv sein kann.

    „Psychische Beanspruchung ist die unmittelbare (nicht langfristige) Auswirkung der psychischen Belastung im Individuum in Abhängigkeit von seinen jeweiligen überdauernden und augenblicklichen Voraussetzungen, einschließlich der individuellen Bewältigungsstrategien.“ (DIN EN ISO 10075-1; baua 2010, S. 10)

    Die psychische Belastung durch einen aufregenden Film kann als beängstigend oder anregend erlebt werden und damit eine unterschiedliche Beanspruchung erzeugen. Zwei Teammitglieder in gleicher Funktion können auf die gleiche Belastung durch die Arbeitsumgebung sehr unterschiedlich reagieren und sich unterschiedlich beansprucht fühlen. Der eine fühlt sich im positiven Sinne herausgefordert und angespornt, führt Auseinandersetzungen, sucht Lösungen und bezieht Kollegen ein. Der andere fühlt sich überfordert, unter Druck, entwickelt Stresssymptome und zieht sich zurück. Zu einem anderen Zeitpunkt, ein Jahr später, könnte die Reaktion aufgrund veränderter individueller Voraussetzungen jeweils ganz anders ausfallen.

    Auswirkungen psychischer Beanspruchung

    Positive psychische Beanspruchung im Sinne von Anreiz und adäquater Herausforderung wird als ein Motor für die menschliche Entwicklung allgemein und auch im Hinblick auf arbeitsbezogene Kompetenzen gesehen. Gleichzeitig kann psychische Belastung die mit diesem Begriff eher assoziierten negativen Folgen wie Erschöpfung, somatoforme Erkrankungen, Burnout-Symptome oder weiterreichende psychische Erkrankungen auslösen. In diesem Fall spricht  man von Fehlbeanspruchung. Positive Beanspruchung führt tendenziell zu individueller Weiterentwicklung und Zufriedenheit sowie betrieblich zu höherer Produktivität und Geschäftserfolg. Fehlbeanspruchung führt tendenziell zu Stress und Krankheit  sowie auf betrieblicher Ebene zu Fehlern, Mehrkosten und geschäftlichem Misserfolg (s. Abb. 1).

    Abb. 1: Modell für Zusammenhänge hinsichtlich psychischer Belastung und Beanspruchung

    Die Belastungen am Arbeitsplatz, das wird bei dieser Betrachtung deutlich, sind eine wesentliche, aber durchaus nicht die einzige Quelle möglicher psychischer Fehlbeanspruchung. Lebensgeschichtlich erworbene persönliche Stärken und Schwächen und aktuelle außerbetriebliche Belastungen können dazu führen, dass die ‚normale‘ Arbeitssituation bei einzelnen Mitarbeiter/innen in psychischer Fehlbeanspruchung mit all ihren Auswirkungen mündet, obwohl diese Situation bei 95 Prozent der Kolleg/innen keine negativen Auswirkungen hat. Außerbetriebliche oder in der Persönlichkeit liegende Quellen für Fehlbeanspruchung lassen sich durch eine Gefährdungsanalyse psychischer Belastungen nicht erfassen und sind mit betrieblichen Mitteln auch nicht zu steuern. Somit ist es unwahrscheinlich, eine betriebliche Situation herstellen zu können, in der die psychische Fehlbeanspruchung und deren negative Auswirkungen bei null liegen. 

    Betriebliche Quellen psychischer Belastung

    Dennoch füllt Arbeit einen erheblichen Teil des Alltags  aus und stellt somit eine bedeutsame Quelle psychischer Belastung dar. Die baua (2010) differenziert diese Quelle in die Bereiche:

    • Arbeitsaufgabe (z. B. viel Verantwortung, schwierige Klientel, Monotonie)
    • Arbeitsumgebung (z. B. physikalisch: Lärm, Temperatur; oder sozial: Betriebsklima, Führungsverhalten)
    • Arbeitsorganisation/Arbeitsablauf (z. B. Informationsfluss, Dienstplanung)
    • Arbeitsmittel (z. B. allgemeine technische Ausstattung, Computersysteme)
    • Arbeitsplatz (z. B. direkte Arbeitsumgebung des Einzelnen)

    Alle Bereiche werden durch den in Teil I des Artikels beschriebenen Mitarbeiterfragebogen angesprochen und in den 13 Faktoren der Mitarbeiterzufriedenheit abgebildet:

    1. Führungs- und Unternehmenskultur
    2. Arbeitsbelastung
    3. Direkte Vorgesetzte
    4. Beschäftigungsbedingungen
    5. Strukturen & Prozesse
    6. Kollegen
    7. Patientenversorgung
    8. Arbeitsumgebung/Ausstattung
    9. Dienstplanung
    10. Personalqualifizierung
    11. PC-Arbeitsplätze
    12. IT
    13. Schnittstellen

    Phase 1: Ergebnisse der Mitarbeiterbefragung

    Die Ergebnisse der Mitarbeiterbefragung stehen in der Therapeutischen Gemeinschaft Jenfeld (TGJ) den Mitgliedern der AG Gefährdungsanalyse, der Leitung und dem Betriebsrat in allen Details zur Verfügung. Außerdem erhalten die externen Moderatorinnen der Workshops – die Betriebsärztin (Hanseatisches Zentrum für Arbeitsmedizin hanza) sowie eine auf Gefährdungsanalysen psychischer Belastungen spezialisierte Psychologin (hanza ressources) – die Ergebnisse, um die Workshops vorzubereiten.

    Eine erste genauere Betrachtung der Befragungsergebnisse obliegt der Leitung und dem Betriebsrat mit dem Ziel, die zentralen Punkte auf einer Betriebsversammlung zu präsentieren und so den Kolleg/innen eine zeitnahe Rückmeldung zu ihrer Teilnahme an der Befragung zu geben. Dabei werden sowohl Stärken als auch Problemfelder, die sich abzeichnen, benannt.

    Hinsichtlich der allgemeinen Arbeitszufriedenheit ergab sich für die TGJ gesamt, auch im Benchmark mit sieben anderen Einrichtungen der Suchthilfe, ein sehr erfreuliches Bild. Unzufrieden waren nur ca. drei Prozent (s. Abb. 2).

    Abb. 2: „Wie zufrieden sind Sie insgesamt mit Ihrem Arbeitsplatz?“

    Wir gehen davon aus, dass die Mitteilung dieses Stimmungsbildes im Rahmen der Ergebnispräsentation das Bewusstsein für die positiven Aspekte des Arbeitsplatzes weiter steigert und sich daraus wiederum positive Einflüsse auf das betriebliche Geschehen entwickeln.

    Auf der Ebene der Faktoren der Mitarbeiterzufriedenheit zeichnete sich dagegen beim Faktor PC-Arbeitsplätze eine deutliche Verschlechterung gegenüber der Befragung von 2014 ab. 2014 betrug die Problemhäufigkeit drei Prozent, 2017 waren es 16 Prozent (s. Abb. 3).

    Mit 16 Prozent Problemhäufigkeit steht die TGJ im Vergleich zu anderen Einrichtungen zwar gut da – eine deutliche Verschlechterung des eigenen Wertes, so hatten wir es in der AG Gefährdungsanalyse festgelegt, sollte aber immer ein Anlass zu Diskussionen und möglichst Verbesserungen sein. Letzteres wurde für die Jahre 2018/19 dann auch als Zielsetzung formuliert und im weiteren Verlauf mit konkreten Maßnahmen unterlegt.

    Abb. 3: Problemhäufigkeiten der Faktoren PC-Arbeitsplätze und Beschäftigungsbedingungen im Vergleich

    Der Faktor Beschäftigungsbedingungen wiederum verzeichnete eine deutliche Verbesserung von 25 auf 13 Prozent Problemhäufigkeit (s. Abb 3). Hintergrund dafür war vor allem die Umwandlung von Nebenabreden in nunmehr feste Stellen. Bei einer größeren Zahl von Mitarbeitern waren ergänzend zu einer fest vereinbarten Teilzeitstelle weitere wöchentliche Arbeitsstunden durch jährlich zu erneuernde Nebenabreden geregelt. Für die Kollegen war damit ein nicht unerhebliches Maß an längerfristiger Einkommensunsicherheit verbunden. Die Mitarbeiterbefragung von 2014 war ein Anlass gewesen, diese Nebenabreden zu diskutieren. Die erfolgreiche Veränderung ist ein Beispiel dafür, dass eine Einflussnahme durch die Mitarbeitenden möglich ist.

    Phase 2: Workshops und die Entwicklung von Maßnahmeplänen

    Die Betriebsärztin und die auf Gefährdungsanalysen psychischer Belastungen spezialisierte Psychologin moderieren die Workshops. Sie nehmen an der Präsentation der Befragungsergebnisse teil und notieren dabei auftauchende Fragen und Anmerkungen aus der Kollegenschaft. Diese Notizen und eine eigene Sichtung der Befragungsergebnisse dienen zur thematischen Vorbereitung der Workshops. Die Workshop-Teilnehmer werden von den Berufsgruppen nach eigener Wahl entsandt. Die Workshops finden ohne die jeweilige Bereichsleitung statt. Die Bereichsleitungen besuchen einen eigenen Workshop, um Themen im Kontext ihrer Leitungsaufgabe ansprechen zu können (s. Abb. 4).

    Abb. 4: Teilnehmerzahl und Dauer der Workshops

    Gut konstruierte Fragebögen sprechen möglichst alle Aspekte an, die für die zu untersuchende Thematik wesentlich sind. Bei den 102 Fragen des verwendeten Picker-Fragebogens geschieht das relativ detailliert. (Das Picker Institut wurde zwischenzeitlich vom Institut BQS übernommen. Zur Vermeidung von Irritationen ist in beiden Teilen des Artikels durchgängig von Picker die Rede.) Dennoch werden weitere möglicherweise wichtige Aspekte nicht wahrgenommen. Diese anderen Aspekte können z. B. arbeitsbereichsspezifisch sein oder in Besonderheiten der Einrichtung liegen. Zwei im Picker-Fragebogen enthaltene offene Fragestellungen gehen auf dieses Problem ansatzweise ein, können es aber nicht lösen.

    Die moderierten Workshops dagegen bieten die Möglichkeit, sich jenseits der feststehenden Fragestellungen zu bewegen und, ausgehend von den Befragungsergebnissen, weitere Themen zu diskutieren. Außerdem wird in den Workshops geprüft, welche Maßnahmen, die aus der letzten Mitarbeiterbefragung bzw. den damaligen Workshops hervorgegangen sind, mit welchem Erfolg umgesetzt wurden. Dazu beziehen die Teilnehmer Stellung.

    Die Moderatorinnen verfassen über den Verlauf der Veranstaltung einen Abschlussbericht, der die diskutierten Punkte wiedergibt und einen Maßnahmeplan zu den als problematisch erachteten Punkten enthält. Der Abschlussbericht wird nach Erstellung zunächst von den Teilnehmern gegengelesen und freigegeben. Danach erhält der Bereichsleiter für die jeweilige Gruppe die Gelegenheit zu einer Stellungnahme. Diese wird ggf. auch aufgenommen, und erst dann wird der fertige Bericht an die AG Gefährdungsanalyse übergeben.

    Maßnahmepläne

    Die Maßnahmepläne sind lange Vorschlagslisten, die an die AG Gefährdungsanalyse gerichtet sind. In der AG Gefährdungsanalyse werden alle Vorschläge sorgsam diskutiert und abgewogen, und es wird letztlich entschieden, was umsetzbar ist bzw. was versucht werden soll. Soweit es sich nicht um gesetzlich geregelte Sachverhalte handelt, bleibt die letzte Entscheidung bei der Leitung, die Kolleg/innen besitzen aber einen starken Einfluss. Als Beispiel für einen Maßnahmeplan ist in Abb. 5 der anonymisierte Vorschlag zum bereits erwähnten Thema Nebenabreden abgebildet.

    Abb. 5: Maßnahmevorschlag zum Thema Nebenabreden

    Die Gefährdungsanalysen finden in drei- bis vierjährigen Abständen statt. 2014 wurde vorgeschlagen, die Belastung durch interne Fortbildungen und Veranstaltungen zu reduzieren. Abb. 6 zeigt ein Beispiel für die Überprüfung der Umsetzung durch den Workshop im Jahr 2018:

    Abb. 6: Überprüfung der Umsetzung von Maßnahmevorschlägen

    Die AG Gefährdungsanalyse

    Die Arbeitsgruppe Gefährdungsanalyse der TGJ setzt sich zusammen aus je einem Vertreter aller Arbeitsbereiche (Therapie, Verwaltung, Haustechnik, etc.), Betriebsrat und Leitung. Die nach Bedarf tagende AG ist im weiteren Verlauf das zentrale Organ zur prozessualen Umsetzung der Gefährdungsanalyse. Alle in den Workshops vorgeschlagenen Maßnahmen, alle negativen Unterschiede zu anderen Suchteinrichtungen (Benchmark) oder zu vorherigen Befragungen im eigenen Haus und alle Problemhäufigkeiten über zehn Prozent werden diskutiert. Bei einigen Fragen ist es notwendig, zusätzliche Informationen einzuholen oder mit einzelnen Bereichen oder Mitarbeitern zu sprechen, um das Problem richtig zu verstehen. Manche Vorschläge müssen abgelehnt werden, nicht nur aus Leitungssicht, sondern häufiger auch, weil Argumente aus anderen Bereichen des Hauses gegen eine Umsetzung sprechen. In der Regel geschieht dies im Konsens oder zumindest mit Verständnis für die gegenläufigen Argumente.

    Im ersten Durchlauf 2014 waren diese Diskussionen teilweise sehr emotional, haben sich aber mit einkehrender Routine zunehmend versachlicht. Die gegenseitigen Perspektiven und Positionen werden verständlicher. Im zweiten Durchlauf 2017/2018 gelingt die Abarbeitung der Aufgabenstellung sehr viel schneller als in der ersten Runde. Es ergibt sich trotz allem eine Vielzahl von Maßnahmen, deren Umsetzung teilweise auch andere Akteure im Haus einbezieht. Die Überprüfung der Ergebnisse erfolgt in zeitlicher Hinsicht nach Festlegung durch die AG, spätestens allerdings mit der nächsten Durchführung der Gefährdungsanalyse.

    Mit Blick auf das in Teil I des Artikels eingeführte Prozessmodell lässt sich zusammenfassen, dass die AG die Belastungen, die sich in den Befragungsergebnissen und den Workshop-Protokollen zeigen, beurteilt. Sie prüft die Maßnahmenvorschläge und entscheidet, ob sie umgesetzt werden sollen oder nicht. Bei Bedarf werden zusätzliche Maßnahmen geplant. Je nach Sachlage erfolgt die Umsetzung durch die Teilnehmer der AG oder es werden weitere Kolleg/innen einbezogen. Die Wirksamkeit wird, soweit sinnvoll, im Verlauf geprüft. Den Schlusspunkt und gleichzeitig Neustart des Prozesses bildet dann die erneute Gefährdungsanalyse nach ca. drei Jahren.

    Kosten

    Die Workshops und deren Vor- und Nachbereitung kosteten  3.600 Euro. Zusammen mit der Summe für die schriftliche Befragung ergeben sich Gesamtkosten von 4.800 Euro. Die Summe verteilt auf drei Jahre ergibt 1.600 Euro im Jahr. Hinzurechnen muss man sicherlich auch die Arbeitszeit, die für den geschilderten Prozess aufgewendet wird. Diese Investition erscheint aus unserer Perspektive angesichts der vielen positiven Effekte für die betriebliche Situation gut vertretbar.

    Fazit

    Der ursprüngliche Gedanke, dass eine eingehende Gefährdungsanalyse psychischer Belastungen für eine so kleine Einrichtung wie die TGJ (50 Mitarbeiter) eine übertriebene Maßnahme darstellt, hat sich als falsch erwiesen. Nicht, weil wir auf ungeahnte Problematiken gestoßen wären, im Gegenteil: Unsere Gefährdungsanalyse zeichnete insgesamt ein sehr positives Bild vom Arbeitsplatzerleben der Kolleg/innen. Diese Rückmeldung, wiederholt diskutiert, kann dazu beitragen, die positiven Seiten des Arbeitsplatzes bewusster zu machen und die Zufriedenheit weiter zu steigern.

    Gleichzeitig bleiben wichtige Hinweise auf ‚Baustellen‘, die es zu bearbeiten gilt. Übermäßige Belastungen durch die Arbeitssituation lassen sich mit der beschriebenen Methodik lokalisieren. Die systematische Befragung und Diskussion garantieren eine Gründlichkeit, die sich durch die, wenn auch häufigen, alltäglichen Kontakte nicht erreichen lässt. So gefundene Quellen übermäßiger psychischer Belastung im Betrieb lassen sich häufig abstellen. Präventiv können Ressourcen z. B. in Form von Rückzugsräumen, phasenweiser Minderbelastung, Supervision, Coaching, flexibler Arbeitszeit usw. im Rahmen der betrieblichen Möglichkeiten zur Verfügung gestellt werden. In Reaktion auf belastende Ereignisse können Maßnahmen entwickelt werden. So rückte im Rahmen der Gefährdungsanalyse ein bisher nicht deutlich wahrgenommenes grenzüberschreitendes Verhalten von Klienten gegenüber Mitarbeiterinnen der Hauswirtschaft und Haustechnik in den Vordergrund. Zum Abbau übermäßiger Belastungen in diesem Kontext sollen u. a. Fortbildungen stattfinden, die den Kolleg/innen die Hintergründe solcher Verhaltensweisen verständlicher machen, damit Orientierung bieten und darauf fußend geeignete praktische Handlungsstrategien vermitteln.

    Neben den praktischen Verbesserungen erscheint insbesondere das kontinuierliche Gespräch über die erlebte Belastung wesentlich. Die Kolleg/innen nehmen wahr, dass es eine Auseinandersetzung mit den Beschwerden gibt und, soweit möglich, auch mit dem Ziel der Verbesserung gehandelt wird. Gründe, nicht zu handeln, lassen sich ggf. durch die Diskussion nachvollziehen und werden nicht als Mangel an Interesse und Fürsorge erlebt.

    Positiv gewendet erlebt der Einzelne sich handlungsfähiger in Bezug auf psychisch belastende Aspekte der Arbeit. Wenn Rahmenbedingungen wie z. B. Kostenträgervorgaben oder tarifliche und gesetzliche Regelungen psychische Belastungen mit verursachen, werden sie im Zuge der fortlaufenden Gespräche leichter als Begrenzung der Handlungsmöglichkeiten für alle Beteiligten im Betrieb verstanden. Man erschöpft sich nicht unnötig in Auseinandersetzungen über Bedingungen, die auf dieser Ebene nicht zu beeinflussen sind.

    Kontakt:

    Robert Meyer-Steinkamp
    Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld
    Jenfelder Straße 100
    22045 Hamburg
    Tel. 040/65 40 96-66
    meyerst.tgj@alida.de

    Angaben zum Autor:

    Robert Meyer-Steinkamp, Dipl.-Psychologe / Psychologischer Psychotherapeut:
    Therapeutische Leitung der Therapeutischen Gemeinschaft Jenfeld
    Ausbildungsleitung Suchttherapie VT (DRV-anerkannt) am Hamburger Institut für Gestaltorientierte Weiterbildung (HIGW)

    Literatur:
  • KI oder k.o. – Digitalisierung als Herausforderung für das Suchthilfesystem

    KI oder k.o. – Digitalisierung als Herausforderung für das Suchthilfesystem

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten

    Das Thema digitale Transformation ist in der Suchthilfe angekommen. Träger engagieren sich, Verbände agieren. Das sind positive erste Schritte. Das Arbeitsfeld muss sich allerdings in aller Breite und Tiefe den aktuellen Entwicklungen weiter öffnen und verstehen lernen, was es eigentlich heißt, am Anfang einer „digitalen Revolution“ zu stehen, und welche Auswirkungen diese „disruptive Technologie“, die in anderen Bereichen ganze bisherige Geschäftsmodelle zerstört, für die Suchthilfe hat. Digitalisierung ist kein Ereignis, sondern ein Prozess, der auch massive Veränderungen der Arbeitsstruktur und Arbeitsabläufe mit sich bringt.

    Digitalisierung ist nicht die ‚Aufhübschung‘ eines Geschäftsmodells durch einen Internetanschluss. Onlineberatung ergibt wenig Sinn, wenn im Hintergrund wie vor Jahrzehnten gearbeitet wird. Wenn sich eine Organisation ernsthaft damit beschäftigt, digitalisierte Prozesse in die Arbeit zu integrieren, reicht es bei der Umsetzung nicht aus, nur die verfügbaren neuen Technologien für neue Produkte einzusetzen. Vielmehr hat der Einsatz digitalisierter Prozesse weitreichende Konsequenzen für die Organisationsstruktur, das Arbeitskonzept, die Arbeitsprozesse, die Qualifikation des Personals, die Arbeitszeiten sowie die Führungskompetenzen (junge Mitarbeiter haben mehr Ahnung als ältere Kollegen). Eine Neuausrichtung der gesamten Geschäftsstrategie auf digitale Handlungsprozesse ist erforderlich.

    Und noch eine weitere Dimension gilt es zu berücksichtigen: Die digitale Wandlung ist ein disruptiver Prozess. Diese vielfach gehörte Aussage liest sich so einfach. Dabei bedeutet dieser Satz doch, dass aktuelle Geschäftsmodelle zerstört werden und völlig neue Player auf der Angebotsseite, wie aus dem Nichts, auftauchen. Mit anderen Worten: Wäre es auch in der Suchthilfe vorstellbar, dass sich in absehbarer Zeit Plattformen etablieren, die, von völlig fachfremden Betreibern geführt, keine eigenen Dienste anbieten, sondern nur als digitale Vermittlungsplattform für die komfortable Abwicklung von Dienstleistungen zwischen Anbietern und Nutzern agieren? 

    Die professionelle Suchthilfe und ihre Entwicklung in den letzten 50 Jahren

    Die Suchthilfe in ihrer professionellen Ausrichtung hat in den letzten 50 Jahren gezeigt, dass sie ein flexibles und vitales System ist, das sich den unterschiedlichen, von außen an sie herangetragenen Veränderungen (neue Substanzen, Mittelkürzungen) anpassen konnte. Die Kreativität der Träger und die Unterstützung aus dem politischen Raum waren hierbei wichtige Faktoren.

    Es muss jedoch die Frage gestellt werden, ob die bisherigen Überlebensstrategien und Anpassungsprozesse des Suchthilfesystems auch beim digitalen Wandel greifen. Um es vorwegzunehmen: Ich glaube es nicht. Wir haben es bei der digitalen Transformation nicht mit einem weiteren Veränderungsschritt, vergleichbar mit den oben genannten, zu tun, sondern mit einem Prozess, der gezeigt hat, dass er das Potential besitzt, bisherige Geschäftsmodelle zu zerstören. 

    Neue Marktstrukturen und neue Wettbewerber

    In der Debatte um die Digitalisierung in der Suchthilfe scheint mir ein Aspekt viel zu kurz zu kommen: der mit der Digitalisierung einhergehende Wandel der Marktstrukturen.

    Digitale Plattformen sind das zentrale Geschäftsmodell der digitalen Ökonomie. Das Grundprinzip der „digital matching“-Unternehmen ist einfach: Sie bieten selbst keine Waren an, sondern nur eine digitale Vermittlungsplattform für die einfache Abwicklung von Transaktionen. Damit schieben sie sich zwischen Anbieter und Kunden (Nutzer). Vor allem für die Endkunden ist das praktisch. Sie finden alle Angebote an einer Stelle, können Preise oder Funktionen vergleichen und sofort ordern. Kleineren Anbietern bieten Plattformen die Möglichkeit, ihre Angebote ‚der ganzen Welt‘ bekannt zu machen und anzubieten, ohne allzu große Investitionen, z. B. in Immobilien, tätigen zu müssen.

    Digitale Plattformen werden aber nicht nur von großen internationalen Firmen wie Amazon, Uber oder Booking.com betrieben. Für fast jede Branche gibt es inzwischen diese Geschäftsmodelle. Egal, ob solche Plattformen regional, national oder international agieren, immer gilt, dass die Plattformbetreiber selbst keinerlei Qualifikationen bezüglich der angebotenen Güter oder Dienstleistungen besitzen.

    Mit Pflegedienstleistungen ist die Plattformökonomie bereits in einem Segment des psychosozialen Arbeitsfeldes zu finden. Das „Uber-Prinzip“ in der Pflege bedeutet: Über eine Plattform bieten Menschen mit unterschiedlichstem Erfahrungs- und Ausbildungsgrad Dienstleistungen in den Bereichen Begleitung, Betreuung und Pflege für kürzere oder längere Dauer an. In manchen Modellen arbeiten die Menschen auf selbständiger Basis, in anderen als Angestellte des Plattformunternehmens. Gesellschaftlich entscheidend ist, was dabei mit dem Gesamtsystem der Begleitung, Betreuung und Pflege passiert – mit seiner Stabilität, Fachlichkeit und Qualität.

    Was bedeutet das übertragen auf Suchthilfe und Suchtprävention?

    SCENARIO 1: Digitale Hilfe und digitale Vermittlung von Hilfe

    „Die neuen Technologien … verändern vorhandene … oder gestalten neue Hilfeprozesse [und] ermöglichen damit die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle“. (Kreidenweis 2017, S. 164)

    Verbraucher kennen und schätzen das Konzept der digitalen Plattformen und übertragen ihre Erwartungen an den Angebotsservice auch auf andere (non-profit) Dienstleistungsbereiche. Die Anforderungen und Ansprüche von Kundenseite an die Anbieter von psychosozialen Dienstleistungen werden also wachsen (z. B. 24 Stunden 7 Tage die Woche erreichbar sein). Die Legalqualifikation der Anbieter (Hochschulabschlüsse der Mitarbeiter plus Zusatzqualifikationen, lange Felderfahrung des Trägers) wird bei der Suche nach Informationen und Unterstützung nicht mehr so stark im Vordergrund stehen.

    Die freie Wohlfahrtspflege hat derzeit praktisch ein Monopol in der Suchtprävention und der ambulanten Suchtberatung. Dieses Monopol resultiert neben historischen und gesetzlichen Gründen auch daraus, dass man mit diesen Arbeitsfeldern bislang kein Geld verdienen kann. Sollte dies durch die Etablierung neuer, digitaler Geschäftsmodelle möglich werden, könnten Start-ups ganz schnell Angebote etablieren, die nicht unbedingt in der Tradition der Suchthilfeträger stehen (analog den zunehmend erfolgreichen Fin Techs in der Finanzwirtschaft) und die zu einer völligen Neujustierung der Arbeitsfelder führen könnten. (Fachfremde) Anbieter könnten sich als Dienstleister gemäß den heutigen Kunden(Klienten-)anforderungen entwickeln und mit digitalen Services Menschen in schwierigen Lebenslagen oder schambesetzten Situationen einfach, bequem und rund um die Uhr Unterstützung zukommen lassen. Oder aber sie könnten auch ‚nur‘ eine Plattform für entsprechende Anbieter ins Leben rufen. Diese Plattform könnte z. B. folgende Services anbieten:

    • Ein mit künstlicher Intelligenz (KI) ausgestatteter Chatbot gibt 7 Tage rund um die Uhr Antworten auf die wichtigsten, immer wiederkehrenden Fragen.
    • 24h lang Direktvermittlung zu spezialisierten Rechtsanwälten
    • Abklärung, ob ein Anspruch auf medizinische Reha besteht, plus anschließende komplette Abwicklung und Betreuung der Formalitäten inkl. Buchung eines entsprechenden Rehaplatzes
    • Chat mit fachkundiger Person von 8 bis 20 Uhr jeden Tag
    • schnelle Terminvermittlung in ortsnahe Suchthilfeeinrichtung
    • Online-/Teleberatung, Online-/Teletherapie

     SCENARIO 2: Matching und Online-Direktvermittlung zur Fachkraft

    Die Mieten in den Innenstädten haben inzwischen schwindelerregende Höhen erreicht. Die Mietkosten nehmen bei öffentlichen Einrichtungen einen immer größer werdenden Anteil an den Gesamtbudgets ein. Die Kommunen als Leistungsträger sind nicht mehr bereit, Räume zu finanzieren, die nur acht bis zehn Stunden am Tag genutzt werden. Zudem hat sich eine neue Generation von Fachkräften auch im psychosozialen Bereich etabliert, die ihre Arbeitsverhältnisse möglichst flexibel gestalten und im Arbeitszeitumfang permanenten Spielraum haben möchte. Der herrschende Fachkräftemangel stärkt ihre Position bei der Durchsetzung dieser Vorstellungen gegenüber potentiellen Arbeitgebern.

    Vor dieser Ausgangslange entwirft Horst Bossong (2018) folgendes Scenario: „Die Spezialisierung psychosozialer Einrichtungen wie Schuldnerberatung, Suchtberatung, Erziehungsberatung etc. könnten auf einer gemeinsamen digitalen Plattform zusammengefasst werden. Solche im virtuellen Raum etablierten Gemeinschaftspraxen könnten ihre von freien Mitarbeitenden angebotenen Dienstleistungen just in time anbieten.

    Die Anmeldung samt Anamnese erfolgt über ein Online-Tool. Ein Algorithmus matcht den Hilfesuchenden mit einer passgenau qualifizierten Fachkraft für eine (standardisiert festgelegte) Menge an Beratungsstunden. Sie erbringt die Beratung, Betreuung und Therapievermittlung sodann in ‚hybrider‘ Form, d. h. ohne festes Büro, sondern in je nach Einzelfall verabredeten variablen Formaten, etwa virtuell oder auch an einem physischen Orten zu einem dem Klienten passenden Zeitpunkt.“ 

    SCENARIO 3: Ein Handlungsfeld für große Player

    Die Mediangruppe ist ein privat geführter Klinikträger mit 120 Einrichtungen und 15.000 Mitarbeitern. Mit 18.000 Betten und Behandlungsplätzen werden pro Jahr etwa 230.000 Patienten versorgt. Die Mediangruppe ist auch in der medizinischen Rehabilitation für suchtkranke Menschen aktiv. Dieser große Player in der Sucht-Reha hat die Digitalisierung zur Chefsache erklärt und im April 2018 einen neuen Chief Development Officer (CDO) eingestellt, der sich auf Geschäftsführungsebene gezielt der Digitalisierungsstrategie des Unternehmens widmet. In einer Pressemitteilung gab Dr. André M. Schmidt, CEO bei Median, bekannt, dass das Unternehmen im Bereich Digitalisierung eine Vorreiter-Position anstrebt (Pressemeldung, 04.04.2018). Dies als Beispiel für einen ‚Großen‘, der sich schon massiv auf den Weg gemacht hat.

    Nur durch das Bewusstmachen solcher Szenarien wird der notwendige Handlungsdruck deutlich. Ihm muss die aktive Auseinandersetzung folgen, um wünschenswerte Entwicklungen zu fördern und Entwicklungsrisiken frühzeitig begegnen zu können. 

    Suchthilfe muss handeln, warum?

    Das Suchthilfesystem in Deutschland zeichnet sich durch differenzierte Leistungserbringer aus, die ein breit gefächertes Angebot für Betroffene und deren Angehörige bereithalten. Diese Angebote weisen heute hohe Standards und qualitätssichernde Begleitmaßnahmen auf. Wenn die Vielfalt der Leistungserbringer und eine nicht auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Trägerlandschaft auch zukünftig die Maximen im Bereich der Suchtprävention und der ambulanten Suchtberatung darstellen sollen, muss sowohl die Suchthilfe handeln als auch die Politik die entsprechenden Rahmenbedingungen sicherstellen.

    Dieses Handeln seitens der Suchthilfeträger muss bereits zu einer Zeit passieren, in der das Bestehende noch sehr gut läuft. Und das fällt schwer. Denn so lange es gut läuft, versuchen alle Beteiligten, das Bestehende möglichst zu bewahren. Es wäre allerdings fatal, wenn sich die Suchthilfe im Heute verkämpft und dadurch den realistischen Blick auf morgen vernachlässigt. 

    Die Notwendigkeit digitaler Strategien

    Aber es gibt noch eine andere Gefahr: Die Suchthilfe darf sich bei dem Thema Digitalisierung nicht in zu vielen Einzelprojekten verlieren. Letztlich ist die Digitalisierung eine strategisch-strukturelle Aufgabe. Man kann nicht einfach kleine Einzelprojekte aneinanderreihen und denken, das reiche. Um ein gutes Gesamtergebnis zu erzielen und die richtigen Entscheidungen zu treffen, braucht es dringend ein Gesamtkonzept – eine Digitalisierungstrategie sowohl für den einzelnen Suchthilfeträger als auch für das Suchthilfesystem als Ganzes. Zur Entwicklung dieser Strategien sind die bisherigen Konzepte nur bedingt tauglich. Es müssen völlig neue Formate und Kooperationen entwickelt werden.

    Der Prozess der digitalen Transformation erfordert enorme Ressourcen. Einzelne kleine wie auch große Einrichtungen sind personell und finanziell überfordert, so dass träger- und verbandsübergreifendes Handeln unumgänglich erscheint, will man die Digitalisierung mitgestalten und nicht nur Zuschauer sein. Dazu müssen sowohl die Träger als auch das System Suchthilfe Strategien entwickeln, wie sie den digitalen Wandel bewältigen wollen. Aktuell scheinen mir diese Strategien zu fehlen, gleichwohl werden digitale Produkte wie Apps oder Online-Beratungsmöglichkeiten bereits umgesetzt bzw. geplant.

    Um Nachhaltigkeit zu erreichen und Fehlinvestitionen zu vermeiden, lassen sich die Umsetzungsschritte einer Strategie zur Bewältigung des digitalen Wandels wie in Abb. 1 gezeigt skizzieren:

    Abb. 1

    Trägerinterne Strategieentwicklung

    Mit Unterstützung externer Expertise aus dem Bereich der Organisationsentwicklung sollten trägerintern im Rahmen einer Strategieentwicklung folgende Fragestellungen geklärt und folgende Arbeitsschritte abgearbeitet werden (s. Abb. 2):

    Abb. 2

    Lösungen entwickeln in „Future Labs“

    Auch wenn die Suchthilfe träger- und verbandsübergreifend agiert, kann sie den anstehenden Wandel nicht alleine bewältigen. Politik muss sie dabei unterstützen. Politik kann aber auch erwarten, dass Lösungen überregional und trägerübergreifend gesucht werden, z. B. in „Entwicklungslabors“ oder „Future Labs“. In solchen Future Labs finden sich Mitarbeitende unterschiedlicher Fachbereiche, externe Expert/innen (z. B. aus Hochschulen, der Start-up-Szene) und Mitarbeitende anderer Organisationen zusammen (s. Abb. 3). Diese Innovationsnetzwerke arbeiten an neuen Konzepten, Services und Geschäftsmodellen, die sie als Empfehlungen und Orientierungen dem Suchthilfesystem zur Verfügung stellen. Aber auch Fragestellungen zum Datenschutz und ethischen Dimensionen der Digitalisierung in der Suchthilfe könnten, ressourcenschonend, zentral diskutiert und die Ergebnisse z. B. über Handreichungen oder Webinare kostengünstig in die Fläche gebracht werden.

    Abb. 3

    Zur Einleitung einer solchen Entwicklung könnten in einem nationalen Future Lab „Suchthilfe“ mit externer multiprofessioneller Expertise folgende Fragestellungen bearbeitet werden (s. Abb. 4):

    Abb. 4

    Aktueller Stand und Ausblick

    In den letzten Monaten sind im Bereich der Suchthilfe vielfältige Entwicklungen und Fortschritte zu konstatieren, die die aufgezeigte Richtung unterstützen:

    • Im Januar 2019 haben die Wohlfahrtsverbände, das Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland und der Bundesverband Deutscher Startups ein gemeinsames Positionspapier veröffentlicht (https://www.social-startups.de/wohlfahrtsverbaende/). Darin ist vereinbart, dass sich diese Organisationen stärker austauschen und zusammenarbeiten wollen, um effektiver zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen beizutragen und innovative Lösungen zu entwickeln. Die Verbände fordern in ihrem Positionspapier, dass bei der staatlichen Förderung mehr Priorität und Mittel für gemeinsame Begegnungs- und Experimentierräume sowie für die Verbreitung von erfolgreichen innovativen Projekten bereitgestellt werden. Nötig sind Förderprogramme, die den speziellen Bedürfnissen sozialer Innovationen gerecht werden, damit diese entwickelt und realisiert werden und schließlich den Menschen und der Gesellschaft dienen können.
    • Des Weiteren startete im April die Hessische Landesstelle für Suchtfragen ihr vom Bundesgesundheitsministerium finanziertes bundesweites Modellprojekt „Digitale Lotsen in der Suchthilfe“.

    Angesichts der anstehenden Herausforderungen beim digitalen Wandel ist es unabdingbar, dass zum einen die Verbände eine koordinierende und strukturierende Funktion einnehmen und zum anderen die Politik Unterstützung bietet. Ein Vorhaben von einer solchen Dimension bedarf unbedingt vorheriger strategischer Überlegungen auf Trägerebene, aber auch auf der Ebene des Systems, damit die entwickelten Instrumente und das fachliche Vorgehen die Ziele erreichen, die vorher definiert wurden. Solche Ziele, die sowohl einer Verbesserung der Versorgung als auch der Weiterentwicklung des Suchthilfesystems dienen, könnten z. B. sein:

    • dem Fachkräftemangel begegnen: Technische Assistenzsysteme können vorhandene Mitarbeitende von Routineaufgaben entlasten.
    • den demographischen Wandel gestalten: Mit Teleangeboten kann Immobilität begegnet werden (auch in strukturschwachen ländlichen Regionen).
    • eine bessere Klientenzentrierung/-versorgung erreichen: Technische Assistenzsysteme ermöglichen eine niedrigschwellige Kontaktaufnahme mit dem Hilfesystem und erschließen damit neue Zielgruppen.
    • die Attraktivität der Angebote für Klienten erhalten: Zielgruppengemäß offeriert entsprechen die Möglichkeiten technischer Assistenzsysteme dem geänderten Dienstleistungsanspruch der Klientel.
    • die Attraktivität des Arbeitsfeldes Suchthilfe erhalten bzw. steigern: Als möglicher Arbeitsplatz steht die Suchthilfe im Wettbewerb mit anderen psychosozialen Arbeitsfeldern. Technische Assistenzsysteme und deren arbeitnehmerfreundliche Ausgestaltung (Homeoffice-Konzepte u. Ä.) können dazu beitragen, den Bedürfnissen der neuen Generation von Fachkräften, die ihre Arbeitsverhältnisse möglichst flexibel gestalten und im Arbeitszeitumfang permanenten Spielraum haben möchte, entgegenzukommen.
    Kontakt:

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten
    w.schmidt-rosengarten@t-online.de

    Angaben zum Autor:

    Wolfgang Schmidt-Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration in Wiesbaden. Vorher war er über 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.

    Literatur:
  • Mitarbeiterbefragung und Gefährdungsanalyse Teil I

    Mitarbeiterbefragung und Gefährdungsanalyse Teil I

    Robert Meyer-Steinkamp

    Mit circa 50 Beschäftigten ist die Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld (TGJ) eine relativ kleine Einrichtung, in der sich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr regelmäßig begegnen und miteinander sprechen. Das Gespräch beinhaltet auch aktuelle Probleme und Belastungen aus dem Arbeitsalltag, für die wir, das Leitungsteam, versuchen, befriedigende Lösungen zu finden. Unabhängig von aktuellen Problemen sind wir bemüht, die Arbeitszusammenhänge für alle so zu gestalten, dass Belastung und Entlastung sich die Waage halten (z. B. durch Entscheidungsfreiräume, möglichst flexible Arbeitszeiten, Supervision, Entspannungsangebote usw.). Die Notwendigkeit einer Mitarbeiterbefragung war uns bis zum Auftauchen des Themas „Gefährdungsanalyse psychischer Belastungen“ nicht in den Sinn gekommen. 

    Der Anstoß

    Im Rahmen einer Betriebsversammlung im Jahr 2012 startete der damalige Betriebsrat der TGJ unter den anwesenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unerwartet eine auf wenige Fragen begrenzte, anonyme Umfrage zur erlebten psychischen Belastung im Arbeitsalltag. Die Ergebnisse der noch während der Versammlung erfolgenden Auswertung waren nicht spektakulär, die Aktion brachte aber Bewegung in das bis dahin in der TGJ eher am Rande behandelte Thema.

    Historischer und theoretischer Hintergrund

    Das 1996 von der Bundesregierung verabschiedete Arbeitsschutzgesetz gab Impulse für einen systematischen Arbeitsschutz und trug den Arbeitgebern auf, regelhaft eine Gefährdungsbeurteilung bezüglich gesundheitlicher Risiken und Belastungen durch betriebliche Arbeitsbedingungen vorzunehmen. Wenn es aufgrund der Bewertung der so ermittelten Belastungen erforderlich erscheint, müssen geeignete Maßnahmen zur Vorbeugung gegen Gesundheitsgefahren entwickelt, umgesetzt und auf ihre Wirksamkeit überprüft werden.

    Die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA) ist eine im Arbeitsschutzgesetz und im SGB VII verankerte Plattform von Bund, Ländern und Unfallversicherungsträgern unter Einbezug der Sozialpartner (Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände in beratender Funktion) zur Umsetzung des Arbeitsschutzes. Sie schlägt in ihren „Empfehlungen zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung“ (2017a) ein wiederholt zu durchlaufendes prozesshaftes Vorgehen vor, das im Prinzip auch aus anderen Themenfeldern des Qualitätsmanagements bekannt ist. Angelehnt daran lässt sich folgendes Prozessmodell darstellen:

    Abb. 1: Prozessmodell zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung

    Praxis in der TGJ

    In der TGJ wird die Aufgabe einer regelhaften Gefährdungsbeurteilung in Form einer jährlichen Arbeitsplatzbegehung durch das Zentrum für Arbeits-, Umwelt- und Gesundheitsschutz (ZAG) erfüllt. Das ZAG übernimmt dabei die Rolle einer externen Fachkraft für Arbeitsschutz. Im Zuge der Begehung und der Sitzungen des Arbeitsschutzausschusses (AsA) werden Belastungen ermittelt und beurteilt und daraus Maßnahmepläne entwickelt. Für deren Realisierung sind die Einrichtungsleitung und die intern für die Arbeitssicherheit verantwortlichen Mitarbeiter/innen zuständig. Die Wirksamkeit der Maßnahmen wird während der Implementierung und spätestens mit der nächsten Begehung geprüft. Die nächste Begehung stellt auch die Fortschreibung des Prozesses dar, und es werden gegebenenfalls neue Belastungen ermittelt (usw.).

    Die psychischen Belastungen spielten bei diesem Vorgehen allerdings keine Rolle, da im Arbeitsschutzgesetz explizit als möglicherweise gefährdend nur ‚klassische‘ Belastungsfaktoren wie schwere körperliche Arbeit oder ungünstige Umgebungsbedingungen aufgelistet wurden. Diese haben allerdings zunehmend an Bedeutung gegenüber den psychischen Belastungen verloren. Für die Suchtkrankenhilfe darf man aus Sicht des Verfassers ohnehin von einer überproportionalen psychischen Belastung im Vergleich zu vielen anderen Tätigkeitsfeldern ausgehen. Der DAK-Gesundheitsreport 2018 nennt die psychischen Erkrankungen als zweithäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit und beschreibt einen rasanten Anstieg der Fehlzeiten aufgrund dieser Erkrankungen in der Zeit nach der Verabschiedung des Arbeitsschutzgesetzes.

    Abb. 2: Anteile der zehn wichtigsten Krankheitsarten an den Arbeitsunfähigkeitstagen. Quelle: DAK-Gesundheitsreport 2018
    Abb. 3: Arbeitsunfähigkeitstage und Arbeitsunfähigkeitsfälle pro 100 Versichertenjahre aufgrund psychischer Erkrankungen. Quelle: DAK-Gesundheitsreport 2018

    Konsequenterweise hat der Gesetzgeber im Jahr 2013 die psychischen Belastungen in der Auflistung möglicher Risiken ausdrücklich ergänzt (§ 5, Abs. 3, Pkt. 6 ArbSchG). In vielen, vor allem kleineren und mittleren Betrieben, ähnlich wie in der TGJ, waren die psychischen Belastungen bis dahin kein Feld der systematischen Überprüfung.

    Zuständigkeiten

    Dem „Ratgeber zur Gefährdungsbeurteilung“ der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA; 2016) folgend hat der Arbeitgeber die Verantwortung für die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung und die Umsetzung der Ergebnisse. Die Vertretungen der Beschäftigten bzw. wenn solche Vertretungen nicht vorhanden sind, die Beschäftigten selbst, sind vom Arbeitgeber zu allen Maßnahmen, die Auswirkungen auf ihre Sicherheit und Gesundheit haben können (§§ 81, 82, 89 Betriebsverfassungsgesetz, §§14, 17 ArbSchG) zu hören, und sie sind berechtigt, Vorschläge zu diesen Themen zu machen.

    Drei gute Gründe für die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen

    Die explizite Aufnahme der psychischen Belastungen in das Arbeitsschutzgesetz war im Weiteren förderlich, die Betriebsratsinitiative in der TGJ in Richtung einer eingehenderen Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen voranzutreiben.

    Eichhorn und K. Schuller (2017) von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ordnen diese Pflichterfüllung des Arbeitgebers unter dem „normativ-gesetzlichen Motiv“ ein. Ein zweites, „humanistisch-mitarbeiterorientiertes“ Motiv war in der TGJ die grundsätzliche Haltung des Leitungsteams, dass die Arbeit im Hause bei allen Belastungen und Herausforderungen, die die Arbeit mit Suchtkranken mit sich bringt, auch erfüllend und befriedigend, nicht gesundheitsgefährdend und im Sinne des Arbeitsschutzgesetzes menschengerecht sein soll. Das dritte, von Eichhorn und Schuller als „ökonomisch-instrumentell“ bezeichnete Motiv liegt in dem Wissen und der Erfahrung, dass zufriedene und gesunde Kolleg/innen nachhaltig die Leistungsfähigkeit der Einrichtung stärken.

    Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen

    Die Unfallversicherungsträger, d. h. die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen, übernehmen im Rahmen der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) die Aufgabe, für die Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren in den Betrieben zu sorgen, dies zu überwachen und die Unternehmer und Beschäftigten zu beraten. Sie bieten zur Orientierung unter anderem Seminare zum Thema Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen an sowie Workshops zum Austausch mit anderen Einrichtungen, die sich ebenfalls mit dem Thema beschäftigen. Die Teilnahme ist für Mitglieder der Unfallkasse in der Regel kostenfrei.

    Die Unfallkasse Nord war der für die TGJ zuständige Ansprechpartner zur ersten Orientierung für die praktische Umsetzung. Neben der Vermittlung des oben beschriebenen prozesshaften Vorgehens wurden folgende wesentliche Fragen aufgeworfen und später in der internen Diskussion beantwortet:

    Wie werden möglichst alle Kolleginnen und Kollegen beteiligt?

    Wir entschieden uns für die Gründung einer auf Dauer angelegten Arbeitsgruppe Gefährdungsanalyse, die je nach Bedarf tagt und alle Planungsschritte, Befragungsergebnisse und Maßnahmepläne diskutiert. Die AG setzt sich zusammen aus je einem Vertreter aller Arbeitsbereiche (Therapie, Verwaltung, Haustechnik, etc.), Betriebsrat und Leitung. Die Vertreter der Arbeitsbereiche transportieren bei Bedarf Informationen aus der AG in ihr Team oder aus dem jeweiligen Team in die AG. Im Rahmen einer Betriebsversammlung kündigen Betriebsrat und Leitung gemeinsam die bevorstehende Mitarbeiterbefragung an. Das Procedere wird erläutert und die Anonymität der Befragung wiederholt zugesichert. Im Zuge dessen wird auch die praktische Umsetzung organisiert. Wenn nach der Befragung die Ergebnisse vorliegen, werden die Kolleginnen und Kollegen in einer weiteren Betriebsversammlung von Leitung und Betriebsrat über eine Auswahl der wesentlichen Ergebnisse informiert.

    Mit welcher Methode werden die Belastungen ermittelt?

    Im Wesentlichen lassen sich drei  Methoden anwenden:

    • Workshops mit externer Moderation zur Feststellung von Problemfeldern und zur Entwicklung diesbezüglicher Maßnahmepläne,
    • Beobachtung konkreter Arbeitsprozesse und damit verbundener Belastungen vor Ort durch externe Fachleute und Ableitung von Verbesserungsmaßnahmen,
    • Mitarbeiterbefragung mit Fragebogen und Ableitung von Maßnahmen aus den Befragungsergebnissen.

    Auch eine Kombination dieser Methoden ist möglich. Wir entschieden uns für die Fragebogenvariante und anschließende, auf den Befragungsergebnissen aufbauende Workshops. Fragebögen sahen wir als beste Möglichkeit, jedem Mitarbeiter die Möglichkeit der Teilnahme zu geben und relativ ökonomisch viele Informationen aus vielen Themenfeldern zu sammeln. Standardisierte Fragebögen mit Bewertungsskalen machen außerdem den Vergleich zwischen wiederholten Befragungen möglich, so dass man die Entwicklung von Problemfeldern im Vergleich zur letzten Befragung auch quantitativ darstellen kann. Beobachtungen und Workshops erscheinen in dieser Hinsicht schwierig.

    Bei der Auswahl des Fragebogens kam uns entgegen, dass ein befreundeter Träger bereits gute Erfahrungen mit dem Fragebogen zur Mitarbeiterzufriedenheit des Picker Instituts gesammelt hatte. (Das Picker Institut wurde zwischenzeitlich vom Institut BQS (https://www.bqs.de/leistungen/picker-befragungen) übernommen. Zur Vermeidung von Irritationen ist hier im Weiteren durchgängig von Picker die Rede.) Der Fragebogen war wissenschaftlich evaluiert, im Einsatz in Krankenhäusern erprobt und konnte auf die Bedarfe der Suchthilfe noch in begrenztem Maß zugeschnitten werden. Eine Reihe anderer Instrumente (z. B. Kurz-Fragebogen zur Arbeitsanalyse KFZA oder „Instrumente und Verfahren zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung“ (GDA 2017b)) entsprach nicht unseren Vorstellungen.

    Die Deutsche Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der Suchttherapie e.V. (deQus) und das Picker Institut trafen eine Rahmenvereinbarung zur Durchführung von Mitarbeiterbefragungen für Mitglieder der deQus, da das Interesse an dem Fragebogen vermehrt auftauchte. Inzwischen nutzen acht Träger unter dem Dach der deQus den Fragebogen und die Rahmenvereinbarung, so dass, ergänzend zu einrichtungsinternen Ergebnisvergleichen von Befragung zu Befragung, ein Benchmark mit anderen Einrichtungen im Suchthilfesystem möglich ist.

    Die GDA (2017a) benennt Arbeitsintensität, Arbeitszeit, Handlungsspielraum und soziale Beziehungen, insbesondere zu Vorgesetzten, sowie die Gestaltung der Arbeitsumgebungsbedingungen als branchen- und tätigkeitsübergreifend relevante Schlüsselfaktoren der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung. Diese und andere Themen werden von den 102 Fragen des Picker-Bogens abgedeckt. Aus den Gesamtdaten aller bei Picker durchgeführten Mitarbeiterbefragungen in einem Zeitfenster von drei Jahren werden faktoranalytisch, jährlich aktualisiert, Faktoren der Mitarbeiterzufriedenheit errechnet:

    1. Führungs- und Unternehmenskultur
    2. Arbeitsbelastung
    3. Direkte Vorgesetzte
    4. Beschäftigungsbedingungen
    5. Strukturen & Prozesse
    6. Kollegen
    7. Patientenversorgung
    8. Arbeitsumgebung/Ausstattung
    9. Dienstplanung
    10. Personalqualifizierung
    11. PC-Arbeitsplätze
    12. IT
    13. Schnittstellen

    Wie werden die ermittelten Belastungen beurteilt?

    Die Prioritätenmatrix (aus dem Ergebnisbericht 2017 des Picker Instituts für die TGJ) veranschaulicht die Ergebnisse der Befragung auf der Ebene der Faktoren im groben Überblick (Abbildung 6). Auf der y-Achse ist die Einflussstärke der einzelnen Faktoren auf die Gesamtzufriedenheit abgetragen. Die Arbeitsbelastung hat den stärksten Einfluss, es folgt der direkte Vorgesetzte usw.

    Auf der x-Achse wird die Problemhäufigkeit in der eigenen Einrichtung als Prozentrang im Vergleich zu allen von Picker befragten Einrichtungen der Jahrgänge 2014 bis 2016 betrachtet. Der Faktor Arbeitsbelastung z. B. hat einen Prozentrang von ca. 5. Das bedeutet, dass 95 Prozent der anderen am Benchmark beteiligten Einrichtungen eine stärkere Problembelastung in diesem Faktor haben als die TGJ. Je weiter links der Prozentrang liegt, desto unproblematischer ist der jeweilige Faktor.

    Abb. 6: Prioritätenmatrix

    Bei 13 möglichen Faktoren werden von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der TGJ überhaupt nur sieben als in geringem Umfang problematisch benannt. Allerdings sind die anderen von Picker befragten Einrichtungen, mit denen der Vergleich stattfindet, in der Regel Krankenhäuser, die außerhalb des Suchthilfesystems tätig sind. Die Vergleichsberichte zeigen in allen Faktoren eine deutlich stärkere Problembelastung in den Einrichtungen außerhalb der Suchthilfe. Beispielhaft lässt sich das am Faktor Arbeitsbelastung zeigen (Abbildung 7).

    Abb. 7: Faktor Arbeitsbelastung: Vergleich der TGJ mit anderen von Picker befragten Einrichtungen

    Im Jahr 2017 haben insgesamt 15 Prozent der Kolleg/innen in der TGJ die Arbeitsbelastung als problematisch empfunden. Das war eine Reduktion um drei Prozent im Vergleich zu 2014. In den Suchthilfeeinrichtungen unter dem Dach der deQus haben im Mittel 32 Prozent der Mitarbeiter/innen die Arbeitsbelastung als problematisch empfunden. In allen anderen von Picker befragten Häusern waren es im Mittel 43 Prozent Problemhäufigkeit in diesem Faktor. Diese Vergleichsdarstellung gibt es für alle Faktoren und Einzelfragen. Auch Arbeitsbereiche bzw. Berufsgruppen innerhalb der eigenen Institution können hinsichtlich der Problemhäufigkeit miteinander verglichen werden.

    15 Prozent Problemhäufigkeit in der Arbeitsbelastung bleibt auch bei dieser Betrachtung ein vergleichsweise gutes Ergebnis. Bei der Diskussion in der AG Gefährdungsanalyse der TGJ wendet der Betriebsrat, seiner Aufgabe entsprechend, jedoch ein, dass der Vergleich mit anderen nicht so entscheidend sei. Eine Verbesserung um drei Prozent zur vorherigen Befragung sei schön, aber auch nicht wirklich bemerkenswert, und eine 15-prozentige Problemhäufigkeit sei auf jeden Fall ein Anlass, genauer zu prüfen. Dem können wir auch aus Leitungssicht zustimmen.

    Hinter den genannten Faktoren, so auch bei der Arbeitsbelastung, stehen thematisch passende Einzelfragen (Abbildung 8), deren Einzelergebnisse im Wert des Faktors verrechnet sind. Ein Beispiel aus dem Picker Ergebnisbericht 2017 für die TGJ:

    Abb. 8: Einzelfrage zum Faktor Arbeitsbelastung

    Zum Faktor Arbeitsbelastung gehören sechs weitere Einzelfragen, deren Betrachtung genauer verstehen lässt, was die Arbeitsbelastung ausmacht. Hier spielen vor allem längerfristige Personalausfälle und entsprechende Vertretungen sowie häufige Störungen in Arbeitsprozessen eine Rolle. Die Diskussion in der AG ergab, dass die Personalausfälle kaum besser hätten kompensiert werden können als bereits geschehen. Hinsichtlich der Arbeitsunterbrechungen können aber Verbesserungsmaßnahmen entwickelt werden.

    In der Gesamtbetrachtung einigten wir uns in der AG Gefährdungsanalyse auf die Einschätzung, dass

    • stark negative Unterschiede zu Vergleichseinrichtungen der Suchthilfe,
    • stark negative Veränderungen zu vorhergehenden hauseigenen Befragungen,
    • Problemhäufigkeiten von über zehn Prozent auf Faktoren-, Arbeitsbereich- oder Einzelfragenebene

    Anlass zu genauerer Betrachtung und das Gegenteil davon Anlass zu – mindestens stiller – Freude sein sollen.

    Die gesamten Ergebnisse der Befragung werden der Leitung, dem Betriebsrat und den Mitgliedern der AG Gefährdungsanalyse als vertrauliche Unterlagen zur Verfügung gestellt. Auch die externen Moderatorinnen der im weiteren Verlauf vorgesehenen Workshops erhalten die Daten als Hintergrundinformation und sind bei der Präsentation ausgewählter Ergebnisse für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anwesend.

    Die 102 Fragen des Bogens mit vorgegebenen Antwortkategorien lassen nur den Blick auf einen – wenn auch mit wissenschaftlicher Methodik gewählten – Teil des Erlebens der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu. Die ebenfalls im Bogen enthaltenen offenen Fragen sind eine gute Ergänzung:

    • Wenn Sie in der Einrichtung oder an Ihrem Arbeitsplatz etwas verändern oder sich etwas wünschen könnten, was wäre es?
    • Was gefällt Ihnen in der Einrichtung oder an Ihrem Arbeitsplatz besonders gut?

    Positive und negative Kritiken halten sich in den Freitexteingaben die Waage. Auch die Freitexte gehen an den schon genannten Personenkreis und werden in der AG Gefährdungsanalyse diskutiert.

    Kosten

    Die Kosten für die Mitarbeiterbefragung per Fragebogen beliefen sich für die TGJ im Jahr 2017 auf ca. 1.200 Euro. Für diesen Betrag wurden die Fragebögen gedruckt, die an das Institut zurückgesandten Fragebögen statistisch ausgewertet und die Ergebnisse als PDF-Datei und in Excel der TGJ zugesandt. Man kann wahlweise noch mehr Leistungen des Anbieters in Anspruch nehmen. Die Kosten für die weiteren, im Folgenden noch zu beschreibenden Schritte der Gefährdungsanalyse kommen am Ende hinzu.

    Zwischenbilanz

    Damit ist die erste Phase der Gefährdungsanalyse psychischer Belastungen in der TGJ, mit weitestgehend quantitativer Methodik, abgeschlossen. Die Gründung der AG Gefährdungsanalyse, die intensive Auseinandersetzung und das gelegentlich etwas zähe Ringen um die richtigen Vorgehensweisen und Instrumente haben sich bis hierhin deutlich bezahlt gemacht. Wir konnten ein gemeinsames Interesse an der Befragung vermitteln und zu einer ausgesprochen hohen Teilnahme motivieren. Die Rücklaufquote der Fragebögen lag 2014 bei ungewöhnlichen 90,2 Prozent, 2017 bei immer noch guten 70 Prozent. Die Ergebnisse waren insgesamt sehr gut, boten aber auch Ansatzpunkte für eine über die reinen Zahlen hinausgehende Analyse in den sich trotzdem abzeichnenden Problemfeldern. Die Betriebsversammlung zur Vermittlung der Befragungsergebnisse in die Mitarbeiterschaft diente gleichzeitig auch der Motivation zur Teilnahme an den nachfolgend geplanten Workshops. Diese sollten die Möglichkeit eröffnen, die durch die Befragung nicht abgebildeten Problematiken zu ergänzen, eine Beurteilung der gesamten bisherigen Ergebnisse vorzunehmen und Maßnahmevorschläge zu erarbeiten. Über den weiteren Verlauf berichtet Teil 2 des Artikels.

    Kontakt:

    Robert Meyer-Steinkamp
    Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld
    Jenfelder Straße 100
    22045 Hamburg
    Tel. 040/65 40 96-66
    meyerst.tgj@alida.de

    Angaben zum Autor:

    Robert Meyer-Steinkamp, Dipl.-Psychologe / Psychologischer Psychotherapeut:
    Therapeutische Leitung der Therapeutischen Gemeinschaft Jenfeld
    Ausbildungsleitung Suchttherapie VT (DRV-anerkannt) am Hamburger Institut für Gestaltorientierte Weiterbildung (HIGW)

    Literatur:
  • Selbstliebe

    Selbstliebe

    Dr. Bodo Karsten Unkelbach

    Wahrscheinlich würden die meisten Psychiater/innen und Psychotherapeut/innen der These zustimmen, dass ein Mangel an Liebe psychisch krank machen kann. Dennoch findet der Begriff Liebe in der Fachliteratur und in Fachkreisen kaum Verwendung – vermutlich, weil er zu unspezifisch ist. In der Umgangssprache hingegen ist er oft zu hören, wird aber mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt und zudem oft missbräuchlich verwandt. In der psychotherapeutischen Praxis berichten Klienten immer wieder von Handlungen, die aus ‚Liebe‘ begangen wurden, die der Empfänger als alles Mögliche, nicht aber als liebevoll erlebt hat.

    Definition des Liebesbegriffs

    Um Klarheit zu schaffen, soll das Wörtchen Liebe zunächst definiert werden. Eine allgemeine Definition könnte lauten: Liebe ist eine Handlung oder eine Beziehungsgestaltung, die dem Nächsten gut tut. Oder kurz gesagt: Liebe ist, seinem Nächsten Gutes zu tun. Nun stellt sich die Frage, was ‚gut‘ ist. Diese Frage kann nur der Empfangende beantworten. Wenn ein Mann seiner Frau einen Blumenstrauß schenkt, wird sich die Frau in aller Regel darüber freuen. Hat sich ein Paar gerade heftig gestritten und gibt die Frau unmissverständlich zu verstehen, dass sie ihren Mann in den nächsten Tagen nicht sehen möchte, dann erlebt sie es möglicherweise nicht als Akt der Liebe, wenn er eine Stunde später mit einem Blumenstrauß vor ihr steht. Schließlich ignoriert er ihren Wunsch nach Abstand. Insofern lässt sich nicht sagen, ob eine bestimmte Handlung liebevoll ist, vielmehr liegt es in dem Wesen und den Erfahrungen des Empfangenden, ob er die Geste als liebevoll erlebt.

    Ein weiteres wichtiges Kriterium zur Definition von Liebe liegt in der Langfristigkeit. Schenkt ein Vater seiner Tochter eine große Tüte Gummibärchen, kann das ein Akt der Liebe sein. Tut er es aber wiederholt, sind diese Geschenke kein Ausdruck der Liebe mehr. Wahre Liebe will langfristig Gutes. Das bedeutet in diesem Kontext, wirklich liebevoll wäre es, der Tochter einen sparsamen Umgang mit Gummibärchen beizubringen.

    Zum Verständnis des Liebesbegriffs lassen sich noch weitere Formen unterscheiden: Liebe für Leistung und bedingungslose Liebe, die wir im Idealfall gleichermaßen erleben. Liebe für Leistung klingt in unseren Ohren befremdlich. Tatsächlich erleben wir sie jedoch von Klein auf. Das erste Babylächeln erzeugt wahre Begeisterungsstürme bei den Eltern. Die ‚Leistung‘ Lächeln wird mit positiver Verstärkung belohnt. Jeder Entwicklungsschritt löst ein Feuerwerk an Unterstützung und Ermutigung durch die Eltern aus. In höherem Alter zeigen Kinder Leistungen in der Schule und im Fußballverein, wofür sie ebenfalls Lob und Anerkennung ernten. Dies tut gut und hilft, ein stabiles Selbstbewusstsein und Stolz auf die eigenen Leistungen zu entwickeln. Auch als Erwachsene kennen wir das Glück, für unsere Leistung Ansehen und Zuspruch zu empfangen. Selbstverständlich spielt Leistung auch bei der Partnersuche eine Rolle. Die Frage, was der andere bereit ist, für mich zu geben, und was ich bereit bin, in die Beziehung zu investieren, ist für das Gelingen einer Liebesbeziehung von hoher Bedeutung.

    Liebe für Leistung ist also etwas ganz Alltägliches. Sie kann sich aber auch negativ auswirken, wenn Kinder damit unter Druck gesetzt und nicht gleichzeitig bedingungslos geliebt werden. Bedingungslose Liebe bedeutet, sich daran zu erfreuen, dass der andere Mensch da ist. Das Baby wird geliebt, so wie es ist. Seine Anwesenheit an sich löst Freude aus. Seine Existenz macht seine Eltern glücklich. Dieses grundsätzliche Ja zieht sich idealerweise durch das gesamte Leben. Der Boden, auf dem auch heftige Konflikte ausgetragen werden können, ist die Erfahrung bedingungsloser Liebe. Sie bildet die Grundlage für die Fähigkeit, als Erwachsener andere Menschen nicht zu verurteilen, sondern sie so zu nehmen, wie sie sind. In der Partnerschaft kommt der bedingungslosen Liebe eine besondere Rolle zu als Ausgangspunkt und als Basis für alle Lebensaufgaben, die auf das Paar zurollen. Bei einer schwierigen Auseinandersetzung sorgt sie für das Grundverständnis, dass man zusammengehört und zusammenhält, auch wenn man unterschiedliche Meinungen, Ansichten und Bedürfnisse hat. Ohne bedingungslose Liebe wäre ein tiefgreifender Konflikt ein Grund für eine Trennung, mit bedingungsloser Liebe ergibt sich die Chance, den Konflikt aufzuarbeiten und zu einer gemeinsamen, konstruktiven Lösung zu finden.

    Selbstliebe beeinflusst alle Lebensbereiche

    Hatten wir das Glück und sind als Kinder und Jugendliche in einer gesunden Familie mit viel Liebe aufgewachsen, gelangen wir zu der inneren Überzeugung, dass wir liebenswerte Menschen sind. Weil wir positive Zuwendung und Annahme erfahren haben, setzen sie sich in unserem Selbstbild fest. Dadurch ist es uns möglich, die Beziehung zu uns selbst liebevoll zu gestalten, also uns selbst zu lieben.

    Wie eingangs erwähnt, kann ein Mangel an Liebe krank machen. Genauer betrachtet handelt es sich bei der Not erwachsener Menschen, die unter den Folgen mangelnder Liebe leiden, im Kern heute nicht mehr um einen Mangel an Liebe sondern um einen Mangel an Selbstliebe. Die Folgen unzureichender Selbstliebe zeigen sich nicht nur bei seelisch Kranken, sondern sind viel weiter verbreitet.

    Beispielsweise wird es Menschen mit mangelndem Selbstwertgefühl, die sich nicht viel zutrauen, schwer (oder schwerer) fallen, beruflich erfolgreich zu sein. Kennen sie aber ihre Fachkompetenz und wissen sie, zu welchen Leistungen sie fähig sind, gibt dies Sicherheit, wenn es darum geht, einen neuen Karriereschritt zu verhandeln. Ein anderes Beispiel: Menschen, die sich minderwertig und hässlich fühlen, werden Schwierigkeiten haben, eine erfüllende Partnerschaft einzugehen. Lieben sie sich aber selbst, dann wissen sie, dass sie wertvoll sind, auch wenn sie nicht perfekt sind. Beim Blick in den Spiegel sehen sie auch ihre weniger schönen Anteile mit Liebe an. Und sie vertrauen darauf, eine Partnerin/einen Partner zu finden, die/der sie auch mit äußeren Unvollkommenheiten liebt.

    Sämtliche Lebensbereiche werden von Selbstliebe beeinflusst. Wenn ich nicht an mich glaube, kann ich nicht erwarten, dass andere an mich glauben. Wenn ich mich selbst als wertlos erachte, muss ich mich nicht wundern, wenn ich von anderen respektlos behandelt werde. Viele Menschen gehen nicht so gut mit sich um, wie sie es könnten. Viele Menschen haben zu wenig bedingungslose Liebe und fördernde und fordernde Liebe erlebt, weshalb es ihnen nur in Ansätzen gelungen ist, ein positives Selbstbild zu entwickeln.

    Im therapeutischen Alltag begegnen Behandlerinnen und Behandler diesen Menschen jeden Tag. Oft ist in den Gesprächen die Erkenntnis, wie wichtig es ist, sich selbst zu lieben, einfach herzustellen. Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, wie ein Mensch, der als Kind defizitäre Liebe erfahren hat, Selbstliebe entwickeln kann. 

    Selbstliebe kann man lernen

    Liebe findet innerhalb einer zwischenmenschlichen Beziehung statt. Selbstliebe meint meine Beziehung zu mir selbst. Ebenso, wie ich eine Beziehung zu einem Freund gestalte, kann ich auch die Beziehung zu mir selbst gestalten. Der Mensch ist in der glücklichen Situation, über sich selbst nachdenken, sein Handeln reflektieren und sich seiner selbst bewusst werden zu können. Diese Fähigkeit eröffnet viele Möglichkeiten, wie wir unser Denken und Fühlen beeinflussen und steuern und somit einen inneren Heilungsprozess einleiten können. Im Folgenden wird ein rationaler Weg beschrieben, der über konkrete Handlungsschritte zu mehr Selbstliebe führt.

    Daneben gibt es auch einen emotionalen Weg zur Ausbildung von Selbstliebe. Hierfür eignen sich Phantasiereisen, in denen sich die Klienten an einen sicheren Ort begeben, an dem sie ein idealer Vater oder eine ideale Mutter sein können, der oder die das innere Kind tröstet. So oft berichten Klienten in therapeutischen Gesprächen, dass sie wahre Liebe in ihrer Kindheit kaum erlebt haben und deshalb gar nicht wissen, wie sich das anfühlt. Phantasiereisen geben die Möglichkeit, eine idealtypische, liebevolle Welt zu erfahren. 

    Sieben Schritte zur Selbstliebe

    Der rationale Zugang zur Entwicklung von Selbstliebe besteht aus mehreren Schritten, den  sieben Schritten zur Resilienz. Der siebte Schritt lässt sich wieder mit dem ersten verbinden, sodass hier vom Kreislauf der Selbstliebe gesprochen werden kann (Abb. 1).

    Abb. 1: Kreislauf der Selbstliebe

    Schritt 1: Selbstachtsamkeit und Selbstaufmerksamkeit – Sich auf sich selbst konzentrieren

    Unsere moderne Gesellschaft ist von permanenter Ablenkung gekennzeichnet. Die neuen Medien liefern unendliche Möglichkeiten, sich mit allem Möglichen zu beschäftigen. Sie sind rund um den Globus zu jeder Zeit verfügbar. Für den einzelnen Menschen heißt das, dass er immer weniger Zeit mit sich selbst verbringt. Vor 15 Jahren hat man während einer Busfahrt noch aus dem Fenster geschaut und den Gedanken freien Lauf gelassen. Heute wird diese Zeit medial besetzt. Die Freiräume, in denen keine Anforderungen an uns gestellt werden und wir uns auch nicht selbst ablenken, werden immer kleiner. Wollen wir in Beziehung zu uns selbst treten, ist es notwendig, dass wir uns bewusst Zeit für uns selbst nehmen. Zeit, in der wir einmal gar nichts zu tun haben und uns auch nicht ablenken lassen. Versuchen Sie einmal ein Experiment: Setzen Sie sich auf die Couch und machen Sie für 30 Minuten einmal nichts. Schalten Sie zuvor alle Störfaktoren aus und sorgen Sie dafür, dass Sie diese 30 Minuten nicht angesprochen werden. Alternativ bietet sich die Möglichkeit, allein einen Spaziergang durch einen einsamen Wald zu unternehmen.

    Schritt 2: Selbstwahrnehmung – Sein eigenes Seelenleben wahrnehmen

    Haben Sie sich einen Ort der Ruhe geschaffen, dann fangen Sie an, sich selbst zuzuhören. Welche Gedanken und Erinnerungen, welche Gefühle steigen in Ihnen auf? Hierbei ist es von Bedeutung, alles, was Ihnen durch den Kopf schwirrt, zuzulassen. Versuchen Sie, es nicht zu bewerten, nicht zu moralisieren, sondern wahrzunehmen, was da ist. Nehmen Sie die eigenen inneren Regungen wahr, wie ein Nachrichtensprecher, der einfach nur  sachlich beschreibt.

    Schritt 3: Selbstrespekt – Mit Gedanken, Gefühlen und Visionen respektvoll umgehen

    Respekt bedeutet, anzuerkennen, dass etwas da ist. Wenn ich mit einem anderen Menschen respektvoll umgehe, dann erkenne ich an, dass er existiert, mit all seinen Bedürfnissen, Wünschen und Vorstellungen. Gehe ich mit mir selbst respektvoll um, erkenne ich an, dass meine Gedanken und Gefühle da sind. Wie oft wischen Menschen ihre eigenen Bedürfnisse einfach weg, nach dem Motto: „Ist doch nicht so wichtig“. Selbstliebe bedeutet: Alles ist wichtig. Respektieren Sie alles in sich, auch unangenehme Gefühle wie Eifersucht, Wut oder Hass.

    Schritt 4: Selbstannahme – Alles in sich bedingungslos annehmen

    Mit der Erkenntnis, dass viele Gefühle und Wünsche in uns aufsteigen, lernen wir verstehen, dass dieses innere Erleben ein Teil von uns ist. Es bereitet kein Problem bei positiven Gedanken und Gefühlen. Eine echte Herausforderung kann es dagegen bedeuten, auch die unangenehmen Bereiche als Teil des Selbst anzunehmen. Wenn in mir der Gedanke aufsteigt, dass ich meinem Nachbarn am liebsten an die Gurgel ginge, bereitet es zunächst keine Freude, diesen Impuls als einen Teil von mir selbst anzunehmen. Wenn diese Phantasie aber in mir aufsteigt, dann ist sie auch ein Teil von mir. Zunächst wird dieser Schritt eher belastend sein, im weiteren Verlauf wird sich aber auch Entspannung einstellen. Diese Anteile sind ohnehin da, und ich werde nur mit ihnen umgehen und arbeiten können, wenn ich sie als einen Teil von mir selbst akzeptiere.

    Schritt 5: Selbstwert entwickeln – Sich als wertvollen Menschen begreifen

    Der Impuls, dem Nachbarn an die Gurgel zu gehen, scheint zunächst nicht sonderlich wertvoll zu sein. Tatsächlich ist er es aber. Unangenehme Gefühle oder Phantasien haben die Funktion eines Alarms. Irgendetwas stimmt nicht, irgendwo läuft etwas schief. Diese grausame Phantasie verdeutlicht mir, dass Aggression in mir schlummert. Deshalb ist sie wertvoll. Verfolge ich die Aggression zurück, weist sie mir den Weg zu einem Konflikt, und je bewusster mir der Konflikt wird, desto eher bietet sich mir die Möglichkeit, diesen Konflikt im Kern anzugehen.

    Schritt 6: Selbstvertrauen – Sich seiner selbst bewusst sein und sich selbst vertrauen

    Wir sind in dem Kreislauf der Selbstliebe nun schon deutlich fortgeschritten. Wir wissen nun, was wir von uns erwarten können und wo unsere Stärken und Schwächen liegen. Wir lernen uns immer besser kennen, darüber entwickeln wir Selbstvertrauen.

    Selbstvertrauen heißt, dass wir unserer Wahrnehmung vertrauen können. Wenn wir etwas denken, dann denken wir es. Fühlen wir etwas, dann fühlen wir es. Wenn wir traurig sind, sind wir traurig. Da hat kein anderer daran zu rütteln. Übergriffe von außen („Du musst jetzt nicht traurig sein.“ „Jetzt sei doch nicht gleich beleidigt.“) können wir jetzt getrost an uns abprallen lassen.

    Die Auseinandersetzung mit uns selbst führt zu einer immer realistischeren Einschätzung dessen, was wir uns selbst zutrauen können und an welcher Stelle wir uns lieber Hilfe suchen sollten. Zu oft unterschätzen wir unsere Möglichkeiten. Denken wir konsequent bis zu Ende, was in unserer Macht liegt, werden wir eine Menge bewegen können. Erkennen wir unsere Grenzen in angemessener Weise an, können wir uns die nötige Hilfe und Unterstützung holen.

    Aber auch dem umgekehrten Impuls können wir vertrauen. Wenn wir einfach mal Ruhe haben und ausspannen wollen, können wir uns auch in diesem Anliegen selbst vertrauen.

    Schritt 7: Selbstsicherheit – Sich seiner selbst sicher sein und sicher auftreten

    Die ersten sechs Schritte des Kreislaufs der Selbstliebe finden alle im stillen Kämmerlein statt. Es geht um die intensive Auseinandersetzung mit sich selbst. Der siebte Schritt führt nun nach draußen in die Welt. Es geht darum, umzusetzen, was wir uns vorgenommen haben. Je besser wir uns kennen, je klarer uns unsere Möglichkeiten und Grenzen sind, desto sicherer können wir auftreten. Wir wissen, was wir wollen, wir wissen, was uns wichtig ist, wir haben uns eine eigene Meinung gebildet und vertreten diese. Wir können zwischen dem Du und dem Ich unterscheiden, unseren Standpunkt vertreten und den Standpunkt unseres Gegenübers anerkennen.

    Haben wir unser Verhalten verändert, haben wir schon gewonnen. Es ist nämlich nicht entscheidend, ob wir unser äußeres Ziel erreicht haben, sondern ob wir aufgrund unserer Selbsterkenntnis unser Verhalten verändert und Neues ausprobiert haben. Nun können wir wieder zu Schritt 1 zurückgehen und den Kreislauf der Selbstliebe unter Berücksichtigung der jüngsten Erfahrungen von Neuem durchlaufen.

    Ausblick

    Wie bei jedem Modell, das mit Schritten arbeitet, ist es auch hier nicht notwendig, immer einen Schritt auf den anderen folgen zu lassen. Manche Schritte fallen leichter, andere schwerer. Auch bei dem Umgang mit einer solchen Anleitung geht es darum, sich selbst zu vertrauen und zu nehmen, was als hilfreich erachtet wird, und das Überflüssige zur Seite zu tun.

    Egal, ob wir einen Konflikt in der Partnerschaft aufarbeiten, uns beruflich weiterentwickeln oder ein fröhliches und entspanntes Familienfest feiern wollen, Selbstliebe hilft, zu sich zu finden und klare Vorstellungen von den eigenen Bedürfnissen und Möglichkeiten zu entwickeln, um dann zielgerichtet ans Werk zu gehen.

    Liebe ich mich selbst und tue mir Gutes, kann ich Gelassenheit entwickeln, weil ich weiß, dass ich alles bekomme, was ich brauche. Dieses Geschenk, das ich mir jeden Tag selbst bereite, gibt mir die Freiheit, auch meinen Nächsten zu beschenken: mit Aufmerksamkeit, Anerkennung, Achtung, Wertschätzung, Wohlwollen und Freude an der gemeinsamen Zeit.

    Mehr zum Thema Selbstliebe mit Praxisbeispielen und Übungen finden Sie in:

    Bodo Karsten Unkelbach
    Heute liebe ich mich selbst. In 7 Schritten zur Resilienz
    Claudius Verlag, München 2016

    Kontakt:

    Dr. med. Bodo Karsten Unkelbach
    Klinikdirektor/Chefarzt
    Klinikum Oberberg
    Kreiskliniken Gummersbach-Waldbröl GmbHröl GmbH
    Psychiatrie MH II
    Lepprestr. 65-67
    51709 Marienheide
    BodoKarsten.Unkelbach@klinikum-oberberg.de  
    www.klinikum-oberberg.de

    Angaben zum Autor:

    Dr. Bodo Karsten Unkelbach, geb. 1969, ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit tiefenpsychologischem und systemischem Schwerpunkt. Suchtmedizin. Forensische Psychiatrie. Seit 2006 ist er Chefarzt der Klinik für Suchtmedizin und Psychotherapie im Zentrum für Seelische Gesundheit Marienheide, in der sämtliche Abhängigkeitserkrankungen und begleitende psychiatrische Krankheitsbilder behandelt werden.